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Internationale Revue - 2010s

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Angesichts des immer offensichtlicheren Bankrotts des Kapitalismus… Nur eine Zukunft, der Klassenkampf!

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Noch nie war der Bankrott des kapitalistischen Systems so offensichtlich. Noch nie wurden so viele massive Angriffe gegen die Arbeiterklasse geplant.

Welche Entwicklung des Klassenkampfs ist in dieser Situation zu erwarten?

Der Ernst der Krise erlaubt es der Bourgeoisie nicht mehr, sie zu verheimlichen

Die Subprime-Krise von 2008 ist in eine offene Krise im Weltmaßstab übergegangen, die einen seit 1929 nicht mehr erlebten Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten zur Folge gehabt hat:

-   innert weniger Monate sind zahlreiche Finanzinstitute wie Dominosteine umgefallen;

-   Fabriken wurden reihenweise geschlossen und Hunderttausende von Arbeitern weltweit auf die Straße geworfen.

Die Maßnahmen, die die Bourgeoisie ergriffen hat, um einen noch brutaleren Absturz zu verhindern, unterscheiden sich nicht von denjenigen, die sie sukzessive seit Beginn der 1970er Jahre mit dem Rückgriff auf den Kredit angewandt hat. So ist in der weltweiten Verschuldung eine neue Stufe erklommen worden, begleitet von einer noch nie erreichten Vergrößerung der Weltverschuldung. Doch heute ist der Umfang der weltweiten Schuld so gewaltig, dass man allgemein von einer „Schuldenkrise" zu sprechen begonnen hat, um die gegenwärtige Phase der Wirtschaftskrise zu charakterisieren.

Die Bourgeoisie hat das Schlimmste verhindern können, für den Moment. Doch hat es nicht nur keinen neuen Aufschwung gegeben, sondern verschiedene Länder stellen heute mit Verschuldungsquoten von mehr als 100% des BIP ein ernsthaftes Insolvenzrisiko dar. Darunter befinden sich nicht nur Griechenland, sondern auch Portugal, Spanien (die fünftgrößte Volkswirtschaft der EU), Irland und Italien. Großbritannien hat zwar noch nicht dieselben Sphären der Verschuldung erreicht, weist aber Kennzahlen auf, welche die Spezialisten als sehr besorgniserregend bezeichnen.

Angesichts dieser Ernsthaftigkeit der Überproduktionskrise hat die Bourgeoisie nur ein Mittel: den Staat. Doch dieser enthüllt seinerseits, wie wenig er letztlich ausrichten kann. Die Bourgeoisie erstreckt einzig die Fristen, während alle wirtschaftlichen Akteure keinen anderen Ausweg haben als die Flucht nach vorn, die aber je länger je schwieriger und riskanter wird: sich immer noch mehr zu verschulden. Die geschichtlichen Grundlagen der Krise werden auf diese Weise besser sichtbar. Im Gegensatz zu früher kann die Bourgeoisie die Tatsache der Krise nicht mehr verheimlichen und sie offenbart, dass es in ihrem System keine Lösung gibt.

In einem solchen Zusammenhang kann die Insolvenz eines Landes[1], das künftig nicht mehr die Schuldnerverpflichtungen erfüllen kann, eine Kettenreaktion auslösen, bei der zahlreiche wirtschaftliche Subjekte (Banken, Unternehmen, andere Länder) zahlungsunfähig werden. Natürlich versucht die Bourgeoisie noch, die Tatsachen zu vernebeln, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Spekulation und die Spekulanten lenkt. Das Phänomen der Spekulation entspricht zwar einer Realität, die aber das ganze System prägt, und nicht bloß einige „Profiteure" oder „Wirtschaftskriminelle". Der Finanz-Wahnsinn, d.h. die grenzenlose Verschuldung und die Spekulation auf Teufel komm raus, ist durch den Kapitalismus als Ganzes begünstigt worden, als ein Mittel zum Zweck, den Eintritt der Rezession hinauszuschieben. Dies ist die eigentliche Lebensweise des Kapitalismus heute. Und so befindet sich denn auch der Kern des Problems im Kapitalismus selber, der unfähig ist, ohne Einspritzung neuer, immer größerer Kredite zu überleben.

Welche Medizin verordnet die Bourgeoisie gegenwärtig angesichts der Schuldenkrise? Die Bourgeoisie versucht, ein schreckliches Sparprogramm in Griechenland durchzusetzen. Ein weiterer Plan ist für Spanien in Vorbereitung. In Frankreich sind neue Angriffe auf die Altersrenten geplant.

Können die Sparprogramme dazu beitragen, die Henkersknoten der Krise zu lösen?

Sind die Sparprogramme ein Mittel, um den neuen Aufschwung vorzubereiten? Werden sie es erlauben, wenigstens teilweise den Lebensstandard der Proletarier, der in den letzten zwei Krisenjahren so hart angegriffen worden ist, wieder zu erhöhen?

Bestimmt nicht! Die Weltbourgeoisie kann es sich nicht leisten, ein Land wie Griechenland einfach „absaufen" zu lassen (trotz aller lauten und demagogischen Erklärungen Angela Merkels), ohne die Gefahr in Kauf zu nehmen, dass einigen Gläubigern Griechenlands dasselbe widerfährt, doch besteht die einzig mögliche Hilfe darin, ihm neue Kredite zu einem „annehmbaren" Zinssatz zu gewähren (obwohl die Darlehen zu 6%, die die EU Griechenland kürzlich aufgezwungen hat, schon außerordentlich teuer sind). Dafür werden Garantien einer Budgetdisziplin verlangt. Der Unterstützte muss beweisen, dass er kein Fass ohne Boden ist und die „internationale Hilfe" nicht verschwendet. Von Griechenland wird also verlangt, dass es „seinen Schlendrian aufgibt", damit das Wachstum seiner Defizite und seiner Verschuldung gebremst werde. Unter der Voraussetzung, dass die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse hart angegriffen werden, werde der Weltkapitalmarkt wieder Vertrauen in Griechenland gewinnen, das dann Darlehen und Auslandinvestitionen anziehen werde.

Einigermaßen paradox mutet an, dass das Vertrauen in Griechenland von dessen Fähigkeit abhängig gemacht wird, die Geschwindigkeit der Vergrößerung seiner Schulden zu bremsen, und nicht davon, die weitere Verschuldung zu stoppen, was gar nicht möglich wäre. Das heißt, dass die Zahlungsfähigkeit dieses Landes gegenüber dem Weltkapitalmarkt von der „nicht allzu starken" Vergrößerung seiner Schulden abhängt. Mit anderen Worten: Ein wegen seiner Schulden für zahlungsunfähig erklärtes Land kann solvent werden, auch wenn seine Verschuldung weiter wächst. Abgesehen davon hat Griechenland selber ein Interesse daran, mit seiner „Insolvenz" zu drohen und damit zu versuchen, auf die Zinssätze der Gläubiger zu drücken, die bei einem Zahlungsstopp zum Verlust ihrer ganzen Forderung kämen und sich dann schnell selber im „roten Bereich" befänden. In der gegenwärtigen überverschuldeten Welt beruht die Zahlungsfähigkeit im Wesentlichen nicht mehr auf einer objektiven Realität, sondern auf einem Vertrauen - das nicht wirklich begründet ist.

Die Kapitalisten können nicht anders, als diesem Glauben nachzuhängen, sonst müssten sie aufhören, an die Ewigkeit ihres Ausbeutungssystems zu glauben. Doch während die Kapitalisten nicht anders können, als daran zu glauben, sieht dies für die Arbeiter etwas anders aus! Die Sparprogramme erlauben es der Bourgeoisie im Großen und Ganzen, sich etwas Mut zuzusprechen, doch lösen sie damit keineswegs die Widersprüche des Kapitalismus und können nicht einmal die Zunahme der Verschuldung eindämmen.

Die Sparprogramme erfordern eine drastische Verringerung der Kosten der Arbeitskraft, welche Politik in allen Ländern angewendet wird, denn alle stehen - in größerem oder geringerem Umfang - vor den Problemen einer enormen Verschuldung und von Defiziten. Eine solche Politik, die im kapitalistischen Rahmen keine wirkliche Alternative hat, kann zwar einen Sturm der Panik verhindern, kann vielleicht sogar einen Mini-Aufschwung bewirken, aber bestimmt nicht das Finanzsystem ins Lot bringen. Und noch weniger kann sie die Widersprüche des Kapitalismus lösen, die ihn zu immer neuer Verschuldung drängen bei Strafe der Erschütterung durch immer brutalere Rezessionen. Aber es gilt auch, diese Sparmaßnahmen der Arbeiterklasse zu verkaufen. Das ist für die Bourgeoisie keine einfache Aufgabe, und sie starrt auf die Antworten der Proletarier auf diese Angriffe.

In welcher Verfassung packt die Arbeiterklasse diese neue Angriffswelle an?

Schon seit Beginn der 2000er Jahre verfängt die Rede der Bourgeoisie, wonach wir den Gürtel enger zu schnallen hätten, „damit es uns morgen besser gehe", im Allgemeinen in der Arbeiterklasse nicht mehr, auch wenn es da Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern gibt. Die letzte Verschärfung der Krise hat bis jetzt, in den letzten zwei bis drei Jahren, nicht zu einer Ausbreitung der Mobilisierungen der Arbeiterklasse geführt. Die Tendenz ist für das Jahr 2009 sogar eher die umgekehrte. Die Merkmale von gewissen Angriffen, vor allem der massenhaften Entlassungen, haben in der Tat die Antwort der Arbeiterklasse erschwert, da:

-   die Unternehmer und die Regierungen sich hinter einem Totschläger-Argument verstecken: „Wir können nichts dafür, wenn die Arbeitslosigkeit steigt und ihr entlassen werdet: Die Krise ist schuld."

-   bei Unternehmenskonkursen und Betriebsschließungen die Streikwaffe stumpf wird, was das Gefühl der Ohnmacht und der Verzweiflung bei den Arbeitern verstärkt.

Doch auch wenn diese Schwierigkeiten noch schwer auf der Arbeiterklasse lasten, ist die Situation nicht blockiert. Dies zeigt sich an einer Haltungsänderung in der ausgebeuteten Klasse und drückt sich aus in einem Erzittern des Klassenkampfes.

Die Erbitterung und die Wut der Arbeiterinnen und Arbeiter werden genährt durch eine tiefe Empörung angesichts einer himmelschreienden und nicht mehr zu erduldenden Situation: Die weitere Fortdauer des Kapitalismus hat unter anderem zur Folge, dass brutaler als je zuvor zwei „verschiedene Welten" in ein und derselben Gesellschaft erscheinen. In der ersten lebt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, die alles Unrecht und das ganze Elend erleidet und für die zweite bezahlen muss, für die Welt der herrschenden Klasse, die ihre Macht und ihren Reichtum schamlos und arrogant zur Schau stellt.

In unmittelbarerem Zusammenhang mit der jetzigen Krise verliert die verbreitete Idee, wonach „es die Banken sind, die uns in den Kakao gefahren haben, aus dem wir nicht mehr rauskommen" (während man sieht, dass die Staaten selber sich der Zahlungsunfähigkeit nähern), an Überzeugungskraft, was wiederum zu einem Katalysator für die Wut gegen das System wird. Man sieht hier die Grenzen der Geschwätzes der Bourgeoisie, welche die Banken als die Verantwortlichen für die gegenwärtige Krise hinstellte mit dem Zweck, ihr System als Ganzes aus der Schusslinie zu ziehen. Der „Bankenskandal" kompromittiert den Kapitalismus als solchen.

Auch wenn die Arbeiterklasse in weltweitem Maßstab noch angeschlagen und benommen dasteht vor der Lawine von Angriffen, die alle Regierungen, ob links oder rechts, auf sie niedergehen lassen, so ist sie doch nicht resigniert; sie hat in den letzten Monaten nicht einfach untätig zugeschaut. Vielmehr tauchen fundamentale Merkmale des Klassenkampfes, die bestimmte Arbeitermobilisierungen seit 2003 gekennzeichnet haben, in einer expliziteren Weise wieder auf. Dies betrifft insbesondere die Arbeitersolidarität, die sich tendenziell als Grundbedürfnis des Kampfes wieder aufdrängt, nachdem sie in den 1990er Jahren so entstellt und abgewertet worden war. Heute zeigt sie sich in der Form von einzelnen Initiativen, die zwar noch sehr auf Minderheiten beschränkt, aber für die Zukunft wegweisend sind.

Im letzten Winter war in der Türkei der Kampf der Arbeiter und Arbeiterinnen von Tekel das leuchtende Beispiel für den Klassenkampf. Er vereinte türkische und kurdische Arbeiter und Arbeiterinnen (während ein nationalistischer Konflikt seit Jahren diese beiden Bevölkerungsteile spaltet), bewies einen entschlossenen Willen, den Kampf auf andere Sektoren auszuweiten, und leistete Widerstand gegen die Sabotage der Gewerkschaften.    

Auch im Herzen des Kapitalismus, wo die gewerkschaftliche Kontrolle diskreter auftritt und noch stärker ist als in den peripheren Ländern und es schafft, so große Ausbrüche von Kämpfen zu verhindern, gewinnt die Arbeiterklasse ihre Kampfbereitschaft zurück. Anfang Februar zeigten sich in Vigo/Spanien dieselben Merkmale. Da suchten die Arbeitslosen die aktiven Arbeiter der Schiffswerften auf, und gemeinsam demonstrierten sie, wobei weitere Arbeiter und Arbeiterinnen in den Kampf einbezogen wurden, bis die Arbeit im ganzen Schiffsbausektor stillstand. Was bei dieser Aktion am meisten heraus stach, war die Tatsache, dass die Initiative von entlassenen Arbeitern der Schiffswerften ergriffen wurde, die durch eingewanderte Arbeiter ersetzt worden waren, „die in Parkgaragen schlafen und von einem Sandwich am Tag leben". Die einheimischen Arbeiter verfielen keineswegs auf fremdenfeindliche Reaktionen gegen die Arbeiter, mit denen sie die Bourgeoisie in Konkurrenz gestellt hatte, sondern solidarisierten sich mit ihnen im Kampf gegen die unmenschlichen Ausbeutungsbedingungen, die den eingewanderten Arbeitern vorbehalten sind. Solche Kundgebungen der Arbeitersolidarität sahen wir schon zuvor im Januar und Juni 2009 in Großbritannien bei den Bauarbeitern der Lindsey-Raffinerie sowie im April 2009 in Spanien auf den Schiffswerften von Sestao.[2]

In diesen Kämpfen zeigte die Arbeiterklasse - wenn auch begrenzt und erst in embryonaler Form - nicht nur ihre Kampfbereitschaft, sondern ihre Fähigkeit, den ideologischen Kampagnen der herrschenden Klasse, die auf eine Spaltung abzielen, etwas entgegenzusetzen, indem sie ihre proletarische Solidarität zum Ausdruck brachte und in ein und demselben Kampf verschiedene Berufssparten, Branchen, Ethnien oder Nationalitäten vereinte. In ähnlicher Weise ließ schon im Dezember 2008 die Revolte der jungen Proletarier in Griechenland, die sich in Vollversammlungen organisierten und die Unterstützung der Bevölkerung erhielten, die herrschenden Klasse fürchten, das Beispiel könne andere europäische Länder „anstecken", insbesondere die junge Generation an den Schulen. Heute sind die Augen der Bourgeoisie nicht zufälligerweise wieder auf die Reaktionen der Arbeiter und Arbeiterinnen in Griechenland gegenüber den Sparprogrammen der Regierung und der anderen Staaten der Europäischen Union gerichtet. Diese Reaktionen sind ein Testfall für die anderen Staaten, die vor dem Bankrott ihrer nationalen Wirtschaft stehen. So hat den auch die fast gleichzeitige Ankündigung von ähnlichen Sparprogrammen Zehntausende von Proletariern in Spanien und Portugal zu Demonstrationen bewegt. Trotz der Schwierigkeiten, vor denen der Klassenkampf steht, findet eine Änderung in der Geisteshaltung der Arbeiterklasse statt. Überall auf der Welt vertiefen und verallgemeinern sich die Verzweiflung und die Wut in den Reihen der Arbeiter und Arbeiterinnen.

Die Reaktionen auf die Sparprogramme und Angriffe
In Griechenland ...

Die Regierung hat am 3. März einen neuen Sparkurs angekündigt, den dritten in drei Monaten, mit einem Anstieg der Konsumsteuern, einer Reduzierung des 13. Monatslohns um 30% und einer solchen von 60% des 14. Monatslohns, welches Lohnbestandteile der Beamten sind (d.h. ein Rückgang von 12 bis 30% ihrer Löhne im Durchschnitt), und einer Einfrierung der Renten von Beamten und Beschäftigten aus der Privatwirtschaft. Doch der Plan wird in der Bevölkerung schlecht aufgenommen, insbesondere bei den Arbeitern und Rentnern.

Im November/Dezember 2008 wurde das Land während mehr als einem Monat von einer sozialen Explosion erschüttert, die vor allem von der proletarischen Jugend angeführt wurde und die Reaktion auf die Ermordung eines Jugendlichen durch die Polizei war. Die für das laufende Jahr angekündigten Maßnahmen der sozialistischen Regierung drohten eine soziale Explosion nicht nur bei den Studenten und Arbeitslosen auszulösen, sondern auch bei den führenden Bataillonen der Arbeiterklasse.

Ein Generalstreik am 24. Februar 2010 gegen die Sparpolitik wurde weithin befolgt, und die Mobilisierung von Regierungsbeamten brachte rund 40'000 Demonstranten zusammen. Eine große Anzahl von Pensionierten und Beamten demonstrierten auch am 3. März im Zentrum von Athen.

Die Ereignisse, die folgten, zeigten noch deutlicher, dass das Proletariat mobilisiert wurde: „Nur wenige Stunden nach der Ankündigung der neuen Maßnahmen griffen die entlassenen Arbeiter der Olympic Airways  die Sondereinheiten der Polizei an; die Arbeiter besetzten den Hauptsitz des Unternehmens, wobei sie erklärten, dass die Besetzung für eine unbestimmte Zeit sei. Die Haupteinkaufsstraße von Athen war für einige Stunden blockiert." (Blog auf libcom.org)

In den Tagen vor dem Generalstreik am 11. März gab es eine Reihe von Streiks und Besetzungen: Entlassene Arbeiter von Olympic Airways besetzten während 8 Tagen die Buchhaltungsbüros, während die Mitarbeiter der Elektrizitätswerke die Arbeitsämter im Namen der „zukünftigen Arbeitslosen, die wir sind"besetzten. Die Arbeiter der staatlichen Druckerei besetzten ihren Arbeitsplatz und weigerten sich, die gesetzlichen Maßnahmen zur Kosteneinsparung zu drucken, wobei sie sich gleichzeitig darauf beriefen, dass das Gesetz, solange es nicht gedruckt ist, keine Gültigkeit habe. Die Angestellten des Steueramtes legten ihre Arbeit für 48 Stunden nieder, die Arbeiter der Fahrschulen im Norden streikten drei Tage, und selbst Richter und andere Justizbeamte machten jeden Tag während vier Stunden Pause. Während einigen Tagen funktionierte in Athen, Patras und Thessaloniki die Müllabfuhr nicht. In der Stadt Komitini kämpften die Arbeiter der Textilfirma ENKLO mit Protesten und Streiks: Zwei Banken wurden von den Arbeitern besetzt.

Doch auch wenn die Arbeiterklasse in Griechenland heute breiter mobilisiert ist als während der Kämpfe im November/Dezember 2008, ist die Bourgeoisie jetzt besser vorbereitet, um mit ihren Gewerkschaften die Antworten der Arbeiterklasse zu sabotieren.

Tatsächlich konnte sich die Bourgeoisie wappnen und die Wut und Kampfbereitschaft der Arbeiter in politische und ideologische Sackgassen lenken. Dank dieser Sackgassen verpuffte das ganze Potenzial der Selbstorganisierung der Kämpfe und der proletarischen Solidarität, das im Kampf der jüngeren Generation Ende 2008 begonnen hatte, folgenlos.

Die patriotische und nationalistische Propaganda wird in breitem Stil eingesetzt, um die Arbeiter voneinander zu trennen und sie von ihren Klassenbrüdern und -schwestern in den anderen Ländern zu isolieren: In Griechenland wird vor allem betont, dass die deutsche Bourgeoisie sich weigere, der griechischen Wirtschaft unter die Arme zu greifen, und die PASOK-Regierung greift hemmungslos auf die alten anti-deutschen Gefühle aus der Zeit der Nazi-Besatzung zurück.

Die Kontrolle durch die Parteien und Gewerkschaften schaffte es, die Arbeiter voneinander zu isolieren. So verwehrten die Angestellten von Olympic Airways jedem Betriebsfremden den Zugang zum von ihnen besetzten Gebäude. Die Gewerkschaftsführer ließen das Gebäude ohne jeden Beschluss einer Vollversammlung räumen. Als andere Angestellte in die Räumlichkeiten des Finanzministeriums gehen wollten, die von den Arbeitern der staatlichen Druckerei besetzt waren, wurden sie unter dem Vorwand weggeschickt, sie seien „nicht Angehörige des Ministeriums"!

Die große Wut der Arbeiter in Griechenland richtete sich gegen die PASOK und Gewerkschaftsführer in ihrem Dienst. Am 5. März wurde der Führer der Gewerkschaft GSEE, der Gewerkschaftszentrale für den privaten Sektor, misshandelt und geschlagen, als er versuchte, zur Menge zu sprechen; er musste von der Polizei beschützt werden. Er flüchtete in das Parlamentsgebäude unter dem Spott der Menge, die ihm zurief, er solle dorthin gehen, wo er hingehöre, nämlich in das Nest der Diebe, Mörder und Lügner.

Aber die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) und deren gewerkschaftlicher Apparat, der PAME, präsentieren sich als „radikale" Alternative zur PASOK. Sie führen eine Kampagne, um die Verantwortung der Krise auf die Banker und das „Übel des Liberalismus" abzuschieben.

Im November/Dezember 2008 war die Bewegung weitgehend spontan und hielt Vollversammlungen in besetzten Schulen und Universitäten ab. Die Hauptsitze selbst der Kommunistischen Partei (KKE) und der Gewerkschaftszentrale PAME wurden besetzt, was ein deutliches Zeichen des Misstrauens gegenüber den Gewerkschaften und den Stalinisten war, welche die jungen Demonstranten einerseits als Lumpenproletarier, andererseits als verwöhnte Kinder der Bourgeoisie verhöhnten.

Aber dieses Mal hat sich die Kommunistische Partei Griechenlands offen an die Spitze der radikalsten Streiks, Demonstrationen und Besetzungen gestellt. „Am Morgen des 5. März haben in der Gewerkschaft PAME organisierte Arbeiter, die mit der Kommunistischen Partei verbunden ist, das Finanzministerium besetzt (...) sowie die Stadtverwaltung des Bezirks Trikala. Später hat die PAME auch vier TV-Sender in der Stadt Patras und den staatlichen Fernsehsender in Thessaloniki besetzen lassen, wobei die Nachrichtensprecher gezwungen worden sind, eine Erklärung gegen die staatlichen Maßnahmen zu verlesen"[3]. Viele Streiks wurden auch auf Initiative der KP ausgelöst, die vom 3. März an zu einem „Generalstreik" und für den 5. zur Demonstration aufrief, vom 4. an in verschiedenen Städten. Die PAME verstärkte die spektakulären Aktionen z.B. mit der Besetzung des Finanzministeriums und der lokalen Börsen.

Am 11. März wurde ganz Griechenland während 24 Stunden zu 90% gelähmt durch die Bewegung der Bevölkerung und deren Zorn, die dem zweiten Aufruf in weniger als einem Monat der beiden größten Gewerkschaften zum Generalstreik folgte. Insgesamt nahmen mehr als 3 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 11 Millionen) teil. Die Demonstration am 11. März war in Athen die größte seit 15 Jahren und zeigte die Entschlossenheit der Arbeiterklasse, der kapitalistischen Offensive etwas entgegenzustellen.

... und anderswo

In allen Regionen der Welt, in Algerien, Russland, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo die eingewanderten Arbeiter maßlos und ohne jeglichen sozialen Schutz ausgebeutet werden, beim englischen Proletariat und bei den Studenten im ehemals reichsten Bundesstaat der USA, in Kalifornien, deren Bedingungen auf ein prekäres Niveau hinuntergedrückt wird, spiegelt die derzeitige Lage einen Trend in Richtung der Wiederaufnahme des Klassenkampfes auf internationaler Ebene wieder.

Die Bourgeoisie ist mit einer Situation konfrontiert, in der es nicht nur zusätzliche Entlassungen in bedrohten Unternehmen gibt, sondern die Staaten die Arbeiterklasse frontal angreifen müssen, um die Kosten der Schulden irgendwie abzuwälzen. In diesem Fall ist der direkt Verantwortliche für die Angriffe - der Staat - wesentlich einfacher auszumachen als im Falle der Entlassungen, wo der Staat sich mitunter sogar als „Beschützers" der Arbeiter ausgeben kann, wenn auch nur als schwacher. Die Tatsache, dass der Staat nun als das auftritt, was er ist, nämlich als Intereressenvertreter der ganzen kapitalistischen Klasse gegen die gesamte Arbeiterklasse, ist ein Faktor, der die Entwicklung des Klassenkampfes, seine Politisierung und Einheit begünstigt.

Alle Elemente, die sich in der aktuellen Situation entwickeln, sind die Zutaten für eine Explosion massiver Kämpfe. Aber der Zünder dafür wird sicherlich die Anhäufung von Verzweiflung und Empörung sein. Die Umsetzung der verschiedenen geplanten Sparmaßnahmen durch die Bourgeoisie in verschiedenen Ländern wird Gelegenheit für ebenso viele Kampfexperimente und Lehren für die Arbeiterklasse bieten.

Die massiven Kämpfe sind ein wichtiger Schritt für die zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes
... aber nicht der letzte

Der Zusammenbruch des Stalinismus, und vor allem ihre ideologische Ausbeutung durch die Bourgeoisie mit der größten Lüge des Jahrhunderts, mit der die stalinistischen Regime mit dem Sozialismus gleichgesetzt wurden, hinterlassen ihre Spuren bis heute in der Arbeiterklasse.

Angesichts der schlagenden „Beweise" der Bourgeoisie - „der Kommunismus funktioniert nicht; der Beweis dafür ist, dass ihn die davon betroffenen Menschen zugunsten des Kapitalismus aufgegeben haben" - konnten sich die Arbeiter vom Projekt einer alternativen Gesellschaft zum Kapitalismus nur abwenden.

Die Situation ist in dieser Hinsicht im Vergleich zu 1968 sehr verschieden. Damals zeigte der massive Charakter der Arbeiterkämpfe, vor allem mit dem Streik im Mai 1968 in Frankreich und dem „heißen Herbst" 1969 in Italien, dass die Arbeiterklasse eine führende Kraft im Leben der Gesellschaft sein kann. Die Idee, sie könnte eines Tages den Kapitalismus stürzen, stammte nicht aus dem Reich der Träume, sie schien ganz anders als heute realisierbar.

Die Schwierigkeiten des Proletariats, massenhaft in den Kampf zu treten, die sich seit den 1990er Jahren zeigen, sind die Folge eines Mangels an Selbstvertrauen, das selbst durch das Auftreten großer Kämpfe seit 2003 noch nicht wiederhergestellt ist.

Nur durch die Entwicklung der Massenkämpfe wird das Proletariat wieder Vertrauen in die eigenen Kräfte gewinnen und seine eigene Perspektive in den Vordergrund zu stellen. Wir befinden uns daher in einer grundlegenden Phase, in der die Revolutionäre auf die Fähigkeit der Arbeiterklasse bauen sollten, die historische Dimension ihrer Kämpfe zu verstehen, ihre Feinde zu erkennen und die Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen.

So wichtig diese nächste Stufe des Klassenkampfes ist, bedeutet sie noch nicht zwangsläufig das Ende des Zögerns des Proletariats, sich entschlossen für die Fahrt zur Revolution einzuschiffen.

Bereits im Jahr 1852 betonte Marx den schwierigen und gewundenen Verlauf der proletarischen Revolution im Unterschied zu dem der bürgerlichen Revolutionen, die „wie die des achtzehnten Jahrhunderts, (...) rascher von Erfolg zu Erfolg" stürmen[4].

Dieser Unterschied zwischen Proletariat und Bourgeoisie in Zeiten der Revolution ist eine Folge der unterschiedlichen Bedingungen der bürgerlichen beziehungsweise proletarischen Revolution.

Die Ergreifung der politischen Macht durch die kapitalistische Klasse war der Endpunkt eines ganzen Prozesses der wirtschaftlichen Transformation in der feudalen Gesellschaft. In ihm wurden die alten feudalen Verhältnisse der Produktion nach und nach durch die kapitalistische Produktion verdrängt. Auf der Grundlage dieser neuen wirtschaftlichen Verhältnisse konnte die Bourgeoisie die politische Macht erobern.

Ganz anders ist der Prozess der proletarischen Revolution. Die kommunistischen Produktionsverhältnisse, die nicht Warenbeziehungen sind, können sich nicht innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft entwickeln. Weil die Arbeiterklasse die ausgebeutete Klasse im Kapitalismus ist, die per Definition kein Privateigentum an Produktionsmitteln hat, kann sie nicht über wirtschaftliche Stützpunkte für die Eroberung der politischen Macht verfügen. Ihre Stärken sind ihr Bewusstsein und ihre Organisation im Kampf. Im Gegensatz zur revolutionären Bourgeoisie muss der erste Akt der kommunistischen Umgestaltung der sozialen Beziehungen aus einem bewussten und vorsätzlichen Akt bestehen: der Eroberung der politischen Macht weltweit durch das gesamte in Arbeiterräten organisierte Proletariat.

Die Ungeheuerlichkeit dieser Aufgabe kann das Proletariat natürlich zögern, an seiner eigenen Stärke zweifeln lassen. Aber es ist der einzige Weg für das Überleben der Menschheit: die Abschaffung des Kapitalismus und der Ausbeutung, und die Schaffung einer neuen Gesellschaft.

FW, 31. März 2010



[1] Selbstverständlich hat der Bankrott eines Staates nicht die gleichen Merkmale wie derjenige eines Unternehmens: Wenn er unfähig würde, seine Schulden zurück zu bezahlen, so kann er nicht einfach den «Schlüssel abgeben", alle Staatsangestellten entlassen und seine eigenen Strukturen auflösen (Polizei, Armee, Lehrerschaft, Verwaltung ...), auch wenn in gewissen Ländern (namentlich in Russland und einigen afrikanischen Ländern) die Staatsangestellten aufgrund der Krise tatsächlich während Monaten nicht bezahlt wurden...

 

[2] Vgl. die folgenden Artikel auf unserer Webseite de.internationalism.org: Zu Großbritannien: „Streiks in den Erdölraffinerien und Kraftwerken: Arbeiter fangen an, den Nationalismus infrage zu stellen"; zur Türkei: «Solidarität mit dem Widerstand der Tekel-Beschäftigten gegen die Regierung und die Gewerkschaften!"; zu Vigo/Spanien: „Gemeinsame Vollversammlungen und Demonstrationen von Arbeitslosen und Beschäftigten"

 

[3] Nach libcom.org: http:/libcom.org/news/mass-strikes-greece-response-new-measures-04032010

 

[4]  Aus «Der achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte»

 

Dekadenz des Kapitalismus (Teil IV)

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In den vorherigen Artikeln dieser Serie haben wir uns detailliert mit Marx‘ Resümee der historisch-materialistischen Methode im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie befasst. Wir sind nun am letzten Abschnitt dieses Resümees angelangt:

„Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht in dem Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“

Die Universalität der Methode Marx‘

Wir werden später auf die spezifischen Antagonismen zurückkommen, die Marx als der kapitalistischen Gesellschaft innewohnend betrachtete und die die Grundlage für sein Urteil verschafften, dass der Kapitalismus wie all die früheren Formen der Klassenausbeutung nur als eine Übergangsgesellschaft betrachtet werden kann. Bevor wir jedoch fortfahren, möchten wir auf einen Vorwurf antworten, der gegen die Marxisten erhoben worden war, die versucht hatten, den Aufstieg und Fall der kapitalistischen Gesellschaft in den Zusammenhang mit der Abfolge früherer Produktionsweisen zu platzieren – mit anderen Worten, die marxistische Methode zu nutzen, um den Kapitalismus als einen Moment im Gesamtdrama der menschlichen Geschichte zu untersuchen. In Diskussionen mit Elementen einer neuen Generation, die zu revolutionären Positionen strebt (zum Beispiel im Internet-Diskussionsforum libcom.org), ist solch ein Vorgehen kritisiert worden, weil es nicht mehr anbiete als eine „metaphysische Geschichte“, die letztlich zu messianischen Schlussfolgerungen führe; an anderer Stelle im gleichen Forum[1] wird unser Bemühen, Schlüsse hinsichtlich des Aufstiegs und Niedergangs des Kapitalismus aus einer weitaus historischeren Perspektive zu ziehen, als ein Beispiel für ein Unterfangen betrachtet, das Marx selbst abgelehnt habe: „Die Suche nach einer  allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein“

Dieses Zitat von Marx ist oftmals aus dem Zusammenhang gerissen worden, um die Ansicht zu untermauern, dass Marx niemals versucht habe, eine allgemeine Geschichtstheorie zu erarbeiten, sondern lediglich darauf aus gewesen sei, die Gesetze des Kapitalismus zu ergründen. In welchem Zusammenhang stand denn nun dieses Zitat?

Es stammt aus einem Brief von Marx an den Herausgeber der russischen Zeitschrift Otetschestwennyje Sapiski (November 1877), in dem er auf eine „russische Kritik“ antwortete, die exakt Marx‘ Geschichtstheorie als ein dogmatisches und mechanisches Schema porträtierte, in dem jede Nation dazu bestimmt sei, exakt dieselben Entwicklungsmuster zu durchlaufen, die Marx bezüglich des Aufstiegs des Kapitalismus in Europa analysiert hatte. Seine Kritik „Aber das ist meinem Kritiker zu wenig. Er muß durchaus meine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist, was immer die geschichtlichen Umstände sein mögen, in denen sie sich befinden...“. Und in der Tat war diese Tendenz unter den ersten russischen Marxisten stark ausgeprägt; sie neigten oftmals dazu, den Marxismus als eine simple Entschuldigung für die kapitalistische Entwicklung zu präsentieren, und gingen davon aus, dass Russland unbedingt seine eigene bürgerliche Revolution durchmachen müsse, ehe es in der Lage sei, zur Stufe der sozialistischen Revolution überzugehen. Diese Tendenz trat später erneut in Erscheinung, diesmal in Form des Menschewismus.

In fraglichem Brief kommt Marx faktisch aber zu einem völlig anderen Schluss:

„Um die ökonomische Entwicklung Rußlands in voller Sachkenntnis beurteilen zu können, habe ich Russisch gelernt und dann lange Jahre hindurch die darauf bezüglichen offiziellen und sonstigen Druckschriften studiert. Das Resultat, wobei ich angekommen bin, ist dies: Fährt Rußland fort, den Weg zu verfolgen, den es seit 1861 eingeschlagen hat, so wird es die schönste Chance verlieren, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat, um dafür alle verhängnisvollen Wechselfälle des kapitalistischen Systems durchzumachen.“

Unter dem Strich meinte Marx ganz sicher nicht, dass seine Methode zur Analysierung der Geschichte im Allgemeinen samt und sonders auf jedes Land angewendet werden kann und dass seine Geschichtstheorie kein rigides System des „universellen Fortschritts“ ist, kein linearer, mechanischer Prozess, der immer in dieselbe fortschrittliche Richtung weist (selbst wenn das, was Marxismus genannt wurde, zunächst in den Händen der Menschewiki, später in jenen des Stalinismus zu genau dem wurde). Er hatte Anlass anzunehmen, dass Russland durch die Verschmelzung einer proletarischen Revolution in den fortgeschrittenen westlichen Ländern mit den traditionellen Formen der Gemeinwirtschaft auf der Basis der russischen Landwirtschaft von den Schrecken der kapitalistischen Umwandlung ausgenommen bleiben könnte. Die Tatsache, dass die Dinge am Ende anders ausgingen, nimmt dem Open-End-Szenario von Marx nicht seine Relevanz. Darüber hinaus: seine Methode ist konkret und schließt die Berücksichtigung der aktuellen historischen Umstände, unter denen eine entsprechende Gesellschaftsform auftritt, mit ein. Im gleichen Brief gibt Marx ein Beispiel dafür, wie er arbeitet: „An mehreren Stellen im „Kapital“ spiele ich auf das Schicksal an, das die Plebejer des alten Roms ereilte. Das waren ursprünglich freie Bauern, die, jeder auf eigne Rechnung, ihr eignes Stück Land bebauten. Im Verlauf der römischen Geschichte wurden sie expropriiert. Die gleiche Entwicklung, die sie von ihren Produktions- und Subsistenzmitteln trennte, schloß nicht nur die Bildung des Großgrundbesitzes, sondern auch die großer Geldkapitalien ein. So gab es eines schönen Tages auf der einen Seite freie Menschen, die von allem, außer ihrer Arbeitskraft, entblößt waren, und auf der andern, zur Ausbeutung dieser Arbeit, die Besitzer all der erworbenen Reichtümer. Was geschah? Die römischen Proletarier wurden nicht Lohnarbeiter, sondern ein faulenzender Mob, noch verächtlicher als die sog. „poor whites“ der Südstaaten der Vereinigten Staaten, und an ihrer Seite entwickelte sich keine kapitalistische, sondern eine auf Sklavenarbeit beruhende Produktionsweise. Ereignisse von einer schlagenden Analogie, die sich aber in einem unterschiedlichen historischen Milieu abspielten, führten also zu ganz verschiedenen Ergebnissen. Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser Erscheinung finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.“

Doch was dieses Beispiel nicht zeigt, ist, dass Marx‘ Theorie jeden Versuch ausschloss, eine allgemeine Dynamik der vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen zu skizzieren, und dass daher jede allgemeine Diskussion über Aufstieg und Fall von Gesellschaftssystemen ein unsinniges und aussichtsloses Unterfangen sei. Der unerhörte Aufwand an Energie, den Marx in seinen letzten Jahren in das Studium der russischen „Kommune“ und der allgemeinen Frage des Urkommunismus steckte, und der Umfang des Platzes, der der Analyse der vorkapitalistischen Gesellschaftsformen in den Grundrissen und anderswo gewidmet wurde, spricht deutlich gegen diesen Vorschlag. Letztgenanntes Beispiel zeigt, dass Marx auf ein separates Studium von Gesellschaftsformen beharrte, statt die verschiedenen Formen miteinander zu vergleichen, um auf diese Weise „einen Fingerzeig zu finden“ auf das fragliche Phänomen; es zeigt nicht, dass Marx sich weigerte, vom Besonderen zum Allgemeinen zu gehen, als es darum ging, zu einem Verständnis der Bewegungskräfte der Geschichte zu gelangen.

Vor allem wird der Vorwurf, dass Versuche, den Kapitalismus im Zusammenhang mit der sukzessiven Abfolge von Produktionsweisen zu lokalisieren, ein „über-historisches“ Projekt seien, von der Herangehensweise im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie widerlegt. Dort umreißt Marx seine allgemeine Vorgehensweise und verkündet unmissverständlich das Gebiet seiner Untersuchung. Im vorherigen Artikel untersuchten wir die Passage, die sich mit früheren Gesellschaftsformen (Urkommunismus, asiatischer Despotismus, Sklaverei, Feudalismus, etc.) befasste. Wir zeigten, wie über die Gründe für ihren Aufstieg und Niedergang – genauer: der Etablierung von gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, die mal als Ansporn, mal als Hindernis in der Entwicklung der Produktivkräfte handeln – in der Tat bestimmte allgemeine Schlussfolgerungen gezogen werden konnten. In der Textpassage, die wir nun betrachten, benutzt Marx eine bloße Phrase – aber eine, die es in sich hat -, um die Tatsache zu unterstreichen, dass sein Untersuchungsgebiet die gesamte menschliche Geschichte umfasst: „Mit dieser Gesellschaftsformation schließt die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ Was genau meint Marx mit diesem Begriff?

Ende der Geschichte oder Ende der Vorgeschichte?

Als 1989 der Ostblock zusammenbrach, stürzte sich die herrschende Klasse im Westen in eine massive Propagandakampagne, die auf dem Slogan „Der Kommunismus ist tot“ beruhte und frohlockend den Schluss zog, dass Marx, der „Prophet“ des Kommunismus, endgültig diskreditiert sei. Das „philosophische“ Glanzstück in dieser Kampagne lieferte Francis Fukuyama, der nicht zögerte, das „Ende der Geschichte“ anzukündigen – der definitive Triumph des liberal-demokratischen Kapitalismus, der – zugegeben auf fehlerhafte, aber grundsätzlich menschliche Weise – dem Krieg und der Armut ein Ende bereiten und die Menschheit von der Bürde der weltweiten Krisen befreien werde. „Was wir möglicherweise erleben, ist nicht bloß das Ende des Kalten Krieges oder eine besondere Phase der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte als solcher …Das heißt der Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als letzte menschliche Regierungsform.“[2]

Die beiden Jahrzehnte, die diesen Ereignissen folgten, mit ihrer allgegenwärtigen militärischen Barbarei und ihren Völkermorden, mit der wachsenden Kluft zwischen arm und reich auf weltweiter Ebene, mit der wachsenden Gewissheit, dass wir einer Umweltkatastrophe planetarischen Ausmaßes entgegensteuern, unterminierten schnell Fukuyamas selbstgefällige These, die er zusammen mit seiner unkritischen Unterstützung für die herrschende neo-konservative Fraktion im US-Staat etwas modifizierte. Und heute, mit dem Ausbruch einer tiefen Wirtschaftskrise in dem Zentrum des triumphierenden liberal-demokratischen Kapitalismus, gibt man sich mit solchen Behauptungen nur noch der Lächerlichkeit preis – inzwischen können auch Marx und seine Visionen eines Kapitalismus, der durch die Krise abgewrackt wird, nicht länger als Überbleibsel einer längst vergangenen Ära der Dinosaurier abgetan werden.

Marx bemerkte schon sehr früh, dass die Bourgeoisie der Ansicht war, dass ihr System das Ende der Geschichte sei, der Gipfel und das Endziel des menschlichen Strebens und der logischste Ausdruck der menschlichen Natur. Selbst ein revolutionärer Denker wie Hegel, dessen dialektische Methode auf der Erkenntnis über die Vergänglichkeit aller historischen Entwicklungsstufen und Ausdrücke beruhte, fiel in diese Falle, betrachtete er doch das herrschende preußische Regime als den endgültigen Ruhesitz des Absoluten Geistes.

Wie wir in den vorhergehenden Artikeln gesehen haben, lehnte Marx die Auffassung ab, dass der Kapitalismus, der auf Privateigentum und Ausbeutung der menschlichen Arbeit basiert, der vollkommene Ausdruck der menschlichen Natur ist. Er wies darauf hin, dass die erste Gesellschaftsform des Menschen eine Form des Kommunismus gewesen war, und identifizierte den Kapitalismus als lediglich eine unter vielen Klassengesellschaften, die der Auflösung des Urkommunismus folgten – genauso dazu verdammt, in Folge seiner inneren Widersprüche zu verschwinden.

Der Kapitalismus – die letzte Episode in der Reihe

Doch der Kapitalismus ist in der Tat die letzte Episode in dieser Reihe, „...die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus...“.

Und warum? Weil „...,aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus.“

Der Begriff „Produktivkräfte“ wird mittlerweile mit einigem Misstrauen beäugt, da Marx ihn benutzt hatte. Verständlich, hat doch (wie wir im vorherigen Kapitel erklärten) die Perversion des Marxismus durch die stalinistische Konterrevolution dem Begriff der Entwicklung der Produktivkräfte eine böse Bedeutung verliehen, die Bilder der stachanowistischen Ausbeutung und des Aufbaus einer monströsen schwerindustriellen Kriegswirtschaft heraufbeschwören. Und in den letzten paar Jahrzehnten hat die rapide Zuspitzung der ökologischen Krise den fürchterlichen Preis offenbart, den die Menschheit für die Fortsetzung der hektischen „Weiterentwicklung“ des Kapitalismus bezahlt.

Laut Marx können die Produktivkräfte nicht als eine irgendwie autonome Macht verstanden werden, die die menschliche Geschichte bestimmt – dies trifft nur insoweit zu, dass sie als das Produkt entfremdeter Arbeit aus den Händen der Spezies geraten sind, die sie zunächst entwickelt hatte. Doch aus dem gleichen Grund stehen diese Kräfte an sich, durch besondere Formen der gesellschaftlichen Organisation in Bewegung gesetzt, der Menschheit nicht feindselig gegenüber, wie in den anti-technologischen Albträumen der Primitivisten und anderer Anarchisten. Im Gegenteil, auf einer bestimmten Stufe ihrer kostspieligen und widersprüchlichen Entwicklung sind sie der Schlüssel zur Befreiung der menschlichen Spezies aus einer Jahrtausende alten Mühsal und Ausbeutung, indem sie dafür sorgen, dass die Menschheit ihre gesellschaftlichen Verhältnisse so weit umorganisiert, dass die immense Macht, die sich im Kapitalismus entwickelt hat, für die Befriedigung der tatsächlichen menschlichen Bedürfnisse genutzt werden kann.

Solch eine Umorganisierung ist in der Tat wegen der innerkapitalistischen Existenz einer „Produktivkraft“, des Proletariats, möglich, die erstmals sowohl eine ausgebeutete als auch eine revolutionäre Klasse ist, im Gegensatz beispielsweise zur Bourgeoisie, die, obwohl sie in der Opposition zur alten feudalen Klasse revolutionär war, selbst zum Geburtshelfer einer neuen Form der Klassenausbeutung wurde. Die Arbeiterklasse dagegen hat kein Interesse, ein neues Ausbeutungssystem zu errichten, weil sie sich nur befreien kann, wenn sie die Menschheit im Allgemeinen befreit. Wie Marx es in Die deutsche Ideologie formulierte: „daß in allen bisherigen Revolutionen die Art der Tätigkeit stets unangetastet blieb und es sich nur um eine andre Distribution dieser Tätigkeit, um eine neue Verteilung der Arbeit an andre Personen handelte, während die kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt und die Herrschaft aller Klassen mit den Klassen selbst aufhebt, weil sie durch die Klasse bewirkt wird, die in der Gesellschaft für keine Klasse mehr gilt, nicht als Klasse anerkannt wird, schon der Ausdruck der Auflösung aller Klassen, Nationalitäten etc. innerhalb der jetzigen Gesellschaft ist“.

Dies bedeutet jedoch auch, die Menschheit von den Narben einer Jahrtausende alten Klassenherrschaft und, mehr noch, von den Hunderttausenden von Jahren zu befreien, in denen die Menschheit von materiellem Mangel und vom Daseinskampf dominiert wurde.

Die Menschheit gelangt also zu einem Punkt, an dem es zu einem definitiven Bruch mit allen früheren historischen Epochen kommt. Daher spricht Marx vom „Ende der Vorgeschichte“. Wenn es dem Proletariat gelingt, die Herrschaft des Kapitals zu überwinden und, nach einer mehr oder weniger langen Übergangsperiode, eine kommunistische Weltgesellschaft zu schaffen, dann wird es künftigen Menschengeschlechtern möglich sein, in vollem Bewusstsein ihre eigene Geschichte zu machen. Engels formuliert diesen Punkt sehr eloquent in einer Passage im Anti-Dühring:

„Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft ist die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche. Der Umkreis der die Menschen umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die nun zum ersten Male bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eignen Vergesellschaftung werden. Die Gesetze ihres eignen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht. Die eigne Vergesellschaftung der Menschen, die ihnen bisher als von Natur und Geschichte oktroyiert gegenüberstand, wird jetzt ihre eigne freie Tat. Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.“

In solchen Passagen bekräftigen Marx und Engels den weiten Horizont ihrer historischen Vision, zeigen die zugrundeliegende Einheit aller bis dahin existierenden Epochen der menschlichen Geschichte auf und legen dar, wie der historische Prozess, ungeachtet der Tatsache, dass all das unbewusst, blind abläuft, dennoch die Bedingungen für einen qualitativen Schritt schafft, der nicht weniger umwälzend ist wie das erste Auftreten des Menschen aus dem Tierreich.

Diese grandiose Vision wurde von Trotzki fünfzig Jahre später, am 27. November 1932, in einer Lesung vor dänischen Studenten, nicht lange nach seinem Exil aus Russland, wiederholt. Trotzki berief sich dabei auf das Material, das die menschlichen und Naturwissenschaften geschaffen hatten, insbesondere auf die Entdeckungen der Psychoanalyse, um genauer aufzuzeigen, was dieser Schritt für das Innenleben des Menschen beinhaltet: „Die Anthropologie, Biologie, Physiologie, Psychologie haben Berge von Material gesammelt, um vor dem Menschen in vollem Umfange die Aufgaben seiner eigenen körperlichen und geistigen Vervollkommnung und weiteren Entwicklung aufzurichten. Die Psychoanalyse hob mit Sigmund Freuds genialer Hand den Deckel vom Brunnen, der poetisch die „Seele“ des Menschen genannt wird. Und was hat sich erwiesen? Unser bewußtes Denken bildet nur ein Teilchen in der Arbeit der finsteren psychischen Kräfte. Gelehrte Taucher steigen auf den Boden des Ozeans und fotografieren dort geheimnisvolle Fische. Indem der menschliche Gedanke auf den Boden seines eigenen seelischen Brunnens hinabsteigt. muß er die geheimnisvollsten Triebkräfte der Psyche beleuchten und sie der Vernunft und dem Willen unterwerfen. Ist er einmal mit den anarchischen Kräften der eigenen Gesellschaft fertig geworden, wird der Mensch sich selbst in Arbeit nehmen, in den Mörser, in die Retorte des Chemikers. Die Menschheit wird zum ersten Male sich selbst als Rohmaterial, bestenfalls als physisches und psychisches Halbfabrikat betrachten.“[3]

In beiden Textpassagen wird deutlich gemacht, was alle bisherigen Geschichtsepochen einte: In diesem gewaltigen Zeitraum war der Mensch „...ein physisches und psychisches Halbfabrikat...“ – noch immer in einem gewissen Sinn eine Spezies im Übergang vom Tierreich zu einer voll ausgeprägten menschlichen Existenz.

Unter allen bisherigen Gesellschaften konnte einzig der Kapitalismus der Auftakt zu solch einem qualitativen Sprung sein, weil er die Produktivkräfte so weit entwickelt hat, dass die fundamentalen Probleme der materiellen Existenz der Menschheit – die Versorgung der Lebensbedürfnisse eines jeden auf dem Planeten – endlich gelöst werden können, was den Menschen die Freiheit ermöglicht, ihre kreativen Kapazitäten ohne Grenzen zu entwickeln und endlich ihr wahres, verstecktes Potenzial auszuschöpfen. Und hier wird die wahre Bedeutung der „Produktivkräfte“ offensichtlich: Die Produktivkräfte sind im Wesentlichen die kreativen Kräfte der Menschheit, die sich bis dahin nur in einer beschränkten und verzerrten Weise  ausdrücken konnten, die aber zu ihrer wahren Geltung kommen, sobald die Beschränkungen der Klassengesellschaft überwunden worden sind.

Mehr noch: der Kommunismus, eine Gesellschaft ohne Privateigentum und Ausbeutung, ist zur einzig möglichen Grundlage für die Weiterentwicklung der Menschheit geworden, da die in der verallgemeinerten Lohnarbeit und der Warenproduktion verinnerlichten Widersprüche die Menschheit mit der Auflösung aller sozialen Bande und gar der Zerstörung der eigentlichen Grundlagen menschlichen Lebens bedrohen. Die Menschheit wird mit sich selbst und der Natur in Harmonie leben, oder sie wird überhaupt nicht leben. Marx‘ Einschätzung in Die deutsche Ideologie, verfasst in der Jugendzeit des Kapitalismus, wird umso dringlicher und unvermeidlicher, je tiefer der Kapitalismus in seinen Niedergang stürzt: „Es ist also jetzt so weit gekommen, daß die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen, nicht nur um zu ihrer Selbstbetätigung zu kommen, sondern schon überhaupt um ihre Existenz sicherzustellen.“

Der Kommunismus löst somit das Grundrätsel der menschlichen Geschichte: Wie sichern wir uns die Lebensnotwendigkeiten, um das Leben in seiner ganzen Fülle zu genießen? Doch anders als die kapitalistische Ideologie betrachtet der kommunistische Standpunkt den Kommunismus nicht als einen statischen Endpunkt. In den Ökonomischen und philosophischen Manuskripten von 1844 stellt Marx den Kommunismus durchaus als „das aufgelöste Rätsel der Geschichte“ dar, aber er betrachtet ihn auch als Ausgangspunkt, von dem aus die wahre Geschichte der Menschheit beginnen kann: „Der Kommunismus ist die Position als Negation der Negation, darum das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung. Der Kommunismus ist die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung – die Gestalt der menschlichen Gesellschaft.“[4]

Der Standpunkt der Zukunft

Bezeichnenderweise endet Marx‘ Plädoyer für die Notwendigkeit, auf die Vergangenheit zu schauen, mit einem Blick in die ferne Zukunft. Und auch dies steht völlig mit seiner Methode in Einklang, zum Ärgernis für jene, die meinen, Fragen von solcher Tragweite enden unweigerlich in der „Metaphysik“. In der Tat kann festgestellt werden, dass die Zukunft stets der Ausgangspunkt für Marx gewesen war. Wie er in den Thesen über Feuerbach erläutert, war der Standpunkt des neuen Materialismus – Grundlage für die Wahrnehmung der Realität durch die Arbeiterbewegung – nicht die Anhäufung von atomisierten Egos, die die bürgerliche Gesellschaft ausmacht, sondern die „vergesellschaftete Menschheit“ bzw. der Mensch, wie er in einer wahrhaft humanen Gesellschaft sein könnte. Mit anderen Worten: die gesamte geschichtliche Bewegung bis heute muss vom Ausgangspunkt der kommunistischen Zukunft beurteilt werden. Es ist wichtig, dies im Kopf zu haben, wenn wir dazu übergehen, zu analysieren, ob eine gegebene Gesellschaftsform Faktor des „Fortschritts“ ist oder ein System, dass das Fortschreiten der Menschheit aufhält. Der Standpunkt, der sämtliche Epochen in der Geschichte der Menschheit bis jetzt als zur „Vorgeschichte“ zugehörig betrachtet, basiert nicht auf einem Vollkommenheitsideal, dessen Gelingen unvermeidlich in die Menschheit einprogrammiert ist, sondern auf einer materiellen Möglichkeit, die der Natur des Menschen und seiner Interaktionen mit der äußeren Natur innewohnt – einer Möglichkeit, deren Realisierung scheitern kann, eben weil ihre Realisierung letztendlich von der bewussten menschlichen Tat abhängt. Doch die Tatsache, dass es keine Erfolgsgarantie für das kommunistische Projekt gibt, ändert nichts an dem Urteil, das die Revolutionäre, die „die Zukunft in der Gegenwart darstellen“, über die kapitalistische Gesellschaft fällen, sobald diese den Punkt erreicht hat, wo der Sprung ins Reich der Freiheit auf globaler Ebene möglich wird: dass der Kapitalismus als System der gesellschaftlichen Reproduktion überflüssig, obsolet, dekadent geworden ist.

Gerrard

 



[1] Vgl. z.B.  https://libcom.org/forums/thought/general-discussion-decadence-theory-17... [1].

 

[2] The End of History and the Last Man (Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch), Fukuyama, 1992 (von uns aus dem Englischen übersetzt).

 

[3] Leo Trotzki, Kopenhagener Rede, November 1932, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1932/11/koprede.htm [2]

 

[4] Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Drittes Manuskript, Privateigentum und Arbeit

 

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [3]

Die Welt am Rande einer Umweltkatastrophe (Teil II) – Wer ist verantwortlich?

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Im ersten Artikel dieser Serie zur Umweltfrage, der auf unserer Webseite und in der Internationalen Revue Nr. 41 veröffentlicht wurde, haben wir eine Bestandsaufnahme gemacht und versucht, das Wesen der Gefahr herauszuarbeiten, vor der die ganze Menschheit steht. Zu den bedrohlichsten Erscheinungen auf dem ganzen Erdball gehören:

-     Die Zunahme des Treibhauseffektes      

-     Die enorme Müllproduktion und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für dessen Entsorgung

-     Die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und die Tatsache, dass diese von Umweltverschmutzung bedroht sind.

Wir setzen die Artikelserie mit diesem zweiten Artikel fort. Wir wollen aufzeigen, dass die Umweltprobleme nicht die Schuld irgendeiner Einzelperson oder bestimmter Unternehmen sind, die Umweltschutzgesetze nicht respektieren würden - obgleich man natürlich auch von der Verantwortung Einzelner oder einzelner Betriebe sprechen muss -, sondern dass der Kapitalismus mit seinen Gesetzen der Profitmaximierung der wahre Verantwortliche ist.

Anhand einer Reihe von Beispielen wollen wir versuchen aufzuzeigen, auf welcher Ebene die spezifischen Mechanismen des Kapitalismus die ausschlaggebenden Probleme der Umweltverschmutzung hervorrufen, unabhängig vom Willen irgendeines Kapitalisten. Die weit verbreitete Auffassung, der zufolge der heute erreichte wissenschaftliche Fortschritt uns immer besser vor Naturkatastrophen schützen und entscheidend dazu beitragen könnte, Umweltprobleme zu vermeiden, werden wir verwerfen. Anhand einiger Zitate von Amadeo Bordiga werden wir aufzeigen, dass die moderne kapitalistische Technologie keinesfalls gleichzusetzen ist mit Sicherheit, und dass die Entwicklung der Wissenschaft und der Forschung nicht von der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse geleitet wird, sondern den kapitalistischen Erfordernissen der Realisierung des größtmöglichen Profits unterworfen ist. Diese unterliegen den Gesetzen des Kapitalismus, der Konkurrenz und den Regeln des Marktes - und wenn notwendig - auch den Erfordernissen des Krieges. Im dritten und letzten Artikel wollen wir dann auf die Lösungsvorschläge der verschiedenen Bewegungen der Umweltschützer usw. Eingehen, um deren völlige Wirkungslosigkeit ungeachtet des guten Willens der meisten Umweltschützer aufzuzeigen und zu verdeutlichen, dass aus unserer Sicht nur die kommunistische Weltrevolution eine Lösung bringen kann.

Die Identifizierung des Problems und seiner Ursachen

Wer ist für die verschiedenen Umweltkatastrophen verantwortlich? Die Beantwortung dieser Frage ist von größter Wichtigkeit, nicht nur aus ethischer und moralischer Sicht, sondern auch und vor allem weil die richtige oder falsche Identifizierung der Ursachen des Problems entweder zur richtigen Lösung des Problems oder in eine Sackgasse führen kann. Wir werden zunächst eine Reihe von Gemeinplätzen, falschen Antworten oder nur teilweise richtigen Antworten besprechen, von denen es keiner gelingt, die wirkliche Ursache und den Verantwortlichen für die heute wachsende Umweltzerstörung zu identifizieren. Wir wollen im Gegenteil zeigen, in welchem Maße diese Dynamik keine gewünschte oder bewusste, sondern eine objektive Folge des kapitalistischen Systems ist.

Das Problem wäre nicht so schwerwiegend, wie man uns glauben machen will.

Heute stellt sich jede Regierung jeweils „grüner" dar als alle anderen. Die Aussagen der Politiker, die man jahrzehntelang hören konnte, haben sich geändert. Aber diese Einschätzung ist immer noch eine klassische Position der Unternehmer, die gegenüber einer Gefahr, welche Arbeiter, die Bevölkerung oder die Umwelt bedroht, ganz einfach dazu neigt, die Tragweite des Problems herunterzuspielen, weil Maßnahmen für die Sicherheit am Arbeitsplatz bedeutet, mehr Geld auszugeben und aus den Arbeitern weniger Profit herauszupressen. Dies wird jeden Tag ersichtlich anhand der Hunderten von Toten, die tagtäglich auf der ganzen Welt auf der Arbeit sterben, was den Aussagen der Unternehmer zufolge nur als einfache Fatalität angesehen werden soll, obwohl es sich in Wirklichkeit um ein echtes Produkt der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeitskraft handelt.

Das Problem besteht, aber seine Wurzeln sind umstritten

Der große Müllberg, der von der gegenwärtigen Gesellschaft produziert wird, wäre einigen Erklärungen zufolge auf -unserenì Konsumrausch zurückzuführen. Tatsächlich aber haben wir es mit einer Wirtschaftspolitik zu tun, die zur Förderung von Wettbewerbsvorteilen beim Verkauf von Waren seit Jahrzehnten danach strebt, Kosten zu senken, indem ungeheure Mengen nicht abbaubares Verpackungsmaterial verwendet werden.[1]

Anderen zufolge wäre die Umweltverschmutzung des Planeten die Folge eines mangelnden Bürgersinns, dem gegenüber man reagieren müsse, indem man Kampagnen zur Säuberung von Stränden, Parks usw. anleiert, um so die Bevölkerung besser zu erziehen. Aus gleicher Perspektive beschuldigt man einen Teil der Regierungen unfähig zu sein, die Anwendung der Gesetze im Schiffsverkehr usw. zu überwachen. Oder auch die Mafia und ihr Handel mit verseuchtem Müll werden herangezogen, als ob die Mafia diesen produzieren würde und nicht die Industrie, welche zum Zweck der Kostensenkung bei der Produktion auf die Mafia zurückgreift, um ihre schmutzigen Geschäfte zu verrichten. Industrielle seien tatsächlich schuld, aber nur die schlechten unter ihnen, die Habgierigen.

Als ein Vorfall bekannt wurde wie der Brand bei Thyssen Krupp in Turin im Dezember 2007, bei dem sieben Arbeiter aufgrund der Nichtbeachtung der Sicherheitsnormen und des Brandschutzes ums Leben kamen, kam es auch unter Industriellen zu Solidaritätsäußerungen. Aber dabei wurde nur die irreführende Idee geäußert, dass solche Vorfälle nur eintreten, weil es skrupellose Manager gebe, die sich auf Kosten der anderen bereicherten.

Aber stimmt das wirklich? Gibt es auf der einen Seite gierige Kapitalisten, und auf der anderen solche, die sich verantwortlich verhalten und gute Manager ihres Unternehmens sind?

Einzig verantwortlich für die Umweltkatastrophe - das kapitalistische Produktionssystem

Alle Ausbeutungsgesellschaften, die dem Kapitalismus vorhergingen, haben zur Umweltverschmutzung insbesondere im Bereich der Produktion mit beigetragen. Einige Gesellschaften, die die ihnen zur Verfügung stehenden Reichtümer der Natur exzessiv ausgebeutet haben, wie dies wahrscheinlich bei den Bewohnern der Osterinseln [2] der Fall war, sind aufgrund der Erschöpfung dieser Reichtümer untergegangen. Aber die dadurch entstandenen Schäden stellten in diesen Gesellschaften keine solch große Gefahr dar, dass dadurch das Überleben des Planeten selbst bedroht gewesen wäre, wie das heute mit dem Kapitalismus der Fall ist. Ein Grund dafür liegt darin, nachdem der Kapitalismus einen ungeheuer gewaltigen Schub des Wachstums der Produktivkräfte ermöglichte, hat der Kapitalismus auch zu einem ähnlich gewaltigen Anwachsen der damit verbundenen Gefahren geführt, die nun den gesamten Erdball bedrohen, nachdem das Kapital diesen vollständig erobert hat. Aber dies ist nicht die wesentlichste Erklärung, da die Entwicklung der Produktivkräfte als solche nicht notwendigerweise bezeichnend für die mangelnde Beherrschung derselben ist. Es geht vor allem darum, wie diese Produktivkräfte von der Gesellschaft verwendet und verwaltet werden. Dabei stellt sich der Kapitalismus als der Höhepunkt eines historischen Prozesses dar, bei dem alles der Herrschaft der Waren geopfert wird und ein weltweit bestimmendes, Waren produzierendes System regiert, in dem alles verkauft werden kann. Wenn die Gesellschaft aufgrund der Herrschaft der Warenbeziehungen in ein Chaos gestürzt wird, das weit über das enge Phänomen der Umweltverschmutzung hinausgeht, sondern auch zu einer Verknappung der Reichtümer der Natur führt, es dabei immer mehr zu einer wachsenden Verwundbarkeit durch „Naturkatastrophen" kommt, geschieht dies aufgrund einer Reihe von Gründen, die wir kurz zusammenfassen können:

-   die Arbeitsteilung, mehr noch die Produktion unter der Herrschaft des Geldes und des Kapitals spaltet die Menschheit in eine Vielzahl von konkurrierenden Einheiten;

-   das Ziel ist nicht die Produktion von Gebrauchswert, sondern die Produktion von Tauschwert ; von Waren, die um jeden Preis abgesetzt werden müssen, egal welche Konsequenzen dabei für die Menschheit und den Planeten entstehen, damit so Profite realisiert werden können.

Diese Notwendigkeit zwingt die Kapitalisten ungeachtet der mehr oder weniger großen Moral der einzelnen Kapitalisten dazu, ihr Unternehmen der Logik der größtmöglichen Ausbeutung der Arbeiterklasse zu unterwerfen.

Dies führt zu einer Verschwendung und einem gewaltigen Verschleiß der menschlichen Arbeitskraft und der Ressourcen der Erde, auf die Marx schon in Das Kapital hingewiesen hat:

„Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die gesteigerte Produktivkraft und größre Flüssigmachung der Arbeit erkauft durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung der Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. (...) Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter" (Karl Marx, Das Kapital, Bd 1, IV. Abschnitt: Die Produktion des relativen Mehrwerts ; 13. Kapitel: Maschinerie und große Industrie, 10. Große Industrie und Agrikultur, MEW Bd 23, S. 529).

Als Gipfel der Irrationalität und der Absurdität der Produktion im Kapitalismus findet man nicht selten Unternehmen, die chemische Erzeugnisse herstellen, welche die Umwelt stark verschmutzen aber gleichzeitig auch Kläranlagen verkaufen, die den Boden und das Wasser von den gleichen Umweltverschmutzern säubern sollen. Andere stellen Zigaretten her und Produkte, die den Zigarettenkonsum verhindern sollen, wiederum andere sind Waffenhändler, verkaufen aber gleichzeitig pharmazeutische Produkte und medizinische Geräte.

Dies sind Gipfel, die in früheren Gesellschaften nicht existierten, als die Güter im Wesentlichen noch wegen ihres Gebrauchswertes hergestellt wurden (oder weil sie nützlich für die Produzenten oder die Ausgebeuteten waren oder dem Prunk der herrschenden Klasse dienten).

Das wahre Wesen der Warenproduktion macht es den Kapitalisten unmöglich, sich für den Nutzen, die Art und die Zusammensetzung der hergestellten Güter zu interessieren. Ihn interessiert einzig und allein, wie man damit Geld machen kann. Dieser Mechanismus hilft uns zu verstehen, warum eine Reihe von Waren nur eine begrenzte Haltbarkeit hat, wenn sie nicht gar vollständig nutzlos sind.

Da die kapitalistische Gesellschaft vollständig auf Konkurrenz fußt, bleiben die Kapitalisten, auch wenn sie in Teilbereichen Absprachen treffen können, im Wesentlichen unnachgiebige Konkurrenten. Die Marktlogik verlangt nämlich, dass das „Glück" des einen dem „Pech" des anderen entspricht. Dies bedeutet, dass jeder Kapitalist nur für sich selbst produziert, jeder ist Rivale des anderen, und es kann keine wirkliche Planung geben, die von allen Kapitalisten lokal und international abgestimmt wird, sondern nur einen ständigen Wettbewerb mit Verlierern und Gewinnern. Und in diesem Krieg ist einer der Verlierer gerade die Natur.

Bei der Wahl eines neuen industriellen Produktionsstandortes oder der Flächen und der Modalitäten eines neuen landwirtschaftlichen Anbauproduktes berücksichtigt der Unternehmer nur seine unmittelbaren Interessen; für ökologische Belange gibt es keinen Raum. Auf internationaler Ebene gibt es kein zentralisiertes Organ, welches über genügend Autorität verfügt, um eine Orientierung zu geben oder einzuhaltende Grenzen oder Kriterien zu erzwingen. Im Kapitalismus werden Entscheidungen nur getroffen aufgrund der Realisierung des höchst möglichen Profites, so dass z.B. ein Einzelkapitalist am profitträchtigsten produzieren und verkaufen kann, oder der Staat die Maßnahmen durchsetzt, die am besten den Interessen des nationalen Kapitals entsprechen und damit global den Kapitalisten der jeweiligen Nation.

Es gibt zwar in jedem Land Gesetze, die gewisse Grenzen setzen. Wenn sie zu starke Einschränkungen mit sich bringen, geschieht es häufig, dass ein Unternehmen zur Erhöhung seiner Rentabilität einen Teil seiner Produktion in Länder verlagert, wo diese Auflagen geringer sind. So hatte Union Carbide, ein amerikanischer Chemie-Multi eines seiner Werke in Bhopal, Indien, errichtet, ohne dort allerdings ein ausreichendes Kühlsystem zu installieren. 1984 entwich in diesem Werk eine giftige Gaswolke mit 40 Tonnen Pestiziden. Unmittelbar und in den darauffolgenden Jahren starben mindestens 16.000 Menschen, ca. Eine Million Menschen erlitten irreparable physische Schäden. [3] Die Regionen und Meere in der Dritten Welt werden oft als billige Müllhalden benutzt, wo Firmen, die ihren Sitz in den entwickelten Ländern haben, ihren Giftmüll entweder legal oder illegal entsorgen, weil die Kosten für die Entsorgung in den Industriestaaten sehr viel höher liegen.

Solange es auf internationaler Ebene keine koordinierte und zentralisierte Planung für die Landwirtschaft und Industrie gibt, welche die notwendige Abstimmung der heutigen Bedürfnisse und die Erhaltung der Umwelt für morgen sicherstellt, werden die Mechanismen des Kapitalismus weiterhin die Natur mit all ihren dramatischen Folgen zerstören.

Häufig wird die Schuld für diese Zustände den Multis oder einer besonderen Industriebranche aufgrund der Tatsache zugeschoben, dass die Ursprünge des Problems in den „anonymen" Mechanismen des Marktes liegen.

Aber könnte der Staat diesem Wahnsinn ein Ende setzen, wenn er verstärkt eingreifen würde? Nein, weil der Staat diese Anarchie nur „regulieren" kann. Durch die Verteidigung der Landesinteressen trägt der Staat zur Verstärkung der Konkurrenz bei. Im Gegensatz zu den Forderungen der NGO (Nicht-Regierungsorganisationen) und der Antiglobalisierungsbewegung vermag ein verstärktes Eingreifen des Staates die Probleme der kapitalistischen Anarchie nicht zu lösen. Übrigens hat der Staat ungeachtet des früher proklamierten „Liberalismus" , und wie die jüngste Krisenentwicklung wieder offenbarte, in Wirklichkeit schon verstärkt eingegriffen.

Quantität gegen Qualität

Wie wir gesehen haben ist das einzige Anliegen der Verkauf von Waren zu einem Höchstprofit. Aber es geht hier nicht um den Egoismus eines einzelnen, sondern um ein Gesetz des Systems, dem sich kein Unternehmen, ob groß oder klein, entziehen kann. Das wachsende Gewicht der Investitionskosten in der Industrie bedeutet, dass diese gewaltigen Investitionskosten nur durch einen immer größeren Absatz amortisiert werden können.

So muss zum Beispiel der Flugzeughersteller Airbus mindestens 600 Exemplare seines Großflugzeuges A 380 absetzen, bevor er damit Gewinn macht. Oder PKW-Hersteller müssen Hunderttausende Autos verkauft haben, bevor sich ihre Investitionskosten amortisieren. Kurzum, jeder Kapitalist muss so viel wie möglich verkaufen und dafür ständig nach neuen Märkten suchen. Aber dazu muss er sich auf einem gesättigten Markt gegenüber seinen Konkurrenten durchsetzen, was ihn wiederum zwingt, mit einem Riesenaufwand Werbung zu betreiben, die eine große Verschwendung menschlicher Arbeit und natürlicher Ressourcen mit sich bringt, wie z.B. der Druck von Tausenden Tonnen Werbematerial auf Hochglanzpapier.

Diese Gesetze der Wirtschaft (welche zur Kostensenkung treiben, und damit auch eine Minderung der Produktionsqualität und Massenproduktion erforderlich machen) bewirken, dass der Kapitalist sich kaum um die Zusammensetzung seiner Produkte kümmert und sich auch nicht die Frage stellen muss, ob die Erzeugnisse gefährlich sind. Obwohl die Gesundheitsgefährdung durch fossile Brennstoffe (als Krebserreger) seit langem bekannt ist, ergreift die Industrie keine entsprechenden Maßnahmen, um das Übel zu bekämpfen. Die Gesundheitsgefährdungen durch Asbest sind auch seit Jahren bekannt. Aber erst das qualvolle Dahinsiechen und der schreckliche Tod von Tausenden von Arbeitern haben die Industrie gezwungen, sehr spät zu reagieren. Viele Nahrungsmittel sind mit Zucker und Salz oder mit Glutamaten angereichert, um deren Absatz auf Kosten von Gesundheitsschädigungen zu erhöhen. Eine unglaublich große Menge von Nahrungsmittelzusätzen wird verwendet, ohne dass die daraus entstehenden Risiken für den Verbraucher bekannt sind, obwohl man mittlerweile festgestellt hat, dass viele Krebsarten ernährungsbedingt sind.

Einige altbekannten Irrationalitäten der Produktion und des Verkaufs

Einer der irrationalsten Aspekte des gegenwärtigen Produktionssystems ist, dass die Waren oft um die Welt befördert werden, bevor sie als Endprodukt auf den Markt gelangen. Dies hängt keineswegs mit der Beschaffenheit der Waren zusammen oder einem Erfordernis der Produktion, sondern einzig weil die Verarbeitung in dem einen oder anderen Land günstiger ist. Ein berühmtes Beispiel ist die Herstellung von Joghurt. Milch wird von Deutschland nach Italien über die Alpen transportiert, wo sie zu Joghurt verarbeitet wird, um dann wieder von Italien nach Deutschland befördert zu werden. Ein anderes Beispiel ist das der Automobilproduktion. Die Einzelteile kommen aus verschiedenen Ländern, bevor sie in der Endmontage am Fließband zusammengeführt werden. Im Allgemeinen, bevor ein Gut auf dem Markt zur Verfügung steht, haben seine Bestandteile schon Tausende von Kilometern in der unterschiedlichsten Form zurückgelegt. Elektro- oder Haushaltsgeräte werden z.B. in China in diesem Fall aufgrund der sehr niedrigen Löhne hergestellt, und weil es dort quasi keine oder nur ganz wenige Umweltauflagen gibt, obwohl es aus technischer Sicht keine Schwierigkeiten gegeben hätte, diese Produkte dort zu produzieren, wo sie verkauft werden. Oft werden Produkte zunächst im „Verbraucherland" auf den Markt gebracht, bevor deren Produktion dann später ausgelagert wird, weil die Produktionskosten, vor allem die Löhne anderswo niedriger sind.

Das Beispiel von Weinen, die in Chile, Australien oder in Kalifornien hergestellt und auf europäischen Märkten verkauft werden, während gleichzeitig in Europa die Reben aufgrund der Überproduktion verfaulen, oder das Beispiel der Äpfel, die aus Südafrika importiert werden, während die europäischen Apfelbauern nicht mehr wissen wohin mit ihren Überschüssen, sprechen auch für sich.

Aufgrund der Logik des maximalen Profits anstatt eines rationalen Einsatzes und aufgrund des minimalen Einsatzes von Menschen, Energie und natürlichen Ressourcen, werden die Waren irgendwo auf dem Planeten hergestellt, um dann in andere Teile der Welt zum Verkauf befördert zu werden. Deshalb wundert es nicht, dass Waren mit gleicher technologischer Zusammensetzung und Wert wie Automobile, die von verschiedenen Herstellern auf der Welt produziert werden, in Europa zusammengebaut werden, um anschließend in Japan oder den USA verkauft zu werden, während gleichzeitig in Japan oder Korea fabrizierte Autos auf dem europäischen Markt verkauft werden. Dieses Transportnetz an Waren - in dem nur Waren hin- und her gekarrt werden aufgrund der Profitgesetze, der Konkurrenz und den Marktgesetzen, ist völlig wahnwitzig und ursächlich mitverantwortlich für die katastrophalen Folgen der Umweltzerstörung.

Eine rationale Planung der Produktion und des Vertriebs könnte diese Güter zur Verfügung stellen, ohne dass sie diese verrückten Transportwege hinter sich gelegt haben, die nur ein Ausdruck des kapitalistischen Wahnsinns sind.

Der Gegensatz zwischen Stadt und Land

Die Umweltzerstörung, die aufgrund des aufgeblähten Transportnetzes entsteht, ist keine vorübergehende Erscheinung, da deren Wurzeln im tiefgreifenden Widerspruch zwischen Stadt und Land zu finden sind. Ursprünglich hat die Arbeitsteilung innerhalb der Länder Industrie und Handel von der Arbeit auf dem Land abgeschnitten. Daraus ist der Gegensatz zwischen Stand und Land mit den daraus folgenden Interessensgegensätzen entstanden. Im Kapitalismus hat dieser Gegensatz seinen Höhepunkt des Wahnsinns erreicht[4].

Zur Zeit der Landwirtschaft im Mittelalter, als die Produktion ausschließlich aus Subsistenzgründen erfolgte, war es kaum erforderlich, Waren zu transportieren. Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Arbeiter oft in der Nähe der Fabrik oder des Bergwerkes lebten, war es meist möglich, zu Fuß zu Arbeit zu gehen. Seitdem haben sich die Entfernungen zwischen Arbeitsplatz und Wohnort immer mehr erhöht. Zudem haben die Konzentration von Kapital an bestimmten Standorten (wie zum Beispiel in Industriegebieten oder unbewohnten Gebieten, um Steuervorteile oder günstige Bodenpreise auszunutzen), die Deindustrialisierung und die Explosion der Arbeitslosigkeit, verbunden mit dem Verlust von Arbeitsplätzen, die Transportwege ohnehin stark verändert. So müssen jeden Tag Hunderte von Millionen Menschen oft über lange Entfernungen pendeln. Viele von ihnen sind dabei auf Autos angewiesen, weil sie oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln ihre Arbeitsstätte nicht erreichen.

Aber schlimmer noch: die Konzentration von großen Menschenmassen am gleichen Ort wirft eine Reihe von Problemen auf, die ebenso die Umwelt in bestimmten Gebieten gefährden. Die Funktionsweise einer Bevölkerungskonzentration von 10-20 Millionen Menschen auf engstem Raum führt zu einer Anhäufung von Müll (menschliche Ausscheidungen, Haushaltsmüll, Abgase aus Fahrzeugen, der Industrie und HeizungenÖ), an einem Ort, der zu eng und klein geworden ist, um die Abfälle ausreichend zu entsorgen.

Der Albtraum der Nahrungs- und Wasserknappheit

Mit der Entwicklung des Kapitalismus wurde die Landwirtschaft den tiefst greifenden Umwälzungen ihrer mehr als 10.000 jährigen Geschichte unterworfen. Diese traten ein, weil die Landwirtschaft im Kapitalismus im Gegensatz zu den früheren Produktionsformen, als die Landwirtschaft für die direkten Bedürfnisse der Menschen produzierte, sich seitdem den Gesetzen des Weltmarktes unterwerfen musste. Dies bedeutete immer auf Kostensenkungen ausgerichtet zu sein. Die Notwendigkeit, ständig die Rentabilität zu erhöhen, hat katastrophale Auswirkungen auf die Qualität der Böden gehabt.

Diese Konsequenzen, die untrennbar mit dem Aufkommen des starken Gegensatzes zwischen Stadt und Land verbunden sind, wurden schon im 19. Jahrhundert von der Arbeiterbewegung angeprangert. Anhand der folgenden Zitate kann man erkennen, wie schon Marx auf die untrennbare Verbindung zwischen der Ausbeutung der Arbeiterklasse und der Verwüstung der Böden hingewiesen hat: „Auf der anderen Seite reduziert das große Grundeigentum die agrikole Bevölkerung auf ein beständig sinkendes Minimum und setzt ihr eine beständig wachsende, in großen Städten zusammengedrängte Industriebevölkerung entgegen; es erzeugt dadurch Bedingungen, die einen unheilbaren Riss hervorrufen in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebenen Stoffwechsels, infolge wovon die Bodenkraft verschleudert und diese Verschleuderung durch den Handel weit über die Grenzen des eigenen Landes hinausgetragen wird." (Marx, Das Kapital, Bd 3, VI. Abschnitt, Verwandlung von Surplusprofit in Grundrente ; 47. Kapitel-Genesis der kapitalistischen Grundrente ; V. Die Metäriewirtschaft und das bäuerliche Parzelleneigentum, MEW Bd 25, S. 821).

Die Landwirtschaft musste ständig immer mehr chemische Produkte verwenden, um höhere Erträge zu erzielen und mehr Anbauflächen zu schaffen. In den meisten Gebieten der Erde praktizieren Bauern Anbaumethoden, die ohne den Einsatz von großen Mengen Pestiziden, Düngemitteln und künstlichen Bewässerungen unmöglich wären. Dabei wäre es möglich, durch den Anbau von Pflanzen in anderen Gebieten auf diese Mittel zu verzichten oder diese nur in geringen Maßen zu verwenden. Alfalfa in Kalifornien, Zitrusfrüchte in Israel, Baumwolle am Aralsee in der ehemaligen Sowjetunion, Getreide in Saudi-Arabien oder im Jemen, d.h. Pflanzen in Gegenden anzubauen, in denen die natürlichen Wachstumsbedingungen nicht gegeben sind, führt zu einer gigantischen Wasserverschwendung. Die Liste der Beispiele ist endlos, denn gegenwärtig werden 40% der landwirtschaftlichen Erzeugnisse durch künstliche Bewässerung angebaut mit der Folge, dass 75% des auf der Erde verfügbaren Wassers von der Landwirtschaft verwendet wird.

So hat zum Beispiel Saudi-Arabien ein Vermögen ausgegeben, um Grundwasser abzupumpen und eine Million Hektar Fläche in der Wüste zu bewässern, weil dort Getreide angebaut wird. Für jede Tonne Getreide liefert die Regierung 3000 Kubikmeter Wasser, d.h. dreimal mehr als der übliche Wasserbedarf von Getreide. Und dieses Wasser kommt aus Brunnen, die nicht durch Regenwasser aufgefüllt werden. Ein Drittel der Bewässerungsanlagen auf der Welt greift auf Grundwasser zurück. Aber obgleich diese Grundwasservorkommen nicht wieder erneuert werden und dabei sind auszutrocknen, bestehen die Bauern der indischen Region Gujarat, die verzweifelt Wasser brauchen, darauf, Milchkühe zu züchten. So erfordert die Gewinnung von einem Liter Milch den Aufwand von 2000 Liter Wasser. In einigen Gebieten der Erde benötigt man bis zu 3000 Liter Wasser zur Gewinnung von einem Kilo Reis. Die Folgen der Bewässerung und des breitgefächerten Einsatzes von chemischen Produkten sind desaströs: Versalzung, Überdüngung, Verwüstung, Bodenerosion, sinkende Grundwasserpegel und infolge dessen versiegende Trinkwasserreserven.

Verschwendung, Urbanisierung, Dürre und Umweltverschmutzung verschärfen die weltweite Wasserkrise. Millionen und Millionen Liter Wasser verdunsten beim Einsatz von offenen Bewässerungskanälen. Vor allem in den Gebieten um die Megastädte, aber auch in ganzen Landstrichen sinkt der Grundwasserpegel ständig und irreversibel.

In der Vergangenheit war China ein Land der Wasserwirtschaft. Seine Wirtschaft und Zivilisation haben sich dank seiner Fähigkeit entwickelt, trockene Flächen zu bewässern und Dämme zu bauen, um das Land vor Überschwemmungen zu schützen. Aber im heutigen China erreicht das Wasser des mächtigen Gelben Flusses, der großen Arterie im Norden, an mehreren Monaten im Jahr nicht das Meer. 400 der 600 Städte Chinas leiden an Wassermangel. Ein Drittel der chinesischen Brunnen sind ausgetrocknet. In Indien sind 30% der Anbauflächen durch Versalzung bedroht. Auf der ganzen Welt sind insgesamt ca. 25% von dieser Geißel gefährdet.

Aber die Gewohnheit, Pflanzen in Gegenden anzubauen, die aufgrund ihres Klimas oder der Beschaffenheit ihres Bodens für deren Anbau nicht geeignet sind, ist nicht die einzige Absurdität der gegenwärtigen Landwirtschaft. Insbesondere aufgrund des Wassermangels ist die Kontrolle über Flüsse und Deiche zu einer grundlegenden strategischen Frage geworden, gegenüber der alle Nationalstaaten sich rücksichtslos über die Interessen der Natur hinwegsetzen.

In mehr als 80 Ländern wurde eine Wasserknappheit gemeldet. Einer UN-Prognose zufolge werden in den nächsten 25 Jahren ca. 5.4 Milliarden Menschen unter Wasserknappheit leiden. Obgleich es viele Anbauflächen gibt, nimmt die Zahl der tatsächlich nutzbaren Anbauflächen aufgrund der Versalzung und anderer Faktoren ständig ab. In Urgesellschaften mussten Nomadenstämme weiterziehen, als das Wasser knapp wurde. Im Kapitalismus fehlt es an Grundnahrungsmitteln, obgleich das System selbst an Überproduktion leidet. Aufgrund der verschiedenen Schäden in der Landwirtschaft ist die Nahrungsmittelknappheit vorprogrammiert. So hat zum Beispiel seit 1984 das Wachstum der Getreideproduktion nicht mehr mit dem Bevölkerungswachstum Schritt gehalten. Innerhalb von 20 Jahren ist die Getreideproduktion von 343 kg pro Person auf 303 kg pro Person gesunken.

So scheint das Gespenst der Nahrungsmittelknappheit, das von Anfang an über der Menschheit hing, jetzt wieder Einzug zu halten, nicht weil es an Anbauflächen oder an Mitteln für die Landwirtschaft fehlt, sondern aufgrund der absoluten wahnsinnigen Verwendung der Ressourcen der Erde.

Eine fortgeschrittene Gesellschaft garantiert nicht mehr Sicherheit

Während der Fortschritt der Wissenschaften und der Technologie der Menschheit Werkzeuge zur Verfügung gestellt hat, deren Existenz man in der Vergangenheit sich nicht einmal vorstellen konnte, und die heute Unfälle und Naturkatastrophen verhindern können, ist nicht von der Hand zu weisen, dass dieser Einsatz sehr kostspielig ist und die Werkzeuge nur benutzt werden, wenn sich daraus ökonomische Vorteile ergeben. Wir wollen erneut betonen, dass nicht eine egoistische und habsüchtige Haltung einzelner Unternehmer ursächlich dafür verantwortlich ist, sondern dahinter steckt der Zwang, dem sich alle Betriebe und Länder beugen müssen, die Produktionskosten der Waren oder Dienstleistungen so stark wie möglich zu senken, um in der weltweiten Konkurrenz zu überleben.

In unserer Presse haben wir dieses Problem oft aufgegriffen. Dabei haben wir aufgezeigt, dass die angeblichen Naturkatastrophen kein Zufall und auch keine Schicksalsfügung sind, sondern das logische Ergebnis der Senkung der Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen, um Geld zu sparen. So schrieben wir beispielsweise anlässlich des Wirbelsturms Hurrikans Katrina in New Orleans 2005:

„Das Argument, demzufolge diese Katastrophe nicht vorhergesehen wurde, ist Unfug. Seit fast 100 Jahren haben Wissenschaftler, Ingenieure und Politiker darüber diskutiert, wie der Verletzbarkeit New Orleans durch Überschwemmungen und Hurrikans begegnet werden könnte. Mitte der 1980er Jahre wurden durch verschiedene Gruppen von Wissenschaftlern und Ingenieuren mehrere Projekte entwickelt, die (unter der Verwaltung Clinton) 1998 zum Vorschlag des Projektes Küste 2050 führten. Dieses Projekt beinhaltete die Verstärkung und den Umbau der bestehenden Deiche, den Bau eines Systems von Schleusen und die Schaffung neuer Kanäle, durch welche das mit Sedimenten gefüllte Wasser abgeleitet würde, um die Sumpfgebiete wieder herzustellen, welche als Pufferzone im Delta dienten. Dieses Projekt erforderte allerdings die Investition von 14 Milliarden Dollar in einem Zeitraum von 10 Jahren. Washington gab zur Zeit Bushs nicht seine Zustimmung, erst unter Clinton" (International Review, 2005, Nr. 124).

Letztes Jahr hat die Armee 105 Mio. Dollar für den Kampf gegen Zyklone und Überschwemmungen in New Orleans angefordert, aber die Regierung hat nur 42 Millionen gebilligt. Gleichzeitig stimmte der Kongress der Zahlung von 231 Mio. Dollar für den Bau einer Brücke zu einer kleinen, unbewohnte Insel in Alaska zu" [5]. Wir haben auch den Zynismus und die Verantwortung der Herrschenden beim Tod von 160.000 Menschen infolge des Tsunamis vom 26. Dezember 2004 angeprangert.

Heute wird selbst offiziell klar eingestanden, dass keine Warnung ausgegeben wurde aus Furcht vor Schäden für den Tourismus! Mit anderen Worten: Zehntausende Menschenleben wurden geopfert für die Verteidigung von schmutzigen ökonomischen und finanziellen Interessen.

Diese Verantwortung der Regierungen zeigt erneut den wahren Charakter dieser Klasse auf, die sich wie Haifische bei der Verwaltung des Lebens und der Produktion in dieser Gesellschaft verhält. Die bürgerlichen Staaten sind bereit, wenn notwendig genau so viele Menschenleben zu opfern, um die Ausbeutung und die kapitalistischen Profite zu verteidigen. Und die Interessen der Kapitalisten bestimmen ebenso die Politik der herrschenden Klasse. Im Kapitalismus ist die Vorbeugung keine rentable Tätigkeit, wie heute alle Medien zugeben müssen: „Bislang haben Länder der Region sich taub gestellt, wenn es darum ging, ein Frühwarnsystem zu installieren, weil damit gewaltige finanzielle Kosten verbunden sind. Den Experten zufolge würde ein Frühwarnsystem Dutzende Millionen Dollar kosten, aber damit könnten Zehntausende Menschenleben geschützt werden." (Les Echos, 30.12.) [6]

Man könnte auch noch das Beispiel des Öls nehmen, das jedes Jahr ins Meer geschüttet wird (egal ob absichtliche oder ungewollte Verknappungen von Öl, ob aus endogenen Quellen oder ob das Öl aus Flüssen mitgeschleppt wurde usw.): Man spricht von drei bis vier Millionen Tonnen Öl jedes Jahr. Die Legambiente berichtete: „Wenn man die Ursachen der Störfälle untersucht, kann man von 64% Störfällen ausgehen, die auf menschliches Versagen zurückzuführen sind. 16% aufgrund technischer Pannen und 10% aufgrund der Struktur von Schiffen, während die verbleibenden 10% keiner eindeutig festzulegenden Ursache zuzuordnen sind" [7].

Man kann leicht nachvollziehen, wenn man von „menschlichem Versagen" spricht - wie zum Beispiel bei Unfällen im Eisenbahnbetrieb, die auf Fehler eines Eisenbahners zurückzuführen sind -, meint man Fehler, die ein Beschäftigter begangen hat, weil seine Arbeitsbedingungen starken Stress und Erschöpfung hervorrufen. Zum Beispiel lassen Ölgesellschaften oft Öltanker verkehren, selbst wenn sie alt und heruntergekommen sind, um das schwarze Gold zu befördern, denn im Fall eines Schiffuntergangs verlieren sie höchstens den Wert der Ladung, während der Kauf eines neuen Schiffs sie sehr viel mehr kostet. Deshalb sieht man immer häufiger untergegangene oder havarierte Öltanker vor den Küsten, deren Ladung entweicht. Man kann behaupten, dass insgesamt mindestens 90% der Ölpest-Vorfälle die Folge einer totalen Schlampigkeit der Ölgesellschaften sind, die darauf zurückzuführen ist, dass sie die Kosten so stark wie möglich senken und den Profit so hoch wie möglich schrauben wollen.

Es ist das Verdienst Amadeo Bordigas [8]in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg die durch den Kapitalismus verursachten Katastrophen auf eine systematische, scharfsinnige, tiefgreifende und argumentierte Art und Weise entblößt zu haben. In dem Vorwort zu seinem Buch «Drammi gialli e sinistri della moderna decadenza sociale" (Gelbe und finstere Dramen des modernen gesellschaftlichen Niedergangs), in dem verschiedene Artikel Amadeo Bordigas zusammengetragen wurden, schrieb dieser: „In dem Maße, wie der Kapitalismus sich entfaltet und dann in sein Stadium der Fäulnis eintritt, prostituiert er mehr und mehr diese Technik, die eigentlich eine Befreiung sein könnte, den Bedürfnissen der Ausbeutung, der Vorherrschaft und der imperialistischen Plünderung. Dabei wird der Punkt erreicht, wo er dessen eigene Fäulnis überträgt und sie gegen den Gattung Mensch richtet. (...) In allen Bereichen des Alltagslebens der „friedlichen" Phasen, wo wir in einer Zeit zwischen zwei imperialistischen Massakern oder zwei Unterdrückungsmaßnahmen leben, pfercht das ständig auf der Suche nach einem Höchstprofit befindliche Kapital die Menschen zusammen, und die prostituierte Technik vergiftet, erstickt, verstümmelt, massakriert die Individuen. (...) Der Kapitalismus trägt auch seine Verantwortung bei den sogenannten „Naturkatastrophen" . Ohne das Wirken von Naturkräften, die der Mensch nicht kontrollieren kann, beiseite zu lassen, zeigt der Marxismus auf, dass viele Katastrophen indirekt durch gesellschaftliche Ursachen hervorgerufen oder verschlimmert wurden. (...) Die bürgerliche Zivilisation kann nicht nur aufgrund ihrer Jagd nach Profiten und durch den überragenden Einfluss des Geldes auf den Verwaltungsapparat direkt Katastrophen hervorrufen (...), sondern sie erweist sich als unfähig, einen wirksamen Schutz vor diesen Gefahren zu organisieren, weil die Vorbeugung keine rentable Angelegenheit ist." [9]

Bordiga entschleierte die Legende, der zufolge: „die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft mit der gemeinsamen Entwicklung der Wissenschaften, Technik und Produktion die Gattung Mensch in die ausgezeichnete Lage versetzen würde, gegen die Schwierigkeiten der natürlichen Umwelt zu kämpfen"[10]. Bordiga fügte hinzu, „während das wirtschaftliche und industrielle Potential der kapitalistischen Welt weiter anwächst und nicht zurückgeht, kann man sagen, je größer dessen Kraft ist, desto schlimmer sind die Lebensbedingungen der Menschen gegenüber den Katastrophen der Natur und der Geschichte." [11]Zur Beweisführung seiner Behauptungen analysierte Bordiga eine Reihe von Katastrophen, die an verschiedenen Orten der Welt stattfanden. Er zeigte jedes Mal auf, dass sie keinem Zufall oder einer Fatalität geschuldet waren, sondern der dem Kapitalismus immanenten Tendenz, Höchstprofite herauszuschlagen, indem so wenig wie möglich in Sicherheit investiert wird, wie das Beispiel des Flying Enterprise aufzeigt.

„Das ganz neue prunkvolle Schiff, das Carlsen so polieren ließ, dass es wie ein Spiegel glänzte, und welches eine garantiert sichere Überquerung ermöglichen sollte, fuhr mit Flachkiel. Wie war es möglich, dass ganz moderne Werften wie Flying die Methode des „flachen Kiels" , d.h. der Seeschiffe übernommen haben? Eine Zeitung schrieb es ungeschminkt: um die Produktionskosten pro Einheit zu reduzieren; (...) hier handelt es sich um den Schlüssel der ganzen modernen Wissenschaft. Ihre Untersuchungen, ihre Forschungen, ihre Berechnungen, ihre Innovationen zielen auf dieses Ziel ab: die Kosten (auch Transportkosten) zu reduzieren. Daher der Prunk der Spiegelsäle und Vorhänge um die Wohlhabenden anzulocken, verlauste Knauserigkeit bei den tragenden Teilen, die am Rande der mechanischen Haltbarkeit liegen, und auch bei Größe und Gewicht. Diese Tendenz zeichnet die ganze moderne Ingenieurswissenschaft aus, vom Bau bis zur Mechanik, d.h. einen Eindruck des Reichtums zu erwecken, um die Bürgerlichen zu beeindrucken; Erscheinungen und Ausführungen zu benutzen, die jeder Dummkopf bewundern kann (die gerademal ein Kulturniveau des Schunds erreichen, welches man sich im Kino und in den Klatschblättern abgeschaut hat), und bei den tragenden Strukturen. welche dem Laien unsichtbar und unverständlich sind, ist man nachlässig," . [12]

Auch wenn die von Bordiga analysierten Katastrophen keine ökologischen Konsequenzen hatten, ändert das nichts an den Kernaussagen. Denn anhand dieser Beispiele wie auch anhand der Beispiele, die in dem Vorwort zu seiner Artikelreihe „Menschliche Gattung und Erdoberfläche" dargestellt werden, von denen wir einige zitieren, kann man sich leicht die Auswirkungen der gleichen kapitalistischen Logik vorstellen, wenn diese sich direkt und entscheidend auf die Umwelt auswirkt, wie zum Beispiel bei der Planung und Wartung der Atomreaktoren: „In den 1960er Jahren, explodierten mehrere britische Flugzeuge des Typs „Comet" , welches als der letzte Schrei der höchst entwickelten Technik galt, in der Luft und töteten dabei alle Insassen. Die langwierigen Untersuchungen brachten schließlich hervor, dass die Explosionen auf eine Materialermüdung der Metallschichten des Flugzeugs zurückzuführen waren, weil diese zu dünn angelegt worden waren, denn man wollte beim Metall, bei der Reaktorstärke, den gesamten Produktionskosten sparen, um höhere Profite zu machen. 1974 führte die Explosion einer DC 10 über Ermenonville zum Tod von mehr als 300 Menschen. Man wusste, dass das Türschließsystem des Gepäckraums schadhaft war, aber dieses zu erneuern, hätte Geld gekostetÖ Aber der wahnsinnigste Bericht erschien in der englischen Zeitschrift The Economist (24.9.1977) nach der Entdeckung von Rissen im Metall von 10 Trident Flugzeugen und der unerklärlichen Explosion eines Boeing-Flugzeuges. Der „neuen Auffassung" zufolge, die beim Bau von Transportflugzeugen angewandt wird, werden diese nicht mehr nach einer gewissen Anzahl von Flugstunden aus dem Verkehr gezogen und generalüberprüft, sondern man ging davon aus, dass diese „sicher" wären bis man erste Risse aufgrund von Materialermüdung des Metalls feststellte. Man kann sie also so lange wie möglichen nutzen, da sie bei einer zu frühen Stilllegung zu große Verlust für die Fluggesellschaften verursachen würden." [13] Wir haben schon im ersten Teil dieser Artikelserie den Unfall im Atomkraftwerk 1986 in Tschernobyl erwähnt. Im Wesentlichen handelt es sich um das gleiche Problem, das 1979 bei der Fusion eines atomaren Reaktors auf der Insel Three Mile Island in Pennsylvania, USA, zum Tragen kam.

Die Wissenschaft im Dienste der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft

Es ist von größter Bedeutung, den Platz der Technik und der Wissenschaft in der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen, wenn man herausfinden will, ob diese eine Hilfe sind, um das Voranschreiten der Umweltzerstörung einzudämmen und wirksame Instrumente gegen einige der Auswirkungen derselben zu entwickeln.

Wenn die Technik, wie eben gesehen, sich im Dienst der Bedürfnisse des Marktes prostituieren muss, trifft das auch zu auf die Entwicklung der Wissenschaften und der wissenschaftlichen Forschung? Gibt es Mittel sicherzustellen, dass diese außerhalb des Interessensbereichs der Wirtschaft wirken?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir von der Erkenntnis ausgehen, dass die Wissenschaft eine Produktivkraft ist und ihre Entwicklung eine schnellere Entfaltung und Bereicherung der Ressourcen der Gesellschaft ermöglicht. Die Kontrolle der Entwicklung der Wissenschaften ist deshalb eine wichtige Frage für die Verwalter der Wirtschaft und des Staates. Deshalb wird die wissenschaftliche Forschung, insbesondere einige Bereiche besonders üppig, mit großen finanziellen Mitteln ausgestattet. Die Wissenschaft ist deshalb kein neutraler Bereich - in einer Klassengesellschaft wie dem Kapitalismus könnte es nicht anders sein -, in dem es eine Freiheit der Forschung gäbe, und die vor ökonomischen Interessen geschützt wäre, weil die herrschende Klasse sehr davon profitiert, die Wissenschaft und die Wissenschaftler ihren Interessen unterzuordnen. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Entwicklung der Wissenschaften und der Erkenntnis im Zeitraum des Kapitalismus nicht durch eine eigenständige und unabhängige Dynamik getrieben wird, sondern dem Ziel untergeordnet ist, einen höchst möglichen Profit zu erwirtschaften.

Dies hat wichtige Folgen, über die man sich selten bewusst ist. Nehmen wir zum Beispiel die Entwicklung der modernen Medizin. Die medizinischen Untersuchungen und Behandlungen des Menschen sind unter Dutzende verschiedene Spezialisten aufgeteilt worden, denen in letzter Instanz eine Gesamtübersicht der Funktionsweise des menschlichen Körpers fehlt. Warum ist es dazu gekommen? Weil das Hauptziel der modernen Medizin in der kapitalistischen Welt nicht darin besteht, dass jeder Mensch gut lebt, sondern „die menschliche Maschine" wieder „repariert" werden muss, wenn sie eine Panne hat und sie so schnell wie möglich wieder hergerichtet werden soll, um weiter arbeiten zu können. Auf diesem Hintergrund versteht man gut, warum so massiv auf Antibiotika zurückgegriffen wird, und warum die Diagnosen immer die Ursachen der Erkrankungen unter den Besonderheiten suchen anstatt in den allgemeinen Lebensbedingungen der untersuchten Menschen.

Eine andere Folge der Abhängigkeit von der wissenschaftlichen Entwicklung gegenüber der Logik der kapitalistischen Welt ist, dass Forschung ständig auf die Produktion neuen Materials gerichtet ist (resistenter und billiger), deren Auswirkungen aus toxikologischer Sicht auf unmittelbarer Ebene nie ein großes Problem dargestellt haben, wodurch auf wissenschaftlicher Ebene sehr wenig oder gar nichts ausgegeben wird, um das auszulöschen oder unschädlich zu machen, was die Sicherheit der Produkte bedroht. Aber Jahrzehnte später muss man die Rechnung begleichen, oft weil bei den Menschen irgendein Schaden aufgetreten ist.

Anhand nachfolgender Zitate kann man sehen, in welchem Maße die wissenschaftliche Entwicklung der staatlichen Kontrolle und militärischen Bedürfnissen untergeordnet ist, so dass in der Nachkriegszeit überall wissenschaftliche „Kommissionen" entstanden, die geheim für das Militär arbeiteten, während anderen Wissenschaftlern das Endziel der Forschungen unbekannt war, die verdeckt betrieben wurden: „Die Wichtigkeit der Mathematik für die Offiziere der Kriegsmarine und der Artillerie erforderte eine besondere Ausbildung in Mathematik ; so war im 17. Jahrhundert die größte Gruppe, die von sich behaupten konnten, über Kenntnisse in Mathematik zu verfügen (zumindest Grundlagenkenntnisse), Armeeoffiziere. (...) (Im Großen Krieg) wurden zahlreiche neue Waffen geschaffen und perfektioniert - Flugzeuge, U-Boote, Sonaranlagen zum Kampf gegen diese, Chemiewaffen. Nach einigen Zögerungen des Militärapparates wurden zahlreiche Wissenschaftler für die Entfaltung des Militärs eingesetzt, auch wenn es nicht darum ging, Forschung zu betreiben, sondern sie waren als Ingenieure tätig, die auf höchster Ebene ihren schöpferischen Beitrag leisteten. (...) Auch wenn es nicht mehr im 2. Weltkrieg wirksam zum Einsatz kommen konnte, wurde 1944 das „Mathematische Forschungsinstitut Oberwolfach" in Deutschland gegründet. Zwar gefällt dies deutschen Mathematikern nicht so sehr, aber es handelte sich um eine sehr klug geplante Struktur, die darauf abzielte, den ganzen Bereich der Mathematik „nützlich" zu machen: der Kern bestand aus einer kleinen Gruppe Mathematiker, die gut im Bilde waren über die Probleme, vor denen das Militär stand, und die in der Lage waren, die Probleme zu entdecken, die sich mathematisch lösen ließen. Um diesen Kern sollten andere, sehr kompetente Mathematiker, welche sich gut in den Kreisen der Mathematiker auskannten, diese Probleme in mathematische Fragen übersetzen und sie nach deren Aufbereitung spezialisierten Mathematikern vorlegen (die sich mit militärischen Fragen, welche am Anfang der Fragestellungen standen, nicht auskennen mussten und sie auch gar nicht kennen sollten). Sobald die Lösungen vorlagen, funktionierte das Netz in der entgegengesetzten Richtung.

In den USA gab es während des Krieges schon eine ähnliche Struktur, auch wenn sie ein wenig improvisiert war, um Marston Morse. In der Nachkriegszeit war eine ähnliche Struktur namens -Wisconsin Army Mathematics Research Center" (...) tätig, die jedoch nicht mehr improvisiert war.

Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass sie es der Militärmaschinerie ermöglichen, die Kompetenzen vieler Mathematiker auszunutzen, ohne dass sie „direkt für sie" arbeiten, mit all dem, was damit verbunden ist: Verträge, die Notwendigkeit von Abmachungen, Unterordnung usw." [14]

1943 wurden in den USA spezialisierte Forschungsgruppen eingerichtet, die sich eigens mit Fragen beschäftigten wie der Größe von Schiffskonvois, der Wahl von Kriegszielen bei Luftangriffen, dem Aufspüren und der Abwehr von feindlichen Flugzeugen. Während des 2. Weltkriegs wurden im Vereinten Königreich, in Kanada und in den USA allein 700 Mathematiker eingesetzt. „Im Vergleich zur britischen Forschung zeichnete sich die amerikanische Forschung seit dem Anfang durch einen höher entwickelteren Einsatz der Mathematik aus, und insbesondere der Wahrscheinlichkeitsrechnung und ein häufigerer Rückgriff auf Modellrechnungen(...). Operations Research (die in den 1950er Jahren ein eigenständiger Bereich der angewandten Mathematik wurde) machte somit ihre ersten Schritte als eine Reaktion auf strategische Schwierigkeiten und der Optimierung kriegerischer Ressourcen. Was ist die beste Taktik im Luftkampf? Was ist die beste Aufstellung von Soldaten bei bestimmten Angriffspunkten? Wie können Rationen an die Soldaten verteilt werden, indem man am wenigsten verschwendet und die bestenfalls sättigen? „[15]

„(...) Das Projekt Manhattan (...) war das Zeichen für eine große Wende, nicht nur weil darin die Arbeit von Tausenden von Wissenschaftlern und Technikern aus verschiedenen Fachbereichen in einem Projekt zusammengebündelt wurde, welches von Militärs gesteuert und kontrolliert wurde, sondern auch weil es einen gewaltigen Sprung für die Grundlagenforschung bedeutete, da es - wie man es später nannte - die „big science" einläutete. (...) Die wissenschaftliche Gemeinschaft für ein genaues Projekt, das unter direkter Kontrolle der Militärs stand, einzuspannen, war eine Notmaßnahme gewesen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht ewig dauern konnte (dazu gehörte azch die „Freiheit der Forschung", die von den Wissenschaftlern beansprucht wurde) Das Pentagon konnte jedoch auf die wertvolle, unverzichtbar gewordene Mitarbeit der Gemeinschaft der Wissenschaftler verzichten. Auch musste es eine Form der Kontrolle ihrer Aktivitäten aufrechterhalten: man musste zwangsweise eine neue Strategie einschlagen und eine andere Sprache benutzen. (...) 1959 wurde aufgrund einer Initiative von anerkannten Wissenschaftlern, die auch die US-Regierung berieten, eine halb-ständig tagende Expertengruppe eingerichtet, die regelmäßig Treffen abhielt. Diese Gruppe wurde „Divsion Jason" genannt, in Anlehnung an den mythischen griechischen Helden, der sich auf die abenteuerliche Suche nach dem Goldenen Vlies mit dem Argonauten, Jason, begab. Es handelte sich um eine Elitegruppe von ca. 50 Wissenschaftlern, von denen mehrere mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden waren. Sie trafen sich jeden Sommer einige Wochen lang, um ganz unbeschwert die Fragen der Sicherheit, der Verteidigung und der Kontrolle der von dem Pentagon angeschafften Waffen zu besprechen, sowie dem Energieministeriums und anderen Bundesbehörden. Sie erstellten detaillierte Berichte, welche zum Großteil „geheim" blieben und direkt die Politik der nationalen Sicherheit mit bestimmten. Die Division Jason spielte während des Vietnamkrieges eine herausragende Rolle gegenüber Verteidigungsminister Robert McNamara, indem sie drei besonders wichtige Studien lieferten, welche einen wichtigen Einfluss auf die Strategie der USA haben sollten. Hinsichtlich der Wirksamkeit der strategischen Bombardierungen zur Unterbrechung der Nachschublinien der Vietkong, zum Bau einer elektronischen Schranke durch Vietnam und zu den taktischen Nuklearwaffen." [16]

Die Angaben aus diesen langen Zitaten zeigen, dass die Wissenschaft heute ein wichtiger Eckpfeiler der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems und der Festlegung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen ist. Die wichtige Rolle der Wissenschaftler während und nach dem 2. Weltkrieg konnte nur noch weiter anwachsen, auch wenn die Bourgeoisie diese systematisch vertuscht.

Zusammenfassend können wir sagen, dass wir versucht haben aufzuzeigen, wie die ökologischen und Umweltkatastrophen, selbst wenn sie von Naturphänomen ausgelöst wurden, die Menschen, insbesondere die Ärmsten brutal treffen, weil dahinter eine bewusste Wahl seitens der herrschenden Klasse hinsichtlich der Verteilung der Ressourcen und dem Einsatz der wissenschaftlichen Forschung selbst steckt. Die Auffassung, dass die Modernisierung, die Entwicklung der Wissenschaften und der Technologie automatisch mit der Schädigung der Umwelt und einer stärkeren Ausbeutung des Menschen verbunden sind, muss kategorisch verworfen werden. Im Gegenteil, es gibt ein großes Potential zur Entwicklung der menschlichen Ressourcen, nicht nur auf der Ebene der Produktion von Gütern sondern - was am wichtigsten ist - hinsichtlich der Möglichkeiten anders zu produzieren, in Harmonie mit der Umwelt und dem Wohlergehen des Ökosystems, zu dem der Mensch gehört. Die Perspektive ist also nicht die einer Rückkehr in die Vergangenheit, weil es unmöglich ist, zu unserem Ursprung zurückzukehren, als die Umwelt noch mehr verschont war. Im Gegenteil, die Menschheit muss auf einem anderen Weg vorwärts gehen, den der Entwicklung, die wirklich in Harmonie mit dem Planeten Erde steht.

Ezechiele, 5. April 2009

 



[1] Siehe den ersten Teil dieses Artikels „Die Welt am Vorabend einer Umweltkatastrophe", veröffentlicht in Internationale Revue Nr. 41.

 

[2]  Siehe den ersten Teil dieser Serie in Internationale Revue Nr. 42.

 

[3] ebenda

 

[4] Im 20. Jahrhundert gab es eine wahre Explosion des Wachstums der Megacities. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es sechs Städte mit mehr als einem Millionen Einwohner; Mitte des 20. Jahrhunderts gab es nur vier Städte mit mehr als fünf Millionen Einwohnern. Vor dem 2. Weltkrieg gab es Megacities nur in den Industriestaaten. Heute befinden sich die meisten Megacities in den Ländern der Peripherie. In einigen Städten ist die Bevölkerung innerhalb von Jahrzehnten um das Zehnfache angestiegen. Gegenwärtig lebt die Hälfte der Erdbevölkerung in Städten, 2020 werden es zwei Drittel sein. Aber keine dieser Städte, in die jeden Tag mehr als 5.000 Zuwanderer strömen, ist in der Lage, solch einem unnatürlichen Bevölkerungswachstum Stand zu halten, so dass die Zuwanderer, die nicht in das soziale Netz der Stadt integriert werden können, die Vorstadtslums weiter anschwellen lassen, und fast immer fehlt es völlig an Dienstleistungen und adäquaten Infrastrukturen.

 

[5] „Hurrikan Katrina - der Kapitalismus ist verantwortlich für die gesellschaftliche Katastrophe", International Review Nr. 123,

 

[6] Tödliche Flutwelle in Südostasien: die wahre Katastrophe ist der Kapitalismus" Révolution Internationale, Nr. 353

 

[7] www.legambientearcipelagotoscano.it/globalmente/petrolio/incident.htm [4]

 

[8] Bordiga, Führer der linken Strömung der Kommunistischen Partei Italiens, zu deren Gründung er 1921 wesentlich mit beitrug, und aus der er 1930 nach dem Prozess der Stalinisierung ausgeschlossen wurde, beteiligte sich aktiv an der Gründung der Internationalen Kommunistischen Partei 1945.

 

[9] (Anonymes) Vorwort zu „Drammi gialli e sinistri della moderna decadenza sociale" von Amadeo Bordiga, Edition Iskra, Seiten 6, 7, 8 et 9. auf Französisch: Vorwort zu „Espèce humaine et Croûte terrestreì; Petite Bibliothèque Payot 1978, Préface, pages 7,9 et 10)

 

[10] Veröffentlicht in Battaglia Comunista n°23 1951 und auch in „Drammi gialli e sinistri della decadenza sociale", édition Iskra, Seite 19.

 

[11] ebenda

 

[12] A. Bordiga, Politica e îcostruzioneî, veröffentlicht in Prometeo, serie II, n°3-4, 1952 und auch in „Drammi gialli e sinistri della decadenza sociale", edition Iskra, Seiten 62-63.

 

[13] Vorwort zu „Espèce Humaine et Croûte terrestre", op.cit. (Menschengattung und Erdkruste)

 

[14] Jens Hoyrup, Universität von Roskilde, Dänemark. „Mathematik und Krieg", Konferenz Palermo, 15. Mai 2003. Forschungshefte Didaktik, N°13, GRIM (Départment of mathematics, University of Palermo, Italy) http//math.unips.it/-grim/Horyup_mat_guerra_quad13.pdf.

 

[15] Annaratone, http//www.scienzaesperienza.it/news.php?/id=0057 [5]

 

[16] Angelo Baracca, „Fisica fondamentale, ricerca e realizzazione di nuove armi nucleariî.

 

Theoretische Fragen: 

  • Umwelt [6]

Internationalisme 1947: Was die Revolutionäre von den Trotzkisten unterscheidet

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Nachfolgend veröffentlichen wir zwei Artikel aus dem Jahr 1947 aus der Zeitschrift Internationalisme, Organ der Kommunistischen Linken Frankreichs (GCF)[1], die sich mit der Frage des Trotzkismus befassen. Damals schon hatte sich der Trotzkismus durch seine Aufgabe des proletarischen Internationalismus hervorgetan, als er sich im Gegensatz zu den Gruppen der Kommunistischen Linken[2] am 2. Weltkrieg beteiligte. In den 1930er Jahren hatte die Kommunistische Linke der opportunistischen Welle widerstanden, welche durch die Niederlage der weltweiten Welle revolutionärer Kämpfe von 1917-23 entstanden war. Unter diesen Gruppen definierte die Italienische Linke um die Zeitschrift Bilan (sie wurde 1933 gegründet) die Aufgaben der Stunde richtig. Gegenüber dem Weg in den Krieg darf man nicht die Grundprinzipien des Internationalismus verraten, man muss die „Bilanz‘ des Scheiterns der revolutionären Welle und der russischen Revolution insbesondere erstellen. Die Kommunistische Linke bekämpfte die von der degenerierenden Dritten Internationalen verbreiteten opportunistischen Positionen, insbesondere die von Trotzki vertretene Politik der Einheitsfront mit den sozialistischen Parteien, die jegliche zuvor gewonnene Klarheit hinsichtlich der ins Lager des Kapitalismus übergewechselten Parteien über Bord warf. Mehrfach musste sie ihre politische Herangehensweise mit der Methode der damals noch proletarischen Strömung um Trotzki direkt gegenüberstellen, insbesondere als versucht wurde, die verschiedenen politischen Gruppen, die sich der Politik der Komintern und der stalinisierten Parteien entgegenstellten, zu vereinigen.[3]

Mit der gleichen Methode, die Bilan angewandt hatte, analysierte die Kommunistische Linke Frankreichs die Politik des Trotzkismus, die sich nicht so sehr durch ihre „Verteidigung der UdSSR” auszeichnet, auch wenn diese Frage am klarsten ihre Verirrung zum Ausdruck bringt, sondern durch ihre Haltung gegenüber der Frage des imperialistischen Krieges. Wie der erste Artikel „Die Funktion des Trotzkismus” zeigt, wurde die Beteiligung am Krieg seitens dieser Strömung nicht an erster Stelle bestimmt durch deren Willen zur Verteidigung der UdSSR, wie die Tatsache belegt, dass einige ihrer Tendenzen, welche die These vom „entarteten Arbeiterstaat” verwarfen, sich dennoch am imperialistischen Krieg beteiligten. Noch entscheidender war die Idee des „geringeren Übels”, der Beteiligung am Kampf gegen „die ausländische Besatzung” und der „Antifaschismus”. Dieses Merkmal des Trotzkismus tritt besonders deutlich im zweiten Artikel „Bravo Abd-al-Krim oder die kurze Geschichte des Trotzkismus” zum Vorschein, in der festgestellt wird, dass die „gesamte trotzkistische Geschichte sich um die Frage der „Verteidigung” von irgendetwas dreht”, die im Namen des geringeren Übels erfolgt. Dieses „irgendetwas” war alles andere als etwas Proletarisches. Dieses Markenzeichen des Trotzkismus hat sich seitdem nicht geändert, wie die verschiedenen aktivistischen Illustrationen des gegenwärtigen Trotzkismus belegen, wie auch sein Drängen, für ein Lager gegen ein anderes in den zahlreichen Konflikten, die den Planeten auch seit der Auflösung der UdSSR übersäen, Stellung zu beziehen.

An der Wurzel dieser Irrfahrt des Trotzkismus findet man, wie der erste Artikel betont, die Zuweisung einer fortschrittlichen Rolle „bestimmter Fraktionen des Kapitalismus, bestimmter kapitalistischer Länder (und wie das Übergangsprogramm ausdrücklich sagt, der meisten Länder).

Dieser Auffassung zufolge „ist die Befreiung des Proletariats nicht das Ergebnis des Kampfes, bei dem das Proletariat als Klasse gegenüber dem gesamten Kapitalismus auftritt, sondern diese wird das Ergebnis einer Reihe von politischen Kämpfen sein, im engen Sinne des Wortes und bei denen dieses durch schrittweise Bündnisse mit verschiedenen politischen Fraktionen der Bourgeoisie gewisse Fraktionen eliminieren wird und es somit schrittweise schaffen wird, die Bourgeoisie zu schwächen, sie zu besiegen, indem sie gespalten und scheibchenweise geschlagen wird.” Da gibt es nichts mehr revolutionär Marxistisches.

 

Die Funktion des Trotzkismus 
(Internationalisme n° 26 – September 1947)

 

Es ist ein großer, weit verbreiteter Fehler zu meinen, was die Revolutionäre von den Trotzkisten unterscheidet, sei die Frage der „Verteidigung der UdSSR”.

Es ist selbstverständlich, dass die revolutionären Gruppen, welche die Trotzkisten gerne mit ein wenig Verachtung als „extreme Linke” bezeichnen (eine verächtliche Einschätzung der Trotzkisten gegenüber den Revolutionären, die dem gleichen Geist entspricht wie dem der „Hitler-Trotzkisten”, welchen die Stalinisten verwenden); es ist selbstverständlich, dass die Revolutionäre jede Art Verteidigung des russischen kapitalistischen Staates (Staatskapitalismus) verwerfen. Aber den russischen Staat nicht zu verteidigen, ist keineswegs die theoretische und programmatische Grundlage revolutionärer Gruppen. Und es ist nur eine politische Konsequenz, die ganz normal in ihren allgemeinen Auffassungen, ihrer revolutionären Plattform enthalten ist und aus diesen hervorgeht. Umgekehrt stellt die „Verteidigung der UdSSR” keineswegs die Besonderheit des Trotzkismus dar.

Wenn von allen politischen Positionen, die sein Programm darstellen, die „Verteidigung der UdSSR” wirklich am stärksten hervorsticht und ihre Verirrung und Blindheit am deutlichsten zum Ausdruck bringt, würde man trotzdem einen großen Fehler begehen, wenn man den Trotzkismus nur aus diesem Blickwinkel betrachtet. Im äußersten Fall spiegelt diese Verteidigung die typischste und klarste abszessartige Fixierung des Trotzkismus wider. Dieser Abszess ist so offensichtlich, dass sein Anblick immer mehr Mitglieder der Vierten Internationale anekelt, und wahrscheinlich ist es eine der Ursachen dafür, dass einige ihrer Sympathisanten davor zurückschrecken, in diese Organisation einzutreten. Aber dieser Abszess ist nicht die Krankheit, sondern nur die Stelle, wo diese in Erscheinung tritt.

Wenn wir so sehr auf diesem Punkt bestehen, geschieht dies, weil beim Anblick der äußeren Erscheinungen einer Krankheit so viele Leute sich erschrecken, aber diese dann auch sehr leicht dazu neigen, sich schnell zu beruhigen, sobald die äußeren, erkennbaren Zeichen aus dem Blick geraten. Sie vergessen, dass eine „weißgewaschene Krankheit” keine geheilte Krankheit ist. Diese Art Leute sind sicherlich ebenso gefährlich, ebenso anfällig, wenn nicht noch mehr für die Verbreitung von Korruption wie diejenigen, die aufrichtig meinen, davon geheilt zu sein.

Die „Workers‘ Party” in den USA (eine dissidente trotzkistische Organisation, die durch den Namen ihres Führers, Shachtman bekannt ist), die Tendenz G. Munis in Mexiko[4], die Minderheiten um Gallien und Chaulieu in Frankreich, all diese Minderheitentendenzen der IV. Internationale, die aufgrund der Tatsache, dass sie die traditionelle Verteidigung Russlands verwerfen, glauben vom „Opportunismus” der trotzkistischen Bewegung geheilt zu sein (jedenfalls behaupten sie dies). In Wirklichkeit bleiben sie weiterhin von dieser Ideologie stark geprägt und von ihr total eingenommen.

Das wird dadurch offensichtlich, wenn man die brennendste Frage anschaut, nämlich diejenige, die am wenigsten Ausflüchte offen lässt, welche am unnachgiebigsten die Klassenpositionen des Proletariats und der Bourgeoisie aufeinander prallen lässt, d.h. die Frage der Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg. Was sehen wir?

Die einen wie die anderen, Mehrheiten und Minderheiten, beteiligen sich alle mit unterschiedlichen Slogans am imperialistischen Krieg.

Man möge jetzt nicht die mündlichen Erklärungen der Trotzkisten gegen den Krieg zitieren, um dies zu widerlegen. Wir kennen diese sehr gut. Worauf es ankommt, sind nicht die Erklärungen, sondern die praktische Politik, die aus all den theoretischen Positionen hervorgeht und die in der ideologischen und praktischen Unterstützung der kriegstreibenden Kräfte konkretisiert wird. Es zählt hier nicht, mit welchem Argument diese Beteiligung gerechtfertigt wurde. Die Verteidigung der UdSSR ist sicherlich eine der wichtigsten Kernfragen, durch die das Proletariat an den imperialistischen Krieg gefesselt und in diesen getrieben wird. Aber dies ist nicht der einzige Schlüssel. Die trotzkistischen Minderheiten, welche die Verteidigung der UdSSR verwarfen, haben genau wie die Linkssozialisten und die Anarchisten andere Gründe gefunden, die nicht weniger gültig und nicht weniger von einer bürgerlichen Ideologie inspiriert waren, um ihre Beteiligung am imperialistischen Krieg zu begründen. Aus der Sicht der einen war es die Verteidigung der „Demokratie”, aus der Sicht der anderen der „Kampf gegen den Faschismus” oder die Unterstützung der „nationalen Befreiung” oder des „Selbstbestimmungsrechts der Völker”.

Für alle war es eine Frage des „geringeren Übels”, welche sie zur Kriegsbeteiligung oder in die Résistance auf Seiten eines imperialistischen Blocks gegen einen anderen trieb.

Die Partei Shachtmans hatte völlig recht, den offiziellen Trotzkisten vorzuwerfen, dass sie den russischen Imperialismus unterstützten, welcher aus ihrer Sicht kein „Arbeiterstaat” mehr war; aber damit wurde Shachtman noch lange nicht zu einem Revolutionär, denn er erhob diesen Vorwurf nicht ausgehend von einer Klassenposition des Proletariats gegen den imperialistischen Krieg, sondern aufgrund der Tatsache, dass Russland ein totalitäres Land ist, wo es weniger „Demokratie” als anderswo gibt. Seiner Ansicht nach musste man konsequenterweise Finnland gegen den russischen Aggressor unterstützen, das weniger „totalitär” und demokratischer sei [5].

Um das Wesen seiner Ideologie zu zeigen, insbesondere hinsichtlich der zentralen Frage des imperialistischen Kriegs, braucht der Trotzkismus keineswegs, wie wir eben gesehen haben, auf die Position der Verteidigung der UdSSR zurückzugreifen. Diese Verteidigung der UdSSR erleichtert natürlich seine Position der Kriegsbeteiligung, wodurch er diese hinter einer pseudo-revolutionären Phrase verbergen kann, aber von sich aus vertuscht er sein tieferes Wesen und verhindert, die Frage des Wesens der trotzkistischen Ideologie in aller Deutlichkeit zu stellen.

Lassen wir einmal zur Erreichung einer größeren Klarheit die Existenz Russlands außer Acht, oder besser gesagt all die Spitzfindigkeit hinsichtlich des sozialistischen Wesens des russischen Staates, mit Hilfe derer die Trotzkisten das eigentliche Problem des imperialistischen Krieges und der Haltung des Proletariats vernebeln. Stellen wir deutlich die Frage der Haltung der Trotzkisten im Krieg. Die Trotzkisten werden natürlich mit einer allgemeinen Antwort gegen den Krieg reagieren.

Aber sobald die Litanei vom „revolutionären Defätismus” im Abstrakten korrekt heruntergeleiert worden ist, fangen sie sofort konkret an, mit spitzfindigen „Unterscheidungen” Einschränkungen zu machen, sie sagen „aber”… usw., was sie in der Praxis dazu führt, dass sie Partei für einen Kriegsteilnehmer ergreifen und die Arbeiter dazu aufrufen, sich am imperialistischen Abschlachten zu beteiligen.

Wer mit dem trotzkistischen Milieu in Frankreich während der Jahre 1939-45 irgendwie in Kontakt stand, kann Zeugnis davon ablegen, dass die bei ihnen vorherrschenden Gefühle nicht so sehr von der Position der Verteidigung Russlands bestimmt waren, sondern von der Wahl des „geringeren Übels”, der Wahl des Kampfes gegen die „ausländische Besatzung” und den „Antifaschismus”.

Dies erklärt ihre Beteiligung an der ‘Résistance” ,[6] an der F.F.I.[7] und bei der Befreiung. Und wenn die PCI[8] Frankreichs von den Sektionen anderer Länder gelobt wurde für die Rolle, die sie bei dem, die wie sie es nannten „Volksaufstand” der Befreiung spielte, lassen wir ihnen die Befriedigung, die sie durch den Bluff der Bedeutung ihrer Beteiligung empfinden (welch große Bedeutung mögen die wenigen Dutzenden Trotzkisten bei der „großen Volkserhebung” gehabt haben!). Aber wir wollen vor allem den politischen Inhalt solch eines Lobs im Kopf behalten.

 

Welches Kriterium für die revolutionäre Haltung im imperialistischen Krieg?

 

Die Revolutionäre gehen von der Feststellung des imperialistischen Stadiums aus, das von der Weltwirtschaft erreicht worden ist. Der Imperialismus ist kein nationales Phänomen. Die Gewalt der kapitalistischen Widersprüche zwischen dem Grad der Entwicklung der Produktivkräfte – des gesamten gesellschaftlichen Kapitals – und der Entwicklung des Marktes bestimmt die Gewalt der Widersprüche unter den Imperialisten. Auf dieser Stufe gibt es keine nationalen Kriege mehr. Die imperialistische Weltstruktur bestimmt die Struktur aller Kriege. Im Zeitalter des Imperialismus gibt es keine „fortschrittlichen” Kriege. Der einzige Fortschritt besteht nur in der gesellschaftlichen Revolution. Die historische Alternative, vor der die Menschheit steht, ist die sozialistische Revolution oder der Niedergang, das Versinken in der Barbarei durch die Zerstörung des durch die Menschheit angehäuften Reichtums, die Zerstörung der Produktivkräfte und die ständigen Massaker des Proletariats in einer unendlichen Reihe von lokalen und generalisierten Kriegen. Es handelt sich also um ein Klassenkriterium gegenüber der Analyse der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft, das durch die Revolutionäre aufgeworfen wird.

„Aber nicht alle Länder der Welt sind imperialistisch. Im Gegenteil. Die Mehrheit der Länder sind Opfer des Imperialismus. Einige Kolonialländer oder Halbkolonialländer versuchen zweifelsohne den Krieg auszunutzen, um die Geissel der Versklavung abzuschütteln. Was diese Länder betrifft, ist der Krieg kein imperialistischer, sondern ein Befreiungskrieg. Die Aufgabe des internationalen Proletariats besteht darin, den im Krieg unterdrückten Ländern gegen die Unterdrücker zu helfen” (Das Übergangsprogramm, Kapitel: Der Kampf gegen Imperialismus und Krieg).

So bezieht sich das trotzkistische Kriterium nicht auf die historische Periode, in der wir leben, sondern es schafft und bezieht sich auf einen abstrakten und falschen Begriff des Imperialismus. Nur die Bourgeoisie eines dominierenden Landes sei imperialistisch. Der Imperialismus ist keine politisch-ökonomische Stufe des Weltkapitalismus, sondern nur des Kapitalismus in einigen Ländern, während die anderen kapitalistischen Länder, welche die Mehrheit ausmachen, nicht imperialistisch sind. Wenn man dies rein formell betrachtet, werden heute alle Länder der Welt ökonomisch von zwei Ländern beherrscht: den USA und Russland. Kann man daraus schlussfolgern, dass ausschließlich die Bourgeoisie dieser beiden Länder imperialistisch ist und die Gegnerschaft des Proletariats gegenüber dem Krieg nur in diesen beiden Ländern zum Tragen kommt?

Besser noch, wenn man der trotzkistischen Argumentation folgt und Russland dabei herausnimmt, da das Land per Definition „nicht imperialistisch” ist, gelangt man zu der absurden Schlussfolgerung, dass nur ein Land auf der Welt imperialistisch ist: die USA. Damit kommen wir zu der tröstlichen Schlussfolgerung, dass das Proletariat allen anderen Ländern der Welt helfen muss, da sie alle „nicht-imperialistisch und unterdrückt sind“. Schauen wir konkret, wie diese trotzkistische Unterscheidung sich in der Praxis äußert.

 

1939 ist Frankreich ein imperialistisches Land: revolutionärer Defätismus

 

1940-45 war Frankreich besetzt: Von einem imperialistischen Land wurde es zu einem unterdrückten Land. Sein Krieg wurde ein „Befreiungskrieg”, „Es ist Aufgabe des Proletariats diesen Kampf zu unterstützen”. Perfekt! Aber plötzlich wurde Deutschland 1945 zu einem besetzten und „unterdrückten‘ Land. Damit wurde es zur Aufgabe des Proletariats, eine eventuelle Befreiung Deutschlands gegen Frankreich zu unterstützen. Was für Frankreich und Deutschland zutrifft, gilt ebenso für irgendein anderes Land: Japan, Italien, Belgien usw. Man braucht jetzt nicht die Kolonien und halb-kolonialen Länder zu erwähnen. Im Zeitalter des Imperialismus wird jedes Land, das beim rücksichtslosen Konkurrenzkampf zwischen den Kapitalisten nicht das Glück oder die Kraft hat Sieger zu werden, de facto zu einem „unterdrückten” Land. Beispiel: Deutschland und Japan, und im entgegengesetzten Sinn – China.

Das Proletariat hätte somit zur Aufgabe, seine Zeit damit zu verbringen, auf der imperialistischen Waagschale hin-und her zu hüpfen, je nach dem, welche Anweisungen von den Trotzkisten erteilt werden. Es sollte sich dabei abschlachten lassen im Namen dessen, was die Trotzkisten folgendermaßen umschreiben: „Einen gerechten und fortschrittlichen Krieg zu unterstützen…” (siehe das Übergangsprogramm – gleiches Kapitel).

Dies ist der grundsätzliche Charakter des Trotzkismus, der jeweils in allen Situationen und allen seinen Positionen dem Proletariat eine Alternative anbietet, die einen echten Gegensatz und eine Lösung als Klasse gegen die Bourgeoisie darstellt, aber in Wirklichkeit nur eine Wahl zwischen zwei „unterdrückten” kapitalistischen Kräften bedeutet: zwischen einer faschistischen und antifaschistischen Bourgeoisie, zwischen „Reaktionären „ und „Demokraten”, zwischen Monarchie und Republik, zwischen imperialistischen Krieg und „gerechten und fortschrittlichen” Kriegen.

Ausgehend von dieser ewigen Wahl zwischen dem „geringeren Übel” haben sich die Trotzkisten am imperialistischen Krieg beteiligt. Die Notwendigkeit der Verteidigung der UdSSR stand keineswegs im Vordergrund. Bevor diese verteidigt wurde, hatten sie sich schon am Spanienkrieg (1936-1938) im Namen der Verteidigung des republikanischen Spaniens gegen Franco beteiligt. Dann verteidigten sie das China Chiang Kai-Sheks gegen Japan.

Die Verteidigung der UdSSR erscheint somit nicht mehr als Ausgangs- sondern als Endpunkt ihrer Positionen. Sie spiegelt unter anderem ihre Grundprinzipien wider. Diese Grundprinzipien verlangen nicht, dass die Arbeiterklasse eine eigenständige Klassenposition gegenüber dem imperialistischen Krieg hat, sondern dass sie eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen nationalen kapitalistischen Gruppierungen treffen kann und muss, die sich zu einem gewissen Zeitpunkt gegenüberstehen. Sie müssen als „fortschrittlich” erachtet werden und ihre Hilfe erhalten; d.h. in der Regel soll der schwächere, rückständigere, der „unterdrückte” Flügel der Bourgeoisie unterstützt werden.

Diese Position zu einer so grundsätzlichen, zentralen Frage wie der des Krieges stellt die Trotzkisten von vornherein als politische Strömung außerhalb des Proletariats und rechtfertig als solche schon die Notwendigkeit eines totalen Bruchs der proletarischen revolutionären Kräfte mit ihnen.

 

Die Trotzkisten machen die Arbeiterklasse zum Anhängsel der für „fortschrittlich” erklärten Bourgeoisie

 

Aber wir haben nur eine Wurzel des Trotzkismus aufgegriffen. Im Allgemeinen stützt sich die trotzkistische Auffassung auf die Idee, dass die Befreiung des Proletariats nicht das Ergebnis eines „reinen” Kampfes sei, bei dem das Proletariat als Klasse gegenüber dem gesamten Kapitalismus reagiert, sondern das Ergebnis einer Reihe von politischen Kämpfen in einem engeren Sinne, bei dem nach schrittweisen Bündnissen mit verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie einige ausgelöscht werden sollten, wodurch es dem Proletariat stufenweise gelingen würde, die Bourgeoisie zu schwächen, sie mittels Spaltung zu besiegen und sie scheibchenweise zu schlagen.

Dies ist sicherlich eine strategisch sehr weitsichtige, subtile und maliziöse Sicht, die sich in dem Slogan „getrennt marschieren, gemeinsam schlagen… .” spiegelt. Es handelt sich um eine der Grundlagen der trotzkistischen Auffassung, die auch in der Theorie der „permanenten Revolution” bestätigt wird (eine neue Art). Der zufolge meint die permanente Revolution, dass die Revolution selbst als eine ständige Abfolge von politischen Ereignissen als eines von vielen anderen Ereignissen gesehen wird. Dieser Auffassung zufolge ist die Revolution kein Prozess der ökonomischen und politischen Überwindung einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft. Der Aufbau des Sozialismus aber ist nur möglich und kann erst begonnen werden, nachdem das Proletariat die Macht ergriffen hat.

Es stimmt, dass diese Auffassung von der Revolution zum Teil dem Schema Marxens „treu” bleibt. Aber dies ist nur eine Treue gegenüber dem Wort. Marx vertrat dieses Schema 1848, als die Bourgeoisie noch eine historisch revolutionäre Klasse darstellte. In der Hitze der bürgerlichen Revolutionen, die über eine Reihe von Ländern Europas hinweg zogen, hoffte Marx, dass diese nicht auf der Stufe einer bürgerlichen Revolution stehen bleiben würden, sondern von dem Proletariat weiter bis zur sozialistischen Revolution getragen würden.

Auch wenn die Wirklichkeit Marx nicht bestätigt hat, handelte es sich bei ihm um eine sehr gewagte revolutionäre Auffassung, die den historischen Möglichkeiten voraus war. Die permanente Revolution der Trotzkisten ist aber eine völlig andere Sache. Den Worten Marxens bleibt sie schon treu, aber sie bleibt dem Geist nicht treu. Ein Jahrhundert nach dem Ende der bürgerlichen Revolutionen, zur Zeit des Weltimperialismus, während die kapitalistische Gesellschaft insgesamt in ihren Niedergang eingetreten ist, meint der Trotzkismus, dass bestimmte Fraktionen des Kapitalismus in einigen kapitalistischen Ländern (und wie es das Übergangsprogramm ausdrücklich sagt, in den meisten Ländern) eine fortschrittliche Rolle spielen können.

Marx wollte das Proletariat 1848 an die Spitze der Gesellschaft treten lassen; aber die Trotzkisten lassen die Arbeiterklasse 1947 zu einem Anhängsel der als „fortschrittlich” ernannten Bourgeoisie werden. Man kann sich kaum eine groteskere Karikatur, eine gröbere Verzerrung des Schemas der permanenten Revolution von Marx als die der Trotzkisten vorstellen.

So wie Trotzki dies im Jahre 1905 wieder aufgegriffen und formuliert hatte, behielt dieses Schema der permanenten Revolution seine revolutionäre Bedeutung. 1905, zu Beginn des Zeitraums des Imperialismus, als der Kapitalismus noch viele Jahre Wohlstand vor sich zu haben schien, kam Trotzki in dem Land, das in Europa mit am rückständigsten war, und wo weiterhin noch eine politisch feudale Infrastruktur bestand, wo die Arbeiterbewegung ihre ersten Schritte machte, gegenüber all den Fraktionen der russischen Sozialdemokratie, die den Eintritt der bürgerlichen Revolution ankündigten, gegenüber Lenin, der aufgrund vieler Einschränkungen nicht wagte weiter zu gehen, als der zukünftigen Revolution bürgerliche Reformen unter einer demokratisch revolutionären Führung durch Arbeiter und Bauern zuzuschreiben, in dieser Situation kam Trotzki unzweifelhaft das Verdienst zu, verkündet zu haben, dass die Revolution entweder eine sozialistische sein werde, die der Diktatur des Proletariats, oder dass sie keine Revolution sein werde.

Die Betonung der Theorie der permanenten Revolution lag auf der Rolle des Proletariats, das damals zur einzig revolutionären Klasse geworden war. Diese war eine sehr kühne revolutionäre Verkündung, die sich ganz gegen die kleinbürgerlichen, verängstigten und skeptischen sozialistischen Theoretiker richtete sowie gegen die zögernden Revolutionäre, denen es an Vertrauen in die Arbeiterklasse mangelte.

Während heute die Erfahrung von mehr als 40 Jahren diese theoretischen Elemente vollauf bestätigt hat, ist die Theorie der permanenten Revolution „neuen Verschnitts” in einer kapitalistischen Welt, die ihren Höhepunkt überschritten hat und schon in ihren Niedergang eingetreten ist, nur gegen die revolutionären „Illusionen” dieser Tollköpfe der extremen Linke, dieser Sündenböcke des Trotzkismus, gerichtet.

Heute wird die Betonung auf die rückständigen Illusionen der Proletarier gelegt, auf die Unvermeidbarkeit der Zwischenstufen, auf die Notwendigkeit einer realistischen und positiven Politik, auf die Arbeiter- und Bauernregierungen, auf die gerechten Kriege und fortschrittlich nationalen Revolutionen der Befreiung.

Dies ist heute das Schicksal der permanenten Revolution, sie liegt in den Händen der Jüngeren, die nur die Schwächen aufrechterhalten haben, aber nichts von der Größe, der Stärke und der revolutionären Tugend des Meisters übernommen haben.

Die „fortschrittlichen” Tendenzen und Fraktionen der Bourgeoisie und den revolutionären Weg des Proletariats zu unterstützen, die Spaltung und Gegensätze unter den Kapitalisten auszunutzen, sind nichts als die beiden Seiten der gleichen trotzkistischen Theorie. Wir haben gesehen, was aus der ersten geworden ist, schauen wir uns nun die zweite an.

 

Worin bestehen die Divergenzen im kapitalistischen Lager?

 

Erstens in der Art und Weise, wie man besser die kapitalistische Ordnung schützt. D.h. besser die Ausbeutung des Proletariats sicherstellt. Zweitens hinsichtlich der unterschiedlichen ökonomischen Interessen verschiedenen Gruppen der Kapitalistenklasse. Trotzki, der sich oft durch seinen bildhaften Stil und seine Metapher hat fortreißen lassen, so dass er manchmal den wirklichen gesellschaftlichen Inhalt aus den Augen verlor, hat stark auf diesem zweiten Aspekt bestanden. „Man darf nicht den Kapitalismus als eine Einheit sehen”, meinte er. „Die Musik ist auch ein Ganzes, aber man wäre ein schlechter Musiker, wenn man nicht die unterschiedlichen Noten lesen könnte.” Diese Metapher wandte er auch auf die gesellschaftliche Bewegung und die Klassenkämpfe an. Niemand würde wirklich vorhandene Interessensunterschiede – auch nicht innerhalb der Kapitalistenklasse – und die daraus entstehenden Kämpfe leugnen oder verkennen. Es geht darum, welchen Platz diese Interessensunterschiede in der Gesellschaft und in den verschiedenen Kämpfen einnehmen. Man wäre ein sehr schlechter revolutionärer Marxist, wenn man die Kämpfe zwischen den Klassen und den Kampf zwischen Gruppen innerhalb der gleichen Klasse auf die gleiche Ebene stellt. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.” Diese Grundsatzthese des Kommunistischen Manifestes verkennt natürlich nicht die Existenz von zweitrangigen Auseinandersetzungen verschiedener wirtschaftlicher Gruppen und Individuen innerhalb der gleichen Klasse und deren relative Bedeutung. Aber der Motor der Geschichte sind nicht diese zweitrangigen Faktoren, sondern der Kampf zwischen der herrschenden Klasse und der unterdrückten Klasse. Wenn eine neue Klasse in der Geschichte entsteht und eine alte ersetzt, die unfähig geworden ist, die Gesellschaft zu führen, d.h. in einer historischen Epoche der Umwälzungen und der gesellschaftlichen Revolution, bestimmt und dominiert der Kampf zwischen diesen beiden Klassen absolut all die gesellschaftlichen Ereignisse und alle zweitrangigen Konflikte. In solchen historischen Zeiträumen wie unserem auf die zweitrangigen Konflikte zu bestehen, mit deren Hilfe man die Richtung der Bewegung des Klassenkampfes, seine Richtung und sein Ausmaß bestimmen möchte, zeigt sonnenklar auf, dass man nichts von den Grundsätzen der marxistischen Methode verstanden hat. Man betreibt nur abstrakte Spielereien mit Musiknoten und unterwirft konkret den gesellschaftlichen historischen Kampf des Proletariats den Zufälligkeiten der politischen Konflikte unter den Kapitalisten.

Diese ganze Politik beruht im Kern auf einem tiefgreifenden Mangel an Vertrauen in die eigenen Kräfte des Proletariats. Offensichtlich haben die letzten drei Jahrzehnte ununterbrochener Niederlagen tragisch die Unreife und die Schwäche des Proletariats deutlich werden lassen. Aber es wäre ein Fehler, die Wurzel dieser Schwächen in der Selbstisolierung des Proletariats zu suchen, in der Abwesenheit eines ausreichend weichen, anpassungsfähigen Verhaltens gegenüber den anderen Klassen, Schichten und politischen Strömungen, die der Arbeiterklasse feindlich gegenüber eingestellt sind. Das Gegenteil ist der Fall. Seit der Gründung der Komintern warnte man unaufhörlich vor der Kinderkrankheit der Linksradikalen; man entwarf die unrealistische Strategie der Eroberung der großen Massen, der Eroberung der Gewerkschaften, der revolutionären Ausnutzung der Parlamentstribüne, der politischen Einheitsfront mit dem „Teufel und seiner Großmutter” (Trotzki), der Beteiligung an Arbeiterregierungen in Sachsen usw.

 

Und das Ergebnis?

 

Ein Desaster. Jeder neuen Eroberung mit einer „sanften Strategie” folgte eine noch größere und tiefergreifende Niederlage. Um diese Schwäche auszugleichen, für die das Proletariat verantwortlich gemacht wurde, stützte man sich zur „Stärkung” des Proletariats nicht nur auf Kräfte, die außerhalb des Proletariats standen (Sozialdemokraten), sondern auch auf ultrareaktionäre Kräfte: „revolutionäre” Bauernparteien; internationale Bauernkonferenzen, internationale Konferenzen der Kolonialvölker. Je mehr Niederlagen das Proletariat einstecken musste, desto mehr Bündnisse en masse wurden errichtet und die Politik der Ausbeutung triumphierte in der Kommunistischen Internationale. Sicher liegt die Wurzel dieser Politik in der Existenz des russischen Staates, der seine Existenz zu rechtfertigen suchte und von seinem Wesen her nichts mit sozialistischer Revolution zu tun hatte, denn er war dem Proletariat fremd und Gegner der Ziele desselben.

Zur Aufrechterhaltung seiner Existenz und seiner Stärkung muss der Staat Bündnisse mit den „unterdrückten” Bourgeoisien, den „Völkern” und Kolonien und „fortschrittlichen” Ländern suchen; diese findet er auch, denn diese sozialen Gruppierungen müssen ebenso einen Staat errichten. Er kann über die Spaltung und die Konflikte zwischen anderen Staaten und kapitalistischen Gruppen spekulieren, weil er das gleiche Klassenwesen wie diese besitzt.

In diesen Konflikten kann die Schwächung einer dieser Antagonismen zu einer Bedingung für seine Verstärkung werden. Dies trifft aber auf die Arbeiterklasse und ihre Revolution nicht zu. Sie kann sich auf keinen dieser Verbündeten oder Kräfte stützen. Sie steht alleine da und steht immer in einem unüberwindbaren historischen Widerspruch zu all diesen Kräften und Leuten, die sich ihr gegenüber zu einer untrennbaren Einheit zusammenfügen.

Das Proletariat sich seiner Position und seiner historischen Aufgabe bewusst werden zu lassen, ihm die großen Schwierigkeiten seines Kampfes nicht zu vertuschen, ihm aufzuzeigen, dass es aber auch keine Wahl hat, wenn es seine menschliche und physische Existenz bewahren will, ihm zeigen, dass es trotz dieser Schwierigkeiten siegen kann und muss, dies ist der einzige Weg der Stärkung des Proletariats für seinen Sieg.

Aber wenn man versucht, diesen Schwierigkeiten auszuweichen, indem man für die Arbeiterklasse mögliche Verbündete sucht (auch nur vorübergehende) und ihm „fortschrittliche” Kräfte anderer Klassen anbietet, auf die sie sich in ihrem Kampf stützen sollte, heißt die Arbeiterklasse zu täuschen, um sie zu trösten, zu entwaffnen und sie in die Irre zu führen. Darin besteht die Funktion der Trotzkisten heute.

 

Bravo Abd-al-Krim” oder eine kurze Geschichte des Trotzkismus 
(Internationalisme n° 24 – Juli 1947)

 

Einige Leute leiden unter einem Minderwertigkeitsgefühl, andere unter Schuldgefühlen, wieder andere unter Verfolgungswahn. Der Trotzkismus wiederum leidet unter einer Krankheit, die man mangels besserer Bezeichnung „Verteidigungsmanie” nennen könnte. Die ganze Geschichte des Trotzkismus dreht sich um die „Verteidigung” von irgendetwas. Und wenn die Trotzkisten unglücklicherweise in „flauen Wochen‘ nichts und niemanden zum Verteidigen finden, werden sie sprichwörtlich krank. Dann erkennt man sie an ihren traurigen Gesichtern, ihren niedergeschlagenen Minen, ihrem verstörten Blick, wie sie wie ein Drogenabhängiger ihre tägliche Giftdosis suchen: eine Sache oder ein Opfer, für dessen Verteidigung sie eintreten könnten.

Gott sei Dank gibt es ein Russland, in dem es einmal eine Revolution gegeben hat. Dies dient den Trotzkisten ewig zur Rechtfertigung ihres Dranges der Verteidigung. Was immer in Russland passiert, bleiben die Trotzkisten unerschütterlich für die „Verteidigung der UdSSR”, denn sie haben in Russland eine unerschöpfliche Quelle gefunden, welche ihr Laster der „Verteidigung” befriedigt.

Aber nicht nur die großen Verteidigungen zählen. Um das Leben des Trotzkismus zu bereichern, braucht man zusätzlich zu der großen Verteidigung die unsterbliche, bedingungslose „Verteidigung der UdSSR” – welche die Grundlagen und die Daseinsberechtigung des Trotzkismus liefern. Der Trotzkismus ist erpicht auf die „alltäglichen…Verteidigungen”, das, was er „jeden Tag verteidigen” kann.

In der Niedergangsphase des Kapitalismus entfesselt dieser eine allgemeine Zerstörung, von der die Arbeiterklasse betroffen ist, die wie immer Opfer des Regimes wird. Repression und Massaker breiten sich aus, sogar bis in die Kapitalistenklasse hinein pflanzt sich die Zerstörung fort. Hitler massakrierte die republikanischen Bürgerlichen, Churchill und Truman hängten und erschossen Goering und Co., Stalin erhielt das Einverständnis aller, als er verschiedene Leute massakrierte. Ein blutiges allgemeines Chaos, die Auslösung einer perfektionierten Bestialität und ein bislang unbekannter raffinierter Sadismus sind das zu zahlende unausbleibliche Lösegeld, wenn es dem Kapitalismus unmöglich geworden ist, seine Widersprüche zu überwinden. Gott sei gelobt. Welch ein Glücksfall für diejenigen, die auf der Suche einer verteidigungswerten Sache sind. Unsere Trotzkisten freuen sich! Jeden Tag bieten sich für unsere modernen Ritter neue Möglichkeiten, bei denen sie ihr großzügiges Wesen ihres Kampfes zur Wiedergutmachung jeglichen Unrechts und der Rache der Beleidigten zeigen können.

 

Werfen wir einen Blick auf die Geschichte des Trotzkismus

 

Im Herbst 1935 fing Italien eine militärische Kampagne gegen Äthiopien an. Es handelte sich zweifelsohne um einen imperialistischen Krieg der kolonialen Eroberung eines rückständigen Landes, Äthiopiens, das wirtschaftlich und politisch noch halbfeudal war, durch ein fortgeschrittenes kapitalistisches Land, Italien. In Italien herrschte das Regime Mussolinis, in Äthiopien das Regime Negus, der „König der Könige”. Aber der italienisch-äthiopische Krieg ist viel mehr noch als ein einfacher, klassischer Kolonialkrieg. Es handelte sich um die Vorbereitung, den Auftakt des sich ankündigenden Weltkriegs. Aber die Trotzkisten brauchen nicht so weit voraus zu schauen. Es reicht zu sehen, dass Mussolini der „böse Angreifer” gegen das „arme Königreich” des Negus ist, um unmittelbar die „bedingungslose” Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit Äthiopiens zu übernehmen. Ah, aber wie! Sie reihen ihre Stimme in den allgemeinen Chor ein (vor allem den Chor des angel-sächsischen „demokratischen” Blocks, welcher noch in der Bildung begriffen ist und sich noch sucht), um internationale Sanktionen gegen die „faschistische Aggression” zu fordern. Die stärksten Verteidiger unter allen, die zudem von niemanden in diesen Fragen Lehren erhalten können, schelten und prangern sie die aus ihrer Sicht unzureichende Verteidigung durch den Völkerbund an[9], und rufen die Arbeiter der Welt dazu auf, die Verteidigung Äthiopiens und des Negus zu übernehmen. Es stimmt zwar, dass die Verteidigung des Königs Negus durch die Trotzkisten diesem nicht besonders viel Glück gebracht hat, weil er trotz deren Verteidigung geschlagen wurde. Aber gerechterweise muss man sagen, dass ihnen die Schuld dieser Niederlage nicht angehaftet werden kann, denn wenn es um die Verteidigung geht, selbst die eines Negus, nörgeln die Trotzkisten nicht. Sie sind zur Stelle und wie!

1936 brach der Spanienkrieg los. In Gestalt eines inneren „Bürgerkrieges”, durch welchen die spanische Bourgeoisie in einen frankistischen und republikanischen Clan gespalten wurde, wurde dieser auf Kosten des Lebens und des Bluts der Arbeiter geführt. Er war das Vorspiel für den bevorstehenden Weltkrieg. Die Regierung, welche aus Republikanern, Stalinisten und Anarchisten zusammengesetzt war, war offensichtlich militärisch unterlagen. Natürlich eilten die Trotzkisten der Republik zur Hilfe, die „durch die faschistische Gefahr bedroht wurde”. Ein Krieg kann natürlich nicht fortgesetzt werden, wenn es an Kämpfern und Material fehlt. Er würde zum Erliegen kommen. Aus Angst vor solch einer Perspektive, wo man nichts mehr verteidigen könnte, setzen die Trotzkisten alles daran, Kämpfer für die internationalen Brigaden zu rekrutieren und bringen alle Mittel für die Entsendung von „Kanonen für Spanien” auf. Aber die republikanische Regierung, zu der Azaña, Negrin, Francos Freunde von gestern und heute gehören, sind die Feinde der Arbeiterklasse. Die Trotzkisten schauen nicht so genau hin. Sie verhandeln nicht ihre Hilfe. Man ist für oder gegen die Verteidigung. Wir Trotzkisten, wir sind Neo-Verteidiger. Punkt, basta!

1938 tobte der Krieg im Fernen Osten. Japan griff das China Tschiang Kai-Sheks an. Ah! Keine Zögerungen! „Alle geschlossen wie ein Mann für die Verteidigung Chinas”. Trotzki selbst erklärte, dies sei nicht der Zeitpunkt, um das blutige Massaker der Tausenden und Tausenden Arbeiter Shanghais und Kantons durch die Armeen des gleichen Tschiang Kai-Sheks während der Revolution von 1927 in Erinnerung zu rufen. Die Regierung Tschiang Kai-Shek mag wohl eine kapitalistische Regierung sein, die im Solde des amerikanischen Imperialismus steht, und die bei der Ausbeutung und der Repression der Arbeiter dem japanischen Regime in nichts nachsteht, all das zählt wenig angesichts des höheren Prinzips der nationalen Unabhängigkeit. Das internationale Proletariat, das für die Unabhängigkeit des chinesischen Kapitalismus mobilisiert wurde, bleibt immer unabhängig… vom Yankee-Imperialismus, aber Japan hat tatsächlich China verloren und ist geschlagen worden. Die Trotzkisten können zufrieden sein. Zumindest haben sie die Hälfte ihres Ziels erreicht. Es stimmt, dass dieser antijapanische Sieg Dutzende Millionen von Arbeitern, die im sieben Jahre dauernden Krieg an allen Fronten während des Weltkriegs massakriert wurden, das Leben gekostet hat.[10] Aber zählt das neben der garantierten Unabhängigkeit Chinas?

1939 griff Hitler-Deutschland Polen an. Vorwärts mit der Verteidigung Polens. Aber der russische „Arbeiterstaat” griff ebenfalls Polen an, und fiel zudem noch in Finnland ein und entriss Rumänien Gebietsstreifen. Das stiftet ein wenig Verwirrung in den Köpfen der Trotzkisten, die wie die Stalinisten erst wieder klarer sehen als die Feindseligkeiten zwischen Deutschland und Russland ausbrachen. Danach wurde die Lage wieder einfacher, zu einfach, tragisch einfach. Fünf Jahre lang riefen die Trotzkisten die Arbeiter aller Länder dazu auf, sich für die „Verteidigung der UdSSR” abschlachten zu lasen und auf Umwegen alle Verbündeten der UdSSR. Sie bekämpften die Regierung Vichys, die das französische Kolonialreich Deutschland dienstbar machen wollte und somit „seine Einheit” aufs Spiel setzte. Sie bekämpften Pétain und andere Quisling [11]. In den USA forderten sie die Kontrolle der Armee durch die Gewerkschaften, um besser die Verteidigung der UdSSR gegen die Bedrohung durch den deutschen Faschismus sicherzustellen. Sie waren bei allen Maquis, allen Résistance in allen Ländern präsent. Dies war die Blütezeit der „Verteidigung”.

Der Krieg mag wohl zu Ende kommen, aber der tiefgreifende Wunsch der Trotzkisten nach „Verteidigung” ist unbegrenzt. Das weltweite Chaos, das dem offiziellen Ende des Krieges folgte, die verschiedenen Bewegungen rasender Nationalismen, die bürgerlich-nationalistischen Erhebungen in den Kolonien, waren allemal Ausdrücke des weltweiten Chaos nach dem offiziellen Ende des Krieges, welches schließlich durch die Großmächte benutzt und angefacht wurde, um sie ihren imperialistischen Interessen unterzuordnen. Sie lieferten genug Stoff für die Trotzkisten zur Rechtfertigung ihrer „Verteidigungsargumentation“. Vor allem im Namen der bürgerlichen Kolonialbewegungen, unter den Fahnen der „nationalen Befreiung” und des „Kampfes gegen den Imperialismus” (eine verbalradikaler Schlachtruf) schlachtete man weiter Tausende Arbeiter ab. All das stellt den Höhepunkt der „Verteidigungsaufrufe” der Trotzkisten dar.

In Griechenland prallten der russische und anglo-amerikanische Block um die Vorherrschaft auf dem Balkan aufeinander; vor Ort geschah dies in Form von Partisanenkämpfen gegen die offizielle Regierung. Die Trotzkisten waren mit dabei. „Finger weg von Griechenland”, schrien sie, und sie kündigten die gute Nachricht den Arbeitern an, nämlich die Gründung von internationalen Brigaden auf dem jugoslawischen Territorium des Befreiers Tito [12], wo sie die Arbeiter dazu aufriefen, in Brigaden zum Kampf um die Befreiung Griechenlands einzutreten.

Nicht weniger enthusiastisch berichten sie von ihren heldenhaften Kämpfen in China in den Reihen der sog. Kommunistischen Armee, die genau so kommunistisch ist wie die russische Regierung Stalins, von der sie abstammt. Indochina, wo die Massaker ebenfalls gut organisiert worden sind, wird erneut ein Paradebeispiel für die trotzkistische Verteidigung der „nationalen Unabhängigkeit Vietnams” sein. Mit dem gleichen generösen Elan unterstützten und verteidigten die Trotzkisten die nationale bürgerliche Partei Destour in Tunesien, der nationalen bürgerlichen Partei (PPA) in Algerien. Sie fanden Befreiungstugenden bei der MDRM, der bürgerlich nationalistischen Bewegung in Madagaskar. Die Verhaftung von Funktionären der Republik und von Abgeordneten in Madagaskar durch die kapitalistische Regierung Frankreichs trieb die Empörung der Trotzkisten auf den Höhepunkt. Jede Woche wurde La Vérité mit neuen Aufrufen für die Verteidigung der „armen” Abgeordneten Madagaskars gedruckt. „Befreit Ravoahanguy, befreit Raharivelo, befreit Roseta!” Der Platz in der Zeitung reichte nicht mehr, um all die Aufrufe zur „Verteidigung”, an der sich die Trotzkisten beteiligen sollten, zu veröffentlichen. Verteidigung der in den USA bedrohten stalinistischen Partei! Verteidigung der pan-arabischen Bewegung gegen den jüdischen Kolonisationszionismus in Palästina, und Verteidigung der Wütenden vor der chauvinistischen jüdischen Kolonisation, der terroristischen Führer des Irgun gegen England!

 

Verteidigung der Sozialistischen Jugend gegen das Führungskomitee der SFIO.

 

Verteidigung der SFIO gegen denn neo-sozialistischen Ramadier.

 

Verteidigung der CGT (französische Gewerkschaft) gegen ihre Führer

 

Verteidigung der „Freiheiten…. gegen die Bedrohungen durch die „Faschisten um de Gaulle”

 

Verteidigung der Verfassung gegen die Reaktion

 

Verteidigung der Regierung von PS-PC-CGT gegen die MRP.

 

Und über allem stehend Verteidigung des „armen” Russlands Stalins, das von einer Umzingelung durch die USA bedroht ist.

 

Arme, arme Trotzkisten, auf den zarten Schultern lastet die schwere Bürde so vieler „Verteidiger”!

 

Am 31. Mai diesen Jahres hat etwas Sensationelles stattgefunden: Abd-al-Krim, der alte Führer des Rifs [13], hat die französische Regierung einfach stehen lassen, indem er bei seiner Überstellung nach Frankreich flüchtete. Diese Flucht wurde durch die Komplizenschaft des Königs Faruk aus Ägypten vorbereitet und ausgeführt, der ihm Asyl anbot, das man königlich nennen kann. Das Ganze erfolgte mit ziemlichem Wohlwollen der USA. Die Presse und die französische Regierung sind bestürzt. Die Lage Frankreichs in den Kolonien ist alles andere als sicher, und es wird neue Unruhen geben. Aber mehr als eine wirkliche Gefahr ist die Flucht Abd-al-Krims vor allem ein Ereignis, das Frankreich lächerlich aussehen lässt, dessen Prestige auf der Welt ohnehin schon angeschlagen ist. Auch versteht man die Proteste der ganzen Presse, die sich über den Vertrauensbruch Abd-al-Krims gegenüber der demokratischen französischen Regierung beschweren, der trotz seines Ehrenwortes flüchtete.

Dies ist natürlich ein „tolles” Ereignis für unsere Trotzkisten, die vor Freude mit den Füßen trampeln. La Vérité vom 6. Juni titelt „Bravo Abd-al-Krim”, sie empfindet Mitleid mit dem, der „den heldenhaften Kampf des marokkanischen Volkes anführte”. La Vérité lobt die revolutionäre Größe seiner Geste. „Wenn sie diese Herren des Generalsstabs und des Ministeriums der Kolonien getäuscht haben, haben sie das toll gemacht. Man muss wissen, wie man die Bourgeoisie hinters Licht führt, sie belügt, sie austrickst, lehrte uns Lenin”, schreibt La Vérité. So wurde Abd-al-Krim zu einem Schüler Lenins gemacht, in Erwartung, dass er ein Ehrenmitglied des Exekutivkomitees der 4. Internationale wird.

Die Trotzkisten versichern uns, „als alter Kämpfer des Rifs, der wie in der Vergangenheit die Unabhängigkeit seines Landes wollte,… so lange wie Abd-al-Krim kämpft, werden alle Kommunisten auf der Welt ihm helfen und ihn unterstützen”. Sie sagen zum Schluss: „Was gestern die Stalinisten sagten, wiederholen wir Trotzkisten heute”.

Tatsächlich könnte man das nicht deutlicher sagen.

Aber wir werfen den Trotzkisten nicht vor, „das heute zu wiederholen, was die Stalinisten gestern gesagt haben” und das zu tun, was die Stalinisten immer getan haben. Wir werfen den Trotzkisten auch nicht vor, das zu „verteidigen” was sie wollen. Sie erfüllen eigentlich ganz ihre Rolle.

Aber es möge uns gestattet sein, einen Wunsch auszudrücken, einen einzigen Wunsch. Mein Gott! Hoffen wir, dass die Notwendigkeit der Verteidigung der Trotzkisten nicht eines Tages dem Proletariat zufällt. Denn mit dieser Art Verteidigung wird die Arbeiterklasse sich nie mehr erheben können.

Die Erfahrung mit dem Stalinismus reicht vollkommen!

Marc

 



[1] Siehe unsere Broschüre La Gauche Communiste de France.

 

[2] Siehe unseren Artikel „La Gauche Communiste et la continuité du marxisme“.

 

[3] Siehe dazu das erste Kapitel unserer Broschüre zur „Gauche Communiste de France“. Die gescheiterten Versuchte der Schaffung einer Gauche Communiste de France.

 

[4] (Hinweis der Redaktion) Ein besonderer Hinweis auf Munis sei hier angebracht, welcher mit dem Trotzkismus auf der Grundlage der Verteidigung des proletarischen Internationalismus brach. Siehe dazu unseren Artikel in Internationale Revue Nr. 58 (französische Ausgabe). Dem Gedenken an Munis, Kämpfer der Arbeiterklasse. A la mémoire de Munis, un militant de la classe ouvrière.

 

[5] (Hinweis der Redaktion): Es handelt sich um die russische Offensive 1939, die neben Finnland auch auf Polen gerichtet war (das seinerzeit von Hitler überfallen wurde), sowie auf die Baltischen Staaten und Rumänien.

 

[6] Es ist ganz typisch, dass die Gruppe Johnson-Forest, die sich von der Partei Schachtmans getrennt hat und sich als „sehr links“ bezeichnet, weil sie gleichzeitig die Verteidigung der UdSSR ablehnt und die antirussischen Positionen Schachtmans, dass die gleiche Gruppe heftig die französischen Trotzkisten kritisiert, die ihnen zufolge sich nicht direkt aktiv genug an der „Résistance‘ beteiligt haben. Dies ist ein typisches Beispiel des Trotzkismus.

 

[7] (Hinweis der Redaktion): Forces Françaises de l‘Intérieur, Gesamtheit der militärischen Gruppen der französischen inneren Résistance, die im besetzten Frankreich gebildet worden waren, und im März 1944 unter den Befehl des General Königs und der politischen Autorität des General de Gaulles gestellt worden war.

 

[8] (Hinweis der Redaktion): Parti Communiste Internationaliste, Ergebnis des Zusammenschlusses 1944 der Parti Ouvrier Internationaliste und des Comité Communiste Internationaliste

 

[9] (Hinweis der Redaktion) Völkerbund, Vorläufer vor dem Krieg der Vereinten Nationen

 

[10] Man lese zum Beispiel La Vérité vom 20.06.1947. „Der heldenhafte Kampf der chinesischen Trotzkisten“: In der Provinz Chandung wurden unsere Genossen zu den besten Kämpfern der GuerillaÖ In der Provinz Xiang-Chi wurden die Trotzkisten von den Stalinisten als die ‘loyalsten Kämpfer gegen Japan’ begrüßt. Usw.

 

[11] (Hinweis der Redaktion): Vidkum Quisling war der Führer der norwegischen Nasjonal Samling (Nazipartei) und Führer der Phantomregierung, die von Deutschland nach der Besetzung Norwegens eingesetzt worden war.

 

[12] (Hinweis der Redaktion): Josip Broz Tito war einer der Hauptverantwortlichen der jugoslawischen Résistance am Ende des Krieges.

 

[13] (Hinweis der Redaktion) Mohammed Abd al-Karim Al Khattabi (in Ajdir, Marokko,ca. 1882 geboren), verstorben am 6.Februar 1963 in Kairo in Ägypten), führte einen langen Widerstandskampf gegen die Kolonialbesetzung des Rifs – Bergregion im Norden Marokkos – zunächst gegen die Spanier, dann gegen die Franzosen. Ihm gelang es 1922 , eine „Konföderierte Republik der Stämme des Rifs“ auszurufen. Der Krieg zur Niederschlagung dieser neuen Republik wurde von einer Armee von 450.000 Soldaten geführt, die Frankreich und Spanien zusammengestellt hatten. Als er sah, dass seine Sache aussichtslos war, stellte sich Abd-al-Krim den Behörden als Kriegsgefangener, um das Leben von Zivilisten zu schützen, was aber die Franzosen nicht daran hinderte, die Dörfer mit Senfgas zu bombardieren, wodurch 150.000 Menschen getötet wurden. Abd-al-Krim ging ab 1926 nach La Réunion ins Exil, wo er unter Hausüberwachung stand, aber 1947 durfte er nach Frankreich zurückkehren. Als sein Schiff in Ägypten Zwischenstop machte, übertölperte er seine Bewacher, und verbrachte den Rest seines Lebens in Kairo. (siehe Wikipedia).

 

Leute: 

  • Trotzki [7]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Trotzkismus [8]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Französische Kommunistische Linke [9]

Interne Debatte in der IKS (IV): Die Ursachen für die Aufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg

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Zum vierten Mal seit der Internationalen Revue Nr. 42 veröffentlichen wir hier Elemente der internen Debatte der IKS darüber, wie die Aufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären ist.

 

Wir laden den Leser und die Leserin, welche die Entwicklung dieser Debatte verfolgen wollen, dazu ein, die Artikel in den Nummern 42, 43 und 44 dieser Revue zu lesen. Der Artikel, den wir nachfolgend veröffentlichen, beruft sich auf die These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus, die die Idee vertritt, dass der Aufschwung der 1950er und 60er Jahre auf der Einführung von keynesianischen Maßnahmen durch die Bourgeoisie beruhte. Er antwortet auf die Artikel, die in der Revue Nr. 44 veröffentlicht worden sind und die die Idee vertreten, dass der Aufschwung vor allem eine Folge der Ausbeutung der letzten wichtigen außerkapitalistischen Märkte und eine blinde Flucht in die Verschuldung war (These Außerkapitalistische Märkte und Verschuldung)[1], bzw., dass dieser Aufschwung vor allem dem Gewicht der Kriegswirtschaft und des Staatskapitalismus in der Gesellschaft geschuldet war[2].

In der Einführung zur Veröffentlichung dieser beiden Artikel, haben wir einen Überblick über die Entwicklung der Diskussion gegeben und darauf hingewiesen, dass die These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus „nun offen verschiedene Positionen der IKS in Frage stellt". Die GenossInnen, die den vorliegenden Artikel unterschrieben haben, sind mit dieser Behauptung nicht einverstanden und erklären warum[3].

Schließlich haben wir in der erwähnten Einführung darauf hingewiesen, dass der Artikel Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus in der RevueNr. 43 (der auch die These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus vertritt) einige Probleme bereitet wegen eines Mangels an „strengstmöglicher wissenschaftlicher und militanter Klarheit, insbesondere was die Verweise auf Texte der Arbeiterbewegung betrifft, die zur Unterstützung eines Arguments oder für die Polemik benutzt werden", insbesondere durch die Verfälschung des Sinns von einigen der verwendeten Zitate. Dieses Problem hat überhaupt nichts mit dem Inhalt dieser Position zu tun, was der vorliegenden, neue Artikel beweist, der auf dieser Ebene tadellos ist.

Zur Verteidigung der These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus

Antwort auf Silvio und Jens

Wir setzen hier die Debatte fort, die in der Internationalen Revue Nr. 42 über „die ökonomische Analyse der starken Aufschwungsperiode nach dem Zweiten Weltkrieg" begonnen hat, eine Periode, die „mit ihren spektakulären und einzigartigen Wachstumsraten der Weltwirtschaft eine Ausnahme in der Geschichte der Dekadenz des Kapitalismus" darstellte. Wir wollen auf die Argumente der Beiträge der Genossen Silvio und Jens antworten, die in der Nr. 44 veröffentlicht worden sind, und auch auf die Einführung zu diesen Beiträgen in der gleichen Nummer, die unseres Erachtens einige Missverständnisse enthält.

Die verschiedenen Auffassungen, über die wir gegenwärtig in unserer Organisation diskutieren, befinden sich alle im Rahmen der Positionen, die von den Revolutionären in der Zweiten und Dritten Internationalen und in der Kommunistischen Linken vertreten wurden. Dabei meinen wir unter anderem die Beiträge von Luxemburg, Bucharin, Trotzki, Pannekoek, Bilan und Mattick. Wir sind uns bewusst, dass diese Beiträge sich nicht alle versöhnen lassen, da sie sich doch in verschiedener Hinsicht ausdrücklich widersprechen. Aber keiner von ihnen erklärt für sich allein abschließend und befriedigend die Entwicklung des so genannten „Wirtschaftswunders", und zwar aus dem einfachen Grund, dass ihre Autoren (mit der Ausnahme von P. Mattick) nicht in dieser Zeit lebten. Wir meinen, dass alle von ihnen zur Diskussion, die wir gegenwärtig führen, beigetragen haben. Es obliegt den heutigen Revolutionären, die offene Diskussion in der revolutionären Bewegung fortzuführen, um die Mechanismen, welche die Entwickluång des Kapitalismus - vor allem in seiner Niedergangsphase - ermöglichen oder bremsen, besser zu verstehen.

Diejenigen, die diesen Artikel geschrieben haben, vertreten die These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus. Diese These wurde durch C.Mcl detaillierter in der Internationalen RevueNr. 43 vorgestellt. C.Mcl hat es aber in der Zwischenzeit vorgezogen, die Debatte zu verlassen, und den Kontakt zu uns abgebrochen. Deshalb wissen wir nicht, ob die Position, die wir hier verteidigen, mit der seinigen absolut identisch ist.

Von welchen Fakten gehen wir aus?

Bevor wir mit der eigentlichen Debatte fortfahren, möchten wir zuerst einige historische Fakten festhalten, über die es unter den drei Positionen, die bis jetzt in der Debatte formuliert worden sind, Einigkeit zu geben scheint:

1.  In der Zeit von 1945-75 stieg mindestens in den industrialisierten Ländern des US-amerikanisch beherrschten Blockes nicht nur  das BIP pro Kopf wie nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus[4], sondern es gab auch einen Anstieg des Reallohnes der Arbeiter[5].

2.  In der gleichen Zeit und in den gleichen Ländern gab es eine anhaltende Zunahme in der Arbeitsproduktivität, die „größten Produktivitätssteigerungen in der Geschichte des Kapitalismus. Dies war vor allem der Perfektionierung der Fließbandproduktion (Fordismus), der Automatisierung der Produktion und ihrer größtmöglichen Ausweitung geschuldet"[6]. Oder einfach gesagt: Technik und Organisation der Produktion ermöglichten es, dass ein Arbeiter in einer Stunde viel mehr produzierte als zuvor.

3.  Die Profitrate (d.h. der Profit im Verhältnis zum gesamten investierten Kapital) war in fast der ganzen Zeit des „Wirtschaftswunders" sehr hoch, begann aber ab 1969 tendenziell wieder zu sinken. Alle, die an dieser Debatte teilnehmen, beziehen sich in dieser Hinsicht auf die gleichen Statistiken[7].

4.  Mindestens bis 1971 gab es zwischen den Staaten des US-amerikanisch beherrschten Blockes eine besondere Konzertierung wie nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus (Blockdisziplin, Bretton-Woods-System[8]).

Was die ersten drei Punkte betrifft, so ist eine gewisse Konsequenz in der Argumentation vonnöten. Wenn wir uns alle über diese Fakten einig sind, so können wir nicht plötzlich auf halbem Weg stehen bleiben und darauf beharren, „dass die tatsächliche Prosperität der 1950er und 1960er Jahre nicht so großartig war, wie die Bourgeoisie gern vorgibt, wenn sie stolz auf das BSP der wichtigsten Industrieländer jener Zeit verweist"[9]. Was uns die Bourgeoisie über diese Zeit erzählt, ist das eine; das andere ist, dass wir das Problem nicht lösen können, indem wir einfach sagen: Es existiert nicht, denn das Wachstum war nicht so stark. Wir können die Debatte nicht diesem Punkt aufgeben. Wir müssen den Gedanken weiter treiben, denn wir haben - wie das Proletariat ganz allgemein - kein Interesse daran, Tatsachen zu verheimlichen. Wir stehen also vor der Herausforderung, die Mechanismen zu erklären, die gleichzeitig dreierlei erlaubten:

-   eine Akkumulation ohne größere Unterbrüche (abgesehen von den üblichen zyklischen Krisen);

-   eine hohe Profitrate;

-   wachsende Reallöhne.

Ob wir einen Aspekt überbewerten oder gewisse Schwierigkeiten unterschätzen - das sind relative Argumente (es geht dabei um mehr oder weniger Quantität), aber hier interessiert uns eine qualitative Frage: Wie war es möglich, dass der dekadente Kapitalismus eine ungefähr zwanzigjährige Aufschwungphase erlebte, in welcher die Löhne stiegen und die Profite auf einem hohen Niveau blieben? Dies ist die Frage, auf die wir antworten müssen.

Bis zu welchem Punkt stimmt die These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus mit Rosa Luxemburg überein?

Die These des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus wird vor allem deshalb kritisiert, weil sie einen Teil der Argumentation Rosa Luxemburgs zurück weist, wie es aus dem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 43, der unsere These im Einzelnen vorstellt, hervorgeht. Anscheinend ist nicht klar, bis zu welchem Punkt wir einverstanden sind mit R. Luxemburg. So meint der Genosse Jens in seinem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 44, dass C.Mcl seine Auffassung seit einem früheren Artikel, den dieser Genosse in der International Review Nr. 127 (engl./franz./span. Ausgabe) schrieb, geändert habe. Doch schon in diesem Artikel wurde (im Namen der IKS in einer Polemik mit der CWO) erklärt, dass die Verkleinerung des zahlungsfähigen Marktes im Vergleich zu den Bedürfnissen des Kapitals „natürlich nicht (...) der einzige Faktor ist, der der Krise zugrunde liegt", vielmehr müsse auch das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und das Ungleichgewicht der Akkumulationsgeschwindigkeit in den beiden großen Abteilungen der Produktion in Betracht gezogen werden.

Unserer Meinung nach ist die Realisierung des produzierten Mehrwerts in der Tat ein Grundproblem des Kapitalismus. Es gibt nicht nur eine, sondern zwei wesentliche Ursachen der kapitalistischen Krise (für den Moment interessieren wir uns nicht für das dritte Problem, dasjenige der Proportionalität). Es gibt nicht bloß das Problem, dass die Profitrate wegen der Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals tendenziell sinkt, sondern (nach dem Akt der Produktion und der Aneignung des Mehrwerts) taucht das Problem des Verkaufs des Produkts einschließlich des Mehrwerts auf. Es ist ein Verdienst R. Luxemburgs, die Schwierigkeit der Realisierung des Produkts aufgrund des Mangels an zahlungsfähigen Märkten beleuchtet zu haben.

Der Kapitalismus ist ein System, das sich notwendigerweise ausdehnen muss. Die Akkumulation ist nicht einfache Reproduktion, sondern erweiterte. Das Kapital will nach jedem Produktionszyklus seine Grundlage erweitern, d.h. sowohl das konstante als auch das variable Kapital. Der Kapitalismus entwickelte sich in einer feudalistischen Umgebung, in einem außerkapitalistischen  Milieu, mit dem er Beziehungen knüpfte, um die materiellen Mittel für seine Akkumulation zu erhalten: Rohstoffe, Arbeitskräfte usw.

Ein anderes Verdienst R. Luxemburgs war, dass sie die Beziehungen zwischen der kapitalistischen Sphäre und dem außerkapitalistischen Milieu analysierte. Wir sind nicht mit allen Argumenten dieser ökonomischen Analyse einverstanden (wie wir weiter unten darlegen werden), aber wir teilen mit ihr die Kerngedanken: dass der Kapitalismus ständig die anderen Produktionsweisen um ihn herum zerstört, dass der innere Widerspruch eine Lösung in der Erweiterung des äußeren Feldes sucht und dass eine qualitative Veränderung in der Entwicklung des Kapitalismus von dem Moment an eintrat, wo der ganze Planet vom Kapitalismus erobert war, d.h. als der Weltmarkt ausgebildet war. In diesem Moment hatte der Kapitalismus seine fortschrittliche Funktion erfüllt und trat in seine Niedergangsphase ein. Wie C.Mcl in der International Review Nr. 127 sagte: Luxemburg erklärte „tiefer den Grund und den Moment des Eintritts des kapitalistischen Systems in die Dekadenz, denn sie analysierte nicht nur die geschichtliche Beziehung zwischen den kapitalistischen Produktionsverhältnissen und dem Imperialismus, indem sie nachwies, dass das System nicht überleben kann, ohne sich auszudehnen, ohne seinem Wesen nach imperialistisch zu sein, sondern sie präzisierte darüber hinaus den Moment und die Art und Weise, wie das kapitalistische System in seine Niedergangsphase eintritt. (...) So zeichnete sich der Eintritt in die Dekadenz des Systems nicht durch das Verschwinden der außerkapitalistischen Märkte aus (...), sondern durch ihr Ungenügen gemessen an den Bedürfnissen der im Kapitalismus erreichten erweiterten Akkumulation"[10].

Braucht es zur kapitalistischen Akkumulation für jeden Zyklus außerkapitalistische Märkte?

Es trifft zu, dass im aufsteigenden Kapitalismus die Märkte außerhalb der kapitalistischen Sphäre einen Absatzmarkt für die Waren darstellten, wenn es Überproduktion gab. Schon in seiner aufsteigenden Phase litt der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen und überwand sie zeitweilig auf der einen Seite durch die periodischen Krisen und auf der anderen durch den Verkauf der Produkte, die in der rein kapitalistischen Sphäre nicht verkauft werden konnten, auf außerkapitalistischen Märkten. In  den zyklischen Krisen, die durch den Fall der Profitrate hervorgerufen werden, entwerten sich verschiedene Teile des Kapitals so, dass sich eine neue organische Zusammensetzung ergibt, die es wieder erlaubt, rentabel zu akkumulieren. Und auf der anderen Seite stellte die außerkapitalistische Umgebung in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus ein „Ventil für den Verkauf von Waren aus der Überproduktion"[11] dar, was auf dieser Ebene das Problem des Mangels an zahlungskräftigen Märkten abschwächte.

Der Fehler von R. Luxemburg besteht darin, dass sie diese außerkapitalistischen Märkte und den Verkauf des zur Akkumulation bestimmten Teil des Mehrwerts auf diesen Märkten zu wesentlichen (unabdingbaren) Elementen der erweiterten Reproduktion erklärt. Der Kapitalist produziert für den Verkauf, und nicht für die Produktion als Selbstzweck. Die Ware muss also einen Käufer finden. Und jeder Kapitalist ist vor allem ein Verkäufer; er kauft nur, um wieder zu investieren, und nur, nachdem er sein Produkt mit Gewinn hat verkaufen können. Das heißt, das Kapital muss eine Geldphase durchlaufen, und je einzeln und zu ihrer Realisierung müssen die Waren in Geld verwandelt werden, aber dies betrifft nicht die Gesamtheit der Waren im gleichen Moment, auch nicht jährlich, wie es Luxemburg darstellt: ein Teil kann in der materiellen Form verharren, während ein anderer durch verschiedene Handelstransaktionen weitergereicht wird, bei denen eine bestimmte Menge Geld mehrere Male bei der Umwandlung von Ware in Geld oder umgekehrt dienen kann.

Wenn es keinen Kredit gäbe und wenn man die jährliche Produktion auf einmal auf dem Markt in Geld verwandeln müsste, so wäre tatsächlich ein Käufer nötig, der sich außerhalb der kapitalistischen Produktion befände.

Aber so verhält es sich nicht. Selbstverständlich kann es Hindernisse geben im Zyklus Kauf - Produktion / Mehrwertabpressung - Verkauf - neuer Kauf usw. Es gibt sogar manche Schwierigkeit dabei. Aber der Verkauf an einen außerkapitalistischen Käufer ist nicht konstitutiv für die „normale" Akkumulation, sondern lediglich ein mögliches Ventil im Falle von Überproduktion oder Ungleichgewicht zwischen Produktion von Produktionsmitteln und Produktion von Konsumgütern - von Problemen, die sich nicht ständig äußern.

Dieser Schwachpunkt in der Argumentation R. Luxemburgs wurde auch schon von „Luxemburgisten" kritisiert, wie Fritz Sternberg, der in dieser Hinsicht von „fundamentalen, schwer begreiflichen Irrtümern"[12] spricht. Es ist schwer begreiflich, weshalb dieser Kritikpunkt Sternbergs von den Verteidigern des „reinen Luxemburgismus" nicht in Betracht gezogen wird. Seit dem Beginn der Debatten in der IKS über die Dekadenz (1970er Jahre) ist F. Sternberg eine wichtige Referenz, und zwar gerade weil er sich selber als Luxemburgisten betrachtet.

Der Genosse Jens ist nicht einverstanden mit der Idee der These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus, wonach „die außerkapitalistischen Märkte nicht anderes sind als eine Art Überlaufventil für den kapitalistischen Markt, wenn er zu voll wird"[13]. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wir denken, dass genau hier der Unterschied liegt zwischen dem „reinen Luxemburgismus" von Jens (und Silvio) und dem Luxemburgismus von Sternberg. In diesem Punkt stimmen wir mit Sternberg überein.

Für uns ist das Rätsel des „Wirtschaftswunders" nicht erklärbar mit Überresten von außerkapitalistischen Märkten, denn diese vermögen schon seit dem Ersten Weltkrieg den Akkumulationsbedürfnissen, die der Kapitalismus erreicht hat, nicht mehr zu genügen.

Wie funktioniert die Akkumulation bei einer starken Zunahme der Produktivität?

Für die These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus ist der lange Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg der Kombination von mindestens drei wesentlichen Faktoren geschuldet:

-   eine starke Zunahme der Produktivität während einer Phase von mehr als zwei Jahrzehnten;

-   eine erhebliche Erhöhung der Reallöhne in der gleichen Zeit;

-   ein entwickelter Staatskapitalismus, der keynesianische Maßnahmen auch auf anderen Gebieten als demjenigen des Arbeitslohnes umsetzte  (und auf zwischenstaatlicher Ebene koordiniert wurde).

In der Internationalen Revue Nr. 44 fragt der Genosse Silvio fassungslos: „Was bedeutet es, die Profitproduktion zu steigern? Es bedeutet, Waren zu produzieren und zu verkaufen, doch um welche Nachfrage zu befriedigen? Die der ArbeiterInnen?"

Wir möchten auf die Sorge des Genossen antworten: Wenn die Arbeitsproduktivität allgemein, in allen Industriezweigen, ansteigt, werden die Konsumgüter der Arbeiter billiger. Der Kapitalist bezahlt seinen Arbeitern weniger Geld für die gleiche Arbeitszeit. Die unbezahlte Arbeitszeit nimmt zu und damit der Mehrwert. Das heißt, die Mehrwertrate wächst (was dasselbe ist wie die Ausbeutungsrate). Diesen Mechanismus nannte Marx die relative Mehrwertproduktion. Wenn die anderen Faktoren gleich bleiben (oder wenn das konstante Kapital selbst billiger wird), bedeutet eine Erhöhung der Mehrwertrate auch eine Erhöhung der Profitrate. Wenn dieser Profit genügend hoch ist, können die Kapitalisten gleichzeitig die Löhne anheben, ohne den ganzen Zuwachs an abgepresstem Mehrwert zu verlieren.

Soweit so gut, nun kommt als zweite Frage der Markt ins Spiel. Wenn der Lohn des Arbeiters erhöht wird, kann er mehr konsumieren. Die Arbeitskraft muss reproduziert werden, wie dies Marx beschrieben hat. Es handelt sich um die Reproduktion des variablen Kapitals (v), die ebenso notwendig ist wie die Erneuerung des konstanten Kapitals (c). Dabei ist aber auch das konstante Kapital Teil des kapitalistischen Marktes. Ein allgemeiner Anstieg der Löhne bedeutet eine Vergrößerung dieses Marktes.

Darauf könnte man antworten, dass eine solche Vergrößerung des Marktes nicht genüge, um den ganzen für die Akkumulation bestimmten Teil des Mehrwertes zu realisieren. Dies trifft sicher zu, wenn man die Frage allgemein und für einen längeren Zeitraum stellt. Wir, die diese These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismusvertreten, meinen nicht, wir hätten die Lösung für die inneren Widersprüche des Kapitalismus gefunden - eine Lösung, die nach Gutdünken immer wieder aus dem Hut gezaubert werden könnte. Unsere Analyse ist keine neue Theorie, sondern eine Fortsetzung der Kritik der kapitalistischen Ökonomie, eine Kritik, die Marx begann und andere schon zitierte Revolutionäre weiter führten.

Aber man kann nicht bestreiten, dass eine solche Vergrößerung des Marktes das Problem der ungenügenden Nachfrage unter den Bedingungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden, abschwächte. Vielleicht fragt sich der Genosse Silvio immer noch: Woher kommt diese Nachfrage? - Eine Nachfrage setzt im Kapitalismus zweierlei voraus: ein Bedürfnis (der Wunsch zu konsumieren) und die Zahlungsfähigkeit (Besitz von Geld). Der erste Faktor ist fast nie ein Problem, denn immer gibt es einen Bedarf nach Konsumgütern. Der zweite Faktor dagegen ist für den Kapitalismus ein Dauerproblem - eines, das er eben in der Zeit des Wirtschaftswunders mit den steigenden Löhnen genau abschwächen konnte.

Aber die Erweiterung des Absatzmarktes durch die Lohnabhängigen ist nicht der einzige Faktor, der der Knappheit der Märkte in dieser Zeit entgegenwirkte; vielmehr kamen die größeren Ausgaben des keynesianischen Staates (z.B. Investitionen in Infrastrukturprojekte, in die Rüstung etc.) hinzu. Es gab eine Dreiteilung des Gewinnzuwachses, eine Aufteilung der dank des Produktivitätszuwachses erreichten Gewinne zwischen Kapitalisten (Profite), Arbeitern (Löhne) und Staat (Steuern). Es scheint, dass uns der Genosse Silvio insoweit folgt, wenn er sagt: „Es trifft zu, dass der Konsum der ArbeiterInnen und die Staatsausgaben es möglich machen, die Produkte einer gesteigerten Produktion zu verkaufen". Doch sieht er ein anderes Problem: „(...) wie wir gesehen haben, mündet dies in eine Sterilisierung des produzierten Reichtums, da er nicht sinnvoll verwendet werden kann, um Kapital zu verwerten". Dabei bezieht er sich auf den Gedanken, dass „die Erhöhung von Löhnen über das für die Reproduktion der Arbeitskraft Erforderliche hinaus - vom kapitalistischen Standpunkt aus - nichts anderes als reine Verschwendung von Mehrwert [ist], der nicht zu einem Bestandteil des Akkumulationsprozesses werden kann".

Hier vermischt der Genosse zwei verschiedene Sphären, die zuerst einmal zu unterscheiden sind, bevor der Gesamtprozess analysiert werden kann, der beide vereint:

-   ein Problem (in der Sphäre der Zirkulation, der Märkte) ist die Realisierung des geschaffenen Produkts; auf dieser Ebene scheint uns Silvio recht zu geben, wenn er sagt, dass der Arbeiterkonsum (ebenso wie die Ausgaben des Staates) es erlaubt, die wachsende Produktion abzusetzen;

-   ein anderes Problem (in der Sphäre der Produktion) ist die Verwertung des Kapitals dergestalt, dass die Akkumulation nicht nur mit Profit, sondern mit ständig mehr Profit möglich ist.

Offensichtlich befindet sich der Einwand des Genossen über die „Verschwendung des Mehrwerts" auf dieser zweiten Ebene, auf derjenigen der Produktion. Folgen wir ihm also (nachdem wir festgestellt haben, dass er uns immerhin zum Teil auf der Ebene der Märkte recht gibt) in die Fabrik, wo der Arbeiter mit steigendem Lohn ausgebeutet wird. Was geschieht hier, wenn der Mehrwert dank starkem Anstieg der Arbeitsproduktivität wächst? (Abstrahieren wir für einen Moment von der Dreiteilung der Gewinne, d.h. von den Steuern, die sich in Staatsausgaben verwandeln. Die Zweiteilung zwischen Kapitalist und Lohnarbeiter genügt, um den Grundmechanismus zu erklären.) Das Gesamtprodukt einer Einheit (sei es eines Unternehmens, eines Staates oder der kapitalistischen Sphäre in ihrer Gesamtheit) in einer gewissen Zeit, z.B. in einem Jahr, lässt sich in drei Teile gliedern: das konstante Kapital c, das variable Kapital v und den Mehrwert m. Wenn wir von Akkumulation sprechen, so wird der Mehrwert vom Kapitalisten nicht vollständig konsumiert, sondern zu einem Teil für die Erweiterung der Produktion wieder investiert. Somit teilt sich der Mehrwert auf in den Teil, den der Kapitalist konsumiert (seine Rente r), und den Teil, den er für die Akkumulation verwendet (a): m = r + a. Bei diesem zweiten Teil (a) können wir wiederum den Teil, der in konstantes Kapital investiert wird (ac), von dem unterscheiden, der in variables Kapital investiert wird (av). Somit lässt sich das Gesamtprodukt dieser kapitalistischen Einheit darstellen als:

c + v + m, oder als:

c + v + (r + a), oder als:

c + v + (r + ac + av).

Wenn der Kapitalist dank einem starken Anstieg der Produktivität einen genügend großen Mehrwert abpresst, kann der Teil ac ständig schneller zunehmen, obwohl der Teil av „über das Erforderliche hinaus" wächst. Wenn z.B. die Konsumtionsmittel um 50% billiger werden und die nicht bezahlten Stunden eines Arbeitstages dank der Produktion von relativem Mehrwert von 3 auf 5 ansteigen (von einem Arbeitstag von 8 Stunden), so steigt die Mehrwertrate von 3/8 auf 5/8, z.B. von 375 € auf 625 €, obwohl für den Arbeiter eine Reallohnerhöhung von 20% herausschaut (er beginnt mit einem Lohn, der dem Produkt von 5 Stunden entspricht; am Schluss entspricht sein Lohn bei doppelter Produktivität dem Produkt von 3 Stunden = 6 Stunden von vorher). Dasselbe geschieht mit dem gesteigerten Konsum des Kapitalisten (denn seine Konsumptionsmittel verbilligen sich auch um 50%) und der Teil des Mehrwerts, der für die Akkumulation bestimmt ist, kann ebenfalls wachsen. Und von Jahr zu Jahr kann auch der Anteil ac wachsen, obwohl der Teil av „über das Erforderliche hinaus" wächst - unter der Bedingung, dass die Arbeitsproduktivität weiter im gleichen Tempo zunimmt. Die einzige „schädliche" Wirkung dieser „Verschwendung von Mehrwert" ist, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals langsamer zunimmt, als dies theoretisch möglich wäre: das Wachstum der organischen Zusammensetzung bedeutet, dass der Teil ac schneller zunimmt als der Teil av; wenn der Teil av „über das Erforderliche hinaus" wächst, wird diese Tendenz gebremst (oder kann sogar zunichte gemacht oder umgekehrt werden), aber man kann nicht behaupten, dass diese „Verschwendung von Mehrwert" kein Bestandteil des Akkumulationsprozesses sein könne. Im Gegenteil: Diese Aufteilung der Gewinne aus der Erhöhung der Produktivität geht vollumfänglich in die Akkumulation ein. Und nicht bloß dies - sie schwächt genau das Problem ab, das R. Luxemburg im 25. Kapitel ihrer Akkumulation des Kapitals analysierte, wo sie überzeugend nachwies, dass die Tendenz zur Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals langfristig einen Austausch zwischen den beiden Hauptabteilungen der kapitalistischen Produktion (Produktion von Produktionsmitteln auf der einen Seite, von Konsumtionsmitteln auf der anderen Seite) verunmöglicht[14]. Schon nach wenigen Umschlägen des gesamten Kapitals bleibt  ein nicht verkäuflicher Rest in der zweiten Abteilung übrig, in der Abteilung der Konsumgüterproduktion. Die Kombination von Fordismus (Erhöhung der Produktivität) und Keynesianismus (Erhöhung der Löhne und der Staatsausgaben) erlaubt es, diese Tendenz zu bremsen, schwächt das Problem der Überproduktion in dieser Abteilung II und das Problem der Proportionalität zwischen den beiden Hauptzweigen der Produktion ab. Die Führer der Wirtschaft im westlichen Block konnten zwar auf diese Weise nicht den Eintritt der Krise Ende der 1960er Jahre verhindern, aber sie konnten ihn hinauszögern.

Wir können dieses Thema nicht abschließen, ohne darauf hinzuweisen, dass uns der Genosse Silvio mit folgender Argumentation verblüfft hat: Es scheint, dass er auf theoretischer Ebene verstanden hat, was wir soeben ausgeführt haben, nämlich den Mechanismus der relativen Mehrwertproduktion als ideale Grundlage für eine Akkumulation, die möglichst in rein kapitalistischem Rahmen und möglichst wenig mit Unterstützung außerkapitalistischer Märkte funktioniert. So schreibt er nämlich: „Solange es Fortschritte in der Produktivität gibt, die ausreichen, damit der Konsum in demselben Rhythmus wie die Arbeitsproduktivität wächst, kann das Problem der Überproduktion gelöst werden, ohne die Akkumulation zu hemmen, da die Profite, die ebenfalls steigen, ausreichen, um die Akkumulation abzusichern."[15] Wir gehen davon aus, dass Silvio weiß, was er sagt, d.h. versteht, was er soeben gesagt hat, denn es handelt sich um seine eigene Formulierung, um eine Schlussfolgerung aus einem Zitat von Marx aus den „Theorien über den Mehrwert", 2. Band (einem Zitat, das natürlich für sich allein nichts beweist). Aber Silvio antwortet nicht auf dieser theoretischen Ebene, er folgt nicht der Logik des Arguments, sondern wechselt lieber das Thema, indem er mit folgendem Einwand weiter fährt: „Während seines gesamten Lebens hat Marx nie einen Anstieg der Löhne im Gleichklang mit der Produktivität erlebt; ja, er nahm an, dass dies unmöglich sei. Dennoch hat sich genau dies in gewissen Momenten im Leben des Kapitalismus ereignet; jedoch gestattet uns dieses Tatsache keineswegs, daraus zu folgern, es könne, mindestens zeitweise, das fundamentale Problem der Überproduktion lösen, das Marx hervorhob." - Was für eine Antwort! Wir sind drauf und dran, eine Schlussfolgerung aus einer Gedankenfolge zu ziehen - doch statt die Schlussfolgerung aus einer bestimmten Konstellation von Fakten theoretisch nachzuvollziehen oder zu widerlegen, fahren wir weiter mit einem Werweißen darüber, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich auf empirischer Ebene eine solche Konstellation sei. Und als ob der Genosse gespürt hätte, dass dies nicht genügt, repliziert er gleich selber, bevor jemand einen Einwand erhebt: „Der Marxismus reduziert diesen Widerspruch der Überproduktion nicht einfach auf das Verhältnis zwischen steigenden Löhnen und wachsender Produktivität." Die Autorität von Marx genügt nicht, es braucht noch diejenige des „Marxismus". Ein Appell zur Orthodoxie! Fragt sich bloß: welcher?

Seien wir konsequenter in der Argumentation, offener und kühner in den Schlussfolgerungen!

Der Wert der Schemata der kapitalistischen Akkumulation

Im zweiten Band von Das Kapital stellt Marx das Problem der erweiterten Reproduktion (das heißt der Akkumulation) anhand von Schemata dar, beispielsweise:

Abteilung I:

4000c + 1000v + 1000m = 6000

Abteilung II:

1500c + 750v + 750m = 3000

Wir ersuchen die Leserinnen und Leser um Nachsicht und Geduld bei der doch etwas mühsamen Lektüre und dem Verständnis dieser Schemata. Aber wir denken, dass man vor ihnen nicht zurückschrecken sollte.

Die Abteilung I ist der Wirtschaftszweig, in dem die Produktionsmittel hergestellt werden; in der Abteilung II werden die Konsumtionsmittel produziert. 4000c ist der Wert, der in der Abteilung I für die Reproduktion des konstanten Kapitals (c) geschaffen wird; 1000v ist die Gesamtheit der Löhne, die in der Abteilung I bezahlt werden; 1000m ist der Mehrwert, der den Arbeitern in der Abteilung I abgepresst wird - und dasselbe für die andere Abteilung II. Für die erweitere Reproduktion ist wesentlich, dass das Verhältnis zwischen den verschiedenen Bestandteilen der beiden Abteilungen stimmt. Die Arbeiter der Abteilung I stellen beispielsweise Maschinen her, benötigen aber zu ihrer Reproduktion Konsumgüter, die in der anderen Abteilung produziert werden. Es gibt einen Austausch zwischen den verschiedenen Einheiten nach bestimmten Regeln. Wenn zum Beispiel der Mehrwert der Abteilung I in der Höhe von 1000m zur Hälfte für die Erweiterung der Produktion verwendet wird und die organische Zusammensetzung im nächsten Zyklus gleich bleibt, so ist bei den genannten Zahlen vorbestimmt, dass von 500m, die neu investiert werden, 400 für die Erweiterung des konstanten Kapitals und 100 für die Erhöhung der Lohnmasse in dieser Abteilung verwendet werden. So steht bei Marx als Beispiel für den zweiten Zyklus:

I: 4400c + 1100v + 1100m = 6600

II: 1600c + 800v + 800m = 3200

Und er setzte die Reihe fort mit möglichen Schemata für mehrere Akkumulationszyklen. Diese Schemata wurden von Luxemburg, Bauer, Bucharin, Sternberg, Grossmann und anderen erweitert, kritisiert und präzisiert. Daraus kann man eine gewisse Gesetzmäßigkeit ableiten, die sich in der folgenden Formel zusammenfassen lässt. 

Wenn man Abteilung I mit

c1 + v1 + r1 + ac1 + av1 und

Abteilung II mit

c2 + v2 + r2 + ac2 + av2 hat, so erfordert die erweiterte Reproduktion, dass

c2 + ac2 = v1 + r1 + av1.[16]

Das heißt: Der Wert des konstanten Kapitals in der Abteilung II (c2) zusammen mit dem Anteil des Mehrwerts im gleichen Sektor, der zur Erweiterung des konstanten Kapitals bestimmt ist[17], muss sich austauschen mit der Summe des Wertes des variablen Kapitals in der Abteilung I (der Lohnmasse v1) und der Rente der Kapitalisten in der gleichen Abteilung (r1) und dem Teil des Mehrwerts in dieser Abteilung, der für die Bezahlung der neu einzustellenden Arbeiter verwendet wird (av1)[18].

Diese Schemata sehen von gewissen Umständen ab, zum Beispiel:

1.  Von der Tatsache, dass diese Wirtschaft Bedingungen für ihre „dauernde" Ausweitung braucht; es braucht ständig mehr Arbeiter und Rohstoffe.

2.  Von der Tatsache, dass es keinen direkten Tausch zwischen den verschiedenen Einheiten gibt, sondern Käufe/Verkäufe durch die Vermittlung des Geldes, die universelle Ware. So muss sich beispielsweise die Einheit der Waren, die sich im Wert ac1 darstellen, mit sich selbst austauschen: Es sind Produktionsmittel, die in der gleichen Abteilung gebraucht werden; sie müssen aber verkauft bzw. gekauft werden, bevor sie verwendet werden können.

Gleichzeitig haben die Schemata bestimmte Konsequenzen, die ziemlich störend wirken, beispielsweise die Tatsache, dass die Abteilung II gegenüber der Abteilung I völlig abhängig ist. Der Rhythmus der Produktionserweiterung der Abteilung II und ihre organische Zusammensetzung sind bestimmt von den Proportionen der Akkumulation in der Abteilung I[19].

Wir können die Verteidiger der These von der Notwendigkeit außerkapitalistischer Märkte nicht dazu zwingen, ihre Aufmerksamkeit einem gewissen Problem zu widmen, nämlich demjenigen, das Marx mit den Schemata der kapitalistischen Akkumulation untersuchte. Statt die verschiedenen Probleme je auf ihrer spezifischen Ebene zu betrachten, ziehen sie es vor, die verschiedenen Widersprüche miteinander zu vermischen und dauernd auf einem Aspekt des Problems zu beharren: Wer wird schließlich die Ware kaufen, deren Wert für die Erweiterung der Produktion verwendet werden soll? Diese Fixierung blendet sie. Doch wenn jemand bereit ist, der Logik der Schemata, wie sie Marx aufstellte, zu folgen, so kann man sich gegenüber der nachstehenden Schlussfolgerung nicht verschließen:

Wenn die Bedingungen, die die Schemata voraussetzen, erfüllt sind und wenn wir die Konsequenzen daraus akzeptieren (Bedingungen und Konsequenzen, die separat untersucht werden können), kann zum Beispiel eine Regierung, die die gesamte Wirtschaft kontrolliert, diese so organisieren, dass die Akkumulation gemäß dem Schema funktioniert: c2 + ac2 = v1 + r1 + av1. So gesehen braucht es keine außerkapitalistischen Märkte. Wenn wir diese Schlussfolgerung akzeptieren, so können wir davon getrennt die anderen Probleme untersuchen (d.h. unterscheiden), zum Beispiel:

1.  Wie kann eine Wirtschaft ständig wachsen in einer Welt, die nicht unbegrenzt ist?

2.  Was sind die Folgen einer Geldwirtschaft? Wie kann Geld wirksam die verschiedenen Transformationsakte einer Einheit des Gesamtkapitals in eine andere vermitteln?

3.  Welche Auswirkungen hat eine steigende organische Zusammensetzung (d.h. wenn das konstante Kapital schneller wächst als das variable)?

4.  Welche Auswirkungen haben Löhne, die „über das Erforderliche hinaus" wachsen?

Es ist klar, dass die mathematischen Schemata, wie R. Luxemburg sagte, für sich allein nichts beweisen - weder die Möglichkeit noch die Unmöglichkeit der Akkumulation. Aber wenn wir genau verstehen, was sie aussagen (und wovon sie abstrahieren), können wir die verschiedenen Probleme voneinander unterscheiden. Luxemburg untersuchte auch die drei ersten der hier aufgezählten Fragen. Ihre Beiträge zu den Fragen 1 und 3 sind wichtig. Doch hinsichtlich des Problems Nr. 2 brachte sie verschiedene Widersprüche durcheinander und fasste sie in einer einzigen Schwierigkeit zusammen, in derjenigen der Realisierung des Teils des Mehrwerts, der für die Erweiterung der Reproduktion bestimmt ist: Die Transformation in Geld ist aber nicht nur für diesen Teil des Gesamtprodukts (ac1, av1, ac2 und av2) ein Problem, sondern für alle Elemente der Produktion (auch für c1, v1, c2, v2 und selbst für die Rente: der Eigentümer der Schokoladefabrik kann nicht bloß Schokolade essen). Diese Transformationen der Waren in Geld und danach von Geld in neue materielle Elemente der Produktion können scheitern. Jeder Verkäufer muss einen Käufer finden, jeder Verkauf ist eine Herausforderung - dies ist ein Problem für sich, das man theoretisch trennen kann von demjenigen (Nr. 1), das in der Notwendigkeit des Wachstums der Feldes der kapitalistischen Produktion besteht, d.h. auch der Notwendigkeit des Wachstums des Marktes. Ein solches Wachstum geschieht notwendigerweise auf Kosten von außerkapitalistischen Sphären[20]. Doch setzt dieses Wachstum nur voraus, dass der Kapitalismus alle materiellen Elemente für die Produktion auf erweiterter Stufenleiter vorfindet (Arbeitskräfte, Rohstoffe etc.); dieses Problem hat nichts mit der Verkauf eines Teils der kapitalistischen Produktion an nichtkapitalistische Warenproduzenten zu tun. Wie wir zuvor schon gesagt haben: Der Verkauf auf außerkapitalistischen Märkten kann zwar Probleme der Überproduktion abschwächen, aber er ist nicht unabdingbar für die Akkumulation.

Welche Haltung zur Plattform der IKS?

In der Einführung zur Fortsetzung der Diskussion in der Internationalen Revue Nr. 44 hat die Redaktion versucht, einige Positionen der These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" den Positionen der IKS gegenüber zu stellen, insbesondere unserer Plattform. Es mag sein, dass dieser Versuch durch einige Fußnoten von C.Mcl in der vollständigen Version seines Artikels für die Internationale Revue Nr. 43 veranlasst wurde, einer Version, die nur auf unserer französischsprachigen Webseite zu finden ist[21]. In der Tat kritisierte da C.Mcl gewisse Formulierungen im Punkt 3 unserer Plattform. Es handelt sich dabei um eine Kritik auf theoretischer Ebene ohne Vorschläge für eine alternative Formulierung. Wir kennen die gegenwärtige Haltung von C.Mcl zur Plattform nicht, da er die Diskussion aufgegeben hat. Wir können also nicht für ihn sprechen. Aber was uns selber betrifft, so sind wir mit unserer Plattform nach wie vor einverstanden, die von Anfang an all diejenigen vereinen wollte, die mit der Analyse einverstanden sind, dass der Kapitalismus mit dem Ersten Weltkrieg in seine Niedergangsphase eintrat. Der Punkt 3 der Plattform beanspruchte nie, die Revolutionäre auszuschließen, die sich die Dekadenz mit dem tendenziellen Fall der Profitrate erklären, auch wenn die Formulierung dieses Punktes „luxemburgistisch" geprägt ist. Wenn der 3. Punkt der Plattform so etwas wie der gemeinsame Nenner der revolutionären Marxisten darstellt, die die Dekadenz entweder mit dem Mangel an außerkapitalistischen Märkte oder mit dem tendenziellen Fall der Profitrate erklären, so sehen wir keinen Grund, diesen Rahmen aufzugeben, nur weil wir nicht ausschließlich eine der beiden Ideen verteidigen, sondern beide zusammen je in ihrer eigenen Dynamik. Insofern haben wir überhaupt kein Interesse daran, die Plattform in einer Weise zu präzisieren, dass sich die eine oder andere Position ausgeschlossen fühlen würde. Eine Formulierung wie die gegenwärtige ist vorzuziehen, auch wenn der Fortschritt der Diskussion über das „Wirtschaftswunder" vielleicht eine Neuformulierung bringen wird, die bewusster die verschiedenen Analysen über den Niedergang des Kapitalismus widerspiegelt.

Im gleichen Sinn möchten wir unsere Haltung zur Einleitung in der Internationalen Revue Nr. 44 darlegen, nach der die These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" „nun offen verschiedene Positionen der IKS in Frage stellt". Unter dem Titel „Die Entwicklung der diskutierten Positionen" werden da drei angebliche Widersprüche zwischen den Argumenten der Plattform und der These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" genannt, die wir klären möchten. Wir zitieren nachfolgend die fraglichen Abschnitte aus der Einleitung:

1.  „So gilt, für diese These (keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus):

-   „der Kapitalismus generiert dauernd die gesellschaftliche Nachfrage, die der Entwicklung seines Marktes zu Grunde liegt", während für die IKS „im Gegenteil zu dem, was die Verehrer des Kapitals suggerieren, (...) die kapitalistische Produktion jedoch nicht automatisch und wunschgemäß die für ihr Wachstum notwendigen Märkte" schafft (Plattform der IKS)".

Auch wenn sich das Zitat „der Kapitalismus generiert dauernd die gesellschaftliche Nachfrage, die der Entwicklung seines Marktes zu Grunde liegt" in der Internationalen Revue Nr. 44 finden lässt, so kann man diese Idee nicht aus dem Kontext des ganzen Artikels herausreißen. Wie wir im vorangehenden Kapitel des vorliegenden Textes ausgeführt haben, hat der Kapitalismus (für uns, aber auch für all diejenigen, die sich die Dekadenz allein mit dem tendenziellen Fall der Profitrate erklären) eine eigene Dynamik der Erweiterung der Märkte. Aber niemand derjenigen, die die These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" vertreten, hat bisher behauptet, diese Märkte würden genügen. Sie können zwar für eine gewisse Zeit den Absatz gewährleisten, doch stellen sie nicht die Lösung des Grundwiderspruchs dar: Der Markt wächst langsamer als die Produktion.

2.  „Den Kulminationspunkt des Kapitalismus würden auf einer bestimmten Stufe „die Ausweitung der Lohnarbeit und ihre durch die Herstellung des Weltmarktes erreichte allgemeine Herrschaft" bilden. Für die IKS dagegen trat dieser Kulminationspunkt dann ein, als die wichtigsten wirtschaftlichen Mächte sich die Welt aufteilt hatten und der Markt „die Schwelle zur Sättigung derselben Märkte (erreichte), die im 19. Jahrhundert noch seine ungeheure Ausdehnung ermöglicht hatten" (Plattform der IKS)."

Die zweite angebliche Divergenz unserer Position mit derjenigen der IKS betrifft den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase. Die These „keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" ist absolut damit einverstanden, dass der Kulminationspunkt dann eintrat, als die wichtigsten Wirtschaftsmächte sich die Welt aufgeteilt hatten. Der einzige Unterschied zwischen dem „Luxemburgismus" der Plattform und uns liegt bei der Bewertung der Rolle der außerkapitalistischen Märkte. Aber diese Divergenz ist offensichtlich wesentlich geringer als diejenige, die uns in dieser Hinsicht von den Verteidigern der Analyse, wonach der tendenzielle Fall der einzige Faktor sei (Grossmann, Mattick), unterscheidet.

3. „Die Entwicklung der Profitrate und die Größe der Märkte seien vollkommen unabhängig, während für die IKS „durch die wachsende Schwierigkeit des Kapitals, Märkte zu finden, wo sein Mehrwert realisiert werden kann, der Druck auf die Profitrate verstärkt und ihr tendenzieller Fall bewirkt (wurde). Dieser Druck wird durch den ständigen Anstieg des konstanten, „toten" Kapitals (Produktionsmittel) zu Lasten des variablen, lebendigen Kapitals, die menschliche Arbeitskraft, ausgedrückt." (ebenda)".

In diesem letzten Punkt sind wir grundsätzlich einverstanden mit der Darstellung in der Einleitung, auch wenn wir nicht von „vollkommener" Unabhängigkeit sprechen, sondern von „begrifflicher". Wir haben immer gesagt, dass die Profitrate einen Einfluss auf die Märkte hat und umgekehrt, aber es handelt sich um zwei Faktoren, die „begrifflich auseinander fallen".

Die Folgen der Divergenzen

Welche Folgen haben diese Divergenzen? Auf den ersten Blick keine.

Natürlich gibt es Unterschiede bei der Interpretation gewisser Dynamiken in der kapitalistischen Wirtschaft. Diese Unterschiede können auch zu Divergenzen bei anderen Aspekten führen, zum Beispiel bei der Analyse der gegenwärtigen Krise oder der unmittelbaren Perspektiven des Kapitalismus. Die Einschätzung der Rolle des Kredits in der gegenwärtigen Krise, die Erklärung der Inflation und die Rolle des Klassenkampfes scheinen uns Themen zu sein, die je nach Position in dieser Debatte über das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg unterschiedlich analysiert werden können.
Trotz der Divergenzen, die in dieser Debatte zum Ausdruck kommen, haben wir alle zusammen sowohl am 17. wie auch am 18. Kongress der IKS über die gegenwärtige Wirtschaftskrise diskutiert und für die gleichen Resolutionen über die internationale Lage gestimmt. Auch wenn es in der Organisation verschiedene Analysen über grundlegende Mechanismen in der kapitalistischen Wirtschaft gibt, können wir zu sehr ähnlichen Schlussfolgerungen über die unmittelbaren Perspektiven und die Aufgaben der Revolutionäre gelangen. Das heißt nicht, dass die Debatte nicht nötig wäre - im Gegenteil, wir sollen sie mit Geduld und der Fähigkeit, den anderen mit offenem Geist zuzuhören, weiter führen.

Salome & Ferdinand, 4. Juni 2009

 



[1] Die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation

 

[2] Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus

 

[3] Der hier veröffentlichte Artikel (Antwort auf Silvio und Jens, unterschrieben von Salome und Ferdinand) weist darauf hin, dass einige Fußnoten im Artikel von C.Mcl Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus zwar in der französischen, nicht aber in der englischen und spanischen Version vorkommen. Wir werden diesen Mangel auf den Webseiten der beiden Sprachen korrigieren, damit die Debatte möglichst klar ist und weil - sie Salome und Ferdinand hervorheben - C.Mcl „gewisse Formulierungen des 3. Punktes der Plattform kritisiert", und zwar „mit theoretischen Überlegungen, ohne eine alternative Formulierung vorzuschlagen".

 

[4] Internationale Revue Nr. 42, Interne Debatte in der IKS, vgl. Fußnote 1

 

[5] Internationale Revue Nr. 44, Interne Debatte in der IKS (III): Die Ursachen für die Aufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg, Die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation (von Silvio), Bezug nehmend auf ein Zitat von P. Mattick.

 

[6] Internationale Revue Nr. 42, Debatte, Kapitel Außerkapitalistische Märkte und Verschuldung.

 

[7] Internationale Revue Nr. 37, Wirtschaftskrise: Der Abstieg in die Hölle.

 

[8] Für mehr Informationen über die Bretton-Woods-Verträge vgl. z.B. den Beitrag von „papamarx" unter https://fr.internationalism.org/icconline/2009/papa-marx [10]

 

[9] Silvio in der Internationalen Revue Nr. 44

 

[10] International Review Nr. 127 (engl./franz./span. Ausgabe), Antwort an die CWO: Der Krieg in der Phase der Dekadenz des Kapitalismus. Die Grundwidersprüche des Kapitalismus.

 

[11] Internationale Revue Nr. 43, Interne Debatte in der IKS (II), Die Ursachen für die Aufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg

 

[12] Fritz Sternberg, Der Imperialismus, Berlin 1926, S. 106

 

[13] Internationale Revue Nr. 44

 

[14] F. Sternberg meint, dass dies der stärkste Punkt der Position Luxemburgs sei, auf den einzugehen sich „alle diejenigen, die Rosa Luxemburg kritisiert haben, (...) eifrigst gehütet" hätten (Der Imperialismus, S. 99).

 

[15] Internationale Revue Nr. 44

 

[16] Vgl. z.B. N. Bucharin, Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals, Viertes Kapitel

 

[17] Diese beiden Einheiten wurden in der Abteilung II produziert und stellen somit Konsumtionsmittel dar.

 

[18] Diese drei Einheiten stellen Produktionsmittel dar und müssen irgendwie von den Kapitalisten der Abteilung II gekauft werden („getauscht" gegen c2 + ac2).

 

[19] Wir denken, dass darin die wirtschaftliche Ursache für das Leiden der Arbeiter, die durch den Stalinismus (einschließlich Maoismus) ausgebeutet wurden, liegt: Dieser rigide Staatskapitalismus setzte ganz auf die Industrialisierung mit einer entsprechenden Forcierung der Abteilung I, was dazu führte, dass die Abteilung der Konsumgüterproduktion auf ein absolutes Minimum reduziert wurde.

 

[20] Eine Sphäre ist nicht notwendigerweise ein Markt: Die Wäsche zuhause selber waschen und bügeln sind Tätigkeiten in einer außerkapitalistischen Sphäre. Diese Sphäre kann durch den Kapitalismus erobert werden, wenn der Lohn des Arbeiters so weit steigt, dass er die Wäsche in die Kleiderreinigung bringen kann. Doch gibt es bei diesem Beispiel keinen außerkapitalistischen Markt.

 

[21] ttp://fr.internationalism.org/rint133/debat_interne_causes_prosperite_consecutive_seconde_guerre_mondiale_2.html; Fußnoten 16, 22, 39 und 41

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Wirtschaftswunder welche Eklärung? [11]

Historische Ereignisse: 

  • Wirtschaftswunder und Dekadenz des Kapitalismus [12]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [13]

Internationale Revue 46

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Dekadenz des Kapitalismus (Teil V): Die tödlichen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft

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Der italienische Linkskommunist Bordiga bezeichnete Marxens Gesamtwerk einst als den „Nekrolog auf das Kapital" - mit anderen Worten als eine Studie über die inneren Widersprüche, denen die bürgerliche Gesellschaft nicht entrinnen könne und die sie zugrunde richten würden.

Die Gewissheit des Todes zu anerkennen ist nicht einfach für den Menschen ganz allgemein - in dieser Hinsicht einzigartig unter den verschiedenen Tierarten trägt er die Last des Bewusstseins über die Unausweichlichkeit des Todes, und das Gewicht dieser Last zeigt sich unter anderem darin, dass überall auf der Welt, zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformationen Mythen über das Leben nach dem Tod entstanden sind.

Ebenso neigen die herrschenden, ausbeutenden Klassen und ihre individuellen Repräsentanten dazu, vor dem Tod in tröstende Phantasien über die Ewigkeit der Gründe und des Schicksals ihrer Herrschaft zu flüchten.

Die Bourgeoisie bekennt sich zwar zu Rationalismus und Wissenschaftlichkeit, aber ist doch anfällig für mythische Projektionen: Wie Marx beobachtete, kann dies einfach an ihrer Haltung zur Geschichte abgelesen werden, in die sie „Robinsonaden" über das Privateigentum projiziert, das mit dem Ursprung der menschlichen Existenz überhaupt einhergehe. Und sie neigt nicht in größerem Ausmaß als die Despoten vergangener Zeiten dazu, ein Ende ihres Ausbeutungssystems in Betracht zu ziehen. Sogar in ihren besten Tagen, sogar in den Gedanken des Philosophen der dialektischen Bewegung schlechthin, Hegels, finden wir den gleichen Hang zu verkünden, dass die Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft das „Ende der Geschichte" sei: Marx stellte fest, dass für Hegel der stete Fortschritt des Weltgeistes schließlich Friede und Ruhe in der Form des bürokratischen Preußischen Staats erhalten hatte (der übrigens noch weitgehend in der feudalen Vergangenheit steckte).

Unseres Erachtens ist ein Grundaxiom der ideologisch verklärten Sichtweise der Bourgeoisie, dass sie keine Theorie dulden kann, welche auf die Vergänglichkeit ihrer Klassenherrschaft hinweist. Während umgekehrt der Marxismus, der den theoretischen Standpunkt der ersten ausgebeuteten Klasse ausdrückt, die in sich die Saat für eine neue gesellschaftliche Ordnung trägt, keine solchen Denkhemmungen hat.

Deshalb beginnt das Kommunistische Manifest von 1848 mit der berühmten Stelle über die Geschichte, welche die Geschichte von Klassenkämpfen ist, die in allen bisher bestehenden Produktionsweisen dazu dienten, das gesellschaftliche Gewebe von innen zu zerreißen - durch „einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen". Die bürgerliche Gesellschaft vereinfachte die Klassengegensätze, indem diese heute im Großen und Ganzen auf die zwei großen Lager reduziert sind, die unversöhnlich antagonistische Interessen vertreten - kapitalistische einerseits, proletarische andererseits. Und das Proletariat ist dazu bestimmt, der Totengräber der bürgerlichen Herrschaft zu sein.

Aber das Manifest erhoffte diesen entscheidenden Zusammenstoß zwischen den Klassen nicht einfach gestützt auf die Vereinfachung der Klassenunterschiede im Kapitalismus oder aufgrund der offensichtlichen Ungerechtigkeit des Monopols der Bourgeoisie an Privilegien und Vermögen. Vielmehr war zunächst erforderlich, dass das bürgerliche System nicht mehr „normal" funktioniert, dass der Punkt erreicht wurde, an dem die Bourgeoisie „unfähig (ist) zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d.h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft." Mit anderen Worten wird die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Überlebensfrage für die ausgebeutete Klasse und für das gesellschaftliche Leben insgesamt.

Das Manifest verstand die Wirtschaftskrisen, welche die kapitalistische Gesellschaft damals in periodischen Abständen erschütterte, als Ankündigung dieses näher rückenden Punktes:

„In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre - die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse.; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. - Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert."

Zu diesem oft zitierten Abschnitt müssen einige Punkte festgehalten werden.

-   Er geht davon aus, dass die Wirtschaftskrisen eine Folge der Überproduktion von Waren sind, da die gewaltigen Produktivkräfte, die der Kapitalismus entfesselt, an die Grenzen ihrer kapitalistischen Aneignung und Verteilung stoßen. Wie Marx später ausführte, handelte es sich dabei nicht um eine Überproduktion im Verhältnis zu den Bedürfnissen. Vielmehr war sie dem Umstand geschuldet, dass die Bedürfnisse der großen Mehrheit notwendigerweise durch die antagonistischen Produktionsverhältnisse beschnitten wurden. Es war Überproduktion im Verhältnis zur zahlungsfähigen Nachfrage - Nachfrage des genügend großen Geldbeutels.

-   Er geht davon aus, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bereits zu einer endgültigen Fessel für die Entwicklung dieser Produktivkräfte geworden sind, zu einer Zwangsjacke, die diese gefangen hält.

-   Gleichzeitig verfügt der Kapitalismus über verschiedene Mechanismen, um diese Krisen zu überwinden: Einerseits durch die Vernichtung von Kapital, womit Marx in erster Linie nicht die physische Vernichtung von unprofitablen Fabriken und Maschinen meinte, sondern ihre Vernichtung als Wert, wenn die Krise sie zwang, still zu stehen. Wie Marx in späteren Werken ausführte, belebte dies sowohl den Markt, indem nicht konkurrenzfähige Mitstreiter untergingen, als auch die durchschnittliche Profitrate. Andererseits „durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte", was ein zeitweiliger Ausweg aus der Verengung der Märkte in den bereits vom Kapitalismus eroberten Gebieten darstellte.

-   Diese Ausweichmechanismen pflasterten den Weg für immer zerstörerische Krisen und wurden als Mittel zur Überwindung der Krisen je länger je hinfälliger. Kurz: Der Kapitalismus ging auf eine geschichtliche Sackgasse zu.

Das Manifest wurde am Vorabend der großen Welle von Aufständen geschrieben, die 1848 über Europa rollte. Aber obwohl diese Welle sehr materielle Gründe hatte - insbesondere die Hungersnot, die in mehreren Ländern ausbrach - und obwohl zum ersten Mal die politische Selbständigkeit des Proletariats einen massenhaften Ausdruck fand (die Bewegung der Chartisten in Großbritannien, die Juli-Aufstände der Pariser Arbeiterklasse), waren es doch im Wesentlichen letzte Feuer der bürgerlichen Revolution gegen den feudalen Absolutismus. Bei seinen Anstrengungen, das Scheitern dieser Aufstände von einem proletarischen Standpunkt aus zu verstehen - sogar die bürgerlichen Ziele der Revolution waren nur selten erreicht worden, und die französische Bourgeoisie hatte nicht gezögert, die aufständischen Pariser Arbeiter niederzuschlagen -, begann Marx zu erkennen, dass die Vorhersage einer unmittelbar bevorstehenden proletarischen Revolution verfrüht gewesen war. Die Arbeiterklasse wurde durch die Niederlage der Aufstände von 1848 politisch zurückgeworfen; darüber hinaus war aber der Kapitalismus noch weit davon entfernt, seine historische Aufgabe erfüllt zu haben, vielmehr machte er sich unaufhaltsam auf dem ganzen Planeten breit, die Bourgeoisie „schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde", wie das Manifest gesagt hatte. Die Lebenskraft der Bourgeoisie, die das Manifest erkannt hatte, war immer noch eine gegenwärtige Tatsache. Gegen die ungeduldigen Aktivisten seiner eigenen „Partei", die meinten, dass der reine Wille die Massen zur Tat anstiften könne, vertrat er die Auffassung, dass die Arbeiterklasse wahrscheinlich noch während Jahrzehnten werde kämpfen müssen, bevor sie auf entscheidende Konflikte mit ihrem Klassenfeind hoffen könne. Er argumentierte auch, dass „eine neue Revolution (...) nur möglich im Gefolge einer neuen Krise"[1] sein werde.

Marx antwortete den Apologeten

Aus dieser Überzeugung widmete sich Marx in der Folge dem Studium - oder besser gesagt: der Kritik - der politischen Ökonomie, einer tiefen und äußerst detaillierten Untersuchung, die schriftliche Gestalt erhalten sollte in den Grundrissen und den vier Bänden des Kapital. Um die materiellen Bedingungen der proletarischen Revolution zu verstehen, war es nötig, die inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu begreifen, die unausweichlichen Schwächen, die ihn zu gegebener Zeit zum Tode verurteilen würden.

In diesen Werken anerkannte Marx die Leistung gewisser bürgerlicher Ökonomen wie Adam Smiths und Ricardos, die wesentliche Beiträge zum Verständnis des bürgerlichen Wirtschaftssystems geleistet hatten, da sie nicht zuletzt in ihren Polemiken mit den Apologeten von veralteten, halbfeudalen Produktionsformen die Sichtweise vertreten hatten, dass der „Wert" der Waren nicht eine irgendwie dem Boden innewohnende Eigenschaft oder eine Größe war, die durch die Launen von Angebot und Nachfrage bestimmt wurde, sondern auf der realen Arbeit des Menschen beruhte. Aber Marx wies auch nach, dass diese streitbaren Theoretiker ihrerseits Apologeten waren, und zwar insofern, als ihre Schriften:

-   den Standpunkt des „gesunden Menschenverstandes" der bürgerlichen Ideologie widerspiegelten, die zwar frühere Produktionsweisen wie die Sklaverei oder den Feudalismus als Systeme der Klassenprivilegien verurteilten, aber bestritten, dass der Kapitalismus seinerseits auf der Ausbeutung von Arbeit beruhte, denn für sie war die grundlegende Transaktion, um die sich in der kapitalistischen Produktion alles drehte, der gerechte Austausch zwischen der Fähigkeit des Arbeiters zu arbeiten und dem Lohn, der ihm der Kapitalist anbot; Marx zeigte dagegen auf, dass so, wie die früheren Produktionsweisen auf der Abpressung von Mehrarbeit durch eine ausbeutende Klasse beruhte, auch der Kapitalismus funktionierte - jedoch in der Form der Aneignung von Mehrwert, der „freien" Arbeitszeit, die dem Arbeiter in der versteckten Form des Arbeitsvertrages abgepresst wird;

-   dazu neigten zu behaupten, dass der Kapitalismus trotz des Problems von periodisch auftretenden Wirtschaftskrisen keine immanenten Grenzen seiner Entwicklung habe und deshalb nie einen Punkt erreichen würde, an dem er durch eine höhere Gesellschaftsform abgelöst werden müsse; sofern es Krisen gebe, seien diese die Folge von Geschäften von Spekulanten oder vorübergehender Ungleichgewichte zwischen verschiedenen Industriezweigen oder eines anderen zufälligen Faktors; und da jedes Produkt dazu bestimmt sei, seinen Käufer zu finden, so werde der Marktmechanismus selbst immer wieder dafür sorgen, diese Probleme zu überwinden, und die Grundlage schaffen für weitere Wachstumsphasen.

Was allen Varianten der bürgerlichen politischen Ökonomie gemeinsam ist und ihnen zugrunde liegt, ist die Leugnung des Umstandes, dass die Krisen des Kapitalismus grundlegende und unlösbare Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise belegen - Schicksalskrähen, deren heiseres Krächzen den Ragnarök[2] der bürgerlichen Gesellschaft ankündigen.

„Die apologetischen Phrasen, um die Krise wegzuleugnen, sofern wichtig, als sie immer das Gegenteil von dem beweisen, was sie beweisen wollen. Sie - um die Krise wegzuleugnen - behaupten Einheit, wo Gegensatz existiert und Widerspruch. Also soweit wichtig, als gesagt werden kann: Sie beweisen dass, wenn in der Tat die von ihnen wegphantasierten Widersprüche nicht existierten, auch keine Krise existieren würde. In der Tat aber existiert die Krise, weil jene Widersprüche existieren. Jeder Grund, den sie gegen die Krise angeben, ist ein wegphantasierter Widerspruch, also ein realer Widerspruch, also ein Grund der Krise. Das Wegphantasierenwollen der Widersprüche ist zugleich das Aussprechen wirklich vorhandner Widersprüche, die dem frommen Wunsch nach nicht existieren sollen."[3]

Die erste Unheilskrähe: „Überproduktion, der grundlegende Widerspruch des entwickelten Kapitals"

Die Apologie, die die Ökonomen für das Kapital betreiben, hat ihre Wurzeln zu einem wesentlichen Teil in der Blindheit gegenüber der Tatsache, dass die Überproduktionskrisen, die im zweiten oder dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts aufzutreten begannen, auf unüberwindliche Grenzen der bürgerlichen Produktionsweise deuteten.

Angesichts der konkreten Realität der Krise nahmen die Leugnungen der Apologeten verschiedene Formen an, auf welche die Wirtschaftsexperten der letzten paar Jahrzehnte zu einem großen Teil zurück griffen. Marx hob beispielsweise hervor, dass Ricardo versuchte, die ersten Krisen des Weltmarkts durch verschiedene zufällige Faktoren in den frühen Zeiten des 19. Jahrhunderts zu erklären wie Ernteausfälle, die Entwertung von Papiergeld, fallende Preise oder Schwierigkeiten beim Übergang von Friede zu Krieg oder Krieg zu Frieden. Diese Faktoren spielten natürlich eine Rolle bei der Verschärfung oder sogar bei der Auslösung von Krisen, aber sie trafen wohl kaum den Kern des Problems. Solche Ausflüchte erinnern uns an jüngere Stellungnahmen von „Wirtschaftsexperten", die die „Ursache" der Krise in den 70er Jahren im Anstieg des Ölpreises oder heute in der Gier der Banker sehen. Als gegen Mitte des 19. Jahrhunderts der Zyklus der Handelskrisen nicht mehr so einfach zu übersehen war, mussten die bürgerlichen Ökonomen feinere Argumente entwickeln, indem sie beispielsweise zugaben, dass es zu viel Kapital gebe, aber gleichzeitig bestritten, dass dies ebenso einen Überfluss an nicht verkäuflichen Waren bedeute.

Oder wenn das Problem der Überproduktion eingeräumt wurde, so wurde es gleichzeitig relativiert. So sagten die Apologeten beispielsweise zum Kern des Problems: „Kein Mann produziert, außer in der Absicht zu konsumieren oder zu verkaufen und er verkauft niemals, außer mit der Absicht, irgendeine andre Ware zu kaufen, die unmittelbar nützlich für ihn sein mag oder zu künftiger Produktion beitragen mag."[4] Mit anderen Worten gebe es eine grundsätzliche Harmonie zwischen Produktion und Verkauf, und mindestens in der besten aller möglichen Welten soll jede Ware einen Käufer finden. Wenn es Krisen gebe, so seien sie bloß Möglichkeiten, die in der Metamorphose von Ware zu Geld liegen, wie John Stuart Mill argumentierte, oder die Folge einer einfachen Disproportionalität zwischen zwei Produktionszweigen.

Marx bestreitet natürlich nicht, dass es Disproportionalitäten zwischen den verschiedenen Abteilungen der Produktion geben kann - vielmehr unterstreicht er, dass sie einer Tendenz in einer nicht planmäßig organisierten Ökonomie entsprechen, wo es unmöglich ist, alle Waren im Verhältnis zu einer unmittelbaren Nachfrage zu produzieren. Er wehrt sich aber gegen den Versuch, das Problem der „Disproportionalität" als Vorwand zu benutzen, über die grundlegenderen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse hinweg zu sehen:

„Wird gesagt, dass nicht allgemeine Überproduktion, sondern Disproportion innerhalb der verschiednen Produktionszweige stattfinde, so heißt dies weiter nichts, als dass innerhalb der kapitalistischen Produktion die Proportionalität der einzelnen Produktionszweige sich als beständiger Prozess aus der Disproportionalität darstellt, indem hier der Zusammenhang der gesamten Produktion als blindes Gesetz den Produktionsagenten sich aufzwingt, nicht als von ihrem assoziierten Verstand begriffnes und damit beherrschtes Gesetz den Produktionsprozess ihrer gemeinsamen Kontrolle unterworfen hat."[5]

Ebenso wehrt sich Marx gegen das Argument, es könne nur eine teilweise, aber keine allgemeine Überproduktion geben:

„Deswegen gibt Ric[ardo] auch das glut[6] für einzelne Waren zu. Das Unmögliche soll nur in a simultaneous, general glut of the market[7] bestehn. Die Möglichkeit[8] der Überproduktion wird daher nicht für irgendeine besondre Produktionssphäre geleugnet. Die Unmöglichkeit der allgemeinen Überproduktion[9] soll in der Gleichzeitigkeit dieser Erscheinungen für alle Produktionssphären und daher general glut of the market bestehn"[10].

Die geschichtliche Besonderheit des Kapitalismus

All diesen Argumenten gemeinsam ist, dass sie die geschichtliche Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise bestreiten. Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit einer verallgemeinerten Warenproduktion, mit einer Produktion zum Verkauf und für den Profit, gültig für den gesamten Prozess von Herstellung und Verteilung; und sein Hang zu Überproduktion ist in dieser Unterscheidung zu finden. Dabei geht es, wie Marx nie müde wurde zu unterstreichen, nicht um Überproduktion im Verhältnis zum Bedürfnis:

„Das Wort overproduction führt an sich in Irrtum. Solange die dringendsten Bedürfnisse eines großen Teils der Gesellschaft nicht befriedigt sind oder nur seine unmittelbarsten Bedürfnisse, kann natürlich von einer Überproduktion von Produkten - in dem Sinn, dass die Masse der Produkte überflüssig wäre im Verhältnis zu den Bedürfnissen für sie - absolut nicht die Rede sein. Es muss umgekehrt gesagt werden, dass auf Grundlage der kapitalistischen Produktion in diesem Sinn beständig unterproduziert wird. Die Schranke der Produktion ist der Profit der Kapitalisten, keineswegs das Bedürfnis der Produzenten. Aber Überproduktion von Produkten und Überproduktion von Waren sind zwei ganz verschiedne Dinge. Wenn Ric[ardo] meint, dass die Form der Ware gleichgültig für das Produkt sei, weiter, dass die Warenzirkulation nur formell verschieden vom Tauschhandel, der Tauschwert hier nur verschwindende Form des Stoffwechsels, das Geld daher bloß formelles Zirkulationsmittel sei - so kömmt das in der Tat auf seine Voraussetzung hinaus, dass die bürgerliche Produktionsweise die absolute, daher auch Produktionsweise ohne nähere spezifische Bestimmung sei, das Bestimmte an ihr mithin nur formell sei. Es darf also auch nicht von ihm zugegeben werden, dass die bürgerliche Produktionsweise Schranke für die freie Entwicklung der Produktivkräfte einschließe, eine Schranke, die in den Krisen und unter anderm in der Überproduktion - dem Grundphänomen der Krisen - zutage tritt."[11]

Marx stellte dann die kapitalistische Produktion früheren Produktionsweisen gegenüber, die nicht danach trachteten, Vermögen anzuhäufen, sondern es zu konsumieren, und die eher vor dem Problem der Unterproduktion als der Überproduktion standen: 

„die Alten dachten auch nicht daran, das surplus produce[12] in Kapital zu verwandeln. Wenigstens nur in geringem Grade. (Das ausgedehnte Vorkommen der eigentlichen Schatzbildung bei ihnen zeigt, wieviel surplus produce ganz brach lag.) Einen großen Teil des surplus produce verwandelten sie in unproduktive Ausgaben für Kunstwerke, religiöse Werke, travaux publics[13]. Noch weniger war ihre Produktion auf Entfesselung und Entfaltung der materiellen Produktivkräfte Teilung der Arbeit, Maschinerie, Anwendung von Naturkräften und Wissenschaft auf die Privatproduktion - gerichtet. Sie kamen in der Tat im Großen und Ganzen nie über Handwerksarbeit heraus. Der Reichtum, den sie für Privatkonsumtion schafften, war daher relativ klein und erscheint nur groß, weil in wenigen Händen aufgehäuft, die übrigens nichts damit zu machen wussten. Gab es darum keine Überproduktion, so gab es Überkonsumtion der Reichen bei den Alten, die in den letzten Zeiten Roms und Griechenlands in verrückte Verschwendung ausschlägt. Die wenigen Handelsvölker in ihrer Mitte lebten z.T. auf Kosten aller dieser essentiellement[14] armen Nationen. Es ist die unbedingte Entwicklung der Produktivkräfte und daher die Massenproduktion auf Grundlage der in den Kreis der necessaries eingeschlossnen Produzentenmasse einerseits, der Schranke durch den Profit der Kapitalisten anderseits, die die Grundlage der modernen Überproduktion."[15]

Das Problem bei den bürgerlichen Ökonomen ist, dass sie den Kapitalismus als ein Gesellschaftssystem betrachten, in dem bereits Harmonie walte - als eine Art Sozialismus, in welchem die Produktion grundsätzlich durch die Bedürfnisse bestimmt werde:

„Alle Schwierigkeiten, die Ric[ardo] etc. gegen Überproduktion etc. aufwerfen, beruhn darauf, dass sie die bürgerliche Produktion als eine Produktionsweise betrachten, worin entweder kein Unterschied von Kauf und Verkauf existiert - unmittelbarer Tauschhandel - oder als gesellschaftliche Produktion, so dass die Gesellschaft, wie nach einem Plan, ihre Produktionsmittel und Produktivkräfte verteilt in dem Grad und Maß wie nötig zur Befriedigung ihrer verschiednen Bedürfnisse, so dass auf jede Produktionssphäre das zur Befriedigung des Bedürfnisses, dem sie entspricht, erheischte Quotum des gesellschaftlichen Kapitals falle. Diese Fiktion entspringt überhaupt aus der Unfähigkeit, die spezifische Form der bürgerlichen Produktion aufzufassen und letztre wiederum aus dem Versenktsein in die bürgerliche Produktion als die Produktion schlechthin. Ganz wie ein Kerl, der an eine bestimmte Religion glaubt, in ihr die Religion schlechthin sieht und außerhalb derselben nur falsche Religionen."[16]

Die Wurzeln der Überproduktion liegen in den sozialen Verhältnissen des Kapitalismus

Im Gegensatz zu diesen Entstellungen lokalisierte Marx die Überproduktionskrise in den sozialen Beziehungen und definierte das Kapital als eine spezifische Produktionsweise: das Lohnarbeitsverhältnis.

„Wird also das Verhältnis auf das von Konsumenten und Produzenten einfach reduziert, so wird vergessen, dass die produzierenden Lohnarbeiter und der produzierende Kapitalist zwei Produzenten ganz verschiedner Art sind, abgesehn von den Konsumenten, die überhaupt nicht produzieren. Es wird wieder der Gegensatz weggeleugnet dadurch, dass von einem wirklich in der Produktion vorhandnen Gegensatz abstrahiert wird. Das bloße Verhältnis von Lohnarbeiter und Kapitalist schließt ein:

1.  dass der größte Teil der Produzenten (die Arbeiter) Nichtkonsumenten (Nichtkäufer) eines sehr großen Teils ihres Produkts sind, nämlich der Arbeitsmittel und des Arbeitsmaterials;

2.  dass der größte Teil der Produzenten, die Arbeiter, nur ein Äquivalent für ihr Produkt konsumieren können, solang sie mehr als dies Äquivalent - die surplus value[17] oder das surplus produce[18] - produzieren. Sie müssen stets Überproduzenten sein, über ihr Bedürfnis hinaus produzieren, um innerhalb der Schranken ihres Bedürfnisses Konsumenten oder Käufer sein zu können."[19]

Selbstverständlich beginnt der Kapitalismus nicht jede Phase des Akkumulationsprozesses mit einem sofortigen Problem der Überproduktion: Er entstand und entwickelte sich als ein dynamisches System mit konstanter Ausdehnung hin zu neuen Gebieten des produktiven Tausches, dies in der Binnenwirtschaft sowie im Weltmaßstab. Doch aufgrund der Natur der unvermeidbaren Widersprüche welche Marx beschrieb, ist die konstante Ausdehnung eine Notwendigkeit für das Kapital, um die Überproduktionskrisen hinauszuschieben oder zu überwinden. Marx musste diese Einsicht gegen die Nachschwätzer verteidigen, welche die Ausdehnung des Marktes nur als eine Annehmlichkeit und nicht als eine für den Kapitalismus existenzielle Frage ansahen, da sie diesen als ein sich selbst genügendes und harmonisches System verstanden:

„Indessen, mit dem bloßen Zugeständnis, dass der Markt mit der Produktion sich erweitern muss, wäre anderseits auch schon wieder die Möglichkeit einer Überproduktion zugegeben, indem der Markt äußerlich geographisch umschrieben ist, der inländische Markt als beschränkt erscheint gegen einen Markt, der inländisch und ausländisch ist, der letzte wieder gegen den Weltmarkt, der aber in jedem Augenblick wieder beschränkt ist, an sich der Erweiterung fähig. Ist daher zugegeben, dass der Markt sich erweitern muss, soll keine Überproduktion stattfinden, so ist auch zugegeben, dass Überproduktion stattfinden kann".[20]

Im selben Abschnitt zeigt Marx auf, dass die Ausdehnung des Weltmarktes es dem Kapital zwar erlaubt, seine Krisen zu überwinden und die Produktivkräfte weiter zu entwickeln, die stattgefundene Ausdehnung des Marktes aber schnell ungenügend wird, um die neue Produktion aufzunehmen. Er sah dies nicht als einen ewigen Prozess: Es existieren innere Limiten in der Kapazität des Kapitals, ein wahrhaft universelles System zu werden, und wenn diese Limiten dereinst erreicht sind, werden sie den Kapitalismus in den Abgrund stoßen:

„Daraus aber, dass das Kapital jedoch solche Grenze als Schranke setzt und daher ideell darüber weg ist, folgt keineswegs, dass es sie real überwunden hat, und da jede solche Schranke seiner Bestimmung widerspricht, bewegt sich seine Produktion in Widersprüchen, die beständig überwunden, aber ebenso beständig gesetzt werden. Noch mehr. Die Universalität, nach der es unaufhaltsam treibt, findet Schranken an seiner eigenen Natur, die auf einer gewissen Stufe der Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben."[21]

Deshalb ziehen wir die Schlussfolgerung, dass die Überproduktionskrise die erste Unheilskrähe für den Kapitalismus ist, eine im Kapitalismus auftretende konkrete Illustration der grundlegenden Beschreibung von Marx über den Aufstieg und Niedergang aller bisher existierenden Produktionsweisen: Die einstigen Mittel der Ausdehnung (in diesem Falle die weltweite Ausdehnung des Warenmarktes) werden heute für die Menschheit zu einer Fessel der Weiterentwicklung der Produktivkräfte:

„Um der Sache näherzukommen: D'abord there is a limit, not inherent to production generally, but to production founded on capital[22]. Diese limit ist doppelt, oder vielmehr dieselbe, nach zwei Richtungen hin betrachtet. Es genügt hier nachzuweisen, dass das Kapital eine besondre Beschränkung der Produktion enthält - die seiner allgemeinen Tendenz über jede Schranke derselben fortzutreiben, widerspricht -, um die Grundlage der Überproduktion, den Grundwiderspruch des entwickelten Kapitals aufgedeckt zu haben; um überhaupt aufgedeckt zu haben, dass es nicht, wie die Ökonomen meinen, die absolute Form für die Entwicklung der Produktivkräfte ist - absolute Form dafür wie Form des Reichtums, die absolut mit der Entwicklung der Produktivkräfte zusammenfiele. Die Stufen der Produktion, die dem Kapital vorhergehn, erscheinen, vom Standpunkt desselben aus betrachtet, als ebensoviel Fesseln der Produktivkräfte. Es selbst aber, richtig verstanden, erscheint als Bedingung für die Entwicklung der Produktivkräfte, solange sie eines äußern Sporns bedürfen, der zugleich auch als ihr Zaum erscheint. Disziplin derselben, die überflüssig und lästig wird auf einer gewissen Höhe ihrer Entwicklung; ganz ebenso gut wie die Korporationen etc."[23] 

Die zweite Unheilskrähe: der tendenzielle Fall der Profitrate

Eine weitere Kritik von Marx an den politischen Ökonomen betrifft deren mangelnde Kohärenz dadurch, dass sie die Warenüberproduktion leugnen, während sie aber die Kapitalüberproduktion zugeben:

„Ric[ardo] ist immer, soweit er selbst weiß, konsequent. Bei ihm ist also der Satz, dass keine Überproduktion (von Waren) möglich, identisch mit dem Satz, dass keine plethora[24] oder superabundance of capital[25] möglich. (...) Was würde Ric[ardo] dann gesagt haben zu der Stupidität seiner Nachfolger, die die Überproduktion in einer Form (als general glut of commodities in the market[26]) leugnen und sie in der andren Form als surproduction of capital, plethora of capital, superabundance of capital[27] nicht nur zugeben, sondern zu einem wesentlichen Punkt ihrer Doktrinen machen?"[28]

Marx zeigt jedoch insbesondere im Dritten Band von Das Kapital, dass die Tendenz des Kapitals zur „Überfülle", vor allem in seiner Form als Produktionsmittel, keineswegs beruhigend ist. Denn eine solche Überfülle führt nur zu einem anderen tödlichen Widerspruch, dem tendenziellen Fall der Profitrate, das nach Marx das „in jeder Beziehung (...) wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie und das wesentlichste (ist), um die schwierigsten Verhältnisse zu verstehen".[29] Dieser Widerspruch ist nicht unabhängig von den grundlegenden sozialen Verhältnissen im Kapitalismus: Da nur lebendige Arbeit neuen Wert schaffen kann - und dies ist das „Geheimnis" des kapitalistischen Profits -, und weil gleichzeitig die Kapitalisten unter der Knute der Konkurrenz stehen und darum ihre Produktionsmittel ständig weiterentwickeln müssen (das heißt Erweiterung des Anteils der toten Arbeit der Maschinen gegenüber der lebendigen Arbeit der Menschen), sind sie mit der inhärenten Tendenz konfrontiert, dass der Anteil des neuen Werts, der in der Ware verkörpert ist, sinkt und dass somit auch Profitrate sinkt.

Die bürgerlichen Apologeten nahmen verschreckt Reißaus vor den daraus folgenden Schlüssen, denn das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate offenbart die Vergänglichkeit des Kapitals:

„Andrerseits, soweit die Rate der Verwertung des Gesamtkapitals, die Profitrate, der Stachel der kapitalistischen Produktion ist (wie die Verwertung des Kapitals ihr einziger Zweck), verlangsamt ihr Fall die Bildung neuer selbständiger Kapitale und erscheint so als bedrohlich für die Entwicklung des kapitalistischen Produktionsprozesses; er befördert Überproduktion, Spekulation, Krisen, überflüssiges Kapital neben überflüssiger Bevölkerung. Die Ökonomen also, die wie Ricardo die kapitalistische Produktionsweise für die absolute halten, fühlen hier, dass diese Produktionsweise sich selbst eine Schranke schafft, und schieben daher diese Schranke nicht der Produktion zu, sondern der Natur (in der Lehre von der Rente). Das Wichtige aber in ihrem Horror vor der fallenden Profitrate ist das Gefühl, dass die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet, die nichts mit der Produktion des Reichtums als solcher zu tun hat; und diese eigentümliche Schranke bezeugt die Beschränktheit und den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise; bezeugt, dass sie keine für die Produktion des Reichtums absolute Produktionsweise ist, vielmehr mit seiner Fortentwicklung auf gewisser Stufe in Konflikt tritt."[30]

In den Grundrissen bringen die Überlegungen von Marx über den tendenziellen Fall der Profitrate wohl am deutlichsten die Perspektive des Kapitalismus zum Ausdruck, der wie die vorgängigen Formen der Sklaverei den Eintritt in eine Phase der Überlebtheit und Senilität nicht verhindern kann, in der eine wachsende Tendenz zur Selbstzerstörung die Menschheit vor die Notwendigkeit eines Schritts hin zu einer höheren Form des Zusammenlebens zwingt:

„(...) so zeigt sich, dass die schon vorhandne materielle, schon herausgearbeitete, in der Form von capital fixe existierende Produktivkraft, wie die scientific power, wie die Bevölkerung etc., kurz alle Bedingungen des Reichtums, dass die größten Bedingungen für die Reproduktion des Reichtums, i.e. die reiche Entwicklung des sozialen Individuums -, dass die durch das Kapital selbst in seiner historischen Entwicklung herbeigeführte Entwicklung der Produktivkräfte, auf einem gewissen Punkt angelangt, die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen. Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital; also das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit. Auf diesem Punkt angelangt, tritt das Kapital, d.h. Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis zur Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte, wie Zunftwesen, Leibeigenschaft, Sklaverei, und wird als Fessel notwendig abgestreift. Die letzte Knechtgestalt, die die menschliche Tätigkeit annimmt, die der Lohnarbeit auf der einen, des Kapitals auf der andren Seite, wird damit abgehäutet, und die Abhäutung selbst ist das Resultat der dem Kapital entsprechenden Produktionsweise; die materiellen und geistigen Bedingungen der Negation der Lohnarbeit und des Kapitals, die selbst schon die Negation frührer Formen der unfreien gesellschaftlichen Produktion sind, sind selbst Resultate seines Produktionsprozesses. In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus. Gewaltsame Vernichtung von Kapital, nicht durch ihm äußre Verhältnisse, sondern als Bedingung seiner Selbsterhaltung, ist die schlagendste Form, worin ihm advice gegeben wird to be gone and to give room to a higher state of social production."[31]

Der Teufelskreis der kapitalistischen Widersprüche

In Passagen wie der obigen erkannte Marx schon die Zukunft: Er realisierte, dass es Gegentendenzen gibt, welche den tendenziellen Fall der Profitrate mehr zu einem langfristigen Problem als zu einer unmittelbaren Barriere für die kapitalistische Produktion machen. Dies bringt folgendes mit sich: Eine erhöhte Intensität der Ausbeutung; Drücken der Löhne unter das Niveau des Werts der Arbeitskraft; Verbilligung der Anteile des konstanten Kapitals und den außerkapitalistischen Handel. Die Art und Weise, wie Marx den letzten Punkt behandelte, zeigt auf, wie eng die beiden Hauptwidersprüche im Kapitalismus miteinander verbunden sind. Der Außenhandel bedingt Investitionen (so wie man sie heute beim Phänomen der „Auslagerung" sieht) in billigere Quellen von Arbeitskräften und den Verkauf von inländisch hergestellten Produkten im Ausland „über ihrem Wert (...), obgleich wohlfeiler als die Konkurrenzländer"[32].

Der gleiche Abschnitt behandelt auch „die innere Notwendigkeit dieser Produktionsweise, durch ihr Bedürfnis nach stets ausgedehnterm Markt"[33].

Dies ist auch verbunden mit dem Bestreben, den Fall der Profitrate hinauszuschieben, auch wenn jede Ware weniger Profit abwirft, indem eine größere Masse an Waren abgesetzt wird, um damit eine größere Masse an Profit zu erzielen. Aber auch hier stößt der Kapitalismus auf seine ihm innewohnenden Grenzen:

„Derselbe auswärtige Handel aber entwickelt im Inland die kapitalistische Produktionsweise, und damit die Abnahme des variablen Kapitals gegenüber dem konstanten, und produziert auf der andern Seite Überproduktion mit Bezug auf das Ausland, hat daher auch wieder im weitern Verlauf die entgegengesetzte Wirkung."[34]

Oder nochmals: „Die Kompensation des Falls der Profitrate durch die steigende Masse des Profits gilt nur für das Gesamtkapital der Gesellschaft und für die großen, fertig eingerichteten Kapitalisten. Das neue, selbständig fungierende Zusatzkapital findet keine solche Ersatzbedingungen vor, es muss sie sich erst erringen, und so ruft der Fall der Profitrate den Konkurrenzkampf unter den Kapitalen hervor, nicht umgekehrt. Dieser Konkurrenzkampf ist allerdings begleitet von vorübergehendem Steigen des Arbeitslohns und einer hieraus entspringenden ferneren zeitweiligen Senkung der Profitrate. Dasselbe zeigt sich in der Überproduktion von Waren, der Überfüllung der Märkte. Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden erreicht, die die Produktionsmasse nach der Stufenleiter der Produktion einrichten, nicht umgekehrt, so muss beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt. Übrigens besteht das Kapital ja aus Waren, und daher schließt die Überproduktion von Kapital die von Waren ein."[35]

Beim Versuch, einem seiner Widersprüche zu entfliehen, stößt der Kapitalismus unweigerlich auf die Grenzen des anderen. Marx sah die Unvermeidbarkeit von „schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen", „allseitigere und gewaltigere Krisen" voraus, die er schon im Manifest beschrieben hatte. Seine vertieften Studien der politischen Ökonomie hatten seinen Standpunkt bestätigt, dass der Kapitalismus einen Punkt erreichen würde, an dem er seine fortschrittliche Aufgabe abschließt und die wirkliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu hemmen beginnt. Marx hat keine Spekulationen darüber gemacht, welche Form dieser Niedergang annimmt. Er konnte zeitlebens das Auftauchen der großen imperialistischen Kriege nicht mitverfolgen, welche zwar für die einen Teile des Kapitals eine „Lösung" für die ökonomische Krise brachten, für das gesamte Kapital aber immer ruinöser wurden und eine konkrete Gefahr für das Überleben der Menschheit wurden. Gleichfalls konnte er die gewaltige Tendenz des Kapitalismus, die Natur zu zerstören, kaum vorausahnen, welche am Ende jegliche soziale Reproduktion verunmöglicht. Er formulierte das Ende der aufsteigenden Phase des Kapitalismus dennoch in einer konkreten Art und Weise: Wie in einem vorgängigen Artikel dieser Serie dargelegt, beschrieb Marx ab 1858, dass die Öffnung großer Gebiete wie China, Australien oder Kalifornien bedeutet, dass die Aufgabe des Kapitalismus, einen Weltmarkt und eine weltweite Produktion, die auf diesen Märkten beruht, zu schaffen, ihr Ende erreichen wird, und 1881 sprach er vom Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern als ein System das „rückschrittlich" geworden sei. Dies obwohl er in beiden Fällen davon ausging, dass der Kapitalismus noch einen Weg vor sich habe (vor allem in den peripheren Ländern), bevor er aufhöre, auf Weltebene ein aufsteigendes System zu sein. Marx hatte diese Studien des Kapitals ursprünglich als Teil einer größeren Arbeit geplant, welche noch andere wichtige Gebiete wie den Staat und die Geschichte der sozialistischen Gedanken mit einschließen sollte. Doch sein Leben war zu kurz, um auch nur den „ökonomischen" Teil abschließen zu können, was Das Kapital zu einem unvollendeten Werk machte. Gleichzeitig wäre die Erarbeitung einer angeblich abgeschlossenen Theorie über die Entwicklung des Kapitalismus den Grundsätzen der Methode Marxens fremd, welche die Geschichte als eine endlose Bewegung begreift und die dialektische „List der Vernunft" als voll von Überraschungen. Schlussendlich hat Marx auf ökonomischem Gebiet keine definitive Antwort geliefert, welche der beiden Unheilskrähen des Kapitalismus (die Sättigung der Märkte oder der tendenzielle Fall der Profitrate) die entscheidendere Rolle spielen würde bei der Entstehung der Krisen, welche die Arbeiterklasse dazu treiben, sich gegen das System zu erheben. Doch eines ist gewiss: Die Überproduktion von Gütern sowie die Überproduktion von Kapital sind der Beweis dafür, dass die Menschheit definitiv die Etappe erreicht hat, in der es möglich wäre, den Bedürfnissen aller gerecht zu werden und damit die materielle Basis für die Aufhebung der Klassen zu schaffen. Leute sterben an Hunger, während sich gleichzeitig die unverkäuflichen Waren in den Lagerhäusern stapeln. Fabriken, die lebenswichtige Güter produzieren, schließen, nur weil damit kein Profit gemacht werden kann. Wenn die Kluft zwischen der riesigen Potenzialität, die in den Produktionsmitteln liegt, und ihre Fesselung durch das Wertgesetz dermaßen ist, dann bildet dies das Fundament für die Entstehung eines kommunistischen Bewusstseins bei denjenigen, welche am direktesten mit den absurden Konsequenzen des Kapitalismus konfrontiert sind.

Gerrard



[1] Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, IV. Kapitel, MEW Bd. 7 S. 98

[2] Ragnarök ist in der Nordischen Mythologie das Ende der Welt mit einer großen Schlacht von Göttern und Riesen.

[3] Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, Siebzehntes Kapitel, MEW 26.2 S. 519

[4] Ricardo, zitiert in den Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, 17. Kapitel, MEW 26.2 S. 503

[5] Das Kapital, Band 3, MEW Bd. 25 S. 267

[6] die Überfüllung

[7] einer gleichzeitigen, allgemeinen Überfüllung des Marktes

[8] in der Handschrift: Unmöglichkeit

[9] in der Handschrift statt dieser Passage: Sie

[10] Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, 17. Kapitel, MEW 26.2 S. 530

[11] Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, 17. Kapitel, MEW 26.2 S. 528

[12] Mehrprodukt

[13] öffentliche Arbeiten

[14] im wesentlichen

[15] a.a.O. S. 529

[16] a.a.O.

[17] den Mehrwert

[18] Mehrprodukt

[19] a.a.O. S. 520

[20] a.a.O. S. 525

[21] Grundrisse, Heft IV, MEW 42 S. 313 f.

[22] zunächst gibt es eine Schranke, die nicht der Produktion an sich innewohnt, sondern der auf Kapital beruhenden Produktion

[23] a.a.O. S. 318

[24] Überfluss

[25] Überfülle von Kapital

[26] allgemeine Überfülle von Waren auf dem Markt

[27] Überproduktion von Kapital, Überfluss an Kapital, Überfülle von Kapital

[28] Theorien über den Mehrwert, 2. Teil, 17. Kapitel, MEW 26.2 S. 497

[29] Grundrisse, Heft VII, MEW 42 S. 634

[30] Das Kapital, 3. Band, 15. Kapitel, MEW 25 S. 251 f.

[31] Grundrisse, Heft VII, MEW 42 S. 635 f.

[32] Das Kapital, 3. Band, 14. Kapitel, MEW 25 S. 247 f.

[33] a.a.O. S. 247

[34] a.a.O. S. 249

[35] a.a.O. 15. Kapitel, MEW 25 S. 266 f.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Tödliche Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft [14]

Historische Ereignisse: 

  • Nekrologie des Kapitalismus [15]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [3]

Der Kapitalismus ist in einer Sackgasse: weder Sparpolitik noch Konjunkturprogramme werden daran etwas ändern

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„Die G20 ist auf der Suche nach einem neuen Weg die Welt zu regieren". Dermassen ambitiös titelte ein Artikel in der Zeitung Le Monde vom 26. Juni 2010 zum letzten Gipfeltreffen der Grossmächte. Eine wahrlich hohe Erwartung angesichts der katastrophalen Lage der Welt!

Hoffnungen auf eine Besserung zu haben ist tatsächlich nachvollziehbar. Doch in den letzten zwei Jahren haben sich die Angriffe gegen die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse nur verschärft. Trotz all der grossartigen Ankündigungen eines baldigen, oder schon eingetretenen, wirtschaftlichen Aufschwungs stagniert die Weltwirtschaft, und die Zukunft sieht düster aus. Das Treffen der Regierungschefs die über die Weltwirtschaft entscheiden, und damit auch das Schicksal der Weltbevölkerung in den Händen halten, versprach nach einem Weg zu suchen der alles besser werden lässt.

Das G8 Treffen (eine Vorbereitung auf das G20 Treffen) hatte sich zuvor auf folgende Politik geeinigt um die Welt aus der Krise zu führen: Konjunkturprogramme starten wie sie die USA empfehlen und schon eingeführt haben, oder Sparprogramme durchzuführen um den drohenden Staatsbankrott abzuwenden, so wie es die meisten europäischen Staaten empfehlen und durchziehen. Die G20 sollte die Banken Besteuern um einen Reserve-Fonds gegen Finanzkrisen anzulegen, denn die Krise von 2007 ist nicht gelöst, auch wenn die schlimmsten Auswirkungen im Zaum gehalten werden können. Gleichzeitig sollte eine „Regulierung des Finanzsystems" beschlossen werden um die destabilisierendsten Formen der Spekulation einzudämmen und die finanziellen Ressourcen mehr auf die Entwicklung der Produktion zu lenken. Doch was war das Resultat dieses G20 Gipfels? Nichts! Der ganze Berg von Problemen ist um keinen Millimeter kleiner geworden. Es wurden keine Beschlüsse gefasst zu all diesen Problemen, wie wir weiter in diesem Artikel sehen werden. Die G20 Beteiligten konnten lediglich ihre Unstimmigkeiten feststellen: „Bezüglich der Fragen die am G20 Gipfel im Zentrum standen beschlossen die Teilnehmer, das Wichtigste sei es abzuwarten. Die Divergenzen sind zu gross und demnach auch die mangelnde Vorbereitung"[1] . Der französische Präsident Sarkozy gab sich grösste Mühe die Hilflosigkeit der Herrschenden dieser Welt herunterzuspielen: „Man kann nicht an jedem Gipfeltreffen historischen Entscheide fällen"!

Die vorgängigen G20 Treffen hatten Reformen versprochen, aufgrund der Erfahrungen aus der „subprime"-Krise und der darauf folgenden Finanzkrise. Diesmal wurden nicht einmal Versprechen gemacht. Weshalb sind die grossen Manger des Weltkapitalismus nicht fähig irgendeinen Entscheid zu fällen? Der Grund liegt darin, dass es keine Lösung gibt für die Krise des Kapitalismus - ausser der Überwindung dieser historisch senilen Produktionsweise. Doch es gibt auch noch eine andere Erklärung die mehr aus den direkten Umständen hervorgeht: Seit sich die Staatschefs bewusst darüber sind wie weit die Weltwirtschaft in eine Krise abgleitet, sind sie schlau genug geworden um Phrasen wie die des früheren Präsidenten der Elfenbeinküste F. Houphouet Boigny „Wir befinden uns am Rande des Abgrundes, aber wir haben einen grossen Schritt vorwärts gemacht"[2] zu vermeiden. Unter den heutigen Umständen würde dies niemandem mehr ein Lächeln abringen.

Das Ende der Konjunkturprogramme und die Rückkehr der Depression

Der Ausbruch der Finanzkrise 2008 hatte zu einem Rückgang in den meisten Ländern der Welt geführt (und hauptsächlich zu einer Verlangsamung in China und Indien). Um diesem Phänomen entgegenzutreten hatten die Herrschenden in den meisten Ländern Konjunkturprogramme verabschiedet, wobei die Chinas und er USA am umfangreichsten waren. Nachdem diese Konjunkturpakete einen teilweisen Anschub der wirtschaftlichen Aktivitäten und eine Stabilisierung der Wirtschaft der am meisten entwickelten Länder bewirken konnte, sind die Auswirkungen auf die Nachfrage, die Produktion und den Handel daran zu verpuffen.

Trotz all der Propaganda über den Aufschwung der in Gang gekommen sei, sind die Herrschenden nunmehr gezwungen einzugestehen, dass sich die Dinge nicht in diese Richtung entwickeln. In den USA hatte man für 2010 ein Wachstum von 3,5 % erwartet, es wurde jedoch auf 2,7 % korrigiert; die Arbeitslosigkeit vergrössert sich Woche für Woche und die amerikanische Wirtschaft begann mit dem Abbau von Arbeitsplätzen[3]; im Generellen zeigten verschiedenste Messfaktoren für die wirtschaftliche Aktivität in den USA ein Abflauen des Wachstums. In der Eurozone betrug das Wachstum im ersten Quartal 2010 kaum 0,1 % und die Europäische Zentralbank schätzt für das gesamte Jahr ein Wachstum das 1 % nicht überschreitet. Die schlechten Nachrichten brechen nicht ab. Das Wachstum in der Industrieproduktion ist zurückgegangen und die Arbeitslosigkeit wieder am steigen, mit Ausnahme Deutschlands. Für 2010 wurde ein anhaltender Rückgang des Bruttosozialproduktes in Spanien vorausgesagt (minus 0,3 %). Es ist auffallend, dass in den USA und in Europa die Investitionen laufend rückgängig sind und dass damit also die Unternehmen kein reales Wachstum in der Produktion vorsehen.

In Asien, der Region die als das neue Anziehungsgebiet der Weltwirtschaft gesehen wurde, gehen die Aktivitäten zurück. In China ist der Conference Board Index, dem im April ein Wachstum von 1,7 % vorausgesagt wurde, nur um 0,3 % angestiegen. Diese Zahl ist durch erst kürzlich veröffentlichte bestätigt worden. Wenn die monatlichen Zahlen für ein bestimmtes Land nicht zwangsläufig den generellen Trend aufzeigen, so zeigt andererseits die Tatsache, dass in den grössten Ländern Asiens die Wirtschaft dieselbe Entwicklung einschlägt etwas Bedeutsames auf: In Indien gehen die wirtschaftlichen Aktivitäten zurück, in Japan sind die Zahlen der industriellen Produktion und des Haushaltkonsums im Mai rückläufig.

Und schlussendlich, um alle Fanfaren in der Presse über einen Aufschwung Lügen zu strafen, zeigt der Baltic Dry Index, der die Entwicklung des Welthandels misst, nach unten und bestätigt diesen Trend.

Staatsbankrotte

Immer mehr Staaten haben Schwierigkeiten, ihre Zinszahlungen für ihre Schulden zu erfüllen.

Aber die Zinszahlungen sind eine unabdingbare Bedingung dafür, dass die großen Banken weiterhin Kredite vergeben. Jedoch sind die PIIGs nicht die einzigen Staaten mit wachsender Verschuldung. Die Ratingagenturen haben auch ausdrücklich gedroht, Großbritannien herabzustufen und es in die Reihe der PIIGs einzuordnen, falls das Land keine großen Anstrengungen zur Reduzierung seiner öffentlichen Schulden unternähme. Auch Japan (das in den 1990er Jahren als ein Land gehandelt wurde, das die USA als wirtschaftlich führende Macht überholen könnte) hat ein öffentliches Verschuldungsniveau erreicht, das der zweifachen Summe seines BIP entspricht [4]. Diese Liste, die wir noch verlängern könnten, zeigt, dass die Tendenz zur Zahlungsunfähigkeit der Staaten eine weltweite Tendenz ist, weil alle Staaten von der Zuspitzung der Krise seit 2007 betroffen sind und auch vor ähnlichen Gleichgewichtsstörungen wie in Griechenland oder Portugal stehen.

Aber nicht nur Staaten nähern sich der Zahlungsunfähigkeit. Das Bankensystem ist auch immer mehr aufgrund folgender Faktoren gefährdet:

-   Alle Spezialisten wissen und sagen, dass die Banken ihre „giftigen Produkte" nicht wirklich „entsorgen" konnten, die Ende 2008 zum Bankrott zahlreicher Finanzinstitute geführt hatten;

-   trotz dieser Schwierigkeiten haben die Banken aber nicht aufgehört auf den Weltfinanzmärkten mit dem Kauf von Hochrisikoprodukten zu spekulieren. Im Gegenteil, sie mussten damit fortfahren, um zu versuchen, die massiv eingefahrenen Verluste auszugleichen;

-   die Zuspitzung der Krise seit Ende 2007 hat zu zahlreichen Firmenpleiten geführt, so dass viele arbeitslos gewordene Beschäftigte ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können.

Ein Beispiel hierzu gab es neulich am 22. Mai, als die Caja Sur in Spanien vom Staat übernommen werden musste. Aber dieses Beispiel ist nur die Spitze des Eisberges der Schwierigkeiten der Banken in der letzten Zeit. Andere Banken in Europa wurden von Ratingagenturen heruntergestuft (Caja Madrid in Spanien, BNP in Frankreich), aber vor allem hat die EZB die Finanzwelt darüber informiert, dass die europäischen Banken in den nächsten beiden Jahren ihre Aktiva um 195 Milliarden senken müssten, und dass der geschätzte Kapitalbedarf bis 2012 auf 800 Mrd. Euro ansteigen werde. Ein anderes Ereignis der letzten Zeit wirft ebenso ein krasses Licht auf die gegenwärtige Zerbrechlichkeit des Bankensystems: Siemens hat beschlossen, eine eigene Bank aufzubauen. D.h. eine Bank, die nur Siemens und seinen Kunden zu Diensten stünde. Nachdem Siemens schon bei der Lehman Brothers Pleite ca. 140 Millionen Dollar hat abschreiben müssen, hat der Konzern Angst, dass sich Ähnliches wiederholen könnte mit seinem Guthaben bei anderen „klassischen" Banken. Andere Firmen wie Veolia, das mit British American Tobacco und anderen Firmen zusammenarbeitet, hatten schon im Januar 2010 den gleichen Schritt vollzogen [5]. Es ist klar, wenn Firmen, deren Solidität im Augenblick nicht infrage gestellt wird, ihre Gelder nicht mehr den großen Banken anvertrauen, wird deren Lage sich nicht verbessern.

Man muss hervorheben, dass die Probleme der Zahlungsunfähigkeit der Staaten und der Banken sich in den nächsten Wochen und Monaten nur zuspitzen können. Der "Bankrott » eines Staates, falls er keine Hilfe von anderen bekommen sollte wie im Falle Griechenlands, würde zum Bankrott der Banken führen, bei denen dieser Staat in der Kreide steht. Die Kredite deutscher und französischer Banken, die diese an die PIIGS Staaten (Portugal, Spanien, Italien, Irland, Griechenland) vergeben hatten, belaufen sich auf ca. 1000 Milliarden Euro. Die Zahlungsunfähigkeit eines dieser Länder würde ohne Zweifel unberechenbare Risiken für Deutschland und Frankreich und somit für die Weltwirtschaft mit sich bringen.

Gegenwärtig stellt Spanien das Auge des Wirbelsturms der Finanzkrise dar. Die EZB hat verlautbaren lassen, dass die spanischen Banken, die über keine ausreichende Glaubwürdigkeit zur Aufnahme von Krediten auf dem Markt verfügen, von der EZB Gelder in der Höhe von 85.6 Mrd. Euro allein im Monat Mai erhalten haben. Außerdem kreisen Gerüchte, dass der spanische Staat bis Ende Juli, Anfang August enorme Summen zurückzahlen müsse [6]. Es muss ziemlich schnell gehandelt werden - deshalb sind der Direktor des IWF, D. Strauss-Kahn, und der stellvertretende US-Finanzminister C. Collins, nach Madrid gereist. Ein Rettungsplan in der Höhe von 200 oder 250 Mrd. Euro sei in Abklärung.

Wenn Spanien soviel Aufmerksamkeit erregt, dann weil die Folgen der finanziellen Schwierigkeiten sehr schwerwiegend wären:

-   wenn Spanien keine Hilfe bekäme, wenn der spanische Staat pleite wäre, würde dies eine große Vertrauenskrise in den Euro auslösen. Mit anderen Worten - die Euro-Zone würde sehr schwer erschüttert werden;

-   Frankreich und Deutschland, d.h. die beiden stärksten in der Euro-Zone, können für die Verpflichtungen Spaniens nicht einspringen; dies würde zu einer extremen Destabilisierung ihrer eigenen Finanzen und damit ihrer gesamten Wirtschaft führen (der Ökonom P. Artus vertritt diese Einschätzung ).[7]

Das bedeutet, dass die Hilfe für den spanischen Staat zur Vermeidung einer Zahlungsunfähigkeit nur das Ergebnis einer Übereinkunft zwischen allen westlichen Staaten sein könnte, und dass der dafür erforderliche Preis notwendigerweise eine größere Zerbrechlichkeit ihrer eigenen finanziellen Lage wäre. Und da die meisten Staaten sich der Lage in Spanien annähern, müssen auch sie Maßnahmen ergreifen, um Kettenreaktionen der Zahlungsunfähigkeit zu verhindern. Daraus geht hervor, dass der Kapitalismus nicht mehr über die Mittel verfügt, sich solch einer Verschärfung der Krise entgegenzustellen.

Die Divergenzen unter den Staaten hinsichtlich der einzuschlagenden Politik

„Sparpolitik oder Konjunkturpakete : die Führer der G8 weiterhin uneins" - titelte Le Monde am 27./28. Juni. Trotz einer diplomatischen Formulierung geht daraus hervor, dass die beteiligen Staaten völlig zerstritten sind. Großbritannien und Deutschland und mit ihm die Euro-Zone treten für rigorose Sparmaßnahmen ein; die USA und zu einem geringeren Maße China plädieren für Konjunkturpakete. Welche Inhalte und welche Gründe stecken hinter diesen Divergenzen?

Nachdem man die Folgen eines Bankrotts des griechischen Staates für Europa und die Welt bewertet hatte, sahen sich die EU und der FMI schließlich gezwungen, ein Rettungspaket für Griechenland zu verabschieden, das ungeachtet der weiterhin bestehenden Divergenzen unter den beteiligten Staaten angenommen wurde. Aber dieses Ereignis hat eine wichtige Wende bei der Politik aller Staaten der Euro-Zone bewirkt. Zunächst sind alle mit der Notwendigkeit einverstanden gewesen, den hilfsbedürftigen Staaten unter die Arme zu greifen, denn deren Zahlungsunfähigkeit würde das ganze europäische Finanzsystem erschüttern, mit dem Risiko, dass es zusammenbrechen könnte. Deshalb wurde ein Unterstützungsfond von 750 Milliarden Euro geschaffen, der zu zwei Dritteln aus Mitteln der Euro-Staaten und zu einem Drittel aus Geldern des IWF gedeckt wird, womit den Staaten in Zahlungsschwierigkeiten ermöglicht werden soll, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Auch hat die EZB mehr oder weniger faule Kredite in ihren Bestand übernommen, wie zum Beispiel durch die Übernahme von spanischen Banken.

Um schließlich die Gefahren der Zahlungsunfähigkeit zu senken, haben die Staaten beschlossen, ihre eigenen öffentlichen Defizite zu reduzieren und das Bankensystem zu regulieren. Zu diesem Zweck wurden Sparprogramme verabschiedet, die zu einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter führen werden, die mit den Verschlechterungen in den 1930er Jahren vergleichbar sein werden. Die Liste der Angriffe ist dermaßen lang, dass sie hier den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Wir können nur einige sehr aufschlussreiche Beispiele nennen. In Spanien wurden die Beamtengehälter um 5% gesenkt, 13.000 Stellen gestrichen. In Frankreich, wo neben der Verschiebung des Renteneintrittalters um mindestens zwei Jahre nur jeder zweite in Rente gehende Kollege ersetzt werden soll. Gleichzeitig sollen 100.000 Stellen im öffentlichen Dienst zwischen 2011-2013 gestrichen werden. Die 2009 eingeleiteten Konjunkturankurbelungsmaßnahmen werden eingestellt. Steuermehreinnahmen von fünf Milliarden Euro sind geplant. In Großbritannien sind dem Osborne-Plan zufolge Ausgabenkürzungen bei den Ministerien von 25% im Laufe der nächsten fünf Jahre vorgesehen. Eine ganze Reihe von Sozialleistungen, von denen die Einkommensschwächsten profitierten, wird eingefroren. Die Mehrwertsteuer steigt von 17.5% auf 20%. Man geht davon aus, dass allein der Osborne-Plan zu einem Verlust von ca. 1.3 Millionen Arbeitsstellen führen wird. Bis 2014 sollen 14.000 Stellen im öffentlichen Dienst in Deutschland gestrichen werden, zahlreiche Kürzungen für Arbeitslose sind angekündigt worden. In allen Ländern werden die öffentlichen Investitionen zurückgeschraubt.

Die hinter diesen Maßnahmen verfolgten Ziele sind: Durch die Rettung des Finanzsystems mittels der Unterstützung für die in Schwierigkeiten steckenden Banken und der von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Staaten sollen die öffentlichen Finanzen saniert werden, um später erneut Schulden machen zu können, damit so in der Zukunft wieder Wachstum ermöglicht wird. Hinter diesem Ziel steckt zunächst die Absicht der Herrschenden in Deutschland, ihre eigenen ökonomischen Interessen zu schützen. Für das deutsche Kapital, das weiterhin sehr stark auf den Export setzt, insbesondere auf den Export von Maschinen und chemischen Produkten, kommt es nicht infrage, erhöhte Produktionskosten in Kauf zu nehmen, um dadurch in Schwierigkeiten steckende Länder Europas (über eine gewisse Grenze hinaus) zu unterstützen. Dadurch würde seine Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt. Und da Deutschland wirklich als einziges Land den anderen finanziell entscheidend unter die Arme greifen kann, zwingt es allen anderen eine drakonische Sparpolitik auf, auch wenn dies nicht deren Interessen entspricht.

Wenn Großbritannien, das nicht der Euro-Zone angehört, den gleichen Kurs einschlägt, spiegelt das die Tiefe der Krise wider. GB kann sich keine Konjunkturprogramme mehr leisten, nachdem sein Haushaltsdefizit 2010 11.5% des BIP erreicht hat. Zu große Gefahren einer Zahlungsunfähigkeit würden entstehen und damit des Zusammenbruchs des britischen Pfunds. Auch Japan praktiziert die gleiche Sparpolitik aufgrund seiner hohen öffentlichen Verschuldung. Mehr und mehr Länder gehen davon aus, dass ihre Defizite und öffentliche Verschuldung zu hoch geworden sind, und die Zahlungsunfähigkeit würde eine enorme Schwächung des nationalen Kapitals mit sich bringen. Sie stimmen damit für eine Politik der Sparmaßnahmen, welche wiederum nur zu einer Deflation führen kann.[8]Und gerade diese Bewegung zu einer deflationären Dynamik macht den USA Angst. Sie beschuldigen die Europäer, eine neue „Episode Hoover" herbeizuführen (1930, bei Ausbruch der Wirtschaftskrise 1929 war er im Amt), d.h. sie beschuldigen die Staaten Europas, die Welt in eine Depression und eine Deflation zu treiben wie 1929-32. Auch wenn es legitim sei, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte zurückfahren zu wollen, solle dies erst später geschehen, wenn der Aufschwung » wirklich in Gang gekommen sei. Indem sie für solch eine Politik eintreten, verteidigen die USA nur ihre eigenen Interessen, denn als Emittenten der Weltleitwährung bedeutet das Drucken von zusätzlichem Geld für die Finanzierung der Konjunkturpakete für sie nur eine Unterschrift auf dem Geldschein. Und dennoch müssen sie befürchten, dass die Wirtschaft in eine Deflation hineinrutscht.

Gleich welche Option gewünscht oder eingeschlagen wird, die Strategiewechsel während der letzten Zeit sowie die Befürchtungen seitens verschiedener Flügel der herrschenden Klasse belegen die Orientierungslosigkeit, die in ihren Reihen herrscht: Es gibt einfach keine gute Lösung mehr.

Welche Perspektiven?

Die Wirkungen der Konjunkturpakete verpuffen, wir stehen vor einem Versinken in der Depression. Solch eine Dynamik führt bei den Betrieben zu wachsenden Schwierigkeiten, ausreichend Profite zu erzeugen; die Gefahr entsteht, vom Wettbewerb verdrängt zu werden. Die Sparpolitik, die in vielen Ländern umgesetzt werden wird, wird das Abrutschen in die Depression nur noch beschleunigen und die Deflation verstärken, von der es schon jetzt einige Anzeichen gibt.

Ohne Zweifel ist die Hoffnung, mit Hilfe einer Sparpolitik die öffentlichen Finanzen zu sanieren, um später wieder Schulden machen zu können, eine reine Illusion. Berechnungen des IWF zufolge ziehen die Folgen des Sparpakets in Griechenland einen Rückgang des BIP um 8% nach sich. Auch wird mit einem Rückgang des BIP in Spanien gerechnet. Die Sparpakete werden zu verminderten Steuereinnahmen führen und damit die Defizite noch erhöhen, obwohl die Sparpakete diese eigentlich senken sollten. Ende 2010 und Anfang 2011 muss man mit einem Produktionsrückgang und einem schrumpfenden Handel in den meisten Ländern der Welt rechnen. Dies wird schwerwiegende Folgen für immer größere Teile der Arbeiterklasse haben und eine Verschlechterung ihrer Lage bewirken.

Man kann nicht ausschließen, dass in Anbetracht des beschleunigten Versinkens in der Depression infolge der Sparmaßnahmen nach einigen Monaten ein Richtungswechsel stattfindet und die Politik übernommen wird, welche die USA befürworten. Die letzten sechs Monate haben deutlich werden lassen, dass die Herrschenden, die kaum mehr über Spielraum verfügen, jetzt unfähig sind, über einen kurzen Zeitraum hinaus zu denken, denn erst vor einem Jahr wurden überall Konjunkturpakete aufgelegt. Wenn neue Konjunkturprogramme beschlossen würden, würde dies zu einem erhöhten Geldumlauf führen (die USA seien schon dabei, diese Politik zu praktizieren). Dies führt aber zu einem Verfall der Währung, d.h. einer Explosion der Inflation, mit anderen Worten zu neuen dramatischen Angriffen gegen die Arbeiterklasse.

 

Vitaz, 3.07.10

 



[1] Le Monde, 29. Juni 2010

 

[2] www.dicocitations.com/citations/citation-7496.php [16]

 

[3] Nach fünf aneinander folgenden Monaten in denen Arbeitsplätze geschaffen wurden gab es im Juni einen Abbau von 125000 Arbeitsplätzen, mehr als die Wirtschaftsexperten befürchtet hatten. Siehe dazu den Artikel „Après cinq mois de créations d`emplois, les Etats-Unis se remettent à en détruire" (www.lemonde.fr/economie/article/2010/07/03/apres-cinq-mois-de-creations-... [17])

 

[4] Nur weil Japan zweitgrößter Devisenbesitzer auf der Welt ist, wurde Japan von den Ratingagenturen noch nicht so stark heruntergestuft wie viele weniger stark verschuldete Länder als Japan.

 

[5] https://lemonde.fr/economie/article/2010/06/29/siemens-cree-sa-banque-af... [18]

 

[6] Es soll sich um 280 Milliarden Euros handeln. Natürlich sind diese Zahlen, die in Kreisen von Börsianern zirkulieren, keine offiziellen. Vielmehr haben die amtlichen Stellen sie dementiert, denn in solchen Fällen würde Schweigen als Bestätigung angesehen und zu einer unbeschreiblichen Panik führen.

 

[7] Le Monde, 16. April 2010

 

[8] Rückgang der Preise, die in diesem Falle durch eine unzureichende Nachfrage hervorgerufen würde, die wiederum eine Folge der Spaßmaßnahmen ist.

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Sparprogramm/Konjunkturprogramme [19]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [13]

Geschichte der Arbeiterbewegung: Die Entstehung des Syndikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung

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Das Merkmal des Syndikalismus lässt sich in der Auffassung zusammenfassen, dass die Gewerkschaften zum einen die idealste Kampforganisation der Arbeiterklasse darstellen und zum anderen nach der durch einen Generalstreik erfolgten Revolution die Basis einer neuen Gesellschaftsstruktur bilden.

 

Die gewerkschaftliche Opposition der sog. „Lokalisten" und die Entstehung der „Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften" (FVDG) im Jahre 1897 waren Meilensteine in der Entstehung des organisierten Syndikalismus innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Ähnlich wie gewichtigere syndikalistische Tendenzen in Frankreich, Spanien und den USA stellte der Syndikalismus auch innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung ursprünglich eine gesunde proletarische Reaktion gegen die zunehmend reformistisch ausgerichtete Politik der Führung der mächtigen Sozialdemokratie und ihrer Gewerkschaften dar.

Nach dem Ersten Weltkrieg, im September 1919, wurde in Deutschland die Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) gegründet. Auch als nun erklärtermaßen „anarcho-syndikalistische" Organisation sah sich die FAUD als direkter Erbe einer syndikalistischen Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg.

Es bestehen auch heute noch etliche anarcho-syndikalistische Gruppierungen, die sich auf die Tradition der FVDG und den späteren Anarcho-Syndikalismus der FAUD der 1920er Jahre berufen. Rudolf Rocker, der bekannteste „Theoretiker" des deutschen Anarcho-Syndikalismus, dient dabei oft als politischer Bezugspunkt.

Der Syndikalismus in Deutschland hat seit seiner Entstehung aber zweifellos eine große Veränderung erfahren. Dabei steht für uns die Frage im Zentrum, ob die syndikalistische Bewegung in Deutschland fähig war, die Interessen ihrer Klasse zu verteidigen, ihr politische Antworten auf brennende Fragen zu geben und dem Internationalismus des Proletariates treu zu bleiben.

Es lohnt sich, zunächst einen kurzen Blick auf die folgenreichste Herausforderung zu werfen, mit der die Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Deutschland konfrontiert war: den Reformismus. Andernfalls ist die Gefahr groß, den Syndikalismus in Deutschland simpel als eine besonders radikale Gewerkschaftsstrategie zu betrachten oder ihn lediglich als „Ideen-Import" aus den romanischen Ländern wie Spanien oder Frankreich anzusehen, in denen der Syndikalismus immer eine weitaus wichtigere Rolle spielte als in Deutschland.

Die Degeneration der Sozialdemokratie als Triebfeder zur Entstehung der Vorläufer des Syndikalismus

Die deutsche sozialdemokratische Partei SPD stellte innerhalb der 2. Internationale (1889- 1914) die mächtigste proletarische Organisation dar und diente über Jahre hinweg als politischer Orientierungspunkt für die internationale Arbeiterbewegung. Doch die SPD steht genauso als Symbol für eine tragische Erfahrung: Sie ist Paradebeispiel einer Organisation, die jahrelang auf dem Boden der Arbeiterklasse stand, dann einen schleichenden Degenerationsprozess durchmachte und schlussendlich in den Jahren des Ersten Weltkrieges 1914-18 unwideruflich ins Lager der herrschenden Klasse übertrat. Die Führung der SPD drängte die Arbeiterklasse 1914 in das Gemetzel des Weltkrieges und übernahm eine zentrale Rolle bei der Verteidigung der Interessen des deutschen Imperialismus.

1878 hatte Bismarck das „Sozialistengesetz" verhängt, das zwölf Jahre lang - bis 1890 - bestehen sollte. Dieses Gesetz unterdrückte die Aktivitäten und Versammlungen proletarischer Organisationen, vor allem aber jegliche organisatorische Verbindung unter den proletarischen Organisationen. Doch das „Sozialistengesetz" war keinesfalls nur harte, blindwütige Repression gegen die Arbeiterklasse. Die herrschende Klasse versuchte der Führung der SPD mit diesen Maßnahmen die Beteiligung im bürgerlichen Parlament als Hauptaktivität schmackhaft zu machen. Geschickt erleichterte sie so der aufkeimenden reformistischen Tendenz innerhalb der Sozialdemokratie den Weg.

Die reformistischen Ansichten innerhalb der Sozialdemokratie drückten sich schon früh im „Manifest der Züricher" von 1879 aus und formierten sich um die Person Eduard Bernsteins. Sie forderten, die Parlamentsarbeit in den Mittelpunkt zu stellen, um schrittweise die Macht im bürgerlichen Staat zu erobern. Eine Absage also an die Perspektive einer proletarischen Revolution, die den bürgerlichen Staat zerschlagen muss - und eine Kehrtwende zu einer Reform des Kapitalismus. Bernstein und seine Anhänger forderten gar eine Umwandlung der SPD von einer Arbeiterpartei in eine  klassenversöhnlerische Organisation, die die herrschende Klasse dazu gewinnen sollte, das Privatkapital in Gemeinkapital umzuwandeln. Die herrschende Klasse sollte selbst Triebfeder zur Überwindung ihres eigenen Systems, des Kapitalismus, werden - welche Absurdität! Diese Ansichten stellten ein Frontalangriff auf den damals noch proletarischen Charakter der SPD dar. Doch damit nicht genug: Bernsteins Flügel machte auch offen Propaganda für die Unterstützung der Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus, indem er für den Bau einer mächtigen Hochseeflotte stimmte. Bernsteins reformistische Ideen wurden zurzeit des „Manifests der Züricher" von der Mehrheit der sozialdemokratischen Führung klar bekämpft und fanden auch an der Basis kein großes Echo. Die Geschichte zeigte aber tragischerweise in den folgenden Jahrzehnten, dass sie der erste Ausdruck eines Krebsgeschwürs waren, das unaufhaltsam und Schritt für Schritt große Teile der SPD erobern sollte. Kein Wunder also, dass diese offene Kapitulation gegenüber dem Kapitalismus, wie sie erst Bernstein allein, später aber immer größere Teile der deutschen Sozialdemokratie symbolisierten, innerhalb der Arbeiterklasse einen Reflex der Empörung auslöste. Dass in dieser Situation gerade jene kämpferischen Arbeiter, die in den Gewerkschaften organisiert waren, besonders heftig reagierten, erstaunt nicht.

Carl Hillmans Gewerkschaftstheorie

Es gab aber schon vor dem „Manifest der Züricher", nämlich in den frühen 1870er Jahren und in Gestalt des Schriftsetzers Carl Hillmann, erste Bestrebungen innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung, eine selbständige „Gewerkschaftstheorie" zu entwickeln. Die syndikalistische Bewegung kurz vor dem Ersten Weltkrieg, vor allem später aber der Anarcho-Syndikalismus sollten sich immer wieder auf sie berufen. Ab Mai 1873 erschien in der Zeitschrift Volksstaat[1] eine Artikelserie unter dem Titel „Praktische Emanzipationswinke", in der Hillman schrieb: „(...) die große Masse der Arbeiter hegt einerseits Misstrauen gegen alle rein politischen Parteien, weil sie von denselben oft missbraucht und hintergangen worden sind, und weil die Unkenntnis der sozialen Bewegungen andererseits die Wichtigkeit der politischen Seite nicht erkennen lässt; im übrigen zeigen die Arbeiter größeres Verständnis und praktischen Sinn für näher liegende Interessensfragen, z.B. kurze Arbeitszeit, Beseitigung widerlicher Fabrikordnungen usw.

Die rein gewerkschaftliche Organisation übt einen nachhaltigen Druck auf die Gesetzgebung und die Regierungen aus, folglich ist die Arbeiterbewegung in dieser Form ihrer Äußerungen ebenfalls politisch, wenn auch erst in zweiter Linie;

(...) die tatsächlichen gewerkgenossenschaftlichen Organisationsbestrebungen reifen den Gedanken der Emanzipation der Arbeiterklasse, und deshalb müssen diese natürlichen Organisationen der rein politischen Agitation gleichgestellt und dürfen weder als eine reaktionäre Bildung noch als Schweif an der politischen Bewegung betrachtet werden."

Hinter Hillmans Anliegen, die Rolle der Gewerkschaften als zentrale Organisationen für den Kampf der Arbeiterklasse zu verteidigen, stand aber keinesfalls die Absicht, eine Trennungslinie zwischen dem ökonomischen und dem politischen Kampf zu ziehen oder gar den politischen Kampf abzulehnen. Vielmehr war Hillmans „Gewerkschaftstheorie" in erster Linie eine sensible Reaktion auf unterschwellige Tendenzen innerhalb der Führung der Sozialdemokratie, die Rolle der Gewerkschaften und - allgemein - des Klassenkampfes den parlamentarischen Tätigkeiten unterzuordnen.

Auch Engels kritisierte zur gleichen Zeit wie Hillmann, im März 1875, exakt diesen Punkt des von ihm als „saft- und kraftlos" bezeichneten Programmentwurfs für den anstehenden Einigungskongress der beiden sozialistischen Parteien Deutschlands in Gotha: „Fünftens ist von der Organisation der Arbeiterklasse als Klasse vermittels der Gewerksgenossenschaften gar keine Rede. Und das ist ein sehr wesentlicher Punkt, denn dies ist die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem Kapital durchficht, in der es sich schult und die heutzutage bei der schlimmsten Reaktion (wie jetzt in Paris) platterdings nicht mehr kaputtzumachen ist. Bei der Wichtigkeit, die diese Organisation auch in Deutschland erreicht, wäre es unserer Ansicht nach unbedingt notwendig, ihrer im Programm zu gedenken und ihr womöglich einen Platz in der Organisation der Partei offen zu lassen."[2]

Tatsächlich waren die Gewerkschaften in der damaligen Periode eines aufstrebenden Kapitalismus ein gewichtiges Instrument zur Überwindung der Isolation der Arbeiter und für die Herausbildung des Selbstverständnisses der Arbeiter als Klasse: eine Schule des Klassenkampfes. Es war der Arbeiterklasse noch möglich, einem aufstrebenden Kapitalismus dauerhafte Reformen zu ihren Gunsten abzuringen.[3]

Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung in gewissen Teilen des anarcho-syndikalistischen Milieus war es nicht die Absicht Hillmans, „den Marxisten Paroli zu bieten", die die Gewerkschaften angeblich immer unterschätzt hätten. Eine Behauptung, auf die man eigenartigerweise immer wieder stößt, die aber nicht der Wirklichkeit entspricht. Hillmann rechnete sich in seinen generellen Ansichten klar der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) zu, in der auch Marx und Engels arbeiteten. Seine Kritik richtete sich in ihrem Kern gegen jene Hörigkeit gegenüber dem allgegenwärtigen parlamentarischen Kampf, die sich in der Sozialdemokratie eingeschlichen hatte und gegen die sich Marx und Engels in ihrer Kritik am Gothaer Programm gewandt hatten. Von einem selbständigen „Syndikalismus" innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung schon in den 1870er Jahren zu sprechen wäre demnach sicher falsch. Als greifbare Bewegung innerhalb der Arbeiterklasse in Deutschland formierte er sich allmählich erst knapp 20 Jahre später.

Auch wenn Hillmann, mit einem gesunden proletarischen Instinkt ausgestattet, früh den sich langsam anbahnenden parlamentarischen Kretinismus innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung spürte und darauf reagierte, gibt es dennoch einen wesentlichen Unterschied gegenüber Marx und Engels: Hillmann pochte in erster Linie auf eine Autonomie der Gewerkschaften und einen „Sinn für näher liegende Interessensfragen". Marx dagegen hatte schon in den späten 1860er Jahren vor einer Reduzierung des gewerkschaftlichen Kampfes auf den Kampf um Lohnerhöhungen gewarnt: „Die Gewerksgenossenschaften haben sich bisher zu ausschließlich mit dem lokalen und unmittelbaren Kampf gegen das Kapital beschäftigt und haben noch nicht völlig begriffen, welche Kraft sie im Kampf gegen das System der Lohnsklaverei selbst darstellen. Sie haben sich deshalb zu fern von allgemeinen sozialen und politischen Bewegungen gehalten."[4]

Wie wir sehen, bestanden Marx und Engels schon damals auf die allgemeine Einheit von ökonomischem und politischem Kampf der Arbeiterklasse, auch wenn dieser mit verschiedenen Organisationen geführt werden sollte. Hillmans Ideen trugen demgegenüber die große Schwäche in sich, nicht konsequent und aktiv auch den politischen Kampf gegen den ausschließlich auf das Parlament ausgerichteten Flügel der SPD aufzunehmen, sondern sich in die Gewerkschaftsarbeit zurückzuziehen und dem Reformismus damit das Feld allzu kampflos zu überlassen. Dies spielte seinen Gegnern in die Hände, denn es war ja exakt das Zurückdrängen der Arbeiter auf den rein ökonomischen Kampf, was den anschwellenden Reformismus innerhalb der Gewerkschaftsbewegung auszeichnete.

Entstammt der Syndikalismus in Deutschland dem anarchistischen Lager?

Im Sommer 1890 bildete sich in der SPD eine kleine Opposition, die sog. „Jungen". Bezeichnend für ihre bekanntesten Repräsentanten Wille, Wildberger, Kampffmeyer, Werner und Baginski war der Ruf nach „mehr Freiheit" innerhalb der Partei und ihre antiparlamentarische Haltung. In ihrer lokalistischen Haltung lehnten sie überdies die Notwendigkeit eines Zentralorgans für die SPD ab.

Die „Jungen" stellten eine sehr heterogene Parteiopposition dar; es ist wohl treffender, von einer Ansammlung unzufriedener SPD-Mitglieder zu sprechen. Die Unzufriedenheit der „Jungen" an sich hatte aber durchaus ihre Berechtigung, denn die reformistischen Tendenzen in der Sozialdemokratie verschwanden nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 keineswegs. Der Reformismus gewann mehr und mehr an Gewicht. Doch die Kritik der „Jungen" war nicht imstande, die wirklichen Probleme und die ideologischen Wurzeln des Reformismus aufzuzeigen. Anstelle eines politisch fundierten Kampfes gegen die reformistische Idee des „friedlichen Hinüberwachsens" des Kapitalismus in eine klassenlose sozialistische Gesellschaft führten die „Jungen" lediglich eine scharfe Kampagne gegen einzelne Führer der SPD und personifizierten ihre Angriffe. Ihre Erklärung des Reformismus fand Ausdruck in einer unreifen und reduzierten Argumentation, die die „Jagd nach persönlichem Profit und Ruhm" und die „Psychologie der SPD-Führer" in den Mittelpunkt rückte. Dieser Konflikt wurde durch den Austritt bzw. Ausschluss der „Jungen" aus der SPD auf dem Erfurter Kongress von 1891 beendet. Dies führte im November 1891 zur Gründung des anarchistischen Vereins Unabhängiger Sozialisten (VUS). Der kurzlebige VUS, eine völlig heterogene Gruppierung, die sich vornehmlich aus unzufriedenen, ehemaligen SPD-Genossen gebildet hatte, geriet nach schweren persönlichen Spannungen schnell unter die Kontrolle des Anarchisten Gustav Landauer und verschwand schon drei Jahre später, 1894, wieder von der Bildfläche.

Bei der Lektüre zeitgenössischer anarcho-syndikalistischer Darstellungen und der bekanntesten Bücher über die Entstehung des Syndikalismus in Deutschland sticht eines ins Auge: der oft krampfhafte Versuch, eine Vergangenheit zu konstruieren, an die der Anarcho-Syndikalismus der 1919 gegründeten FAUD angeblich angeknüpfte. Meist sind diese Darstellungen eine simple Aneinanderreihung verschiedener Oppositionsbewegungen innerhalb der deutschen Arbeiterorganisationen: von Hillmann über Johann Most und die „Jungen" zu den „Lokalisten" und weiter zur Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften (FVDG) bis schlussendlich zur FAUD. Die reine Existenz eines Konfliktes mit den jeweils führenden Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften wird dabei als die bestimmende Gemeinsamkeit betrachtet. Doch allein der Konfliktfall mit der Partei- oder Gewerkschaftsführung stellt keine politische Kontinuität dar. Bei genauerem Hinsehen gab es keineswegs eine solche Kontinuität zwischen all diesen Organisationen! Zwar teilten Hillman, Most und die „Jungen" sehr wohl die Abneigung gegen die um sich greifenden Illusionen über den Parlamentarismus. Während aber Hillman immer Teil der Ersten Internationale blieb und mitten im realen Kampf der Arbeiterklasse stand, glitt Most zusammen mit Hasselmann in den frühen 1880er Jahren schnell in die isolierte, verzweifelte und kleinbürgerliche „Propaganda der Tat" - sprich: terroristische Aktionen - ab. Und die Angriffe der „Jungen" gegen einzelne Personen konnten nicht an die politische Qualität der Hillman'schen Kritik anknüpfen, die ein ernsthafter Versuch gewesen war, den Klassenkampf voranzutreiben. Die späteren „Lokalisten" und die daraus hervorgehende FVDG hingegen stellten über Jahre hinweg eine lebendige Bewegung in der Arbeiterklasse dar. Bis 1908 hatten anarchistische Ideen in der gewerkschaftlichen Opposition, aus der später der Syndikalismus in Deutschland entstehen sollte, nur einen geringen Einfluss. Tatsächlich konnte man von einer „anarchistischen Prägung" des deutschen Syndikalismus, der sich aus dem Schoß der sozialdemokratischen Gewerkschaften entwickelt hatte, erst nach dem Ersten Weltkrieg sprechen.

Die „Lokalisten": Eine proletarische Reaktion gegen die politische Beschneidung der Arbeiterklasse

Eine organisierte Opposition in den Reihen der sozialdemokratischen Gewerkschaften formierte sich in Deutschland anlässlich des ersten Gewerkschaftskongresses nach der Aufhebung des „Sozialistengesetzes" im März 1892 in Halberstadt. Die Generalkommission des Gewerkschaftsverbandes dekretierte unter Führung Carl Legiens auf diesem Kongress eine absolute Trennung zwischen politischem und ökonomischem Kampf. Die in den Gewerkschaften organisierte Arbeiterklasse sollte sich nach dieser Auffassung lediglich auf ökonomische Kämpfe beschränken, während allein die Sozialdemokratie und  - dabei vor allem ihre Parlamentsabgeordneten (!) - für politische Fragen zuständig sein sollten.

Doch durch die Bedingungen des zwölf Jahre andauernden „Sozialistengesetzes" waren die in Berufsverbänden organisierten Arbeiter an eine Verschmelzung von politischen und ökonomischen Anliegen und Diskussionen in ein und derselben Organisation, die sich auch durch die Illegalität zwangsläufig ergeben hatte, gewohnt.

Schon damals war das Verhältnis zwischen wirtschaftlichem und politischem Kampf Gegenstand zentraler Auseinandersetzungen in der internationalen Arbeiterklasse gewesen - und ist es zweifellos bis heute geblieben! In einer Zeit, in der durch den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsepoche die Bedingungen für eine Weltrevolution herangereift waren, zeichnete sich immer deutlicher ab, dass das Proletariat die einzige Gesellschaftsklasse war, die auf politische Fragen wie den Krieg eine Antwort geben konnte und musste!

1892 richtete die Führung der deutschen Gewerkschaftsbewegung nach jahrelanger Fragmentierung durch die Illegalität in isolierten Berufsverbänden einen gewerkschaftlichen Zentralverband ein - aber eben zum tragischen Preis der Beschränkung der Gewerkschaften auf den ökonomischen Kampf. Diese Beschränkung war jedoch nicht mehr die Folge des „Sozialistengesetzes", das die Versammlungs- und Redefreiheit suspendierte und die Diskussion politischer Fragen verbot, sondern das Resultat reformistischer Visionen und beträchtlicher Illusionen über den Parlamentarismus, die immer mehr überhand nahmen. Gegen diese Politik der Gewerkschaftsführung um Legien formierte sich die Opposition der „Lokalisten" als gesunde proletarische Reaktion. Eine wesentliche Rolle spielte dabei Gustav Kessler. Er hatte in den 1880er Jahren in der Koordination der Berufsverbände in Gestalt eines sog. Vertrauensmänner-Systems gearbeitet und war maßgeblich an der Herausgabe des Gewerkschaftsorgans Der Bauhandwerker beteiligt.

Um den „Lokalisten" gerecht zu werden, gilt es zunächst, mit einem verbreiteten Irrtum aufzuräumen: Der Name „Lokalisten" lässt auf den ersten Blick eine Opposition vermuten, deren Hauptanliegen ein politischer Lokalismus ist, also das Bestreben, sich ausschließlich um Angelegenheiten der Region zu kümmern oder sich gar prinzipiell gegen organisatorische Verbindungen mit den Arbeitern anderer Sektoren und Regionen zu sträuben. Dieser Eindruck entsteht oft bei der Lektüre zeitgenössischer Literatur, gerade aus dem Lager des heutigen Anarcho-Syndikalismus. Meist ist es schwer zu beurteilen, ob dies mit der Absicht geschieht, aus den „Lokalisten" und der daraus hervorgehenden FVDG im Nachhinein Organisationen ihrer heutigen eigenen lokalistischen anarcho-syndikalistischen Kragenweite zu konstruieren - oder lediglich aus purer Unkenntnis der eigenen Geschichte.

Dies gilt aber auch, wenn die sehr wertvollen Schilderungen der Anfänge des Syndikalismus in Deutschland aus den Reihen des Marxismus allzu schematisch angewandt werden. Wenn Anton Pannekoek 1913 schrieb: „(...) nach ihrer Praxis bezeichnen sie sich als ‚Lokalisten‘ und drücken damit in dem Gegensatz zu der Zentralisation der großen Verbände ihr wichtigstes Agitationsprinzip aus", so beschreibt dies eine Entwicklung,  die innerhalb des deutschen Syndikalismus erst ab 1904 einsetzte und schließlich in eine Annäherung an die Ideen der „Arbeiterbörsen"[5] der französischen Charte d`Amiens von 1906 (einem Programmpapier)  mündete; es übersieht aber, dass dies auf die Entstehungszeit in den 1890er Jahren nicht zutrifft.

Die „Lokalisten" hatten sich nicht formiert, weil sie in ihrer gewerkschaftlichen Opposition gegen Legiens Politik à priori eine lokal zerstreute, föderalistische Methode des Klassenkampfes als politisches Hauptanliegen theoretisierten. Die führenden Kräfte in den Gewerkschaften schmückten sich mit dem Konzept einer strikten „Zentralisierung" des Kampfes der Arbeiterklasse, um gleichzeitig die strikte politische Abstinenz der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter durchzusetzen. Die Feststellung, dass durch diese Situation jedoch eine Dynamik entstand, die Teile der „Lokalisten" tatsächlich schrittweise in föderalistische und anti-zentralistische Auffassungen zu drängen begann, ist eine andere Realität.

Eine Zentralisierung im Sinne einer berufs-, sektoren- und nationenübergreifenden Solidarität und des gemeinsamen Kampfes der Arbeiterklasse war absolut notwendig. Die Idee der Zentralisierung, wie sie die großen Gewerkschaftsverbände vertraten, verbreitete jedoch schon damals für einige Arbeiter zu Recht den schalen Beigeschmack regelrechter „Kontrollorgane" in den Händen der reformistischen Gewerkschaftsführer. Doch bei der Formierung der lokalistischen Opposition Mitte der 1890er Jahre stand unübersehbar die Entrüstung über das Dekret der politischen Abstinenz für die Arbeiter im Mittelpunkt!

Es erscheint uns wichtig, diese falsche und oft ausschließliche Fokussierung auf die Frage „Föderalismus gegen Zentralismus" bei der Entwicklung des Syndikalismus in Deutschland gerade mit den Worten von Fritz Kater (eines der langjährigsten und prägendsten Mitglieder der FVDG und FAUD) richtigzustellen: „War doch mit dem Bestreben, die Gewerkschaften in Deutschland in Zentralverbände zu organisieren, verbunden, alle Aufklärung in den Versammlungen über öffentlichen und politische Angelegenheiten und ganz besonders ein Einwirken auf diese durch die Gewerkschaft, aufzugeben und sich lediglich auf den Tageskampf um bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen einzustellen. Gerade letzteres aber war damals der Hauptgrund der sog. Lokalisten, den Verbandszentralismus abzulehnen und zu bekämpfen, waren sie doch damals, als revolutionäre Sozialdemokraten und Mitglieder der Partei, der sehr richtigen Ansicht, dass der so genannte gewerkschaftliche Kampf um Verbesserung der Lage der Arbeiter auf dem Boden der heute bestehenden Ordnung nicht geführt werden kann, ohne das Verhältnis der Arbeiter zu dem heutigen Staat und seinen Organen der Gesetzgebung und Verwaltung scharf und bestimmt zu berühren..."[6]. (Hervorhebung durch uns)

Mit ihrer Entrüstung über die „Lokalisten" als angebliches Symbol des Föderalismus in Reinkultur geht die stalinistische und trotzkistische Geschichtsschreibung konform mit gewissen neo-syndikalistischen Schriften, die den Föderalismus als das „Nonplusultra" anbeten.

Selbst Rudolf Rocker, der von 1893 bis 1919 außerhalb Deutschlands weilte und in den 20er Jahren den Föderalismus dann tatsächlich zum besonderen theoretischen Prinzip in der  FAUD erhob, beschreibt den Föderalismus der „Lokalisten" von 1892 ehrlich und treffend folgendermaßen: „Jedoch war dieser ‚Föderalismus‘ durchaus nicht das Ergebnis einer politischen und sozialen Erkenntnis wie bei Pisacane in Italien, Proudhon in Frankreich und Pi y Margall in Spanien, der später von der anarchistischen Bewegung jener Länder übernommen wurde; er entsprang vielmehr dem Versuch, die Bestimmungen des damaligen Preußischen Vereinsgesetzes zu umgehen, das zwar rein lokalen Gewerkschaften die Erörterung politischer Fragen in ihren Versammlungen gestattete, aber dieses Recht den Mitgliedern der Zentralverbände versagte."

Unter den Bedingungen des „Sozialistengesetzes" durch ein Netz von Vertrauensmännern an die Arbeitsweise der Koordination (man mag es auch Zentralisierung nennen!) gewohnt, fiel es den „Lokalisten" tatsächlich schwer, sich eine andere Art und Weise der Koordination anzueignen, die den veränderten Bedingungen ab 1890 entsprach. Schon 1892 lässt sich eine föderalistische Tendenz ohne Zweifel im Keim ausmachen. Doch war dieser Föderalismus der „Lokalisten" wohl eher der Versuch, aus der Not des Vertrauensmänner-Systems eine Tugend zu machen! Die „Lokalisten" verblieben mit der Absicht, eine kämpferische Vorhut innerhalb der sozialdemokratischen Gewerkschaften zu bilden, noch knapp fünf Jahre in den großen gewerkschaftlichen Zentralverbänden und verstanden sich unmissverständlich als Teil der Sozialdemokratie.

Die Gründung der FVDG

In der zweiten Hälfte der 1890er Jahre brachen vor allem in Streiks immer öfter offene Konflikte zwischen den Anhängern der „lokalistischen" Berufsverbände und den Zentralverbänden aus, am heftigsten unter den Bauarbeitern in Berlin und im Streik der Hafenarbeiter 1896/97 in Hamburg. In diesen Auseinandersetzungen stand zumeist die Frage im Mittelpunkt, ob die Berufsverbände auf eigene Entscheidung in den Streik treten konnten oder ob dies an die Einwilligung der Führung des Zentralverbandes gebunden war. Dabei sticht ins Auge, dass die „Lokalisten" ihre Anhängerschaft überproportional unter bauhandwerklichen  Berufsgruppen (Maurer, Fliesenleger, Zimmerleute) fanden, bei denen ein starker Berufsstolz vorhanden war, und anteilsmäßig viel weniger unter den Industriearbeitern.

Parallel dazu neigte die Führung der Sozialdemokratie ab Ende der 1890er Jahre immer mehr dazu, das apolitische Gewerkschaftsmodell der Generalkommission um Legien, die so genannte „Neutralität" der Gewerkschaften, zu übernehmen. Die SPD hatte gegenüber den Auseinandersetzungen in den Gewerkschaften aus verschiedenen Gründen lange laviert und sich zurückhaltend geäußert. Auch wenn die „Lokalisten" zur Zeit des Kongresses von Halberstadt 1892 eine vergleichsweise kleine Minderheit von ca. 10.000 Mitgliedern (nur ca. drei Prozent aller gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in Deutschland) darstellten, so befanden sich gerade unter ihnen viele alte und kämpferische Gewerkschafter, die eng mit der SPD verbunden waren. Aus Furcht, diese Genossen durch eine einseitige Parteinahme in den gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen vor den Kopf zu stoßen, aber vor allem aus einer eigenen Unklarheit über das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und politischen Kampf der Arbeiterklasse hatte sich die Führung Sozialdemokratie lange zurückgehalten. Erst 1908 sollten die Mitglieder der FVDG von der Führung der SPD definitiv fallen gelassen werden.

Im Mai 1897 entstand ein erster und nun auch erklärtermaßen selbständig organisierter, 6.800 Mitglieder starker[7] Vorläufer des zukünftigen Syndikalismus in Deutschland - oder, präziser, jene Organisation, die in den folgenden Jahren den Weg zum Syndikalismus in Deutschland einschlagen sollte. Mit der Gründung als nationaler Gewerkschaftszusammenschluss ging eine historische Spaltung der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung einher. Die „Lokalisten" erklärten auf dem „1. Kongress der lokal organisierten Gewerkschaften Deutschlands" in Halle ihre organisatorische Selbständigkeit. Den Namen „Freie Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG"[8] legten sie sich aber erst im September 1901 zu. Ihr nun neu gegründetes Presseorgan Die Einigkeit sollte bis zum Verbot der FVDG bei Kriegsbeginn 1914 bestehen.

Weiterhin Hand in Hand mit der Sozialdemokratie?

Auf welchem Verständnis bezüglich des politischen Kampfes der Arbeiterklasse und des Verhältnisses zur Sozialdemokratie sich die FVDG gründete, drückt am deutlichsten die bekannte, von Gustav Kessler ausgearbeitete Resolution des Kongresses von 1897 aus:

„1. Eine Trennung der gewerkschaftlichen Bewegung von der bewussten sozialdemokratischen Politik ist unmöglich, ohne den Kampf um die Verbesserung der Lage der Arbeiter auf dem Boden der heutigen Ordnung aussichtslos zu machen und zu lähmen.

2. Dass die Bemühungen, von welcher Seite sie auch kommen mögen, den Zusammenhang mit der Sozialdemokratie zu lockern oder zu durchbrechen, als arbeiterfeindlich zu betrachten sind.

3. Dass Organisationsformen der gewerkschaftlichen Bewegung, die sie in dem Kampf um die politischen Ziele hindern, als fehlerhaft und verwerflich zu betrachten sind. Der Kongress sieht in der Form der Organisation, die sich die sozialdemokratische Partei Deutschlands auf dem Kongress zu Halle 1890 gegeben hat, mit Rücksicht auf die bestehende Vereinsgesetzgebung auch für die gewerkschaftliche Organisation die zweckmässiste und beste Einrichtung zur Verfolgung aller Ziele der Gewerkschaftsbewegung."[9]

In diesen Zeilen drückten sich die Verteidigung politischer Anliegen der Arbeiterklasse und eine starke Bindung zur Sozialdemokratie als „Schwesterorganisation" aus. Die Verbindung mit der Sozialdemokratie wurde als die Brücke zur Politik verstanden. Die Gründung der FVDG war demnach auf programmatischer Ebene nicht etwa eine Absage gegenüber dem Geist des Klassenkampfes, den schon Marx verteidigt hatte, oder gar eine Absage an den Marxismus im Allgemeinen, sondern ein Versuch, diesen Geist aufrechtzuerhalten. Das formulierte Anliegen der FVDG, den „Kampf um die politischen Ziele" nicht den Händen der Arbeiter zu entreißen, war die wesentliche Stärke in ihrer Gründungszeit.

Wie stark die politische Bindung zur Sozialdemokratie war, zeigte die Debatte auf dem „4. Kongress der Vertrauensmänner-Zentralisation" in Mai 1900. Die FVDG zählte damals knapp 20.000 Mitglieder.  Kessler stellte gar die Forderung auf, Gewerkschaften und Partei wiederzuvereinen, die auch in eine Resolution aufgenommen wurde: „Die politische und die gewerkschaftliche Organisation müssen sich also wiedervereinigen. Das kann nicht auf einmal geschehen, denn Umstände, die sich historisch entwickelt haben, haben ein Recht zu bestehen; wohl aber haben wir die Pflicht, diese Vereinigung vorzubereiten, indem wir die Gewerkschaften geeignet machen, Träger des sozialistischen Gedankens zu bleiben. (...) Wer davon überzeigt ist, dass der gewerkschaftliche und der politische Kampf ein Klassenkampf ist, dass er in der Hauptsache nur geführt werden kann durch das Proletariat selbst, der ist uns Genosse und mit uns auf demselben Boot" [10].

Wenngleich hinter diesem Standpunkt, sich einerseits nicht nur auf den ökonomischen Kampf zu beschränken und sich andererseits an die größte politische Organisation der deutschen Arbeiterklasse, die SPD, zu binden, ein gesundes Anliegen steckt, so lässt sich jedoch hier bereits im Keim deutlich die spätere Konfusion des Syndikalismus in Sachen „Einheitsorganisation" erkennen. Eine Idee, die sich in Deutschland erst Jahre später, ab 1919, nicht nur im Syndikalismus, sondern vor allem in den „Arbeiterunionen" manifestieren sollte. Die von der FVDG noch in der Resolution von 1900 angestrebte Vision eines gemeinsamen Kampfes mit der Sozialdemokratie sollte aber schon im selben Jahr vor eine harte Zerreißprobe gestellt werden.

Der „Hamburger Gewerkschaftsstreit"

Als 1900 in Hamburg der Zentralverband der Gewerkschaften mit den Unternehmern einen Vertrag zur Aufhebung der Akkordarbeit abschloss, sperrte sich ein Teil der Akkordmaurer dagegen. Sie nahmen die Arbeit wieder auf und wurden, des Streikbruchs bezichtigt, aus dem gewerkschaftlichen Zentralverband ausgeschlossen. Daraufhin schlossen sich die Akkordmaurer der FVDG an. Die Hamburger SPD forderte den sofortigen Ausschluss dieser Arbeiter aus der Partei; ein Schiedsgericht der SPD lehnte dies aber ab.

Wenn Rosa Luxemburg die Entscheidung des Schiedsgerichts, die Hamburger FVDG-Maurer nicht aus der SPD auszuschließen, verteidigte, dann nicht, weil sie etwa der FVDG politisch nahestand, sondern weil sie in ihrem Kampf gegen den Reformismus darum bestrebt war, das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und politischen Kampf der Arbeiterklasse zu klären. Sie forderte zwar, wegen des Streikbruchs „den Akkordmaurern eine scharfe Rüge zu erteilen"[11], wies aber den bürokratischen und formalistischen Standpunkt heftig zurück, einen Streikbruch als Grund für den sofortigen Ausschluss von Arbeitern aus der Partei gelten zu lassen. Der sozialdemokratische gewerkschaftliche Zentralverband selbst hatte sich in Konfrontationen mit der FVDG mehrmals des Mittels des Streikbruchs bedient! Die SPD sollte Luxemburgs Ansicht nach nicht zu einer „Prügelkammer" der Gewerkschaften werden. Die Partei richte nicht über die Arbeiterklasse.

Rosa Luxemburg erkannte, dass hinter dieser heftigen gewerkschaftlichen Affäre um die Hamburger Akkordmaurer viel zentralere Fragen verborgen waren. Dieselben Fragen, die im Kern auch in den Vorstellungen innerhalb der FVDG zur „Wiederverschmelzung" von Partei und gewerkschaftlicher Massenorganisation enthalten waren: die Unterscheidung zwischen einer politischen revolutionären Organisation einerseits und der organisatorischen Form, welche sich die Arbeiterklasse in Zeiten des offenen Klassenkampfes zu geben hat, andererseits: „In der Praxis würde es aber in erster Linie zu einer Verschmelzung der politischen und wirtschaftlichen Organisation der Arbeiterklasse führen, bei welchem Durcheinander beide Kampfformen verlören und ihre geschichtlich entstandene und bedingte äußere Trennung und Arbeitsteilung rückgängig gemacht würde"[12].

Wenn  Luxemburg 1900, wie die gesamte Arbeiterbewegung damals, den Horizont der traditionellen gewerkschaftlichen Organisierung der Arbeiterklasse noch nicht überschreiten konnte und die Gewerkschaften als die großen Organisationen des wirtschaftlichen Klassenkampfes betrachtete, lag dies daran, dass die Arbeiterklasse erst in den folgenden Jahren mit der Aufgabe konfrontiert wurde, den Massenstreik und die Arbeiterräte hervorzubringen  - die revolutionären Schmelztiegel zur Verbindung von ökonomischem und politischem Kampf.

Eine Vereinigung des Kampfes der Arbeiterklasse, die in Deutschland in verschiedenste Gewerkschaften zersplittert war, war tatsächlich historisch notwendig. Doch sie konnte weder durch eine formalistische Instrumentalisierung der Parteiautorität zur Disziplinierung der Arbeiter, wie es die Zentralverbände wollten, noch durch die Vision von „Einheitsorganisationen" erreicht werden, die die Notwendigkeit einer politischen Partei unterschätzte, eine Idee, die in den Reihen der FVDG zu wachsen begann. Nicht „eine große Gewerkschaft" konnte das Rätsel lösen, sondern nur die Vereinigung der Arbeiterklasse im Klassenkampf selbst. Der Parteitag der SPD in Lübeck 1901 lehnte es auf Druck Luxemburgs zwar noch formell ab, Schiedsrichter zwischen dem gewerkschaftlichen Zentralverband und der FVDG zu spielen. Er nahm aber gleichzeitig die „Sonderbunds-Resolution" Bernsteins an, die künftigen gewerkschaftlichen Abspaltungen mit einem Parteiausschluss drohte. Die SPD begann sich damit deutlich von der FVDG zu distanzieren.

Die FVDG litt in den Jahren 1900/01 auch unter zunehmenden internen Spannungen, die sich hauptsächlich um die Frage der gegenseitigen finanziellen Unterstützung durch eine einheitliche Streikkasse drehten. Es manifestierten sich starke eigenbrötlerische Tendenzen und ein Mangel an solidarischem Geist in den eigenen Reihen. Das Beispiel der Solinger Federmesserschneider-Gewerkschaft, die lange Zeit von der Geschäftskommission der FVDG finanzielle Unterstützung erhalten hatte, aber sofort mit dem Austritt drohte, als sie selbst für andere Streiks finanziell um Hilfe gebeten wurde, ist bezeichnend dafür.

Vom Januar 1903 bis März 1904 fanden auf Initiative und Druck der SPD schleppende Verhandlungen zwischen der FVDG und dem gewerkschaftlichen Zentralverband statt, mit dem Ziel, die FVDG wieder in den Zentralverband zu integrieren. Die Verhandlungen scheiterten. Innerhalb der Geschäftskommission der FVDG lösten diese Einigungsverhandlungen heftige Spannungen aus, insbesondere zwischen Fritz Kater, der die spätere klar syndikalistische Tendenz repräsentierte, und Hinrichsen, der schlicht dem Druck der Zentralverbände nachgab. Es machte sich eine enorme Verunsicherung unter den organisierten Arbeitern breit. Ca. 4.400 Mitglieder der FVDG (mehr als 25 Prozent) traten 1903/04 in den Zentralverband über! Die misslungenen und in großem gegenseitigem Misstrauen geführten Einigungsverhandlungen führten zu einer empfindlichen personellen Schwächung der FVDG und stellten das erste Kapitel ihres historischen Bruchs mit der SPD dar.

Schlussfolgerung

Bis ins Jahr 1903 steht den „Lokalisten" und der FVDG in Deutschland das Verdienst zu, das gesunde Bedürfnis der Arbeiter auszudrücken, die politischen Fragen nicht als ausschließliche Parteisache zu verstehen. Sie stemmten sich damit gegen den Reformismus und seine Delegierung der Politik an die Parlamentarier. Die FVDG war eine stark politisch motivierte und sehr kämpferische, aber heterogene und komplett auf dem gewerkschaftlichen Terrain verhaftete proletarische Bewegung. Als lockerer Verbund kleiner gewerkschaftlicher Berufsverbände konnte sie die Rolle einer politischen Organisation der Arbeiterklasse selbstverständlich nicht übernehmen. Um ihrem „Drang nach Politik" gerecht zu werden, hätte sie sich stärker dem revolutionären linken Flügel innerhalb der SPD annähern müssen.

Überdies zeigt die Geschichte der „Lokalisten" und der FVDG, dass es vergeblich ist, nach einer exakten Geburtsstunde des deutschen Syndikalismus zu suchen. Vielmehr handelte es sich um einen jahrelangen Ablösungsprozess einer proletarischen Minderheit aus dem Schoß der Sozialdemokratie und der sozialdemokratischen Gewerkschaften.

Die unmittelbar vor der Tür stehende Herausforderung zur Frage des Massenstreiks sollte ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung des Syndikalismus in Deutschland werden. Der nächste Artikel wird mit der Auseinandersetzung um den Massenstreik beginnen und anschließend die Geschichte der FVDG von ihrem endgültigen Bruch mit der SPD 1908 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges betrachten.

 

Mario, 27.10.2008

 



[1] Volksstaat war das Organ der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, die „Eisenacher" Richtung, unter der Führung Wilhelm Liebknechts und August Bebels.

 

[2] Engels an August Bebel, 18./28. März 1875, MEW, Bd.34, S.128

 

[3] siehe dazu unsere Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse

 

[4] Instruktionen für die Delegierten des Zentralrates, 1866, MEW, Bd. 16, S.197

 

[5] Anton Pannekoek: "Der deutsche Syndikalismus" 1913.

 

[6] Fritz Kater: „Fünfundzwanzig Jahre Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Syndikalisten), Der Syndikalist, 1922, Nr. 20

 

[7] „Rudolf Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten", Suhrkamp, S. 288

 

[8] siehe auch: www.syndikalismusforschung.info/museum.htm [20]

 

[9] Der große gewerkschaftliche Zentralverband bezeichnete sich offiziell als „Freie Gewerkschaften". Die sprachliche Nähe zur „Freien Vereinigung" führt oft zu Verwechslungen.

 

[10] aus W. Kulemann: „Die Berufsvereine", Bd. 2, Jena 1908, Seite 46

 

[11] Protokoll der FVDG, zitiert aus D. H. Müller „Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte" 1985, S. 159

 

[12] Rosa Luxemburg: „Der Parteitag und der Hamburger Gewerkschaftsstreit", Ges. Werke, Bd.1/2, Seite 117.

 

Geographisch: 

  • Deutschland [21]

Historische Ereignisse: 

  • Syndikalismus [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [23]

Geschichte der Arbeiterbewegung: Was ist revolutionärer Syndikalismus?

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Schon seit 1968, aber besonders seit dem Zusammenbruch des Ostblocks haben viele, die für die Revolution wirken wollen, den Erfahrungen der Russischen Revolution und der 3. Internationale den Rücken gekehrt, um in einer anderen Tradition nach Lehren für den Kampf und die Organisation des Proletariats zu suchen: im „revolutionäre Syndikalismus" (gelegentlich bekannt als „Anarcho-Syndikalismus"). [1]

Diese Strömung tauchte Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts auf und spielte in einigen Ländern bis in die 30er Jahre hinein eine wichtige Rolle. Ihr Hauptkennzeichen war die Ablehnung (oder zumindest die beträchtliche Unterschätzung) der Notwendigkeit für das Proletariat, eine politische Partei zu schaffen, ob für den Kampf innerhalb des Kapitalismus oder für den revolutionären Sturz des Kapitalismus: Die Gewerkschaft wurde als die einzige in Frage kommende Organisationsform betrachtet. Tatsächlich entspringt das Vorgehen jener, die sich der syndikalistischen Tradition zuwenden, größtenteils der Diskreditierung, die die eigentliche Idee einer politischen Organisation infolge der Erfahrungen aus dem Stalinismus erlitten hat: erst die brutale Repression in der UdSSR selbst, schließlich die Repression der Arbeiteraufstände in Ostdeutschland und in Ungarn in den 50er Jahren, die Okkupation der Tschechoslowakei 1968, die Sabotage der Arbeiterkämpfe im Mai 1968 durch die französische KP und dann die Repression gegen die polnischen Arbeiterkämpfe zu Beginn der 70er Jahre, etc. Diese Situation verschlimmerte sich nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 durch eine widerwärtige Kampagne der Bourgeoisie, die das Ziel verfolgte, den Stalinismus mit dem Bankrott des Kommunismus und mit dem Marxismus gleichzusetzen und dabei zum großen Schlag gegen jegliche Idee einer politischen Umgruppierung auf der Grundlage marxistischer Prinzipien auszuholen.

Die Lehren der Geschichte

Eine der großen Stärken des Proletariats ist seine Fähigkeit, ständig auf seine vergangenen Niederlagen und Irrtümer zurückzukommen, um sie zu verstehen und die entsprechenden Lehren daraus zu ziehen, die sie für den gegenwärtigen und zukünftigen Kampf beinhalten. Wie Marx sagte: „Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche (...)" (Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, S. 118). Die Erfahrung des revolutionären Syndikalismus in der Arbeiterbewegung ist keine Ausnahme von dieser Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung, um seine Lehren zu begreifen. Um so zu verfahren, müssen wir die syndikalistischen Ideen und Handlungen in ihren historischen Kontext stellen, denn nur dies gestattet uns, ihre Ursprünge innerhalb der Geschichte der Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit zu lokalisieren.

Daher haben wir uns entschlossen, eine Artikelreihe (mit diesem Artikel als Einleitung) über die Geschichte des revolutionären Syndikalismus und des Anarchosyndikalismus in Angriff zu nehmen. Wir wollen versuchen, Antworten auf folgende Fragen zu geben:

Welche Prinzipien und Methoden zeichnen die syndikalistische Strömung aus?

-   Hat der Syndikalismus irgendwelche gültigen Lehren für den historischen Kampf der Arbeiterklasse hinterlassen?

-   Welche Schlussfolgerungen können wir aus seinen Treuebrüchen, besonders 1914 (ein Teil der französischen CGT nahm seit Kriegsbeginn an der nationalen Regierung des „Burgfriedens" teil) und 1937 (Beteiligung der spanischen CNT an den Regierungen sowohl der katalanischen Generalidad als auch der Madrider Republik während des Bürgerkriegs), ziehen?

-   Hat der Syndikalismus der Arbeiterklasse von heute eine Perspektive anzubieten?

Grundlage unserer Entgegnung auf die konkrete Erfahrung des Syndikalismus durch die Arbeiterklasse ist die Analyse einiger wichtiger Episoden im Leben des Proletariats:

-   die Geschichte der französischen Confédération Générale du Travail (CGT), die seit ihrer Bildung vor dem Krieg von 1914-18 von den Anarchosyndikalisten stark beeinflusst, wenn nicht gar dominiert wurde;

-   die Geschichte der Industrial Workers of the World (IWW) in den Vereinigten Staaten bis in die 1920er Jahre;

-   die Geschichte der Shop Steward-Bewegung in Großbritannien vor und während des I. Weltkrieges;

-   die Geschichte der spanischen Confederación National del Trabajo (CNT) während der revolutionären Welle nach der Russischen Revolution und bis zu ihrem Zusammenbruch im Bürgerkrieg 1936/37.

-   Schließlich wollen wir mit einer Untersuchung der konkreten Realität des Syndikalismus heute und jener Strömungen schließen, die dieser Tradition anzugehören behaupten.

Ziel dieser Reihe ist es nicht, eine detaillierte Chronologie der verschiedenen syndikalistischen Organisationen anzufertigen, sondern zu demonstrieren, dass sich die Prinzipien des Syndikalismus als Kompass für den Emanzipationskampf des Proletariats nicht nur als ungeeignet erwiesen haben, sondern unter bestimmten Umständen sogar dazu beigetragen haben, Letzteres auf das Terrain der Bourgeoisie zu locken. Diese historische, materialistische Vorgehensweise wird den profunden Unterschied zwischen Anarchismus und Marxismus aufzeigen, der sich besonders in ihrer unterschiedlichen Haltung gegenüber dem Verrat offenbarte, der sowohl innerhalb der sozialistischen Bewegung als auch innerhalb der anarchistischen Bewegung begangen worden war.

Viele Anarchisten zögern nie, auf den schlimmen Verrat der sozialistischen und kommunistischen Bewegung hinzuweisen: die Beteiligung der sozialdemokratischen Parteien am Krieg von 1914-18 und die stalinistische Konterrevolution in den 20er und 30er Jahren. Sie behaupten, dass dies das unvermeidliche Resultat des „autoritären" Erbes von Marx, Lenin und Stalin sei, kurz: eine „Erbsünde", womit sie vollkommen mit der ganzen bürgerlichen Propaganda über den „Tod des Kommunismus" übereinstimmen. Ganz anders verhalten sie sich jedoch, wenn es um die eigenen, anarchistischen Treuebrüche geht: Weder der anti-deutsche Patriotismus von Kropotkin oder James Guillaume 1914 noch die treue Unterstützung der Regierung des Burgfriedens während des Krieges von 1914-18 durch die französische CGT oder die Beteiligung der spanischen CNT an den bürgerlichen Regierungen der spanischen Republik kann in ihren Augen die „ewigen" Prinzipien des Anarchismus in Frage stellen.

Im Gegensatz dazu wurde der Verrat in der marxistischen Bewegung stets von der Linken bekämpft und erklärt. [2] Der Kampf der Linken beschränkte sich niemals auf ein bloßes „Erinnern" an die marxistischen Prinzipien. Er war immer auch ein praktisches und theoretisches Bestreben, zu verstehen und aufzuzeigen, wo die Ursprünge des Verrats liegen, dass er mit Veränderungen in der historischen, materiellen Situation des Kapitalismus erklärt werden kann und vor allem dass die veränderte Lage die Kampfmethoden obsolet gemacht hat, welche sich bis dahin als geeignete Mittel im Kampf der Arbeiterklasse erwiesen hatten.

Es gibt nichts Gleichartiges unter den Anarchisten und Anarchosyndikalisten, die ihren Prinzipien nach wie vor einen ewigen, rein moralischen Wert, bar jeden historischen Inhalts, beimessen. Im Angesicht eines „Verrats" gäbe es nichts anderes zu tun, als dieselben ewigen Werte zu beschwören; daher hat die anarchistische Bewegung, anders als der Marxismus, nie beständige linke Fraktionen produziert (ausnahme bildeten aber internationalistische AnarchistInnen wie Emma Goldman, Alexander Berkmann und andere in England welche angesicht des Kriges die Positionen Kropotkin offen und vehement kritisierten). Daher versuchten auch die wirklichen Revolutionäre in der syndikalistischen Bewegung Frankreichs von 1914 (um Rosmer und Monatte) nicht, eine linke Strömung innerhalb der syndikalistischen Bewegung zu bilden, sondern wandten sich stattdessen dem Bolschewismus zu.

Der historische Kontext

Wie wir oben gesehen haben, steht im Mittelpunkt der Divergenzen zwischen der revolutionären syndikalistischen Bewegung und dem Marxismus die Frage der Organisationsform, der die Arbeiterklasse für ihren Kampf gegen den Kapitalismus bedarf. Tatsächlich konnte diese Frage nicht im Handumdrehen begriffen werden. Das Proletariat ist die revolutionäre Klasse, deren historische Aufgabe der Sturz des Kapitalismus ist; das bedeutet nicht, dass sie völlig ausgereift in die kapitalistische Gesellschaft fiel, wie Athena aus dem Haupt von Zeus. Im Gegenteil, die Arbeiterklasse musste sich ihr Bewusstsein durch enorme Anstrengungen und oft bittere Niederlagen erkämpfen. Von Anfang an hatte sich das Proletariat auf dem langen Weg zu seiner Emanzipation mit zwei fundamentalen Erfordernissen konfrontiert gesehen:

-   die Notwendigkeit für alle ArbeiterInnen, bei der Verteidigung ihrer Interessen (zunächst im Kapitalismus, dann für seinen Sturz) kollektiv zu kämpfen;

-   die Notwendigkeit, ihr Denken auf die allgemeinen Ziele ihres Kampfes und auf die Frage zu lenken, wie diese erreicht werden können.

In der Tat war die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert vom ständigen Bemühen gekennzeichnet, die geeignetsten Organisationsformen zu finden, um diesen beiden fundamentalen Notwendigkeiten gerecht zu werden, konkret: sowohl eine allgemeine Organisation, die alle ArbeiterInnen im Kampf um sich sammelte, als auch eine politische Organisation zu entwickeln, deren wesentliche Aufgaben darin bestand, diesen Kämpfen eine klare Perspektive zu verleihen.

Die Periode von den ersten Manifestationen der Arbeiterklasse bis zur Pariser Kommune zeichnete sich durch eine ganze Reihe von Bemühungen um eine proletarische Organisation aus; Bemühungen, die im Allgemeinen stark von der spezifischen Geschichte der Arbeiterbewegung in jedem einzelnen Land beeinflusst waren. In dieser Zeit bestand eine der Hauptaufgaben der Arbeiterklasse und ihrer organisatorischen Bemühungen noch in ihrer Behauptung als eine spezifische Klasse, die zwar getrennt ist von den anderen Klassen der Gesellschaft (die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum), mit denen sie aber noch immer gelegentlich gemeinsame Ziele teilte (wie den Sturz der feudalen Ordnung).

In diesem historischen Kontext, der von der Unreife eines sich in der Entwicklung befindlichen und unerfahrenen Proletariats gekennzeichnet war, fanden diese beiden elementaren Bedürfnisse der Arbeiterklasse ihren Ausdruck in Organisationen, die entweder dazu neigten, sich der Vergangenheit zuzuwenden (wie die französischen „compagnons", die auf das feudale System der Gilden zurückblickten), oder sie versäumten es, die Notwendigkeit einer allgemeinen Klassenorganisation zu verstehen, um die kapitalistische Ordnung zu bekämpfen, trotz ihrer wirksamen, radikalen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft. So waren die ersten politischen Organisationen des Proletariats häufig von einer „sektiererischen" Vision charakterisiert, die die Revolution nicht als eine Aufgabe der gesamten Klasse betrachtete, sondern als die Tat einer Minderheit von Verschwörern, die die Macht in einem Staatsstreich ergreifen würden, um sie danach in die Hände des Volkes zu legen. Aus dieser Tradition kommen solch große Gestalten der Arbeiterbewegung wie Gracchus Babeuf und Auguste Blanqui. In derselben Zeit arbeiteten die utopischen Sozialisten (am bekanntesten Fourier und Saint-Simon in Frankreich und Robert Owen in Großbritannien) ihre Pläne für eine zukünftige Gesellschaft aus, die die kapitalistische Gesellschaft, die sie gnadenlos und oft mit großer Einsicht anprangerten, ersetzen sollte.

Die ersten Massenorganisationen der Arbeiterklasse drückten oftmals sowohl die Tendenz zu einer illusorischen Rückkehr in die Vergangenheit als auch gelegentlich eine Vorahnung des Klassenschicksals aus, das weit über ihre damaligen Fähigkeit hinausging: Einerseits drückten zum Beispiel die klandestinen Gewerkschaftsorganisationen in Großbritannien Ende des 18. Jahrhunderts (die unter dem Namen „Army of Redressers", unter dem Kommando des mythenumrankten Generals Ludd, bekannt waren) häufig eine Sehnsucht der ArbeiterInnen nach einer Rückkehr zu ihrem handwerklichen Status aus. Andererseits treffen wir zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Grand National Consolidated Union [3], deren Ziel es war, die verschiedentlichen korporatistischen Bewegungen in einem revolutionären Generalstreik zu vereinen - eine utopische Vorwegnahme der Sowjets, die erst ein Jahrhundert später gebildet werden sollten.

Die Bourgeoisie erkannte sehr früh die Gefahr, welche die Massenorganisation der ArbeiterInnen für sie darstellte: 1793, inmitten der Französischen Revolution, verbot das „Loi Chapelier" alle Arten von Arbeiterassoziationen, einschließlich simpler Freundschaftsvereine zum gegenseitigen wirtschaftlichen Beistand in Zeiten der Arbeitslosigkeit oder Krankheit.

Mit seiner Weiterentwicklung behauptete sich das Proletariat immer mehr als autonome Klasse im Verhältnis zu den anderen Klassen der Gesellschaft. Im britischen Chartismus erblicken wir sowohl das Embryo der politischen Klassenpartei als auch die erstmalige Abtrennung des Proletariats vom radikalen Kleinbürgertum. Die Welle von Kämpfen, die in der Niederlage der Revolutionen von 1848 (und somit auch des Chartismus) endeten, hat uns die im Kommunistischen Manifest Eingang gefundenen Prinzipien hinterlassen. Dennoch sollte die Idee einer wirklich politischen Partei des Proletariats erst später aufkommen, nachdem die Erste Internationale in den 1860er Jahren die Merkmale sowohl der politischen Partei als auch der Einheitsorganisationen der Massen kombiniert hatte.

Die Pariser Kommune von 1871, gefolgt vom Haager Kongress der Ersten Internationale 1872, markierte einen Wendepunkt in der Entwicklung der Arbeiterorganisationen. Die Fähigkeit der arbeitenden Massen, über die konspiratorische Praxis der Blanquisten hinauszugehen, wurde deutlich von ihrer Organisationskapazität demonstriert, sowohl beim Erfolg der ökonomischen Kämpfe der in der Internationalen Arbeiterassoziation organisierten Arbeiter als auch bei der Schaffung der Kommune, der ersten Arbeitermacht in der Geschichte. Seither blieben lediglich die Anarchisten mit ihrer Ideologie der „exemplarischen Aktion", insbesondere die Anhänger Bakunins [4], Adepten der Konspiration einer winzigen Minderheit als Handlungsmittel. Gleichzeitig hatte die Kommune die Absurdität des Gedankens demonstriert, dass die ArbeiterInnen die politischen Aktivitäten (mit anderen Worten: unmittelbare Forderungen an den Staat und die revolutionäre Perspektive der politischen Machtergreifung) einfach ignorieren können.

Das Abebben des Kampfes und des Klassenbewusstseins nach der niederschmetternden Niederlage der Kommune bedeutete, dass diese Lehren nicht sofort gezogen werden konnten. Doch die 30 Jahre, die der Kommune folgten, erlebten eine Reifung im Verständnis des Proletariats, wie es sich organisieren muss: einerseits in den gewerkschaftlichen Organisationen zur Vertretung der ökonomischen Interessen jeder Korporation und jeden Gewerbes [5] und auf der anderen Seite in der Organisation der politischen Partei sowohl für die Vertretung der unmittelbaren allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse durch die politische Aktion im Parlament (Kämpfe zur Durchsetzung einer gesetzlichen Einschränkung der Kinder- und Frauenarbeit oder des Arbeitstages zum Beispiel) als auch für die Vorbereitung und Propaganda für das „Maximalprogramm", mit anderen Worten: für den Sturz des Kapitalismus und die sozialistische Umwandlung der Gesellschaft.

Weil der Kapitalismus sich in seiner Gesamtheit immer noch im Aufstieg befand - was merklich durch eine nie dagewesene Expansion der Produktivkräfte demonstriert wurde (die letzten 30 Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten eine Expansion und Ausweitung der kapitalistischen Produktivkräfte weltweit) -, war es der Arbeiterklasse noch möglich, der Bourgeoisie dauerhafte Reformen abzuringen[6]. Der Druck auf die bürgerlichen Parteien innerhalb des parlamentarischen Rahmens ermöglichten die Annahme von arbeiterfreundlichen Gesetzen sowie die Rücknahme der anti-sozialistischen Gesetze, die die Organisierung der ArbeiterInnen in Gewerkschaften und politischen Parteien verboten hatten.

Doch erwies sich der Erfolg der Arbeiterparteien im Kapitalismus auch als äußerst tückisch. Die reformistische Strömung behauptete, dass diese Situation endgültig sei - eine Situation, in der der Einfluss der Arbeiterorganisationen, der sich auf der Grundlage von für die Arbeiterklasse errungenen Reformen entwickelt hatte, unübersehbar war -, obwohl er tatsächlich bloß temporärer Natur war. Die Reformisten, für die „die Bewegung alles, das Ziel nichts" war, fanden ihren Hauptausdruck Ende des 19. Jahrhunderts, abhängig vom Land, entweder in den politischen Parteien oder in den Gewerkschaften. So wurde in Deutschland der Versuch der Strömung um Bernstein, eine opportunistische Politik, die sich vom revolutionären Ziel abwenden sollte, offiziell zur Parteipolitik zu küren, energisch vom linken Flügel in der sozialdemokratischen Partei um Rosa Luxemburg und Anton Pannekoek bekämpft. Dagegen gewann die revisionistische Strömung viel leichter in den großen deutschen Gewerkschaftsorganisationen einen starken Einfluss. In Frankreich verhielt es sich genau umgekehrt; die sozialistische Partei war viel stärker als in Deutschland von der reformistischen und opportunistischen Ideologie gezeichnet. Dies wurde durch die Einbeziehung des sozialistischen Ministers Alexandre Millerand [7] in der Regierung Waldeck-Rousseau 1899-1901 demonstriert. Diese Regierungsbeteiligung wurde von der gesamten Sozialdemokratie auf den Kongressen der Zweiten Internationale abgelehnt, jedoch nur unter Schwierigkeiten (und für einige mit großen Bedauern) von den französischen Sozialisten rückgängig gemacht. Es ist daher kein Zufall, dass beim Bruch mit den Arbeiterorganisationen, die zum Feind übergelaufen waren (die sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften), die internationalistische Linke aus der deutschen Partei (die Spartakus-Gruppe um Luxemburg und Liebknecht) und aus den französischen Gewerkschaften (die u.a. von Rosmer, Monatte und Merrheim repräsentierte internationlistische Tendenz) hervorkam.

Allgemein betrachtet, war der Opportunismus am präsentesten in den Parlamentsfraktionen der sozialistischen Parteien und in dem ganzen Apparat, der in der Parlamentstätigkeit involviert war. Dieser Apparat übte dabei eine große Anziehungskraft auf all jene karrieristischen Elemente aus, die der Partei in der Hoffnung beigetreten waren, vom wachsenden Einfluss der Arbeiterbewegung zu profitieren, und die natürlich kein Interesse am revolutionären Sturz der herrschenden Ordnung hatten. Folglich gab es eine Tendenz in der Arbeiterklasse, die die politische Arbeit mit parlamentarischer Aktivität, parlamentarische Tätigkeit mit Opportunismus und Karrierismus, den Karrierismus mit der kleinbürgerlichen Intelligentsia von Anwälten und Journalisten und schließlich den Opportunismus mit dem eigentlichen Begriff der politischen Partei identifizierte.

Angesichts der Entwicklung des Opportunismus bestand die Antwort vieler revolutionärer ArbeiterInnen darin, die politische Tätigkeit als solche abzulehnen und sich in die Gewerkschaften zurückzuziehen. Und wie wir sehen werden, war es das Ziel der revolutionären syndikalistischen Bewegung als originäre Strömung in der Arbeiterklasse, Gewerkschaften aufzubauen, die die Einheitsorgane der Arbeiterklasse bilden und in der Lage sein sollten, Letztere für die Vertretung ihrer ökonomischen Interessen zu sammeln, sie auf den Tag vorzubereiten, an dem sie mittels des Generalstreiks die Macht ergreift, und die als organisatorische Struktur für die künftige kommunistische Gesellschaft dienen. Diese Gewerkschaften sollten Klassengewerkschaften sein, frei vom Karrierismus einer Intelligentsia, die die Arbeiterbewegung benutzen wollte, um sich selbst auf parlamentarischen Bänken Platz zu verschaffen, und unabhängig von allen politischen Parteien - wie die französische CGT 1906 auf dem Kongress von Amiens betonte.

Kurz, so wie Lenin sagte: „In Westeuropa war der revolutionäre Syndikalismus in vielen Ländern das direkte und unvermeidliche Resultat des Opportunismus, des Reformismus, des parlamentarischen Kretinismus. Bei uns verstärkten die ersten Schritte der „Dumatätigkeit" ebenfalls in gewaltigem Masse den Opportunismus, es kam dahin, dass die Menschewiki vor den Kadetten auf dem Bauche krochen. (...) Der Syndikalismus muss sich, als Reaktion auf das schändliche Treiben „hervorragender" Sozialdemokraten, zwangsläufig auf russischem Boden entwickeln." [8].

Die Hauptcharakteristiken der syndikalistischen Strömungen

Was war schließlich der revolutionäre Syndikalismus, dessen Entwicklung Lenin voraussah? Zunächst teilten seine verschiedenen Komponenten eine gemeinsame Vision dessen, was eine Gewerkschaft sein sollte. Um diese Konzeption zusammenzufassen, können wir nichts Besseres tun, als die Präambel der zweiten Konstituierung der International Workers of the World (IWW) zu zitieren, die 1908 in Chicago verabschiedet wurde: „Die historische Mission des Proletariates ist die Überwindung des Kapitalismus [9]. Die Masse der Produzenten muss nicht nur für den täglichen Kampf gegen die Kapitalisten organisiert werden, sondern auch um die Produktion in die eigenen Hände zu nehmen, wenn der Kapitalismus überwunden werden soll. Indem wir uns in der Industrie organisieren formen wir die Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der alten" [10].

Die Gewerkschaft soll also die Einheitsorganisation der Klasse zur Verteidigung ihrer unmittelbaren Interessen, für die revolutionäre Machtergreifung und für die Organisation der künftigen kommunistischen Gesellschaft sein. Gemäß dieser Sichtweise ist die politische Partei bestenfalls irrevelant (Bill Haywood behauptete, dass die IWW ein „Sozialismus im Blaumann" seien) und schlimmstenfalls eine Brutstätte für Bürokraten.

Es gibt zwei Kritiken an dieser syndikalistischen Sichtweise zu üben, auf die wir später noch detaillierter eingehen werden.

Die erste betrifft die Idee, dass es möglich sei „die Struktur der neuen Gesellschaft innerhalb der alten" zu bilden. Diese Idee, wonach es möglich sei, mit dem Aufbau der neuen Gesellschaft innerhalb der alten zu beginnen, entspringt einer tiefgehenden Unkenntnis über das Ausmaß der Antagonismen zwischen dem Kapitalismus, der letzten ausbeutenden Gesellschaft, und der klassenlosen Gesellschaft, die ihn ersetzen soll. Dieser schwerwiegende Irrtum verleitet zur Unterschätzung des Ausmaßes der gesellschaftlichen Umwandlung, das notwendig ist, um den Übergang zwischen diesen beiden Gesellschaftsformationen zu bewerkstelligen, und er unterschätzt auch den Widerstand der herrschenden Klasse gegen die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse.

Jeglicher Gedanke, dass es möglich ist, willkürlich eine Abkürzung zu finden und somit die unvermeidlichen Zwänge zu umgehen, die der Übergang vom Kapitalismus zur klassenlosen Gesellschaft erfordert, spielt in der Tat in die Hände solch reaktionärer Auffassungen wie die Selbstverwaltung (in Wahrheit: Selbstausbeutung) oder der Aufbau des Sozialismus in einem Land, was Stalin besonders am Herzen lag. Wenn heutige Anarcho-Syndikalisten die Bolschewiki beschuldigen, keine radikalen Maßnahmen bei der gesellschaftlichen Umwandlung im Oktober 1917 durchgesetzt zu haben, als die ökonomische Vorherrschaft des Kapitalismus sich noch über den ganzen Planeten erstreckte, einschließlich Russland, so enthüllen sie bloß ihre reformistische Sichtweise sowohl der Revolution als auch der neuen Gesellschaft, die die Revolution etablieren soll. Dies ist wenig überraschend, da die syndikalistische Vision tatsächlich auf den Wechsel des Eigentümers von privatem Eigentum beschränkt bleibt: Das Privateigentum der Kapitalisten wird zum Privateigentum einzelner Arbeitergruppen, da jede Fabrik, jedes Unternehmen im Verhältnis zu den anderen autonom bleibt. Diese Vision der künftigen gesellschaftlichen Umwandlung ist so beschränkt, dass sie sogar vorsieht, dass dieselben ArbeiterInnen weiter in derselben Industrie und somit unter denselben Umständen arbeiten werden.

Unsere zweite Kritik am revolutionären Syndikalismus betrifft seine völlige Ignoranz gegenüber der realen revolutionären Erfahrung der Arbeiterklasse. Für die Marxisten war die Russische Revolution von 1905 ein enorm wichtiger Moment, besonders ihre spontane Bildung von Arbeiterräten. Für Lenin waren die Sowjets „die endlich gefundene Form der Diktatur des Proletariates". Rosa Luxemburg, Trotzki, Pannekoek, im Grunde der gesamte linke Flügel der Sozialdemokratie, der später die Kommunistische Internationale bilden sollte, widmeten der Analyse dieser und auch anderer Ereignisse, wie die großen Streiks in den Niederlanden 1903, große Aufmerksamkeit. Die politische Erfahrung aus 1905 wurde durch die Propaganda der linken Strömungen der Zweiten Internationale zu einem vitalen Element im Bewusstsein der Arbeiterklasse, was im Oktober 1917 in Russland (wo die anarchistische Bewegung übrigens nur eine marginale Rolle spielte) und in der revolutionären Welle Früchte trug, die das Entstehen von Sowjets in Finnland, Deutschland und Ungarn erlebte. Die „revolutionären" Syndikalisten blieben dagegen in ihren abstrakten Schemata gefangen, die auf der Erfahrung des reformistischen Gewerkschaftskampfes in der Aufstiegsepoche des Kapitalismus beruhten und die sich als komplett inadäquat für den revolutionären Kampf im dekadenten Kapitalismus erwiesen. Es trifft zu, dass die Anarchisten gern behaupten, dass die spanische „Revolution" in Sachen gesellschaftlichen Wandels viel tiefgehender als die Russische Revolution gewesen sei. Wie wir sehen werden, ist nichts falscher als dies.

Die heutigen revolutionären Syndikalisten setzen dieselben Traditionen fort und ignorieren völlig die realen Erfahrungen aus den Arbeiterkämpfen seit 1968. Insbesondere gehen sie mit keiner Silbe auf die Tatsache ein, dass einerseits die organisatorische Form, die von den Kämpfen geschaffen wurde, nicht die Gewerkschaft, sondern die souveräne allgemeine Versammlung mit ihren gewählten und jederzeit abwählbaren Delegierten ist [11] und dass andererseits der bürgerliche Staat sich die Gewerkschaften direkt einverleibt hatte [12].

Wir haben gesehen, dass die revolutionären Syndikalisten eine gemeinsame Vision der Gewerkschaft als den Ort teilen, wo die Arbeiterklasse sich organisiert. Werfen wir nun einen Blick auf die drei Schlüsselelemente, die regelmäßig in syndikalistischen Organisationen zum Vorschein kommen und die wir detaillierter in den nächsten Artikeln untersuchen werden.

Direkte Aktion

Man mag denken, dass heute die Frage der direkten Aktion von der Geschichte beantwortet worden sei. Als der revolutionäre Syndikalismus zum ersten Mal von sich reden machte, wurde die direkte Aktion als Gegenteil zur Aktion der „Führer", mit anderen Worten: der parlamentarischen Führer der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaftsbürokraten vorgestellt. Doch seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Epoche haben die „sozialistischen" und „kommunistischen" Parteien nicht nur endgültig das Proletariat verraten; zudem bedeuten die reellen Bedingungen des Klassenkampfes, dass jede Aktion auf dem Terrain des Parlaments oder zur Eroberung politischer „Rechte" unmöglich geworden ist. In diesem Sinne ist die Debatte zwischen „direkter Aktion" und „politischer Aktion" völlig irrelevant. Manche mögen daraus folgern, dass die Geschichte die Frage geregelt habe und dass Marxisten und Anarchisten darin übereinstimmen könnten, die direkte Aktion der Arbeiterklasse im Kampf zu vertreten.

Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Frage der „direkten Aktion" steht im Mittelpunkt der Divergenzen zwischen den marxistischen und anarchistischen Auffassungen über die Rolle der revolutionären Minderheit. Für die Marxisten ist die Aktion der revolutionären Minderheit eine Tat der politischen Avantgarde der Arbeiterklasse und hat absolut nichts mit jener Art von Minderheitsaktion zu tun, die in der Nachfolge der „exemplarischen Aktion" der Anarchisten steht, welche die Tat der gesamten Arbeiterklasse durch das stellvertretende Handeln einer Minderheit ersetzen wollen. Die politischen Orientierungen, die die marxistische Organisation ihrer Klasse vorstellt, hängen stets vom Niveau des Klassenkampfes in seiner Gesamtheit ab, von der mal größeren, mal kleineren Fähigkeit des gesamten Proletariats, als Klasse gegen die Bourgeoisie zu handeln und die Prinzipien und Analysen der Kommunisten anzunehmen (um „sich die Waffe der Theorie anzueignen", wie es Marx formulierte). Der Anarchosyndikalismus dagegen bleibt infiziert von der im Kern moralischen und minoritären Vision der Anarchisten. Für diese Strömung gibt es keinen Unterschied zwischen der „direkten Aktion" der Arbeitermassen und der Aktion einer Minderheit, wie klein auch immer.

Der Generalstreik

Die Idee des Generalstreiks ist nichts Spezifisches des Anarchosyndikalismus, kommt doch dieser Begriff zum ersten Mal in den Schriften des utopischen Sozialisten Robert Owen zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor. Doch abgesehen davon ist er zu einem Hauptmerkmal der syndikalistischen Theorie geworden und kann anhand dreier Hauptaspekte dargestellt werden [13]:

-   die Fähigkeit der Arbeiterklasse, den Generalstreik erfolgreich durchzuführen, hängt vom zahlenmäßigen Wachstum und von der wachsenden Macht der (natürlich revolutionären) Gewerkschaftsorganisationen ab;

-   die Revolution ist keine Frage der Politik: In der anarchosyndikalistischen Sichtweise lähmt der Generalstreik den bürgerlichen Staat einfach, der schließlich die ArbeiterInnen bei der Umwandlung der Gesellschaft unbehelligt lässt;

-   die Theorie des Generalstreiks ist eng mit der Selbstverwaltung verknüpft, die überall in der Fabrik und am Arbeitsplatz vorgebracht wird.

In Wahrheit hat keine dieser Ideen die Prüfung der konkreten Erfahrung der Arbeiterklasse bestanden.

Zunächst einmal hat sich die Theorie, derzufolge die kontinuierliche Stärkung der Gewerkschaften der revolutionären Epoche vorausgehen werde, als völlig falsch erwiesen. Weder in der Russischen noch in der Deutschen Revolution waren die Gewerkschaften Organe des Kampfes oder der Ausübung proletarischer Macht. Im Gegenteil, sie stellten sich bestenfalls als konservative Bremse der Revolution heraus (zum Beispiel die Eisenbahnergewerkschaft in Russland, die sich der Revolution von 1917 widersetzte). In allen am I. Weltkrieg beteiligten Ländern kontrollierten die Gewerkschaften die Arbeiterklasse zugunsten des bürgerlichen Staates, um die Kriegsproduktion zu gewährleisten und jegliche Entwicklung eines Widerstandes gegen das Gemetzel zu verhindern. Diese Rolle wurde ohne Zögern auch von der Führung der anarchosyndikalistischen CGT angenommen, sobald Frankreich in den Krieg getreten war.

Das Resultat aus der Verweigerung des revolutionären Syndikalismus gegenüber der „Politik" war die Entwaffnung der ArbeiterInnen bei der Konfrontation mit diesen Fragen, die sich in den kritischen Momenten des Krieges und der Revolution unweigerlich stellten. All diese Fragen, die sich zwischen 1914 und 1936 stellten, waren politische Fragen: Worin bestand der Charakter des Krieges, der 1914 ausbrach? War er ein imperialistischer Krieg oder ein Krieg zur Verteidigung der demokratischen Rechte gegen den deutschen Militarismus? Welche Haltung sollte gegenüber der „Demokratisierung" der absolutistischen Staaten im Februar 1917 (Russland) und 1918 (Deutschland) eingenommen werden? Welche Haltung sollte gegenüber dem demokratischen Staat in Spanien 1936 eingenommen werden? War er ein bürgerlicher Feind oder ein antifaschistischer Verbündeter? In allen Fällen erwies sich der revolutionäre Syndikalismus als unfähig, Antworten zu geben; er endete schließlich in einem faktischen Bündnis mit der Bourgeoisie.

Die Erfahrung aus dem Streik in Russland 1905 stellte die Theorie in Frage, die bis dahin sowohl von den Anarchisten als auch von den Sozialdemokraten (den damaligen Marxisten) vertreten wurde. Doch nur der linke Flügel des Marxismus zeigte sich im Stande, die Lehren aus dieser eminent wichtigen Erfahrung zu ziehen. „Die russische Revolution (von 1905), dieselbe Revolution, die die erste geschichtliche Probe auf das Exempel des Massenstreiks bildet, bedeutet nicht bloß keine Ehrenrettung für den Anarchismus, sondern sie bedeute geradezu eine geschichtliche Liquidation des Anarchismus. (...) So hat die geschichtliche Dialektik, der Fels, auf dem die ganze Lehre des Marxschen Sozialismus beruht, es mit sich gebracht, dass heute der Anarchismus, mit dem die Idee des Massenstreiks unzertrennlich verknüpft war, zu der Praxis des Massenstreiks selbst in einen Gegensatz geraten ist, während umgekehrt der Massenstreik, der als der Gegensatz zu der politischen Betätigung des Proletariats bekämpft wurde, heute als die allmächtige Waffe des politischen Kampfes um politische Rechte erscheint. Wenn also die russische Revolution eine gründliche Revision des alten Standpunkts des Marxismus zum Massenstreik erforderlich macht, so ist es wiederum nur der Marxismus, dessen allgemeine Methoden und Gesichtspunkte dabei in neuer Gestalt den Sieg davontragen. Moors geliebte kann nur durch Moor selber sterben." (Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, R. Luxemburg Werke, Bd. 2, S. 95 und 97, das Zitat ist Shakespeares Stück Othello entnommen).

Internationalismus oder Antimilitarismus?

Auf dem ersten Blick mag es rein akademisch erscheinen, zwischen dem Internationalismus und dem Antimilitarismus zu unterscheiden. Muss im Grunde nicht jeder, der gegen die Armee ist, für die Brüderlichkeit zwischen den Völkern sein? Ist beides, wenn es darauf ankommt, nicht derselbe Kampf? In Wahrheit rühren diese beiden Prinzipien aus völlig unterschiedlichen Vorgehensweisen her. Der Internationalismus beruht auf dem Verständnis, dass der Kapitalismus, obwohl er ein Weltsystem ist, dennoch unfähig bleibt, über den nationalen Rahmen und der zunehmend frenetischen Konkurrenz zwischen den Nationen hinauszugehen. Insofern erzeugt er eine Bewegung, die auf den internationalen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft durch eine Arbeiterklasse abzielt, die ebenfalls international vereint ist. Seit 1848 war der Hauptschlachtruf nicht antimilitaristisch gewesen, sondern stets internationalistisch: „Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!" (Kommunistisches Manifest) Doch für die marxistische Linke der Sozialdemokratie vor 1914 war es unmöglich, sich den Kampf gegen den Militarismus als etwas anderes als einen Aspekt eines viel breiteren Kampfes vorzustellen. „Indessen betrachtet die Sozialdemokratie, entsprechend ihrer Auffassung vom Wesen des Militarismus, die völlige Beseitigung des Militarismus allein für unmöglich: Nur mit dem Kapitalismus - der letzten Klassengesellschaftsordnung - zugleich kann der Militarismus fallen. (...) dass der Zweck der antimilitaristischen Propaganda der Sozialdemokratie nicht die isolierte Bekämpfung und ihr Endziel nicht die isolierte Beseitigung des Militarismus ist" (Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus, Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 1, S. 432 und 433).

Der Antimilitarismus dagegen ist nicht notwendigerweise internationalistisch, da er dazu neigt, nicht den Kapitalismus als solchen zum Feind zu erklären, sondern nur einen Aspekt des Kapitalismus. Für die Anarchosyndikalisten in der französischen CGT vor 1914 wurde die antimilitaristische Propaganda vor allem durch die unmittelbare Erfahrung mit einer Armee motiviert, die gegen Streikende eingesetzt wurde. Sie betrachtete es als notwendig, sowohl den jungen Proletariern während ihres Militärdienstes Unterstützung zu gewährleisten als auch die Truppen davon zu überzeugen, den Einsatz ihrer Waffen gegen Streikende zu verweigern. An sich gibt es nichts an solchen Absichten auszusetzen. Doch die Anarchosyndikalisten zeigten sich nicht im Stande, den Militarismus als ein integrales Phänomen des Kapitalismus zu begreifen, als ein Phänomen, das in der Periode vor 1914 immer schlimmer werden sollte, als die imperialistischen Großmächte den I. Weltkrieg vorbereiteten. Typisch für dieses Unverständnis ist der Gedanke, dass der Militarismus faktisch nichts anderes sei als eine Ausrede, um die Repressionskräfte gegen die Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten, ein Gedanke, der von den anarchosyndikalistischen Führern Pouget und Pataud so ausgedrückt wurde: „Die Regierung will die Kriegsführung erhalten - denn die Furcht vor dem Kriege war für sie das beste Mittel für ihre Vorherrschaft. Dank der Angst vor dem Krieg, die geschickt geschürt wurde, konnten sie stehende Heere im ganzen Land aufrechterhalten, die unter dem Vorwand, die Grenzen zu schützen, in Wahrheit nur das Volk bedrohten und nur die herrschende Klasse beschützten." (Pouget und Pataud, Comment nous ferons la révolution, eigene Übersetzung)

In der Tat war der Antimilitarismus der CGT dem Pazifismus in dessen Eigenschaft sehr ähnlich, eine 180°-Kehrtwende zu vollziehen, sobald „das Vaterland in Gefahr" war. Im August 1914 entdeckten die Antimilitaristen über Nacht, dass die französische Bourgeoisie „weniger militaristisch" sei als die deutsche Bourgeoisie und dass es daher notwendig sei, die französische „revolutionäre Tradition" von 1789 gegen die barbarischen Stulpen der preußischen Militaristen zu verteidigen, statt den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg umzuwandeln, wie Lenin sagte.

Es ist klar, dass die Frage des Militarismus nicht mehr auf dieselbe Weise gestellt werden konnte nach dem schrecklichen Gemetzel von 1914-18, das an Schrecken alles übertraf, was die Antimilitaristen sich 1914 vorstellen konnten. Die antimilitaristische Ideologie wurde somit von der Ideologie des Antifaschismus verdrängt, wie wir sehen werden, wenn wir auf die Rolle der CNT im spanischen Bürgerkrieg in den 1930er Jahren zu sprechen kommen. In beiden Fällen wählten die Syndikalisten ein Lager - die demokratischere Bourgeoisie - gegen das andere, das der autoritären, diktatorischen Bourgeoisie.

Der Unterschied zwischen Anarchosyndikalismus und revolutionärem Syndikalismus

Ihren Zeitgenossen war durchaus nicht klar, dass es überhaupt Unterschiede zwischen beiden Strömungen gab, die ansonsten in vielerlei Hinsicht miteinander verknüpft waren. In der Tat konnte man vor 1914 sagen, dass die französische CGT als Leitstern für andere syndikalistische Strömungen diente, so wie es die deutsche SPD für andere Parteien der Zweiten Internationale war. Es scheint uns - mit der nachträglichen historischen Einsicht -dennoch geboten, zwischen den Positionen der Anarchosyndikalisten und denen der revolutionären Syndikalisten zu unterscheiden. Diese Unterscheidung fällt größtenteils mit den Unterschieden zwischen den industriell weniger entwickelten Ländern (Frankreich und Spanien) und den zwei wichtigsten und entwickeltsten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts (Großbritannien) und des 20. Jahrhunderts (Vereinigte Staaten von Amerika) zusammen. Während der Anarchosyndikalismus eng mit dem größeren Einfluss innerhalb der Arbeiterbewegung weniger entwickelter Länder, mit dem anarchistischen Merkmal des Kleinbürgertums und der kleinen Handwerkerschichten im Proletarisierungsprozess verhaftet war, war der revolutionäre Syndikalismus eher die Antwort auf die Probleme eines Proletariats, das sich hoch konzentriert in großen Industrien befand.

Wir möchten kurz drei wichtige Elemente untersuchen, die es uns gestatten, zwischen diesen beiden Strömungen zu unterscheiden.

Für oder gegen Zentralisierung. Der Anarchosyndikalismus hatte stets eine föderalistische Sichtweise gehabt, in der die Föderation nicht mehr als eine lose Ansammlung unabhängiger Gewerkschaften war: Die Konföderation besaß gegenüber den Gewerkschaften keine Autorität. Besonders in der CGT passte den Anarchosyndikalisten dieser Umstand perfekt, da sie vor allem die kleinen Gewerkschaften dominierten; das System, das jeder Gewerkschaft eine Stimme gab, verlieh ihnen ein Gewicht in der CGT, das ihre numerische Bedeutung weit übertraf.

Der revolutionäre Syndikalismus der IWW wurde dagegen sowohl implizit wie auch ausdrücklich auf der Zentralisierung der Arbeiterklasse gegründet. Es ist kein Zufall, dass einer der Schlachtrufe der IWW lautete: „One big union" („Eine große Gewerkschaft"). Selbst der Name der Gewerkschaft („Industrial Workers of the World") machte - auch wenn das ehrgeizige Unterfangen nicht immer der Realität standhielt - ihre Absicht deutlich, die ArbeiterInnen der gesamten Welt in einer einzigen Organisation zu sammeln. Die Statuten der IWW, die 1905 in Chicago verabschiedet wurden, setzten die Autorität des Zentralorgans durch: „Die Unterabteilungen Internationale und Nationale Industrieunionen sollen völlige industrielle Autonomie in ihren besonderen inneren Angelegenheiten haben, unter dem Vorbehalt, dass die Allgemeine Exekutivkommission die Macht hat, diese Industrieunionen in Angelegenheiten zu kontrollieren, die das Interesse des allgemeinen Wohls betreffen" (siehe „Jim Crutchfield's IWW Page", oben zitiert für den vollen Text). [14]

Es gab einen beträchtlichen Unterschied zwischen Anarchosyndikalisten und revolutionären Syndikalisten in ihrer Haltung gegenüber der politischen Aktion. Obgleich es Mitglieder der sozialistischen Parteien in einigen Gewerkschaften der CGT gab, waren die Anarchosyndikalisten selbst „anti-politisch" und sahen in diesen Parteien nichts als parlamentarische Finten oder Manipulationen durch die „Führer". Die berühmte Charta, die vom Kongress in Amiens 1906 verabschiedet worden war, erklärte die totale Unabhängigkeit gegenüber jeglichen Parteien oder „Sekten" (ein Hinweis auf anarchistische Gruppierungen). Diese Verweigerung jeglicher politischer Visionen (die ausschließlich als parlamentarisches Tagesgeschäft verstanden wurden) ist einer der Gründe, warum die CGT politisch völlig unvorbereitet vom Krieg 1914 überrascht wurde, der sich nicht für das Schema des Generalstreiks auf einem rein „ökonomischen" Terrain eignete. Die anarchistische Ablehnung der „Politik" fand keine Parallele bei der Gründung der IWW, auch wenn die Gründer selbst behaupteten, eine Einheitsorganisation der Arbeiterklasse aufzubauen, und ihre völlige Handlungsfreiheit gegenüber politischen Parteien zu erhalten beabsichtigten. Im Gegenteil, die bekanntesten Gründer und Führer der IWW waren häufig Mitglieder einer politischen Partei: Big Bill Haywood war nicht nur Sekretär der Western Federation of Miners, sondern auch ein Mitglied der Sozialistischen Partei von Amerika, so wie auch A. Simons. Daniel De Leon von der Sozialistischen Arbeiterpartei spielte auch bei der Bildung der IWW eine führende Rolle. In dem ziemlich spezifischen Kontext der Vereinigten Staaten wurden die IWW von der Bourgeoisie und von der reformistischen Gewerkschaft AFL (American Federation of Labour) als gewerkschaftlicher Ausdruck des politischen Sozialismus angesehen. Selbst nach der Spaltung von 1908 spielten Mitglieder der SAP auf jenem Kongress, auf dem die IWW ihre Satzung dahingehend modifizierten, dass jegliches Bekenntnis zur politischen (das heißt: Wahl-)Aktion verbannt wurde, eine fundamentale Rolle in den IWW. Insbesondere Haywood wurde 1911 in das Exekutivkomitee gewählt: Seine Wahl stellte darüber hinaus einen Sieg der Revolutionäre über die Reformisten innerhalb der Sozialistischen Partei dar.

Es wäre gleichfalls unmöglich, den Einfluss des revolutionären Syndikalismus unter den Shop Stewards in Großbritannien zu erklären, ohne die Rolle zu erwähnen, die John MacLean und die schottische SLP gespielt hatten. Auch ist es kein Zufall, dass die Bastionen der Shop Steward-Bewegung (der Kohlebergbau und die Stahlindustrie in Südwales, die Industrie entlang des Clyde River in Schottland, die Region um Sheffield in England) auch zu Bastionen der Kommunistischen Partei in den Jahren nach der Russischen Revolution werden sollten.

Schließlich ist die Position, die jede dieser Strömungen gegenüber dem Krieg einnahm, kein geringer Unterschied zwischen beiden. In der Zeit von 1900 und 1940, in welcher der Syndikalismus den größten Einflusses besaß, gab es einen großen Unterschied zwischen dem Anarchosyndikalismus und dem revolutionären Syndikalismus in der Haltung gegenüber dem imperialistischen Krieg:

-   Der Anarchosyndikalismus verlor Leib und Seele, als er den imperialistischen Krieg unterstützte: 1914 verpflichtete die CGT die französische Arbeiterklasse für den Krieg, während die spanische CNT 1936/37 durch ihre antifaschistische Ideologie und ihre Regierungsbeteiligung zu einem der Hauptpfeiler der bürgerlichen Republik wurde.

-   Der revolutionäre Syndikalismus blieb hingegen seinen internationalistischen Positionen treu: Die IWW in den Vereinigten Staaten und die Shop Stewards in Großbritannien standen im Zentrum des Arbeiterwiderstandes gegen den Krieg.

Sicherlich sollte diese Unterscheidung nuanciert werden: Der revolutionäre Syndikalismus hatte seine Schwächen (besonders eine starke Neigung, die Frage des Krieges allein aus dem beschränkten Blickwinkel des ökonomischen Kampfes gegen dessen Auswirkungen zu betrachten). Dennoch bleibt auf der Ebene der Organisationen die Unterscheidung gültig.

Kurz: während der revolutionäre Syndikalismus trotz seiner Schwächen einige der entschlossensten Streiter der Arbeiterklasse im Kampf gegen den Krieg stellte, stellte der Anarchosyndikalismus Minister für die Regierungen des Burgfriedens in den bürgerlichen Republiken Frankreichs und Spaniens.

Schlussfolgerung

„Gen. Woinow verfolgt deshalb vollkommen richtig seine Linie, wenn er die russischen Sozialdemokraten aufruft, am Beispiel des Opportunismus und am Beispiel des Syndikalismus zu lernen. Die revolutionäre Arbeit in den Gewerkschaften, die Verlegung des Schwerpunktes von parlamentarischen Kunststücken auf die Erziehung des Proletariats, auf die Festigung von reinen Klassenorganisationen, auf den außerparlamentarischen Kampf, die Fähigkeit, den Generalstreik wie auch die „Kampfformen des Dezember" [15] in der russischen Revolution anzuwenden (und die Vorbereitung der Massen auf ihre erfolgreiche Anwendung) - alles das tritt gebieterisch in den Vordergrund als Aufgabe der bolschewistischen Richtung. Die Erfahrungen der russischen Revolution erleichtern uns diese Aufgabe gewaltig, geben uns eine Vielzahl wertvollster praktischer Hinweise und liefern eine Menge historischen Materials, das uns ermöglicht, die neuen Methoden des Kampfes, den Massenstreik und die unmittelbare Gewaltanwendung, ganz konkret einzuschätzen. "Neu" sind diese Methoden des Kampfes am wenigsten für die russischen Bolschewiki, für das russische Proletariat. „Neu" sind sie für die Opportunisten, die mit aller Macht bemüht sind, aus dem Gedächtnis der Arbeiter die Erinnerungen im Westen an die Kommune, in Russland an den Dezember 1905 zu tilgen. Diese Erinnerungen zu festigen, diese großen Erfahrungen wissenschaftlich zu studieren, ihre Lehren und das Bewusstsein der Unvermeidlichkeit der Wiederholung dieser Erfahrungen in neuem Maßstab in den Massen zu verbreiten - diese Aufgabe der revolutionären Sozialdemokraten in Russland eröffnet uns unermesslich inhaltsreichere Perspektiven als der einseitige „Antiopportunismus" und „Antiparlamentarismus" der der Syndikalisten." (Lenin, Vorwort zur Broschüre von Woinow).

Für Lenin war der revolutionäre Syndikalismus eine proletarische Antwort auf den Opportunismus und den parlamentarischen Kretinismus der Sozialdemokratie, aber er war eine partielle und schematische Antwort, die nicht in der Lage war, den Gezeitenwechsel im frühen 20. Jahrhundert in seiner ganzen Komplexität zu begreifen. Trotz der historischen Unterschiede, die in den verschiedenen syndikalistischen Strömungen zutage traten, hatten alle diesen Defekt gemeinsam. Wie wir in den kommenden Artikeln sehen werden, erwies sich diese Schwäche als fatal: Im günstigsten Fall war die syndikalistische Strömung unfähig, voll und ganz zur Ausbreitung der revolutionären Welle von 1917-23 beizutragen; im schlimmsten Fall endete er in offener Unterstützung für den imperialistischen Kapitalismus, den er einst zu bekämpfen vorgegeben hatte.

 

Jens, 4. Juli 2004

 



[1] Wir werden später auf die Unterscheidung zwischen dem revolutionären Syndikalismus und dem Anarchosyndikalismus zurückkehren. Um es kurz zu machen, können wir sagen, dass der Anarchosyndikalismus ein Zweig des revolutionären Syndikalismus ist. Sämtliche Anarchosyndikalisten betrachten sich selbst als revolutionäre Syndikalisten, während umgekehrt dies nicht der Fall ist. Wo wir den Begriff „Syndikalismus" benutzen, beziehen wir uns unterschiedslos auf beide Strömungen.

 

[2] Der Verrat durch die sozialistischen Parteien 1914 wurde bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts vom linken Flügel in den sozialistischen Parteien (Luxemburg, Pannekoek, Gorter, Lenin, Trotzki) bekämpft. Der Verrat durch die Kommunistischen Parteien (die die Konterrevolution in den 20er und 30er Jahren anführten) wurde von den Linkskommunisten (die KAPD in Deutschland, die GIK in den Niederlanden, die Linke der italienischen KP um Bordiga, schließlich die Fraktionen der Internationalen Linken in Bilan und Internationalisme) bekämpft.

 

[3] Die Grand National Consolidated Union wurde 1833 unter aktiver Beteiligung Robert Owens gebildet; laut der Presse dieser Tage organisierte sie 800.000 britische ArbeiterInnen (siehe J.T. Murphy, Preparing for power).

 

[4] Die Anarchisten widersetzten sich gern dem „libertären" und „demokratischen" Bakunin. In Wahrheit empfand der Aristokrat Bakunin tiefe Verachtung für das „Volk", das von der unsichtbaren Hand geheimer Verschwörer gelenkt werden sollte: „Die wahre Revolution braucht keine Individuen die sich an die Spitze der Massen stellen und sie kommandieren, sondern Männer, die, unsichtbar in ihrer Mitte verborgen, die unsichtbare Verbindung einer Masse mit der anderen ausmachen und so der Bewegung unsichtbar eine und dieselbe Richtung, einen und denselben Geist und Charakter geben. Die vorbereitende geheime Organisation hat nur diesen Sinn, und einzig und allein hierzu ist sie notwendig"  (Bakunin, Die Prinzipien der Revolution). Siehe International Revue Nr. 20, deutsche Ausgabe, „Der Kampf des Marxismus gegen das politische Abenteurertum". Für weitere Details über Bakunins organisatorische Ideen siehe die exzellente Biographie von E.H. Carr.

 

[5] In dieser Periode organisierten sich die Gewerkschaften in Gewerben; darüber hinaus beschränkte sich die gewerkschaftliche Mitgliedschaft auf ausgebildete Arbeiter.

 

[6] Als ein Beispiel für den Unterschied zwischen der Epoche des Aufstieg und der Epoche der Dekadenz des Kapitalismus können wir die Entwicklung des Arbeitstages anführen. Von 16-17 Stunden am Tag zu Beginn des 19. Jahrhunderts fiel die Arbeitszeit auf zehn oder gar acht Stunden zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seither blieb sie (abgesehen vom Schwindel der 35-Stunden-Woche in Frankreich, die heute wieder in Frage gestellt wird) hartnäckig um acht Arbeitsstunden herum verharren, und dies trotz eines phantastischen Anstiegs in der Produktivität. In Ländern wie Großbritannien wird der Arbeitstag momentan wieder verlängert; der typische „Neun-bis-fünf-Job" der 60er Jahre wurde durch einen Arbeitstag ersetzt, der erst um 18 Uhr oder später endet.

 

[7] Millerand war ein Anwalt, der in der französischen Arbeiterbewegung wegen seiner Qualitäten bei der Verteidigung von Gewerkschaftern vor Gericht hoch geschätzt wurde. Als Protégé von Jaurès kam er 1889 als unabhängiger Sozialist ins Parlament. Doch seine Beteiligung am Kabinett Waldeck-Rousseau entfremdete ihn von den Sozialisten, von denen er sich ab 1905 sukzessive löste. 1909 wurde er Minister für Öffentliche Arbeiten, diente schließlich als Kriegsminister zwischen 1912 und 1915.

 

[8] Lenins Vorwort zu einem Pamphlet von Woinow (A. W. Lunatscharski) über die Haltung der Partei gegenüber den Gewerkschaften (1907) (Lenin Werke, Bd. 13, S. 162) In Wahrheit entwickelte sich der Syndikalismus nur wenig in Russland, und dies aus einem bestimmten Grund: Die russischen Arbeiter wandten sich einer wirklich revolutionären marxistischen Partei zu, den Bolschewiki. Siehe: https://www.marxists.org/archive/lenin/works/1907/nov/00.htm [24].

 

[9]  Es sollte angemerkt werden, dass diese Sichtweise einer historischen Mission der Arbeiterklasse weitaus enger mit dem Marxismus als mit dem Anarchismus verbunden ist.

 

[10]  „Jim Crutchfields IWW-Seite" enthält nützliches Material für die Geschichte der IWW. Siehe: https://jdcrutch.home.mindspring.com/i/constitution/1908const.html [25].

 

[11]  Siehe unsere Artikel über die Klassenkämpfe in Polen 1980/81 in der deutschen Internationalen Revue, Nr. 6 und 8.

 

[12] Für jene, die die Wahrheit dieser Vereinigung anzweifeln, lohnt sich ein Blick auf den Umfang der Finanzierung der Gewerkschaften in den „demokratischen" Ländern durch den Staat. Zum Beispiel gibt es laut der französischen Zeitung La Tribune vom 23.02.2004 allein 2.500 Zivilangestellte, die vom Bildungsministerium bezahlt werden und sich voll und ganz der Gewerkschaftsarbeit widmen. Derselbe Artikel gibt Details über die vielfältigen, an die Gewerkschaften ausbezahlten Beihilfen preis, einschließlich der etwa 35 Millionen, die jährlich im Namen der „Kooperation Gewerkschaften-Management" gezahlt werden.

 

[13] Die anarchosyndikalistische Vision eines Generalstreiks wird in Romanform im Buch Comment nous ferons la révolution beschrieben, verfasst von zwei CGT-Führern, Pouget und Pataud, ein Buch, das erstmals 1909 veröffentlicht wurde (Editions Syllepse).

 

[14] Man sollte bemerken, dass der Grad der Zentralisierung in den IWW-Statuten weit über jene Zentralisierung hinausging, die zurzeit der Zweiten Internationale herrschte.

 

[15]  Mit anderen Worten: die Sowjets.

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Revolutionärer Syndikalismus [26]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [23]

Interne Debatte der IKS: Die Ursachen für die Aufschwungperiode nach dem Zweiten Weltkrieg

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Chronische Überproduktion - eine unvermeidliche Fessel der kapitalistischen Akkumulation

Die weltweite Verschuldung hat astronomische Proportionen erreicht, die es unmöglich machen, einen „Neustart" der Wirtschaft durch eine neue Schuldenspirale zu veranlassen, ohne die finanzielle Glaubwürdigkeit der Staaten und den Wert ihrer Währungen zu gefährden. Angesichts dieser Situation haben Revolutionäre die Verantwortung, eine in die Tiefe gehende Analyse darüber vorzunehmen, wie der Kapitalismus bis jetzt durch das „Austricksen" der eigenen Gesetze sein System künstlich am Leben gehalten hat. Dies ist die einzige Methode, um zu einer angemessenen Beurteilung der Sackgasse zu gelangen, der sich die Bourgeoisie heute gegenübersieht.

Mit der Untersuchung der als „Wirtschaftswunderjahre" bekannten Periode, die von der Bourgeoisie so gepriesen wird und der sie nachtrauert, wird sicherlich kein Neuland betreten. Natürlich müssen Revolutionäre die Interpretationen zurückweisen, die die Vertreter des Kapitalismus offerieren, insbesondere wenn sie uns überzeugen wollen, dass der Kapitalismus reformiert werden kann.[1] Gleichzeitig müssen sie sich solidarisch mit den verschiedenen Standpunkten auseinandersetzen, die innerhalb des proletarischen Lagers zu diesem Thema existieren. Dies ist der Zweck der Debatte, für die unsere Organisation ihre Seiten der Internationalen Revue seit zwei Jahren nun geöffnet hat.[2]

Die Sichtweise, die in unserer Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus entwickelt wurde, der zufolge die Zerstörung, die während des Zweiten Weltkriegs stattgefunden hat, und die dadurch ermöglichte Schaffung eines Wiederaufbau-Marktes die Quelle des Booms der 1950er und 1960er Jahre gewesen seien, ist einer Kritik in der IKS unterzogen worden, besonders seitens der Position der von uns vertretenen These, die sich auf die „außerkapitalistischen Märkte und die Verschuldung" bezieht. Wie ihr Name schon andeutet, behauptet diese These, dass es der Absatz auf außerkapitalistischen Märkten und der Verkauf auf Kredit gewesen seien, die den Motor für die kapitalistische Akkumulation während der 50er und 60er Jahre gebildet hatten, und nicht keynesianische Maßnahmen, wie in einer anderen These, der keynesianisch-fordistischen These, vertreten wird.[3] In der Internationalen Revue Nr. 45 gab es einen von Salome und Ferdinand unterzeichneten Beitrag, der die letztgenannte Auffassung vertritt und durch die Vorstellung einer Reihe von Argumenten, die noch nicht öffentlich diskutiert wurden, die Debatte wiederbelebt hat. Neben der Beantwortung der Argumente dieser beiden Genossen hat dieser Artikel folgende Ziele: die Fundamente der These von den außerkapitalistischen Märkten und der Verschuldung in Erinnerung zu rufen; einige statistische Elemente zu präsentieren, die unserer Auffassung nach die Gültigkeit der These illustrieren, und ihre Implikationen für den globalen Rahmen der IKS-Analysen der Periode der kapitalistischen Dekadenz zu untersuchen.[4]

Die theoretischen Hauptargumente

Die in der Dekadenz des Kapitalismus vertretene Analyse erblickt im Krieg eine gewisse ökonomische Rationalität (der Krieg hat positive wirtschaftliche Konsequenzen). In diesem Sinn steht sie in Widerspruch zu älteren Texten unserer Organisation, die argumentieren: „Was all diese Kriege auszeichnet, wie die zwei Weltkriege, ist, dass sie anders als diejenigen im vorausgegangenen Jahrhundert keinen Fortschritt in der Entwicklung der Produktivkräfte ermöglichten. Sie haben lediglich massive Zerstörungen und die Ausblutung der Länder, in denen sie stattfanden, zur Folge (ganz abgesehen von den schrecklichen Massakern".[5]

Unserer Auffassung nach ist der Fehler in unserer Broschüre auf eine hastige und irreführende Anwendung der folgenden Passage aus dem Kommunistischen Manifest zurückzuführen: „Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte." Tatsächlich schreiben diese Zeilen der Zerstörung von Produktionsmitteln nicht die Tugend zu, neue zahlungsfähige Märkte zu eröffnen, um die Wirtschaftsmaschinerie wieder in Gang zu setzen. Es ist notwendig, in Übereinstimmung mit den ökonomischen Schriften von Marx die Auswirkungen der Kapitalzerstörung (oder vielmehr der Kapitalentwertung) als Hilfe zu interpretieren, um den existierenden Markt auszuweiten und dem tendenziellen Fall der Profitrate entgegenzuwirken.[6]

Die These, die sich auf den keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus bezieht, bietet eine Interpretation der „Wohlstands"-Jahre in den 50er und 60er Jahren an, die sich sowohl von jener, die in Die Dekadenz des Kapitalismus vorgestellt wird, als auch von der These der außerkapitalistischen Märkte und der Verschuldung unterscheidet. „Die garantierte Steigerung der Profite, der Staatsausgaben und der Anstieg der Löhne waren in der Lage, die Endnachfrage zu gewährleisten, die so entscheidend ist, wenn das Kapital seine Akkumulation fortsetzen will"[7]. Zwei Argumente sind in der Antwort auf diese Gedanken vorgebracht worden:

Vom kapitalistischen Standpunkt aus betrachtet, stellen steigende Löhne über das notwendige Maß der Reproduktion der Arbeitskraft hinaus eine pure, simple Verschwendung von Mehrwert dar, die in keiner Weise zum Akkumulationsprozess beitragen kann. Ferner: auch wenn es zutrifft, dass steigender Konsum durch die ArbeiterInnen (durch steigende Löhne) und eine Steigerung der Staatsausgaben einen Absatz für die gesteigerte Produktion schaffen können, so ist die vorrangige Konsequenz daraus eine Sterilisierung von Reichtum, die der Verwertung des Kapitals nicht dienlich sein kann.[8]

Unter den Verkäufen, die der Kapitalismus macht, entspricht nur der Teil, der der Akkumulation von Kapital gewidmet werden kann und der so an seiner Vermehrung beteiligt ist, den Verkäufen, die durch den Handel mit außerkapitalistischen Märkten (interne oder externe) realisiert werden. Dies ist der einzig effektive Weg, um dem Kapitalismus zu erlauben, zu vermeiden, sich in einer Situation wieder zu finden, in der „die Kapitalisten selbst nur unter sich ihre Waren austauschen und aufessen", was, wie Marx sagte, „keineswegs eine Verwertung des Kapitals erlaubt"[9].

In ihrem Artikel in der Internationalen Revue Nr. 45 kommen die Genossen Salome und Ferdinand auf dieses Thema zurück. Sie machen hier eine Präzisierung, eine völlig richtige in unseren Augen, bezüglich dessen, was sie als Rahmen dieser Debatte betrachten: „Darauf könnte man antworten, dass eine solche Vergrößerung des Marktes nicht genüge, um den ganzen für die Akkumulation bestimmten Teil des Mehrwertes zu realisieren. Dies trifft sicher zu, wenn man die Frage allgemein und für einen längeren Zeitraum stellt. Wir, die diese These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus vertreten, meinen nicht, wir hätten die Lösung für die inneren Widersprüche des Kapitalismus gefunden  -  eine Lösung, die nach Gutdünken immer wieder aus dem Hut gezaubert werden könnte".

Daraufhin veranschaulichen sie auf dem Wege eines Schemas (basierend auf jenem von Marx verwendeten Schema im zweiten Band des Kapital, wo er das Problem der erweiterten Reproduktion darlegte), wie die Akkumulation trotz der Tatsache fortgesetzt werden kann, dass ein Teil des Mehrwerts in Form von Lohnerhöhungen bewusst an die ArbeiterInnen zurückgegeben wird. Von ihrem Standpunkt aus erklärt dieselbe zugrundeliegende Logik, warum ein außerkapitalistischer Markt nicht unerlässlich ist für die Weiterentwicklung des Kapitalismus: „Wenn die Bedingungen, die die Schemata voraussetzen, erfüllt sind und wenn wir die Konsequenzen daraus akzeptieren (Bedingungen und Konsequenzen, die separat untersucht werden können), kann zum Beispiel eine Regierung, die die gesamte Wirtschaft kontrolliert, diese so organisieren, dass die Akkumulation gemäß dem Schema funktioniert".

Für die Genossen ist die Bilanz dieser Wiederaufteilung des Mehrwerts, auch wenn sie die Akkumulation verlangsamt, nichtsdestotrotz positiv, da sie es ermögliche, den internen Markt zu vergrößern: „Wenn dieser Profit genügend hoch ist, können die Kapitalisten gleichzeitig die Löhne anheben, ohne den ganzen Zuwachs an abgepresstem Mehrwert zu verlieren (...) Die einzige ‚schädliche‘ Wirkung dieser ‚Verschwendung von Mehrwert‘ ist, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals langsamer zunimmt, als dies theoretisch möglich wäre".

Wir stimmen der Beobachtung der Genossen hinsichtlich der Auswirkungen der „Verschwendung von Mehrwert" zu. Doch sie sagten zu diesem Thema auch: „... man kann nicht behaupten, dass diese ‚Verschwendung von ‚Mehrwert‘ kein Bestandteil des Akkumulationsprozesses sein könne. Im Gegenteil: Diese Aufteilung der Gewinne aus der Erhöhung der Produktivität geht vollumfänglich in die Akkumulation ein". Es ist klar, dass, wie die Genossen selbst anerkennen, die fragliche Verschwendung nicht - etwa durch das Einspritzen von Kapital in den Produktionsprozess - zum Akkumulationsprozess beiträgt. In der Tat lenkt sie Kapital, das akkumuliert werden könnte, weg vom kapitalistischen Ziel der Akkumulation. Zweifellos gibt sie einen zeitweiligen Nutzen für die Bourgeoisie her, da sie erlaubt, einen bestimmten Grad der Wirtschaftsaktivitäten künstlich aufrechtzuerhalten oder gar zu steigern. Sie verschiebt somit das Problem des Mangels an ausreichenden Märkten für die kapitalistische Produktion. Dies ist die Funktion der keynesianischen Maßnahmen; doch noch einmal: sie tragen nicht zum Akkumulationsprozess bei. Vielmehr sind sie ein Bestandteil des Produktionsprozesses unter den Bedingungen der Dekadenz des Kapitalismus, wenn das System, das immer weniger imstande ist, „normal" zu funktionieren, unproduktive Ausgaben erhöhen muss, um die Wirtschaftsaktivitäten am Laufen zu halten. Diese Verschwendung fügt sich in dem bereits enormen Umfang an Verschwendungen ein, die sich aus den Militärausgaben und den Kosten für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Kontrolle zusammensetzen. Von der Notwendigkeit veranlasst, einen künstlichen inneren Markt zu erschaffen, sind diese Ausgaben genauso irrational und unproduktiv wie die beiden letztgenannten.

Zwar erlaubten keynesianische Maßnahmen in den 50er und 60er Jahren ein sehr wichtiges Wachstum des BSP in den Hauptindustrieländern und verbreiteten so die Illusion einer dauerhaften Rückkehr zum Wohlstand in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, doch wuchs das Vermögen, das tatsächlich während dieser Periode gemacht wurde, in einem Rhythmus, der notwendigerweise weitaus bescheidener war, da ein bedeutender Anteil des Wachstums des BSP sich aus unproduktiven Ausgaben zusammensetzte.[10]

Um diesen Teil zu beenden, werden wir eine weitere Konsequenz aus der Begründung der Genossen untersuchen, die besagt, dass es „so gesehen (...) keine außerkapitalistischen Märkte" brauche. Im Gegensatz zu dem, was die Genossen ankündigen, haben wir hier nicht ein einziges neues Argument gefunden, das die Notwendigkeit von Käufern außerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in Frage stellt. Das Schema, das sie vorstellen, ist das „einer Regierung, die die gesamte Wirtschaft kontrolliert", und dies in einer Weise, die die Erweiterung der Produktion (durch die Steigerung der Produktions- und Konsummittel) gestattet, ohne Zuflucht zu nehmen zu einem externen Käufer, sondern durch die Bezahlung der ArbeiterInnen über die notwendigen gesellschaftlichen Reproduktionskosten ihrer Arbeitskraft hinaus. Sehr gut, aber dies stellt noch keine erweiterte Akkumulation dar, wie sie der Kapitalismus praktiziert. Präziser, die erweiterte Akkumulation kann im Kapitalismus nicht auf diese Weise praktiziert werden, wie immer der Grad der Staatskontrolle über die Gesellschaft beschaffen ist, und dies trifft zu, einerlei ob die ArbeiterInnen Extralöhne erhalten oder nicht.

Die Erklärung, warum dies unmöglich ist, die Rosa Luxemburg in ihrer Schilderung des endlosen Karussells anbietet, das in den Schemata der erweiterten Reproduktion (erarbeitet von Marx in Band 2 des Kapital) enthalten ist, bezieht sich auf die konkreten Bedingungen der kapitalistischen Produktion. „Nach dem Marxschen Schema geht die Bewegung von der Abteilung I aus, von der Produktion der Produktionsmittel. Wer braucht diese vermehrten Produktionsmittel? Das Schema antwortet: Die Abteilung II braucht sie, um mehr Lebensmittel herstellen zu können. Wer aber braucht die vermehrten Lebensmittel? Das Schema antwortet: eben die Abteilung I, weil sie jetzt lediglich mehr Arbeiter beschäftigt. Wir drehen uns offenbar im Kreise. Lediglich deshalb mehr Konsummittel herstellen, um mehr Arbeiter erhalten zu können, und lediglich deshalb mehr Produktionsmittel herstellen, um jenes Mehr an Arbeitern zu beschäftigen, ist vom kapitalistischen Standpunkt eine Absurdität".[11]

Auf dieser Stufe unserer Reflexionen bietet es sich an, eine Bemerkung näher zu untersuchen, die von den Genossen gemacht wurde: „Wenn es keine Kredit gäbe und wenn man die jährliche Produktion auf einmal auf dem Markt in Geld umwandeln müsste, so wäre tatsächlich ein Käufer nötig, der sich außerhalb der kapitalistischen Produktion befände. Aber so verhält es sich nicht ".

Wir stimmen den Genossen zu, dass die Intervention eines externen Käufers nicht in jedem Produktionszyklus notwendig ist, solange der Kredit existiert. Dies schafft jedoch nicht das Problem aus der Welt, sondern dehnt es in seiner zeitlichen Dauer einfach aus, damit sicher stellend, dass es sich weniger häufig, aber ein jedes Mal auf schwerwiegendere Weise stellt.[12] Ist erst einmal ein Käufer vorhanden, zum Beispiel nach zehn Akkumulationszyklen, die die Kooperation zwischen Sektor I und II mit sich brachte, und kauft er die Produktions- oder Konsummittel, die benötigt werden, um die Schulden zu erstatten, die er in jenen zehn Akkumulationszyklen aufgenommen hat, dann geht für den Kapitalismus alles gut. Doch wenn es in letzter Instanz keinen externen Käufer gibt, können die angehäuften Schulden niemals erstattet werden, es sei denn um den Preis neuer Anleihen. Die Schulden schwellen dann unweigerlich und unermesslich an, bis zum Ausbruch einer neuen Krise, die den bloßen Effekt hat, die Schuldenspirale weiter zu erhöhen. Exakt diesen Prozess haben wir mit unseren eigenen Augen in wachsendem Ausmaß seit dem Ende der 60er Jahre erlebt.

Die Umverteilung eines Teils des extrahierten Mehrwerts in Form von Lohnerhöhungen erhöht letztendlich nur die Kosten der Arbeitskraft. Doch dies eliminiert keineswegs das Problem des endlosen Karussells, auf das Rosa Luxemburg hingewiesen hat. In einer Welt, die sich nur aus Kapitalisten und ArbeiterInnen zusammensetzt, gibt es keine Antwort auf die Frage, die sich Marx im Band 2 des Kapital immer wieder gestellt hatte: „Doch woher stammt das notwendige Geld, das notwendig ist zur Finanzierung der Ausweitung der Produktionsmittel sowie der Konsumtion"? In einer anderen Passage in Die Akkumulation des Kapitals greift Rosa Luxemburg dieses Problem auf und stellt die Frage auf ganz einfache Weise: „Einen Teil des Mehrwerts verzehrt die Kapitalistenklasse selbst in Gestalt von Lebensmitteln und behält in ihrer Tasche das dafür gegenseitig ausgetauschte Geld. Wer aber nimmt ihr die Produkte ab, in denen der andere, kapitalisierte Teil des Mehrwerts verkörpert ist? Das Schema antwortet: zum Teil die Kapitalisten selbst, indem sie neue Produktionsmittel herstellen behufs Erweiterung der Produktion, zum Teil neue Arbeiter, die zur Anwendung jener neuen Produktionsmittel nötig sind. Aber um neue Arbeiter mit neuen Produktionsmitteln arbeiten zu lassen, muss man - kapitalistisch - vorher einen Zweck für die Erweiterung der Produktion haben, eine neue Nachfrage nach Produkten, die anzufertigen sind (...) Wo kommt das Geld zur Realisierung des Mehrwerts her unter Voraussetzung der Akkumulation, d.h. des Nichtverzehrs, der Kapitalisierung eines Teils des Mehrwerts?"[13] In der Tat sorgte Marx selbst für eine Antwort auf diese Frage, indem er auf die „fremden Märkte" verwies.[14]

Luxemburg zufolge löst der Einsatz eines Käufers, der sich außerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse befindet, das Problem der Ermöglichung der Akkumulation. Es löst auch den anderen Widerspruch in den Marxschen Schemata, der aus dem unterschiedlichen Entwicklungstempo der organischen Zusammensetzung des Kapitals in den beiden Sektoren (Produktionsmittel und Konsumtionsmittel) resultiert.[15] In ihrem Text kommen die beiden Genossen auf diesen Widerspruch zurück, der von Rosa Luxemburg bemerkt wurde: „Diese Aufteilung der Gewinne aus der Erhöhung der Produktivität geht vollumfänglich in die Akkumulation ein. Und nicht bloß dies - sie schwächt genau das Problem ab, das R. Luxemburg im 25. Kapitel ihrer Akkumulation des Kapitals analysierte, wo sie überzeugend nachwies, dass die Tendenz zur Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals langfristig einen Austausch zwischen den beiden Hauptabteilungen der kapitalistischen Produktion (Produktion von Produktionsmitteln auf der einen Seite, von Konsumtionsmitteln auf der anderen) verunmöglicht." In diesem Zusammenhang machen die Genossen folgenden Kommentar: „F. Sternberg meinte, dass dies der stärkste Punkt der Position Luxemburgs sei, auf den einzugehen sich, alle diejenigen, die Rosa Luxemburg kritisiert haben, (...) eifrigst gehütet hätten". Auch hier teilen wir nicht die Position der Genossen, auch nicht die von Sternberg, die der Weise, in der Rosa Luxemburg das Problem stellt, nicht wirklich gerecht werden.

Laut Luxemburg wird dieser „Widerspruch" in der Gesellschaft gelöst, indem „eine größere Portion des zu kapitalisierenden Mehrwerts in der Abteilung der Produktionsmittel statt in derjenigen der Konsumtionsmittel angelegt wird. Da die beiden Abteilungen der Produktion nur Zweige derselben gesellschaftlichen Gesamtproduktion oder, wenn man will, Teilbetriebe des Gesamtkapitalisten darstellen, so ist gegen die Annahme einer solchen fortschreitenden Übertragung eines Teils des akkumulierten Mehrwerts - den technischen Erfordernissen gemäß - aus der einen Abteilung in die andere nichts einzuwenden, sie entspricht auch der tatsächlichen Praxis des Kapitals. Allein diese Annahme ist nur so lange möglich, wie wir den zur Kapitalisierung bestimmten Mehrwert als Wertgröße ins Auge fassen."[16] Dies setzt die Existenz „externer Käufer" voraus, die regelmäßig in die aufeinanderfolgenden Akkumulationszyklen intervenieren.

Während solch ein „Widerspruch" in der Tat das Risiko enthält, den Austausch zwischen den beiden Sektoren der Produktion zu verunmöglichen, ist er wichtig in der abstrakten Welt der Schemata der erweiterten Reproduktion, sobald der „externe Käufer" aus der Gleichung genommen wird: „Was durch unsere obigen Versuche mit dem Marxschen Schema lediglich illustriert werden sollte, ist folgendes. Die fortschreitende Technik muss sich nach Marx selbst in dem relativen Wachstum des konstanten Kapitals im Vergleich mit dem variablen äußern. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer fortschreitenden Verschiebung in der Einteilung des kapitalisierten Mehrwerts zwischen c und v". Oder: „Die Kapitalisten des Marxschen Schema sind aber gar nicht in der Lage, diese Einteilung beliebig vorzunehmen, denn sie sind bei ihrem Geschäft der Kapitalisierung von vornherein an die Sachgestalt ihres Mehrwerts gebunden. Da nach der Marxschen Annahme die ganze Produktionserweiterung ausschließlich mit den eigenen kapitalistisch hergestellten Produktions- und Konsumtionsmitteln vorgenommen wird...".[17]

In der Tat denken wir, dass die Genossen niemals überzeugt waren von Rosa Luxemburgs Demonstration der Notwendigkeit eines äußeren Käufers, um dem Kapital die Akkumulation zu erlauben, (oder, wenn nicht vorhanden, einer Flucht in den Kredit, der jedoch nicht rückerstattbar ist). Auf der anderen Seite haben wir noch nicht aufgezeigt, wie die Einwände, die sie vorbringen und die auf den Argumenten von Sternberg beruhen (von dem wir allen Anlass haben anzunehmen, dass auch er den Kern der Luxemburgschen Akkumulationstheorie nicht richtig verarbeitet hat)[18], faktisch die Hauptpositionen dieser Theorie in Frage stellen.

Wie wir bereits in früheren Beiträgen unterstrichen haben, reicht die Tatsache, dass Extralöhne für die ArbeiterInnen nicht dazu dienen, konstantes oder variables Kapital zu vermehren, aus, um den Schluss zu ziehen, dass diese Ausgaben vom Standpunkt der kapitalistischen Rationalität aus eine völlige Verschwendung sind. Vom strikt ökonomischen Standpunkt aus würden dieselben Effekte durch das Wachstum der persönlichen Ausgaben der Kapitalisten eintreten. Doch um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, ist es nicht notwendig, auf Rosa Luxemburg zu schauen.[19] Wenn wir es für notwendig erachten, auf die Einwände der Genossen gegen die Akkumulationstheorie zu antworten, dann geschieht dies, weil wir meinen, dass uns die Debatte über diese Frage dabei hilft, uns mit einer solideren Grundlage für das Verständnis nicht nur des Phänomens der Wirtschaftswunderjahre, sondern auch der Überproduktion auszustatten, die angesichts der gegenwärtigen Schwierigkeiten des Kapitalismus schwer zu leugnen ist.

Die Rolle der außerkapitalistischen Märkte und die Schulden in der Akkumulation der 50er und 60er Jahre

Zwei Faktoren sind maßgeblich für den Anstieg des BSP in diesem Zeitraum:

-   eine Vermehrung des realen Reichtums der Gesellschaft durch den Prozess der Kapitalakkumulation;

-   eine ganze Reihe von unproduktiven Ausgaben, die infolge der Entwicklung des Staatskapitalismus und insbesondere der keynesianischen Maßnahmen, die ergriffen worden waren, anstiegen.

In diesem Abschnitt sind wir daran interessiert, in welcher Weise die Akkumulation stattfand. Ausgangspunkt der mächtigen Expansionsphase des Kapitalismus während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einer Phase, die erst vom I. Weltkrieg zum Halten gebracht wurde, war der Beginn einer verschärften Ausbeutung der außerkapitalistischen Märkte. Die Periode der kapitalistischen Dekadenz ist dagegen global von der relativen Unzulänglichkeit dieser Märkte im Verhältnis zum stetig wachsenden Bedürfnis für den Warenabsatz gekennzeichnet. Doch können wir daraus folgern, dass außerkapitalistische Märkte in der durch den Krieg 1914 eröffneten Periode des Kapitalismus nur noch eine marginale Rolle in der Akkumulation spielten? Wenn dies der Fall wäre, dann könnten diese Märkte nicht einmal teilweise die Akkumulation erklären, die in den 50er und 60er Jahren stattfand. Dies ist die Erwiderung, die die Genossen in ihrem Beitrag äußern: „Für uns ist das Rätsel des ‚Wirtschaftswunders‘ nicht erklärbar mit Überresten von außerkapitalistischen Märkten, denn diese vermögen schon seit dem Ersten Weltkrieg den Akkumulationsbedürfnissen, die der Kapitalismus erreicht hat, nicht mehr genügen". Wir denken unsererseits im Gegenteil, dass diese außerkapitalistischen Märkte eine wichtige Rolle in der Akkumulation spielten, besonders zu Beginn der 50er Jahre, und dann bis zum Ende der 60er Jahre immer mehr schwanden. Je unzureichender sie wurden, desto mehr übernahmen die Schulden die Rolle des externen Käufers für die Kapitalisten; doch offensichtlich waren dies Schulden einer „neuen Qualität", da es keine Aussicht darauf gab, dass sie jemals vermindert werden. Tatsächlich müssen wir auf diese Periode zurückblicken, um den Ursprung für das Phänomen der explodierenden Weltverschuldung ausfindig zu machen, die wir heute erleben, selbst wenn der Wert der Schulden in den 50er und 60er Jahren, verglichen mit den heutigen Schulden, eher lächerlich war.

Außerkapitalistische Märkte

Statistisch betrachtet, erlebte das Jahr 1953 den Höhepunkt der Exporte aus den entwickelten Ländern in die Kolonien, dargestellt als prozentualer Anteil an den Weltexporten (siehe Abb. 1, wo die Kurve der Importe aus den Kolonien denselben Verlauf wie die Kurve der Exporte aus den entwickelten Ländern haben sollte). Die Rate von 29 Prozent, die damals erreicht wurde, war also ein Indikator für die Bedeutung der Exporte in die außerkapitalistischen Märkte in den Kolonien, denn zu dieser Zeit waren die Kolonialmärkte zu einem großen Umfang noch außerkapitalistisch. Danach reduzierte sich der prozentuale Anteil der Exporte auf 22 Prozent im Jahr 1966. In Wirklichkeit ging das Schrumpfen dieses Anteils im Verhältnis zum BSP (und nicht der Exporte) viel schneller vonstatten, da das BSP in dieser Zeit schneller als die Exporte wuchs.> Grafik 1

 

Grafik 1: Importe aus den Kolonialmärkten als prozentualer Anteil an den Weltimporten (Tabellen aus dem BNP-Guide Staistique, 1972. Quelle: P. Baroich, ob. zit., OECD-Kommuniqué, November 1970)

 


Zu den Exporten in Richtung außerkapitalistischer Märkte der Kolonien sollten wir den Absatz in kapitalistischen Ländern wie Frankreich, Japan, Spanien, etc. hinzufügen, der in Bereichen wie der Landwirtschaft erzielt wurde, die allenfalls teilweise in die kapitalistischen Produktionsverhältnisse integriert waren. Auch in Osteuropa gab es noch immer einen außerkapitalistischen Markt, da die Folgen des Ersten Weltkriegs die kapitalistische Expansion in diesen Ländern zum Stillstand verdammt hatten.[20]

Wenn wir also alle Verkäufe berücksichtigen, die von Regionen, die von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen dominiert waren, gegenüber jenen getätigt wurden, die noch unter vor-kapitalistischen Verhältnissen produzierten - ob diese nun äußere oder innere Märkte waren -, dann sehen wir, dass sie einen bedeutenden Anteil des realen Wachstums zu fördern imstande waren, der während der Wirtschaftswunderjahre stattgefunden hatte, zumindest zu Beginn jener Periode. Im letzten Teil dieses Artikels werden wir auf die Einschätzung des Sättigungsgrades der Märkte zu der Zeit zurückkommen, als der Kapitalismus in seine Dekadenzepoche eintrat, um diese präziser zu charakterisieren.

Schulden

Gleich zu Beginn unserer internen Debatte argumentierten jene, die die keynesianisch-fordistische These vertreten und unsere Hypothese ablehnen, dass Schulden eine Hauptrolle bei der Unterstützung der Nachfrage in den 50er und 60er Jahren spielten, dass „die Gesamtverschuldung wuchs während der Periode von 1945-1980 praktisch nicht, sie explodierte erst als Antwort auf die Krise. Die Verschuldung kann also nicht das enorme Wachstum der Nachkriegszeit erklären". Die ganze Frage ist, was hinter diesem „praktisch nicht" steckt und ob dies trotz allem genug war, um den Akkumulationsprozess entlang der außerkapitalistischen Märkte zu vervollständigen.

Es ist ziemlich schwierig, für die meisten Länder statistische Daten über die Schuldenentwicklung in den 50er und 60er Jahren zu finden, ausgenommen die USA.

Wir haben allerdings die jährlichen Zahlen für die Entwicklung der Gesamtschulden und des amerikanischen BSP zwischen 1950 und 1969. Die Untersuchung dieser Daten (Abb. 2) sollte uns in die Lage versetzen, auf die folgende Frage zu antworten: Ist es möglich, dass das alljährliche Wachstum der Schulden ausreichend war, um den Teil der Vermehrung des BSP zu bewältigen, der sich nicht mit den Verkäufen deckte, die in die außerkapitalistischen Märkte gingen? Wie wir bereits gesagt haben, sind es die Schulden, die die Rolle des Käufers außerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse spielen, sobald diese Märkte nicht mehr verfügbar sind.[21]

 

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64

65

66

67

68

69

GNP

257

285

328

346

365

365

398

419

441

447

484

504

520

560

591

632

685

750

794

866

932

Debt

446

486

519

550

582

606

666

698

728

770

833

874

930

996

1071

1152

1244

1341

1435

1567

1699

%annual Debt/GNP

 

171

158

159

160

166

167

167

165

172

172

174

179

178

181

182

182

179

181

181

182

%over  the period Δ Debt /ΔGNP

185%

Δ annual GNP

 

28

44

17

19

0

33

21

22

6

36

20

16

40

30

42

53

65

44

72

67

Δ annual Debt

 

40

33

31

31

24

60

33

30

41

63

41

56

66

75

81

93

97

94

132

132

(Δ annual Debt- Δ annual GNP)

 

12

-11

14

12

24

27

11

8

35

27

21

40

26

45

39

40

32

50

60

65

                                               

Grafik 2: Vergleich der Entwicklung des BSP und der Schulden der USA zwischen 1950 und 1969

% jährliche Schulden=(Schulden/BSP)*100; % über die Periode Δ Schulden/ΔBSP = (Schulden 1969 - Schulden 1949) / (BSP 1969 - BSP 1949)*100; Δ jährliches BSP = BSP in (n) - BSP in (n-1); Δ jährliche Schulden im Jahr (n) = Schulden im Jahr n - Schulden im Jahr (n-1).

(Quelle: Federal Reserve Archival System for Economic Research)https://fraser.stlouisfed.org/publications/scb/page/6870 [27] (1) https://fraser.stlouisfed.org/publications/scb/page/6870/1615/download/6... [28] (2)

Die Steigerung des Wertes der Schulden als prozentualer Anteil an der Steigerung des BSP beträgt für den fraglichen Zeitraum 18 Prozent. Mit anderen Worten, die Steigerung des Schuldenwertes ist in zwanzig Jahren fast doppelt so hoch wie die Steigerung des Wertes des BSP gewesen. Tatsächlich zeigt dieses Resultat, dass die Schuldenentwicklung in den USA dergestalt war, dass die Schulden während des gesamten Zeitraums ganz allein das Wachstum im BSP der USA sicherten (und gar eine wichtige Rolle im Wachstum in anderen Ländern spielten), ohne die Notwendigkeit, auf den Absatz  auf außerkapitalistischen Märkten zurückzugreifen. Ferner können wir sehen, dass mit Ausnahme von 1951 die Steigerung der Schulden alljährlich höher ist als die des BSP (erst 1951 war die Differenz zwischen dem Schuldenwachstum und der Steigerung des BSP negativ). Dies bedeutet, dass in all diesen Jahren, außer einem, die Schulden für die Steigerung des BSP gesorgt haben. Diese waren höher, als es angesichts des Beitrages, den die außerkapitalistischen Märkte damals noch leisten konnten, notwendig gewesen wäre.

Die Schlussfolgerung aus dieser Betrachtung ist folgende: Die theoretische Analyse, die davon ausgeht, dass die Flucht in den Kredit an die Stelle der Verkäufe auf außerkapitalistischen Märkte trat, um die Akkumulation stattfinden zu lassen, wird von den realen Entwicklung der Schulden in diesen Ländern nicht widerlegt. Und auch wenn eine solche Schlussfolgerung nicht automatisch für alle Industrieländer verallgemeinert werden kann, verleiht die Tatsache, dass es die größte Wirtschaftsmacht der Welt betrifft und dass dies vom Beispiel Westdeutschlands bestätigt wird, dem Ganzen eine gewisse Allgemeingültigkeit. Im Falle Westdeutschlands verfügen wir über Statistiken zur Schuldenentwicklung im Verhältnis zum BSP (Abb. 3), die die gleiche Tendenz veranschaulichen.

Year

50

55

60

65

70

%annual Debt/GNP

22

39

47

67

75

Grafik 3: Entwicklung der Schulden in Westdeutschland zwischen 1950 und 1970. Quelle: Survey of Current Business (07/1975) - Monthly Review (Bd. 22, Nr. 4, 09/190, S. 6)

Worin bestehen die Folgen für unsere Analyse der Dekadenz? Wie war der Sättigungsgrad der Märkte 1914 beschaffen?

Der Erste Weltkrieg brach inmitten einer Prosperitätsphase der kapitalistischen Weltwirtschaft aus. Ihm ging keine offene Wirtschaftskrise voraus; dennoch war es das wachsende Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse, die die Quelle des Weltkonflikts und, damit einhergehend, des Eintritts des Kapitalismus in seine Dekadenz war. Die Entwicklung dieses Systems war bedingt gewesen durch die Eroberung außerkapitalistischer Märkte, und das Ende der kolonialen und ökonomischen Eroberung der Welt durch die großen kapitalistischen Metropolen führte Letztere in eine Konfrontation um ihre jeweiligen Märkte.

Im Gegensatz zur Interpretation der Genossen Salome und Ferdinand beinhaltet eine solche Situation nicht, dass „die außerkapitalistischen Märkte (...) seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr genügen, gemessen an den Bedürfnissen der im Kapitalismus erreichten erweiterten Akkumulation". Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte sich die Krise auf rein ökonomischer Ebene vor 1914 manifestiert.

Diese Charakteristiken der Periode (imperialistische Rivalitäten rund um die verbliebenen nicht-kapitalistischen Territorien) wurden in folgender Passage von Luxemburg sehr präzise zum Ausdruck gebracht: „Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde"[22]. Bei etlichen Gelegenheiten kam Luxemburg auf den Zustand der Welt in dieser Zeit zurück: „In Wirklichkeit gibt es neben alten kapitalistischen Ländern noch in Europa selbst Länder, in denen bäuerliche und handwerkmäßige Produktion bis jetzt sogar stark überwiegen, wie Russland, der Balkan, Skandinavien, Spanien. Und endlich gibt es neben dem kapitalistischen Europa und Nordamerika gewaltige Kontinente, auf denen die kapitalistische Produktion erst auf wenigen zerstreuten Punkten Wurzeln geschlagen hat, während im Übrigen die Völker jener Kontinente alle möglichen Wirtschaftsformen von der primitiv kommunistischen bis zur feudalen, bäuerlichen und handwerkmäßigen aufweisen." [23]. Tatsächlich: „ (...) weil der Erste Weltkrieg, der zwar an sich ein Produkt der ökonomischen Widersprüche des Systems war, ausbrach, bevor sich diese Widersprüche auf einer „rein" ökonomischen Ebene entfalten konnten. Die Krise von 1929 war die erste Weltwirtschaftskrise in der Periode der Dekadenz des Kapitalismus".[24]

Wenn 1929 die erste bedeutende Manifestation der Unzulänglichkeit der außerkapitalistischen Märkte in der Epoche der Dekadenz gewesen war, bedeutet dies, dass nach diesem Zeitpunkt es für sie nicht mehr möglich war, eine bedeutsame Rolle bei der kapitalistischen Prosperität zu spielen?

In den zehn Jahren, die 1929 folgten, war es nicht möglich gewesen, die weiten vorkapitalistischen Zonen „auszutrocknen", die 1914 in der ganzen Welt noch existierten: Es war eine Periode, die sich nicht durch intensive Wirtschaftsaktivitäten auf Weltebene auszeichnete. Noch während der 30er Jahre und einem Gutteil der 40er Jahre verlangsamten sich die Wirtschaftsaktivitäten. Daher signalisierte die Krise von 1929, auch wenn sie die Grenzen der außerkapitalistischen Märkte enthüllte, nicht das Ende jeglicher Möglichkeit für Letztere, eine wichtige Rolle bei der Akkumulation des Kapitals zu spielen.

Die Ausbeutung eines jungfräulichen, außerkapitalistischen Marktes oder die bessere Ausbeutung eines alten hängt zu einem großen Teil von Faktoren ab wie die Arbeitsproduktivität in den zentralen kapitalistischen Ländern, die die Konkurrenzfähigkeit der von ihnen produzierten Waren bestimmen, und die für das Kapital verfügbaren Transportmittel, um die Warenzirkulation sicherzustellen. Diese Faktoren bilden den Motor der Expansion des Kapitalismus in der ganzen Welt, wie bereits vom Kommunistischen Manifest hervorgehoben wurde.[25] Darüber hinaus machte der Prozess der Entkolonialisierung gewisse außerkapitalistische Märkte weitaus profitabler, da er den Handel von der Bürde der Aufrechterhaltung des Apparates der kolonialen Vorherrschaft entlastete.

Der Zyklus „Krise-Krieg-Wiederaufbau" ist in Frage gestellt

Vor einiger Zeit korrigierte die IKS die falsche Interpretation, dass der Erste Weltkrieg die Folge einer offenen Wirtschaftskrise gewesen sei. Wie wir gesehen haben, muss Ursache und Wirkung im Verhältnis zwischen Krise und Krieg erkannt werden, indem der Begriff Krise in seiner weiteren Bedeutung als Krise der Produktionsverhältnisse gesehen wird.

Was den Verlauf „Krieg - Wiederaufbau - neue Krise" anbetrifft, so haben wir ebenfalls gesehen, dass diese Analyse nicht in der Lage war, die Prosperität der 50er und 60er Jahre mit zu berücksichtigen, die nicht dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg zugeschrieben werden kann. Es verhält sich genauso wie mit dem Wiederaufleben nach dem Ersten Weltkrieg, als der Kapitalismus wieder an die Vorkriegs-Dynamik anknüpfte und sich dabei auf der Ausbeutung der außerkapitalistischen Märkte stützte, allerdings in einem viel geringeren Umfang. Es gab in der Tat einen Wiederaufbauprozess nach dem Krieg; er war allerdings wegen der Folgen der Zerstörungen, die durch den Krieg angerichtet worden war, weit entfernt davon, die Akkumulation zu erleichtern, und Bestandteil der Nebenkosten, die benötigt wurden, um die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen.

Und seit 1967, als der Kapitalismus einmal mehr in eine Periode wirtschaftlicher Turbulenzen trat, ist eine Krise nach der anderen eingetreten. Der Kapitalismus hat den Planeten verwüstet, indem sich die imperialistischen Konflikte multipliziert haben, ohne im Entferntesten die Bedingungen für einen Wiederaufbau zu schaffen, der synonym für eine Rückkehr zur Prosperität, selbst in einem limitierten und temporären Sinn, wäre.

Wie die IKS aufgezeigt hat und wie die Fortsetzung des Wachstums nach 1914 und heute bewiesen hat, bedeutet der Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz nicht das Ende der Akkumulation, obgleich dieses Wachstum in seinen Proportionen gegenüber den schnellsten Phasen der aufsteigenden Periode (der größte Teil der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1914) zweitrangig erscheint. Die Fortsetzung der Akkumulation basierte auf der Ausbeutung von außerkapitalistischen Märkten bis zu deren Erschöpfung. Es waren schließlich nicht-rückzahlbare Schulden, die den Stab aufnahmen, wenngleich sie gleichzeitig zunehmend unüberwindliche Widersprüche aufhäuften.

Somit, und im Gegensatz zu dem, was die Formulierung „Krise - Krieg - Wiederaufbau - neue Krise" beinhaltete, waren es nicht die Mechanismen von Zerstörung und Wiederaufbau, die die Bourgeoisie in die Lage versetzten, das Leben des Kapitalismus zu verlängern, weder nach dem Ersten Weltkrieg noch nach dem Zweiten. Die Hauptinstrumente solch eines Unterfangens, der Keynesianismus und vor allem Schulden, sind, auch wenn sie durch eine Hinauszögerung der Folgen der Überproduktion eine unmittelbare Wirkung ausüben, keineswegs eine wundersame Antwort. Der auffälligste Beweis dafür ist der Verzicht auf keynesianische Maßnahmen in den 1980er Jahren und die gegenwärtige Sackgasse allgemeiner, bodenloser Schulden.

Silvio, 1. Quartal 2010

 

 

 


 

[1]  Angesichts der Krise gibt es einen vielstimmigen Chor auf der „Linken" (und selbst eines Gutteils der Rechten heutzutage), der nach einer Rückkehr zu keynesianischen Maßnahmen ruft, wie aus der folgenden Passage ersichtlich wird, die einem Arbeitsdokument von Jacques Gouverneur, einem Lehrer an der Katholischen Universität von Louvin in Belgien, entnommen ist. Wie der Leser sehen kann, beinhaltet die Lösung, die er vorstellt, die Nutzung der Produktivitätssteigerungen, um keynesianische Maßnahmen und eine alternative Politik zu installieren... wie jene, die von der Linken des Kapitals als Antwort auf die Verschlimmerung der wirtschaftlichen Lage Ende der 60er Jahre befürwortet wurde, mit der Absicht, Verwirrung in der Arbeiterklasse über die Möglichkeit der Reformierung des Systems zu stiften. „Sollten wir, um aus der Krise zu gelangen und das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen, Löhne, Sozialleistungen (Arbeitslosengelder, Krankengeld, Familienbeihilfen), öffentliche Ausgaben (Bildung, Kultur, öffentliche Arbeiten...) reduzieren - oder sollten wir sie im Gegenteil steigern? Mit anderen Worten: sollten wir mit der restriktiven Politik fortfahren, die vom Neoliberalismus inspiriert wurde (wie wir dies seit Beginn der 80er Jahre getan haben), oder sollten wir im Gegenteil zu der expansiven Politik zurückkehren, die vom Keynesianismus angeregt und in der Wachstumsperiode zwischen 1945 und 1975 angewendet wurde? Mit anderen Worten: können Unternehmen gleichzeitig ihre Profite und ihren Absatz steigern? Dafür sind zwei Bedingungen notwendig. Die erste ist ein allgemeines Wachstum der Produktivität, in dem Sinn, dass die Wirtschaft mit derselben Anzahl von Arbeitern (oder Einwohnern) ein größeres Volumen von Waren und Dienstleistungen produziert. Um es in einem Bild auszudrücken, jede Steigerung in der Produktivität in einem bestimmten Zeitraum (...) vergrößert den Umfang des produzierten ‚Kuchens‘, vergrößert die Zahl der Kuchenstücke, die ausgeteilt werden. In einem Zeitraum, in dem die Produktivität steigt, ist die Etablierung keynesianischer Maßnahmen die zweite Bedingung für die Unternehmen, um größere Profite und mehr Absatz zu machen (...) Die  Beibehaltung der neoliberalen Politik wird die gesellschaftlichen Dramen multiplizieren und zu einem ökonomischen Hauptwiderspruch führen: Sie akzentuiert die Scheidung zwischen der globalen Steigerung der Profite und der globalen Steigerung des Absatzes. Doch sie begünstigt Unternehmen und die vorherrschenden Gruppen: Letztere werden fortfahren, wirksamen Druck auf die öffentlichen Behörden (nationale oder supranationale) auszuüben, um diese schädliche Politik zu verlängern. Die Rückkehr zur keynesianischen Politik setzt eine Veränderung des gegenwärtigen Gleichgewichts der Kräfte voraus: Es wird jedoch nicht ausreichen, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen, die von der Strukturkrise des kapitalistischen Systems beleuchtet wurden. Die Lösung dieser Probleme erfordert eine andere Politik: eine Erhöhung öffentlicher Steuern (im Wesentlichen auf Profite), um gesellschaftlich nützliche Produktion zu finanzieren, die  Reduzierung der Arbeitszeit, um Ebenen der Beschäftigung und der Freizeit zu entwickeln, eine gleitende Zusammensetzung der Löhne, um Solidarität zu fördern."

https://www.capitalisme-et-crise.info/telechargements/pdf/FR_JG_Quelles_... [29] (unsere Hervorhebungen)

 

[2] Die Darstellung dieser Debatte und der drei wichtigsten involvierten Positionen können in dem Artikel „Die Gründe für das „Wirtschaftswunder" nach dem Zweiten Weltkrieg" in der Internationalen Revue Nr. 42 nachgelesen werden; wir veröffentlichten anschließend die folgenden Artikel: „Die Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus" in Internationale Revue Nr. 43, „Die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation" und „Kriegswirtschaft und Staatskapitalismus" in Internationale Revue Nr. 44, „Zur Verteidigung der These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus" in Internationale Revue Nr. 45.

 

[3] „Zur Verteidigung der These keynesianisch-fordistischer Staatskapitalismus, Antwort auf Silvio und Jens" in Internationale Revue Nr. 45.

 

[4] Wenn dieser Beitrag keinen Blick auf die Antwort von Salome und Ferdinand auf die Thesen der Kriegswirtschaft und des Staatskapitalismus wirft, dann geschieht dies deshalb, weil wir die von Letzteren aufgeworfene Diskussion als weniger prioritär betrachten, auch wenn es notwendig ist, darauf zurückzukommen. Dies deshalb, weil diese These nicht in erster Linie von einer besonderen Auffassung über den Akkumulationsprozess bestimmt ist, sondern eher von den geopolitischen Bedingungen, unter denen die Akkumulation stattfindet.

 

[5] „Krieg, Militarismus und imperialistische Blöcke in der Dekadenz des Kapitalismus", Internationale Review Nr. 52, 1988 (engl./franz./span. Ausgabe), zitiert im Artikel, der diese Debatte in der Internationalen Revue Nr. 42 einleitete.

 

[6] Siehe „Die Dekadenz des Kapitalismus. Die tödlichen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft", in der vorliegenden Nr. der Internationalen Revue.

 

[7] „Ursprünge, Dynamiken und Grenzen des keynesianisch-fordistischen Staatskapitalismus", Internationale Revue Nr. 43.

 

[8] Siehe „Die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation", Internationale Revue Nr. 44.

 

[9] Siehe den Abschnitt über die These der außerkapitalistischen Märkte und Verschuldung in „Die Gründe für das „Wirtschaftswunder" nach dem Zweiten Weltkrieg" in Internationale Revue Nr. 42. Die Bezüge auf Marx sind vom Kapital, Bd. 3, Teil III, Kap. XV, Überfluss an Kapital bei Überfluss an Bevölkerung.

 

[10]  Zu diesem Punkt siehe den Abschnitt über außerkapitalistische Märkte und Verschuldung in dem Artikel in Internationale Revue Nr. 42.

 

[11] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 7, „Analyse des Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion"

 

[12] Es ist unbestreitbar, dass der Kredit eine regulierende Rolle spielt und es ermöglicht, das Bedürfnis nach außerkapitalistischen Märkten in jedem Zirkel zu dämpfen. Doch er macht keinesfalls das grundlegende Problem ungeschehen, das, wie Rosa Luxemburg es formuliert hat, durch die Untersuchung eines abstrakten Zyklus‘, der aus den elementaren Zyklen des diversen Kapitals resultiert, betrachtet werden kann: „Element der erweiterten Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals ist - genau wie bei der früher vorausgesetzten einfachen - die Reproduktion des Einzelkapitals. Geht doch die Gesamtproduktion - ob sie als einfache oder als erweiterte betrachtet wird - tatsächlich nur unter der Form von zahllosen selbständigen Reproduktionsbewegungen privater Einzelkapitale vor sich". (Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 6). Ebenso liegt es auf der Hand, dass nur in bestimmten dieser Zyklen ein externer Käufer interveniert.

 

[13] Diese beiden Passagen sind aus den Kapiteln 7 und 9.

 

[14] Diese Antwort kann unter anderem im Kapital, Bd. 3, gefunden werden: „Wie könnte es sonst an Nachfrage für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt. Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, so wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr." (Bd. 3, 15. Kapitel: Entfaltung der inneren Widersprüche des Gesetzes, Abschnitt 3: Überfluß an Kapital bei Überfluß an Bevölkerung)

 

[15] Die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals (d.h. das größere Wachstum des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital) im Produktionsgütersektor ist im Durchschnitt schneller als im Konsumgütersektor, angesichts der technologischen Charakteristiken dieser beiden Sektoren.

 

[16] Die Akkumulation des Kapitals, „Widersprüche des Schemas der erweiterten Reproduktion".

 

[17] Ebenda.

 

[18] Trotz der exzellenten Illustrationen und Interpretationen der Entwicklung des Weltkapitalismus, die er aus der Theorie von Rosa Luxemburg zog, insbesondere in Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, müssen wir uns dennoch fragen, ob Sternberg diese Theorie in ihrer Tiefe wirklich verarbeitet hat. So analysiert Sternberg im gleichen Buch die Krise der 30er Jahre als ein Resultat der Unfähigkeit des Kapitalismus während dieser Periode, die wachsende Produktion mit dem wachsenden Konsum in Einklang zu bringen: „Der Test, auf Basis der kapitalistischen Profitwirtschaft ohne größere äußere Expansion die Steigerung der Produktion und der Produktivität mit der Steigerung des Konsums zu synchronisieren, wurde nicht bestanden. Das Ergebnis war die Krise." (Sternberg, Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, Rowohlt 1951, S. 240). Dies führt uns zur Auffassung, dass solch ein Einklang im Kapitalismus möglich ist, was der Beginn der Abkehr von der Stringenz und Kohärenz von Rosa Luxemburgs Theorie ist. Dies wird von Sternbergs Untersuchung der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt, wo er den Gedanken entwickelt, dass es möglich sei, die Gesellschaft durch Verstaatlichungen umzuwandeln und die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern. Die folgende Passage gibt uns eine Ahnung davon: „Die Erschütterung des Kapitalismus zwischen den beiden Weltkriegen und im Zweiten Weltkrieg selbst schuf die Basis für ein derartiges Programm. Die englische Labour-Partei ging mit ihm in die Wahlen, die 1945 stattfanden. (...) Mit der Durchführung dieses Programms wäre ein wesentlicher Schritt in der sozialistischen Umgestaltung der englischen Wirtschaft und Gesellschaft getan, und zwar ein Schritt, der weitere Schritte auf dem gleichen Wege erleichtern würde. (...) Die Labour-Partei begann in den Jahren nach dem Krieg das Mandat, das sie vom englischen Volk durch die Wahlen erhielt, durchzuführen. Es geschah hier ein erster, großer, wichtiger Schritt in der Richtung auf eine radikale Umgestaltung des kapitalistischen Staates, der kapitalistischen Gesellschaft und Wirtschaft, und zwar auf demokratischer Basis." (ebenda, S. 434/435). Das Ziel hier ist es nicht, Sternbergs Reformismus einer radikalen Kritik zu unterziehen. Es geht einfach darum, aufzuzeigen, dass seine reformistische Vorgehensweise notwendigerweise eine beträchtliche Unterschätzung der ökonomischen Widersprüche einschließt, die die kapitalistische Gesellschaft überfallen, eine Unterschätzung, die kaum vereinbar ist mit Rosa Luxemburgs Theorie, wie sie in Die Akkumulation des Kapitals entwickelt wurde.

 

[19] Wie in unserem Text „Die Grundlagen des Kapitalismus" veranschaulicht, der sich auf die Schriften von Paul Mattick stützt. Für Letztgenannten ist, im Unterschied zu Rosa Luxemburg, die Intervention von Käufern außerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse für die Ermöglichung der Akkumulation nicht notwendig.

 

[20] Fritz Sternberg, Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, siehe Teil 3: Die Stagnation des Kapitalismus, 1. Kapitel: Der Stop der kapitalistischen Expansion - Der Stop der äußeren Expansion des Kapitalismus, Rowohlt, S. 177  

 

[21] Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Funktion der Schulden nicht nur darin besteht, einen künstlichen Markt zu schaffen.

 

[22] Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 31, Schutzzoll und Akkumulation (unsere Hervorhebungen)

 

[23] Antikritik, Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 5 S. 429 (unsere Hervorhebungen)

 

[24] „Resolution über die internationale Situation", 16. IKS-Kongress, Internationale Revue, Nr. 36

 

[25] „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt." (unsere Hervorhebung) Manifest, 1. Kapitel: Bourgeois und Proletarier

 

Historische Ereignisse: 

  • Wirtschaftswunder [30]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [13]

Internationale Revue – 2011

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Internationale Revue 47

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19. Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Situation

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Im Mai dieses Jahres hat die IKS ihren 19. internationalen Kongress abgehalten. Wie wir es bis jetzt immer getan haben, und in der Tradition der Arbeiterbewegung vermitteln wir den Lesern und Leserinnen unserer Presse die wichtigsten Resultate dieses Kongresses, da diese Lehren nicht eine interne Angelegenheit unserer Organisation sind, sondern die ganze Arbeiterklasse betreffen, von der wir ein Bestandteil sind.

1. Die am letzten Kongress der IKS angenommene Resolution unterstrich zunächst, wie die Fakten die optimistischen Voraussagen der Führer der bürgerlichen Klasse zu Beginn des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts widerlegt hatten, insbesondere die Voraussagen nach dem Zusammenbruch des „Reichs des Bösen“, als welches der so genannte „sozialistische“ Block galt. Die Resolution zitierte die bereits berühmte Erklärung von George Bush sen. im März 1991, in der er die Geburt einer „neuen Weltordnung“ ankündigte, die auf dem „Respekt vor dem Völkerrecht“ beruhe, und sie hob hervor, wie surrealistisch solche Voraussagen angesichts des sich ausbreitenden Chaos in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft sind. Zwanzig Jahre nach dieser „prophetischen“ Rede, insbesondere nach Beginn dieses neuen Jahrzehnts, bietet die Welt ein chaotischeres Bild als je seit dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb von einigen wenigen Wochen wurden wir Zeugen eines neuen Kriegs in Libyen, der die Liste all der blutigen Konflikte, die den Planeten in der letzten Zeit überzogen haben, verlängert, von weiteren Massakern an der Elfenbeinküste und der Tragödie, die eines der mächtigsten und modernsten Länder der Welt heimsuchte, nämlich Japan. Das Erdbeben, das einen Teil dieses Landes verwüstete, unterstrich einmal mehr, dass es nicht „Naturkatastrophen“ gibt, sondern katastrophale Folgen von natürlichen Erscheinungen. Es zeigte, dass die Gesellschaft heute über die Mittel verfügt, Gebäude zu erstellen, die den Erschütterungen widerstehen, Mittel, die es erlauben würden, Tragödien wie diejenige vom letzten Jahr in Haiti zu vermeiden. Aber es zeigte ebenso, wie wenig selbst ein so fortgeschrittener Staat wie Japan Gefahren voraussieht: Das Erdbeben selber forderte nur wenige Opfer, aber der darauf folgende Tsunami tötete beinahe 30‘000 Menschen in wenigen Minuten. Darüber hinaus offenbarte das neue Tschernobyl in Fukushima, dass es der herrschenden Klasse nicht nur an Voraussicht mangelt, sondern dass sie schlicht dem Zauberlehrling gleicht, der nicht in der Lage ist, die Geister zu bändigen, die er rief. Das Unternehmen Tepco, welches das Atomkraftwerk betreibt, ist nicht der hauptsächliche, und schon gar nicht der einzige Verantwortliche der Katastrophe. Vielmehr ist das kapitalistische System als ganzes, das auf dem unbändigen Streben konkurrierender nationaler Einheiten nach Profit, statt auf der Bedürfnisbefriedigung der Menschheit beruht, für die gegenwärtigen und noch kommenden Katastrophen, welche die menschliche Gattung erleiden muss, verantwortlich. In letzter Instanz ist das japanische Tschernobyl ein neuer Beweis für den endgültigen Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise, eines Systems, dessen Überleben eine zunehmende Gefahr für das Überleben der Menschheit selber darstellt.

2. Offensichtlich drückt die Krise, die gegenwärtig der Weltkapitalismus durchmacht, am unmittelbarsten die geschichtliche Hinfälligkeit dieser Produktionsweise aus. Vor zwei Jahren ergriff eine helle Panik die Bourgeoisie aller Länder angesichts der Ernsthaftigkeit der wirtschaftlichen Lage. Die OECD schrieb unverblümt: „Die Weltwirtschaft befindet sich inmitten der tiefgreifendsten Rezession, die wir zu unseren Lebzeiten je gesehen haben“ (Zwischenbericht März 2009). Wenn man weiß, mit welcher Zurückhaltung sich diese hochehrwürdige Institution normalerweise ausdrückt, kann man ermessen, wie sehr die herrschende Klasse vom Schrecken gepackt war angesichts des möglichen Bankrotts des internationalen Finanzsystems, des brutalen Einbruchs des Welthandels (im Jahre 2009 mehr als 13%), der Gewalt der Rezession in den wichtigsten Ländern, der Welle von Pleiten, die Vorzeigeunternehmen der Industrie wie General Motors oder Chrysler erfasste oder bedrohte. Dieser Schrecken der Bourgeoisie veranlasste sie, Gipfeltreffen der G20 einzuberufen, wobei derjenige vom März 2009 in London die Verdoppelung der Reserven des Weltwährungsfonds und die massive Einschießung von Liquidität in die Wirtschaft durch die Staaten beschloss, um das Bankensystem vor dem Absturz zu bewahren und die Produktion wieder anzukurbeln. Das Gespenst der „Großen Depression der 1930er Jahre“ ging um, was die gleiche OECD veranlasste, solche Dämonen mit den Worten zu beschwören: „Obwohl dieser schwere weltweite Konjunkturabschwung von einigen bereits als ‚Große Rezession’ bezeichnet wurde, sind wir weit davon entfernt, eine Wiederholung der Großen Depression der 1930er Jahre zu erleben, was der Qualität und der Intensität der gegenwärtig getroffenen staatlichen Maßnahmen zu verdanken ist“ (a.a.O.). Doch wie die Resolution des 18. Kongresses sagte, besteht „ein Wesensmerkmal der offiziellen Reden der herrschenden Klasse heute darin, die Reden von gestern in Vergessenheit geraten zu lassen“, und der gleiche Zwischenbericht der OECD vom Frühjahr 2011 verleiht einer wahren Erleichterung Ausdruck angesichts der Wiederherstellung  des Bankensystems und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Die herrschende Klasse kann nicht anders. Unfähig zu einer klaren, umfassenden und historischen Sicht auf die Schwierigkeiten, in denen ihr System steckt - da umgekehrt eine solche Klarsicht sie dazu führen würde, die endgültige Sackgasse des Systems zu entdecken -, ist sie dazu verdammt, die Wechsel der unmittelbaren Lage von Tag zu Tag zu kommentieren und zu versuchen, darin Momente des Trostes zu finden. Bei diesem Unterfangen unterschätzt sie immer wieder die Bedeutung des Hauptphänomens der letzten beiden Jahre: die Krise der Staatsanleihen in gewissen europäischen Ländern - auch wenn die Medien manchmal bei diesem Thema einen alarmierten Ton anschlagen. In der Tat stellt diese potentielle Pleite einer wachsenden Reihe von Staaten eine neue Phase im Versinken des Kapitalismus in der unüberwindlichen Krise dar. Sie verdeutlicht die Grenzen der Maßnahmen, mit denen es der Bourgeoisie gelungen ist, den Fortgang der kapitalistischen Krise seit mehreren Jahrzehnten zu bremsen.

3. Seit mittlerweile mehr als 40 Jahren steht das kapitalistische System der Krise gegenüber. Der Mai 68 in Frankreich und die Gesamtheit der proletarischen Kämpfe, die weltweit darauf folgten, breiteten sich nur deshalb so aus, weil sie genährt wurden durch eine globale Verschärfung der Lebensbedingungen, die ihrerseits auf den Auswirkungen der kapitalistischen Krise beruhte, insbesondere der Anstieg der Arbeitslosigkeit. Diese Krise verschärfte sich 1973-75 brutal mit der ersten großen internationalen Nachkriegs-Rezession. Seither folgten neue Rezessionen, welche die Weltwirtschaft jedes Mal tiefer und weiterreichender trafen und schließlich in der derjenigen von 2008-2009 einen vorläufigen Tiefpunkt erreichten, der das Gespenst der 1930er Jahre hervorrief. Die Maßnahmen, die der G20 im März 2009 zur Vermeidung einer neuen „Großen Depression“ ergriffen, zeigen die Politik auf, welche die herrschende Klasse seit einigen Jahrzehnten anwendet: Sie lässt sich zusammenfassen als Einschießung von beträchtlichen Kreditmassen in die Wirtschaft. Solche Maßnahmen sind nicht neu. Tatsächlich stellen sie seit 35 Jahren den Kern der Wirtschaftspolitik der herrschenden Klasse dar beim Versuch, dem großen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise zu entgehen: der Unfähigkeit, zahlungsfähige Märkte zu finden, die ihre Produktion aufnehmen. Die Rezession von 1973-75 wurde durch massive Kredite an die Länder der Dritten Welt überwunden, doch ab Beginn der 1980er Jahre, mit der Schuldenkrise dieser Länder, musste die Bourgeoisie der am meisten entwickelten Länder auf diese Lunge für ihre Wirtschaft verzichten. Die Staaten der am weitesten entwickelten Länder, allen voran die USA, übernahmen nun die Rolle der „Lokomotive“ der Weltwirtschaft. Die „Reaganomics“ (neoliberale Politik der Reagan-Administration) zu Beginn der 80er Jahre, die einen bedeutenden Aufschwung der Wirtschaft dieses Landes erlaubten, beruhten auf einer noch nie dagewesenen Ausschöpfung der Budgetdefizite, während Ronald Reagan gleichzeitig erklärte: „Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem.“ Zugleich ermöglichten es die ebenfalls beträchtlichen Handelsdefizite dieser Großmacht, dass die in anderen Ländern produzierten Waren hier einen Absatz fanden. In den 1990er Jahren standen die asiatischen „Tiger“ und „Drachen“ (Singapur, Taiwan, Südkorea usw.) eine Weile den USA in dieser Rolle als „Lokomotive“ bei: Ihre spektakulären Wachstumsraten verwandelten jene in wichtige Absatzmärkte für die Waren der am meisten industrialisierten Länder. Aber diese „Erfolgsgeschichte“ hatte den Preis einer beträchtlichen Verschuldung, die jene Länder 1997 in große Schwierigkeiten führte vergleichbar mit denen des „neuen“ und „demokratischen“ Russland, das vor der Zahlungsunfähigkeit stand und grausam diejenigen enttäuschte, die auf das „Ende des Kommunismus“ setzten, um einen dauerhaften Aufschwung der Weltwirtschaft vorauszusagen. Zu Beginn der 2000er Jahre erfuhr die Verschuldung eine neue Beschleunigung, insbesondere dank der enormen Wucherung der Hypothekardarlehen im Bausektor von mehreren Ländern, vor allem in den USA. Dieses Land trieb seine Rolle als „Lokomotive der Weltwirtschaft“ auf die Spitze, aber zum Preis eines schwindelerregenden Wachstums der Schulden - insbesondere der US-amerikanischen Bevölkerung -, die auf allen möglichen „Finanzprodukten“ beruhten, die angeblich die Risiken einer Zahlungsunfähigkeit vermindern sollten. In Tat und Wahrheit führte die Verteilung von zweifelhaften Krediten keineswegs dazu, das über der amerikanischen Wirtschaft und derjenigen der Welt hängende Damoklesschwert in Sicherheit zu bringen. Im Gegenteil häuften sich im Kapital der Banken „toxische Guthaben“ an, die schließlich 2007 zu ihrem Zusammenbruch und 2008-2009 zur brutalen Weltrezession führten.

4. Die vom letzten Kongress angenommene Resolution sagte: „So ist die Finanzkrise nicht die Wurzel der gegenwärtigen Rezession. Im Gegenteil, die Finanzkrise verdeutlicht nur die Tatsache, dass die Flucht nach vorne in die Verschuldung, welche die Überwindung der Überproduktion ermöglicht hatte, nicht endlos lange fortgesetzt werden kann. Früher oder später  rächt sich die « reale Wirtschaft », d.h. was die Grundlagen der Widersprüche des Kapitalismus darstellt – die Überproduktion, die Unfähigkeit der Märkte, die Gesamtheit der produzierten Waren aufzusaugen. Diese Widersprüche treten dann wieder deutlich in Erscheinung.“ Und die gleiche Resolution präzisierte nach dem Gipfel des G20 vom März 2009, dass „die Flucht in die Verschuldung (…) eines der Merkmale der Brutalität der gegenwärtigen Rezession (ist). Die einzige « Lösung », die die herrschende Klasse umsetzen kann, ist eine erneute Flucht in die Verschuldung. Der G20 konnte keine Lösung für die Krise erfinden, ganz einfach, weil es keine Lösung für die Krise gibt.“

Die Krise der Staatsanleihen, die sich heute ausweitet, die Tatsache, dass die Staaten unfähig werden, den Schuldendienst zu leisten, illustriert drastisch diese Realität. Der mögliche Zusammenbruch des Bankensystems und die Rezession zwangen alle Staaten, beträchtliche Summen in ihre Wirtschaft einzuschießen, während umgekehrt die Einnahmen sich im freien Fall befinden, weil die Produktion zurückgeht. Aus diesem Grund nahmen die Staatsdefizite in den meisten Ländern beträchtlich zu. Für die am meisten gefährdeten unter ihnen wie Irland, Griechenland oder Portugal bedeutete dies der potentielle Bankrott, die Unfähigkeit, die Staatsangestellten zu bezahlen und die Schulden zu begleichen. Seither weigern sich die Banken, ihnen neue Darlehen zu geben, außer gegen exorbitant hohe Zinsen, da diese Länder keine Gewähr bieten, die Darlehen wieder zurück zu zahlen. Die „Rettungspläne“, welche die Europäische Bank und der Weltwährungsfond für sie ausarbeiteten, stellen lediglich neue Schulden dar, die ebenso wie die früheren zurück bezahlt werden müssen. Es ist mehr als ein Teufelskreis, es ist eine Höllenspirale. Die einzige „Effizienz“ dieser Pläne besteht in den noch nie dagewesenen Angriffen gegen die ArbeiterInnen, gegen die Staatsangestellten, deren Löhne und Stellen drastisch abgebaut wurden, aber auch gegen die Gesamtheit der Arbeiterklasse durch die Kürzungen von Ausgaben bei den Schulen, der Gesundheit und den Altersrenten wie auch durch starke Steuererhöhungen. Doch all diese Angriffe gegen die Arbeiterklasse beschneiden einmal mehr die Kaufkraft der ArbeiterInnen und leisten so einen weiteren Beitrag zur nächsten Rezession.

5. Die Krise der Staatsschulden in den PIIGS (Portugal, Island, Irland, Griechenland und Spanien) ist nur ein kleiner Teil des Erdbebens, das die Weltwirtschaft bedroht. Nur weil die großen Industriemächte gegenwärtig noch über die Note AAA auf der Bewertungsskala der Rating-Agenturen verfügen (der gleichen Agenturen, die am Vorabend des Debakels der Banken von 2008 diesen ebenfalls die Bestnote erteilt haben), heißt nicht, dass sich jene besser aus der Affäre ziehen würden. Ende April 2011 äußerte sich die Agentur Standard and Poor’s negativ über ein bevorstehendes Quantitative Easing Nr. 3, das heißt einen 3. Aufschwungsplan des amerikanischen Staats zur Ankurbelung der Wirtschaft. Mit anderen Worten läuft die größte Weltmacht Gefahr, dass ihr das „offizielle“ Vertrauen in ihre Fähigkeit zur Bezahlung der Schulden entzogen wird - mindestens mit Dollars, die noch etwas wert sind. Tatsächlich hat dieses Vertrauen halb-offiziell schon zu schwinden begonnen mit dem Entscheid Chinas und Japans seit dem letzten Herbst, massiv Gold und Rohstoffe zu kaufen an Stelle von amerikanischen Staatsanleihen, was die Amerikanische Zentralbank dazu zwang, jetzt 70% bis 90% der ausgegebenen Anleihen selber zu kaufen. Und dieser Vertrauensverlust ist vollkommen gerechtfertigt, wenn man das unglaubliche Ausmaß der Verschuldung der amerikanischen Wirtschaft betrachtet: Im Januar 2010 betrug die öffentliche Verschuldung (Bundesstaat, Gliedstaaten, Gemeinden usw.) schon fast 100% des BIP, was aber nur einen Teil der Gesamtverschuldung des Landes im Umfang von 300% des BIP ausmachte (die auch die Schulden der Haushalte und der nicht im Finanzsektor tätigen Unternehmen beinhaltet). Und die Lage in den anderen großen Ländern ist nicht besser, in denen die Gesamtschuld im gleichen Zeitpunkt für Deutschland 280% des BIP ausmachte, für Frankreich 320%, für Großbritannien und Japan 470%. In Japan erreichte die öffentliche Schuld allein 200% des BIP. Und seither hat sich die Lage in allen Ländern mit den verschiedenen Aufschwungplänen nur noch verschlimmert.

So stellt der Bankrott der PIIGS nur die Spitze des Eisbergs des Bankrotts einer Weltwirtschaft dar, die ihr Überleben seit Jahrzehnten nur der verzweifelten Flucht nach vorn in die Verschuldung verdankt. Die Staaten, die über ihre eigene Währung verfügen wie Großbritannien, Japan und natürlich die USA, konnten diesen Bankrott verstecken, indem sie die Notenpresse heiß laufen ließen (im Gegensatz zu denjenigen der Euro-Zone wie Griechenland, Irland oder Portugal, die nicht über diese Möglichkeit verfügen). Aber diese ständigen Betrügereien der Staaten, die tatsächlich zu wahrhaften Falschmünzern mit dem Bandenboss USA wurden, können nicht endlos auf gleiche Art fortgesetzt werden, so wie auch die Betrügereien im Zusammenhang mit dem Finanzsystem mit dem Ausbruch der Krise von 2008 Schiffbruch erlitten haben und es fast ganz in den Abgrund getrieben hätten. Eines der sichtbaren Zeichen dieser Realität ist die gegenwärtige Beschleunigung der weltweiten Inflation. Die Krise der Verschuldung verschob sich von der Bankensphäre in diejenige der Staaten, wodurch die kapitalistische Produktionsweise in eine neue Phase ihrer zugespitzten Krise eingetreten ist, in der sich die Gewalt und die Ausdehnung ihrer Erschütterungen noch einmal beträchtlich verschärfen werden. Es gibt für den Kapitalismus keinen „Ausgang aus dem Tunnel“. Dieses System kann die Gesellschaft nur noch in eine ständig wachsende Barbarei ziehen.

6. Der imperialistische Krieg ist der wichtige Ausdruck der Barbarei, in welche der dekadente Kapitalismus die menschliche Gesellschaft stößt. Die tragische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist der schlagendste Beweis dafür: Angesichts der historischen Sackgasse, in der sich ihre Produktionsweise befindet, angesichts der Zuspitzung der Handelskonkurrenz zwischen Staaten, ist die herrschende Klasse zu einer Flucht nach vorn in ihrer Kriegspolitik gezwungen, zu militärischen Konfrontationen. Für die meisten Historiker - auch solche, die sich nicht auf den Marxismus berufen - ist klar, dass der Zweite Weltkrieg ein Abkömmling der Großen Depression der 1930er Jahre war. Ebenso hatte die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zwischen den damaligen Blöcken, dem amerikanischen und dem russischen (Invasion der UdSSR in Afghanistan 1979, Kreuzzug der Reagan-Regierung gegen das „Reich des Bösen“), ihre Beweggründe zu einem wesentlichen Teil in der Rückkehr der offenen Wirtschaftskrise Ende der 1960er Jahre. Doch hat die Geschichte gezeigt, dass diese Verbindung zwischen der Zuspitzung der imperialistischen Zusammenstöße und der wirtschaftlichen Krise des Kapitalismus nicht direkt oder unmittelbar ist. Die Intensivierung des „Kalten Krieges“ führte schließlich zum Sieg des westlichen Blocks durch die Implosion des Gegners, was wiederum die Auflösung des ersteren zur Folge hatte. Die Welt entging zwar der Gefahr eines neuen verallgemeinerten Krieges, der zur Vernichtung der menschlichen Gattung hätte führen können, aber dafür explodierten überall militärische Spannungen und offene Zusammenstöße: Das Ende der rivalisierenden Blöcke bedeutete auch das Ende der Disziplin, die sie zuvor noch in ihren jeweiligen Gebieten hatten durchsetzen können. Seither wird die globale imperialistische Bühne durch den Versuch der größten Weltmacht beherrscht, ihre Führerrolle über den Rest der Welt und insbesondere über ihre früheren Bündnispartner aufrecht zu erhalten. Der erste Golfkrieg von 1991 offenbarte bereits diese Zielsetzung, aber die Geschichte der 1990er Jahre zeigte insbesondere mit dem Krieg in Jugoslawien, dass dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist. Der „Krieg gegen den Weltterrorismus“, den die USA nach den Attentaten des 11. September 2001 erklärten, hatte den Anspruch, diese Führerrolle erneut zu behaupten, aber die festgefahrene Situation in Afghanistan und im Irak haben verdeutlicht, dass sie diese Rolle nicht mehr zurück erobern können.

7. Die Misserfolge der USA haben diese Macht nicht davon abgebracht, ihre Offensivpolitik, die sie seit Beginn der 1990er Jahre führte und sie zum wichtigsten destabilisierenden Faktor im Weltmaßstab machte, fortzusetzen. Die Resolution des letzten Kongresses sagte dazu: „Angesichts dieser Lage werden Obama und seine Administration nichts anderes tun können, als die kriegstreiberische Politik ihrer Vorgänger fortzusetzen“ (…) „So verfolgt Obama mit dem Rückzug der Truppen aus dem Irak lediglich den Zweck, sie dafür in Afghanistan und Pakistan einzusetzen.“ Dies hat sich kürzlich mit der Exekution Bin Ladens durch ein amerikanisches Kommando auf pakistanischem Gebiet bewahrheitet. Diese „heldenhafte“ Operation ist natürlich im Rahmen der Vorbereitung auf die nächsten Wahlen, die in anderthalb Jahren stattfinden, zu sehen. Sie zielte insbesondere darauf ab, den republikanischen Kritikern Wind aus den Segeln zu nehmen, da sie ihm vorwarfen, er sei zu weich bei der Bekräftigung der Vorreiterrolle der USA auf militärischer Ebene, wobei diese Kritiken anlässlich der Intervention in Libyen lauter wurden, als die Führerrolle bei dieser Operation dem französisch-britischen Tandem überlassen wurde. Sie bedeutete auch, dass es nach 10 Jahren, in denen Bin Laden als der Böse schlechthin herhalten musste, Zeit wurde, sich seiner zu entledigen, wenn man nicht als ohnmächtig dastehen wollte. Mit dieser Kommandoaktion stellten die USA unter Beweis, dass sie die einzige Macht sind, die die Mittel hat, eine solche Operation in militärischer, technologischer und logistischer Hinsicht durchzuführen, und zwar genau zu der Zeit, als Frankreich und Großbritannien Mühe mit ihrer Operation gegen Ghaddafi bekunden. Sie zeigte aller Welt, dass die USA nicht zögern, die „nationale Souveränität“ eines „Bündnispartners“ zu verletzen, dass sie die Spielregeln bestimmen, wenn immer sie es für nötig erachten. Schließlich zwang diese Aktion die meisten Regierungen der Welt dazu, ihren erfolgreichen Ausgang zu begrüßen, obwohl dies vielen gegen den Strich ging.

8. Trotzdem ist dieser Schlag Obamas in Pakistan keineswegs geeignet, die Lage in der Region, insbesondere in Pakistan selber zu stabilisieren; vielmehr besteht gerade hier die Gefahr, dass diese Ohrfeige für den „nationalen Stolz“ alte Konflikte zwischen verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie und dem Staatsapparat schürt. Weiter wird der Tod Bin Ladens nicht dazu führen, dass nun die USA und die anderen in Afghanistan engagierten Staaten die Kontrolle in diesem Land zurück gewinnen und die Autorität eines Karzai-Regimes konsolidieren könnten, das durch Korruption und Stammesfehden vollständig untergraben ist. Allgemeiner gesagt, wird der Tod Bin Ladens die Tendenzen des „Jeder-für-sich“ nicht bremsen, ebenso wenig wie den Widerstand gegen die Autorität der ersten Weltmacht, wie er weiterhin beispielsweise in erstaunlichen punktuellen Allianzen zum Ausdruck kommt: in der Annäherung zwischen der Türkei und dem Iran; in den Allianzen zwischen dem Iran, Brasilien und Venezuela (strategisch und gegen die USA gerichtet); zwischen Indien und Israel (militärisch und zum Aufbrechen der Isolation); zwischen China und Saudi-Arabien (militärisch und strategisch); usw. Insbesondere wird er China nicht davon abhalten, seine imperialistischen Ansprüche zur Geltung zu bringen, die ihm sein neuer Status als industrielle Großmacht zu haben erlaubt. Es ist klar, dass dieses Land trotz seiner demographischen und wirtschaftlichen Stärke überhaupt nicht die militärischen oder technologischen Mittel hat und in absehbarer Zeit nicht haben wird, um selber ein Blockführer zu werden. Doch hat es die Mittel, um die amerikanischen Ansprüche noch mehr zu durchkreuzen - sei dies in Afrika, im Iran, in Nordkorea, Burma - und seinen Teil zur wachsenden Instabilität beizutragen, welche die imperialistischen Beziehungen prägen. Die „neue Weltordnung“, die Vater George Bush vor 20 Jahren prognostizierte und die er sich unter der Vorherrschaft der USA erträumte, entlarven sich je länger je mehr als ein „Weltchaos“ - ein Chaos, das die Konvulsionen der kapitalistischen Wirtschaft nur noch verschlimmern werden.

9. Angesichts des Chaos das die bürgerliche Gesellschaft auf allen Ebenen, der Ökonomie, des Krieges und auch auf der Ebene der Umwelt, so wie wir es kürzlich in Japan erlebt haben, ergriffen hat, hat nur die Arbeiterklasse eine Lösung anzubieten. Ihre Lösung ist die kommunistische Revolution. Die unüberwindbare Krise der kapitalistischen Wirtschaft, die Erschütterungen, welche sie in immer schärferer Form kennt, bilden die objektiven Bedingungen dafür. Einerseits ist die Arbeiterklasse gezwungen, ihre Kämpfe gegen die dramatischen Angriffe von Seiten der ausbeutenden Klasse zu verstärken. Andererseits erlaubt dies der Arbeiterklasse zu verstehen, dass ihre Kämpfe eine große Bedeutung haben, als Vorbereitung zur entscheidenden Auseinandersetzung mit einer Produktionsweise, dem Kapitalismus, der von der Geschichte verdammt ist unterzugehen. Wie in der Resolution des letzten internationalen Kongress beschrieben: „Der Weg, der uns zu revolutionären Kämpfen und zum Umsturz des Kapitalismus führt, ist lang und schwierig. (…) Damit das Bewusstsein über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution in der Arbeiterklasse wirklich Wurzeln schlagen kann, muss Letztere Vertrauen in ihre eigenen Kräfte gewinnen, und dies geschieht in massenhaften Kämpfen. Der gewaltige Angriff, der schon jetzt auf Weltebene gegen sie geführt wird, bildet eine objektive Grundlage für solche Kämpfe.“ Zum Unmittelbaren stellte die damalige Resolution fest: „Doch die wichtigste Form, in der diese Angriffe stattfinden - Massenentlassungen, läuft der Entwicklung solcher Kämpfe zunächst zuwider. (…) Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann - namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die „Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zulassen -, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“

10. Die zwei Jahre, die uns vom letzten Kongress trennen, haben dies vollauf bestätigt. Diese Periode war nicht gezeichnet von verbreiteten Kämpfen gegen die massiven Entlassungen oder gegen die steigende Arbeitslosigkeit, welche die Arbeiterklasse in den am meisten fortgeschrittenen Ländern über sich ergehen lassen muss. Gleichzeitig gibt es aber bedeutende Kämpfe gegen die „notwendigen Kürzungen der Sozialausgaben“. Doch diese Antwort ist immer noch schüchtern, vor allem dort, wo die Sparmaßnahmen die brutalsten Formen angenommen haben, in Ländern wie z.B. Griechenland oder Spanien, auch wenn die Arbeiterklasse dort in letzter Zeit ein bedeutendes Niveau an Kampfbereitschaft gezeigt hat. In gewisser Weise scheint die Brutalität der Angriffe in den Reihen der Arbeiterklasse ein Gefühl der Machtlosigkeit ausgelöst zu haben, vor allem auch, weil sie durch „linke“ Regierungen durchgesetzt wurden. Paradoxerweise hat sich dort, wo die Angriffe am wenigsten stark waren, wie z.B. in Frankreich, die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse am massivsten manifestiert – mit der Bewegung gegen die Rentenreform im Herbst 2010.

11. Die massivsten Bewegungen, die wir in der letzten Zeit erlebt haben, entfalteten sich nicht in den am höchsten industrialisierten Ländern, sondern in Ländern der Peripherie des Kapitalismus, vor allem in einigen Ländern der arabischen Welt wie in Tunesien und Ägypten. Dort war die herrschende Klasse, nachdem sie erst mit einer brutalen Repression geantwortete hatte, gezwungen, die Diktatoren abzusetzen. Diese Bewegungen waren nicht klassische Arbeiterkämpfe, wie sie sich in diesen Ländern kurz zuvor ereignet hatten (z.B. die Arbeitskämpfe in Gafsa in Tunesien 2009 oder die massiven Streiks in der ägyptischen Textilindustrie während des Sommers 2007, die eine große Solidarität von anderen Sektoren erhielten). Sie haben oft die Form sozialer Revolten angenommen, in denen sich verschiedenste Teile der Gesellschaft wiederfanden: Beschäftigte des Staates und der Privatwirtschaft, Arbeitslose, aber auch Kleinhändler und Bauern und Freiberufliche, die Jugend usw. Aus diesem Grund ist die Arbeiterklasse über die meiste Zeit hinweg nicht direkt als solche erkennbar aufgetreten (wie zum Beispiel in den Streiks in Ägypten in der Endphase der Revolte) und konnte noch weniger eine führende Rolle einnehmen. Dennoch ist der Ursprung dieser Revolten (was sich in vielen Forderungen widerspiegelte) derselbe wie derjenige von Arbeiterkämpfen in anderen Ländern: die dramatische Zuspitzung der Krise und die zunehmende Misere, welche innerhalb der gesamten nichtausbeutenden Bevölkerung um sich greift. Wenn die Arbeiterklasse in diesen Kämpfen im arabischen Raum im Allgemeinen nicht als Klasse aufgetreten ist, so war ihr Einfluss in den Ländern, in denen sie ein stärkeres Gewicht hat, dennoch spürbar. Dies vor allem durch die Atmosphäre einer großen Solidarität in den Revolten und die Fähigkeit, Fallen von blinder und verzweifelter Gewalt zu vermeiden, auch dann, wenn sie mit einer starken Repression konfrontiert waren. Wenn schlussendlich die herrschende Klasse in Tunesien und Ägypten auf den Ratschlag der USA hin die alten Diktatoren über die Klinge springen ließ, so geschah dies weitgehend wegen der starken Präsenz der Arbeiterklasse in diesen Bewegungen. Beweis dafür ist die Entwicklung der Bewegung in Libyen: nicht die Absetzung des alten Diktators Ghaddafi, sondern eine militärische Konfrontation zwischen bürgerlichen Cliquen, in der die Ausgebeuteten als Kanonenfutter dienen. In Libyen ist ein großer Teil der Arbeiterklasse aus eingewanderten Arbeitern zusammengesetzt (aus Ägypten, Tunesien, China, Schwarzafrika, Bengalen), deren überwiegende Reaktion die Flucht vor der blindwütigen Repression war, welche in den ersten Tagen entfesselt wurde.

12. Das militärische Resultat der Ereignisse in Libyen durch das Eingreifen der NATO in den Konflikt erlaubte es der herrschenden Klasse, Kampagnen der Verschleierung gegenüber der Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Länder vom Stapel zu reißen, deren spontane Reaktion die Solidarität und das Begrüßen des Mutes und der Entschlossenheit der Demonstranten in Tunis und Kairo war. Vor allem die massive Präsenz der gut ausgebildeten Jugend, welche mit einer Zukunft in Arbeitslosigkeit und Armut konfrontiert ist, ist ein Echo auf die kürzlich erfolgten Bewegungen der jungen Generation in verschiedenen europäischen Ländern: die Bewegung gegen das CPE-Gesetz in Frankreich im Frühling 2006, Revolten und Streiks in Griechenland Ende 2008, Demonstrationen und Streiks in den Hochschulen und Universitäten in Großbritannien Ende 2010, Studentenbewegungen in Italien und in den USA 2009-2010, usw. Die Kampagnen der herrschenden Klasse, welche darauf abzielen, die Bedeutung der Revolten in Tunesien und Ägypten zu verwischen, werden erleichtert durch die großen demokratischen Illusionen, die tatsächlich noch auf der Arbeiterklasse in diesen Ländern lasten: Nationalismus, demokratische und vor allem gewerkschaftliche Illusionen, ähnlich wie es 1980-81 im Kampf der Arbeiterklasse in Polen der Fall war.

13. Vor 30 Jahren sah sich die IKS angesichts dieser Bewegung in Polen gezwungen, eine kritische Analyse gegenüber der Theorie des „Schwächsten Gliedes“, welche vor allem von Lenin in der Zeit der Russischen Revolution vertreten wurde, zu formulieren. Damals argumentierte die IKS auf der Basis der Positionen, die von Marx und Engels entwickelt wurden, dass der Funke zur proletarischen Revolution vor allem in den zentralen Ländern des Kapitalismus entspringen wird. Dies aufgrund der großen Konzentration der Arbeiterklasse in diesen Ländern und vor allem aufgrund ihrer historischen Erfahrung, welche sie eher in die Lage versetzt, von der herrschenden Klasse gestellte ideologische Fallen zu durchschauen. Einer der wichtigsten Schritte für die weltweite Arbeiterklasse in der Zukunft wird nicht nur die Entfaltung massiver Kämpfe in den zentralen Ländern Westeuropas sein, sondern auch die Fähigkeit, die demokratischen und gewerkschaftlichen Fallen zu vermeiden, indem sie den Kampf in die eigenen Hände nimmt. Diese Bewegungen werden für die weltweite Arbeiterklasse ein Orientierungspunkt sein, einschließlich für die Arbeiterklasse im mächtigsten kapitalistischen Land, den USA, wo das Abgleiten in die zunehmende Armut, das schon heute Millionen von Beschäftigten betrifft, den „amerikanischen Traum“ in einen Albtraum verwandelt hat.

 

14. Die Bewegung im Herbst 2010 gegen die Rentenreform in Frankreich, in einem Land, in dem das Proletariat seit dem Mai 1968 als eine Art Bezugspunkt für viele Arbeiter in anderen europäischen Ländern gilt, hat gezeigt, dass wir noch ein weites Stück entfernt sind von einer Überwindung der gewerkschaftlichen Kontrolle und dem eigenen in die Hände Nehmen der Kämpfe. Dies wurde noch deutlicher ersichtlich während den massiven „Mobilisierungen“ der britischen Gewerkschaften gegen die Sparpläne der Cameron-Regierung im März 2011. Dennoch, die Tatsache, dass innerhalb dieser Bewegungen gegen die Rentenreform in Frankreich trotz des allgegenwärtigen Klammergriffs von Intersyndical sich in verschiedenen Städten eine Anzahl von „überberuflichen Vollversammlungen“ bildete, ist Ausdruck des Willens der Arbeiterklasse, auf die gewerkschaftliche Umklammerung zu reagieren und selbst eine direkte Kontrolle mittels für alle offenstehende Vollversammlungen zu suchen und damit die berufliche Aufsplitterung zu überwinden. Es ist ein Anzeichen, dass die Arbeiterklasse beginnt, den Weg in Richtung dieser wesentlichen Etappe einzuschlagen. Überdies sind die in der letzten Zeit ausgebrochenen Kämpfe in peripheren Ländern Zeichen für die Entwicklung einer Situation, in der in der Zukunft entscheidende Kämpfe in den zentralen Ländern sofort Signal für die weltweite Ausbreitung der Bewegung der Arbeiterklasse sein können. Die Krise erschüttert die Arbeiterklasse auf der ganzen Welt mit enormer Brutalität. Wie auch immer die Fallen der herrschenden Klasse aussehen werden, wie heftig auch immer das Zögern der Arbeiterklasse angesichts der bevorstehenden Aufgaben sein wird, das Proletariat ist gezwungen, immer massiver und bewusster zu kämpfen - und es ist die Aufgabe der Revolutionäre, sich an diesen Kämpfen in entschlossener Art und Weise zu beteiligen. Das Proletariat soll fähig werden, seine historische Aufgabe zu erfüllen: die Überwindung des Kapitalismus mit all seiner Barbarei, der Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft, der Weg der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in dasjenige der Freiheit.

Mai 2011

Historische Ereignisse: 

  • Kongress; Roslution; International [31]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [32]

Dekadenz des Kapitalismus (VI) Die Theorie des kapitalistischen Niedergangs und der Kampf gegen den Revisionismus

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Engels und das Herannahen der historischen Krise des Kapitalismus 

Laut einer bestimmten Denkschule gewisser akademischer Marxologen, Rätisten und Anarchisten trat nach dem Tode von Marx 1883 eine Periode der Sterilität der marxistischen Theorie ein. Die sozialdemokratischen Parteien und die Zweite Internationale waren in dieser Sichtweise im Grunde vom „Engelsianismus“ beherrscht, einem Versuch der zweiten Geige von Marx und dessen Schlachtenbummlers, die Untersuchungsmethode von Marx in ein halb-mechanistisches System zu verwandeln, das die radikale Sozialkritik fälschlicherweise mit der Vorgehensweise der Naturwissenschaften gleichsetze. Auch wurde der „Engelsianismus“ angegriffen, ein Rückschritt gegenüber quasi-mystischen hegelianischen Dogmen zu sein, insbesondere im Zusammenhang mit Engels‘ Bemühungen, eine „Dialektik der Natur“ zu entwickeln. In dieser Sichtweise ist das Natürliche nicht sozial und das Soziale nicht natürlich. Die Dialektik könne, sofern sie existiert, nur auf die soziale Sphäre angewendet werden.

Dieser Bruch in der Kontinuität zwischen Marx und Engels – der in seiner extremsten Form nahezu die gesamte Zweite Internationale als ein Vehikel abtut, das die proletarische Bewegung den Bedürfnissen des Kapitals angepasst habe – wird häufig benutzt, um jeglichen Gedanken an eine Kontinuität in der politischen Geschichte der Arbeiterklasse zu verwerfen. Wir werden dazu ermuntert, nach Marx, dessen Werk freilich einige unserer Anti-Engelsianer verleugnen (was sie allerdings nicht daran hindert, gelegentlich den Experten in Detailfragen der Wert-Preis-Umwandlung oder in anderen Teilaspekten der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu mimen), Engels, Kautsky, Lenin, die Zweite und Dritte Internationale zu überspringen. Und obgleich Teilen der Kommunistischen Linken - ungeachtet dessen, dass sie Sprösslinge dieser zweifelhaften Sippschaft sind - widerwillig eingeräumt wird, dass sie zu einigen Einsichten gelangt waren, werde die wirkliche Kontinuität der Theorie Marx‘ allein von jenem losen Haufen brillanter Individuen fortgesetzt, die ihn als einzige in den letzten Jahrzehnten wirklich verstanden hätten – niemand anders also als den Befürwortern der „anti-engelsistischen“ Thesen.

Wir können hier auf diese Ideologie nicht in aller Ausführlichkeit eingehen. Wie alle Mythen stützt sie sich auf ein gewisses Körnchen Wahrheit, die allerdings verzerrt und über alle Maßen überhöht wird. Zur Zeit der Zweiten Internationale, eine Zeit, in der sich die Arbeiterbewegung als gesellschaftliche Kraft innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft organisierte, gab es tatsächlich eine Neigung, den Marxismus zu schematisieren und ihn in eine Form des Determinismus zu verwandeln. Gleichzeitig sah sich die Arbeiterbewegung einem starken Druck reformistischer Ideen ausgesetzt. Selbst die besten Marxisten, einschließlich Engels selbst, waren nicht völlig gefeit dagegen. [1]Doch auch wenn Engels in jener Zeit einige gewichtige Irrtümer beging, ist es angesichts der äußerst engen Zusammenarbeit zwischen den beiden Männern vom Anfang bis zum Ende ihrer Beziehungen eine Absurdität, Engels‘ Werk nach dem Tod Marx‘ rundweg als eine Negation und Perversion der wirklichen Ideen von Marx abzulehnen. Es war Engels, der die immense Arbeit auf sich nahm, das Kapital von Marx zu redigieren und zu veröffentlichen; und ironischer weise sind viele von jenen, die einen Keil zwischen Marx und Engels treiben wollen, überglücklich, wenn sie aus dem zweiten und dritten Band vom Kapital zitieren können, ungeachtet der Tatsache, dass diese erst durch den angeblich verständnislosen Engels der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.

Einer der Hauptexponenten dieser „anti-engelsianistischen“ Denkschule ist die Gruppe Aufheben in Großbritannien, deren Serie „Die Dekadenz: Theorie des Niedergangs oder Niedergang der Theorie“[2] von einigen als letzter Sargnagel für den Begriff der kapitalistischen Dekadenz betrachtet wird, wenn man sieht, wie häufig diese Serie von jenen zitiert wird, die diesem Begriff ablehnend gegenüberstehen. Nach ihrer Auffassung ist die Dekadenz des Kapitalismus im Wesentlichen eine Erfindung der Zweiten Internationale: „Die Theorie der kapitalistischen Dekadenz tauchte zuerst in der Zweiten Internationale auf. Das Erfurter Programm etablierte, unterstützt von Engels, die Theorie des Niedergangs und Zusammenbruchs des Kapitalismus als Kernbestandteil des Parteiprogramms.“.[3]

Und sie zitieren folgenden Passagen: „So verwandelt das Privateigentum an den Produktionsmitteln nicht bloß für die Produzenten der Kleinbetriebe, sondern für die ganze Gesellschaft sein ursprüngliches Wesen in sein Gegenteil. Aus einer Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung wird es zu einer Ursache der gesellschaftlichen Versumpfung, des gesellschaftlichen Bankerotts.

Heute fragt sich’s nicht mehr, ob man das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufrechterhalten will oder nicht. Sein Untergang ist gewiss. Es fragt sich nur: Soll es die Gesellschaft mit sich in den Abgrund reißen, oder soll diese sich der verderblichen Bürde entledigen, um frei und neugestärkt den Weg weiterwandeln zu können, den die Gesetze der Entwicklung ihr vorschreiben?“

„Die Produktivkräfte, die sich im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt haben, sind unvereinbar geworden mit der Eigentumsordnung, auf der dieselbe beruht. Diese Eigentumsordnung aufrechterhalten wollen, heißt jeden weiteren gesellschaftlichen Fortschritt unmöglich machen, heißt die Gesellschaft zum Stillstand, zur Verwesung verurteilen…“

„Die kapitalistische Gesellschaft hat abgewirtschaftet; ihre Auflösung ist nur noch eine Frage der Zeit; die unaufhaltsame ökonomische Entwicklung führt den Bankerott der kapitalistischen Produktionsweise mit Naturnotwendigkeit herbei. Die Bildung einer neuen Gesellschaftsform anstelle der bestehenden ist nicht mehr bloß etwas Wünschenswertes, sie ist etwas Unvermeidliches geworden.“

„Ein Beharren in der kapitalistischen Zivilisation ist unmöglich; es heißt entweder vorwärts zum Sozialismus oder rückwärts in die Barbarei.“

In der Zusammenfassung, mit welcher der nächste Artikel aus der Reihe (Aufheben, Nr. 3) beginnt, ist das Argument, dass das Konzept der Dekadenz im „Marxismus der Zweiten Internationale“ verwurzelt sei, gar noch ausdrücklicher: „In Teil 1 schauten wir uns an, inwieweit diese Idee des Niedergangs oder der Dekadenz ihre Wurzeln im Marxismus der Zweiten Internationale hat und von beiden Anklägern gegen die Kulisse der reinen Fortführer der ‚klassischen marxistischen Tradition‘ aufrechtgehalten wurde – dem trotzkistischen Leninismus und dem Links- oder Rätekommunismus.“

Obwohl die Zitate, von denen Aufheben sagt, sie stammten aus dem Erfurter Programm, offensichtlich aus Kautskys Kommentaren zum Programm stammen statt aus dem Dokument selbst, enthält die Präambel des eigentlichen Programms einen Bezug auf den Begriff des kapitalistischen Niedergangs, in dem in der Tat behauptet wird, dass diese Epoche bereits angebrochen sei: „Der Abgrund zwischen Besitzenden und Besitzlosen wird noch erweitert durch die im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründeten Krisen, die immer umfangreicher und verheerender werden, die allgemeine Unsicherheit zum Normalzustand der Gesellschaft über den Kopf gewachsen sind, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln unvereinbar geworden ist mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung.“ Fakt ist jedoch, dass trotz der Ansicht von Aufheben, wonach das Erfurter Programm sich so sehr auf die Dekadenztheorie stütze, schon ein flüchtiges Durchlesen des Programms den Eindruck erweckt, dass es so gut wie keine Verbindung zwischen der oben genannten allgemeinen Diagnose und den Forderungen gibt, die im Programm aufgestellt werden und die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erkämpft werden sollen. Und selbst die vielen detaillierten Kritiken von Engels an diesen Forderungen nehmen nahezu keinen Bezug auf den historischen Kontext, in welchem diese Forderungen gestellt werden.[4]

Dies einmal festgestellt, ist es sicherlich zutreffend, dass im Werk von Engels und anderer Marxisten im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend Bezugnahmen auf den Begriff eines Kapitalismus anzutreffen sind, der in eine Alterskrise, in eine Epoche des Niedergangs eingetreten ist.

Doch während dies für Aufheben eine Abkehr von Marx war – der, wie sie verfechten, den Kapitalismus lediglich als ein „Übergangssystem“ betrachtet und keinen Gedanken an einem objektiven Prozess des Niedergangs oder Zusammenbruchs als Fundament für den revolutionären Kampf gegen das System verschwendet habe -, haben wir versucht, in den vorherigen Artikeln dieser Reihe aufzuzeigen, dass die Konzeption der kapitalistischen Dekadenz (wie der Dekadenz früherer Klassengesellschaften) völlig in Einklang stand mit den Ansichten von Marx.

Außerdem verhält es sich so, dass Marx seine Schriften über die politische Ökonomie in einer Epoche verfasste, als der Kapitalismus sich noch auf seinem triumphalen Aufstieg befand. Seine periodischen Krisen waren Jugendkrisen, die dazu dienten, den unaufhaltsamen Vormarsch dieser dynamischen Produktionsweise auf dem gesamten Globus anzutreiben. Dennoch war Marx in der Lage gewesen, in diesen Zuckungen auch die Vorboten des letztendlichen Untergangs des Systems zu erkennen, und hatte bereits die ersten Anzeichen dafür erblickt, dass das Kapital seine historische Mission erfüllt hat, als es immer entferntere Gebiete erschloss, während im „alten Europa“ nach an den Ereignissen rund um die Pariser Kommune die Phase der heroischen Nationalkriege, wie er behauptete, zu einem Ende gekommen waren.

Darüber hinaus wurden in der Zeit nach dem Tod von Marx die nahenden Anzeichen einer Krise von historischen Proportionen, und nicht nur einer Wiederholung der alten zyklischen Krisen, immer deutlicher.

So sinnierte zum Beispiel Engels über die Bedeutung des offenkundigen Endes der Zehn-Jahres-Krisenzyklen und über den Beginn dessen, was er als chronische Depression bezeichnete, von der die kapitalistische Herkunftsnation, Großbritannien, bereits erfasst war. Und während sich neue mächtige kapitalistische Nationen ihren Weg zum Weltmarkt bahnten, vor allem Deutschland und die USA, sah Engels bereits, dass dies unvermeidlich in eine weitaus tiefere Überproduktionskrise münden wird: „Amerika wird Englands Industriemonopol brechen – was noch davon übriggeblieben ist – aber Amerika allein kann das Erbe dieses Monopols nicht antreten. Und wenn ein Land nicht allein das Monopol auf den Weltmärkten besitzt, zumindest in den entscheidenden Handelszweigen, können die verhältnismäßig günstigen Bedingungen, die in England von 1848 bis 1870 bestanden, nirgends reproduziert werden, und selbst in Amerika muss Lage der Arbeiterklasse nach und nach immer schlechter werden. Denn wenn drei Länder (sagen wir England, Amerika und Deutschland) unter verhältnismäßig gleichen Bedingungen um den Besitz des Weltmarkts konkurrieren, dann gibt es keinen Ausweg als chronische Überproduktion, da jedes der drei Länder imstande ist, den gesamten Bedarf zu decken.“[5] Gleichzeitig erkannte Engels die Tendenz des Kapitalismus, seinen eigenen Ruin durch die beschleunigte Eroberung des nicht-kapitalistischen Hinterlandes, das die kapitalistischen Metropolen umgab, in die Wege zu leiten: „Denn es ist eine der notwendigen Folgeerscheinungen der grande industrie, dass sie ihren eigenen inneren Markt durch denselben Prozess zerstört, durch den sie ihn schafft. Sie schafft ihn, indem sie die Basis der bäuerlichen Hausindustrie vernichtet. Aber ohne Hausindustrie kann die Bauernschaft nicht leben. Die Bauern werden als Bauern ruiniert; ihre Kaufkraft wird auf ein Minimum reduziert; und bis sie sich als Proletarier in die neuen Existenzbedingungen hineingefunden haben, geben sie für die neuentstandenen Fabriken einen sehr schlechten Markt ab.

Die kapitalistische Produktion als eine vorübergehende ökonomische Phase ist voll innerer Widersprüche, die sich in dem Maße entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. Die Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerstören, ist einer dieser Widersprüche. Ein anderer liegt in der ausweglosen Lage, zu der sie führt und die in einem Land ohne auswärtigen Markt, wie Russland, eher eintritt als in Ländern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzfähig sind. Diese letztgenannten Länder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine Lösung in der Ausdehnung des Handels durch gewaltsame Erschließung neuer Märkte. Aber auch da steht man vor einer Sackgasse. Nehmen Sie England! Der letzte neue Markt, dessen Erschließung dem englischen Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen könnte, ist China. Daher besteht das englische Kapital darauf, die chinesischen Eisenbahnen zu bauen. Aber chinesische Eisenbahnen bedeuten die Zerstörung der ganzen Basis der chinesischen kleinen Landwirtschaft und Hausindustrie, und da es nicht einmal eine chinesische grande industrie als Gegengewicht gibt, wird es Hunderten von Millionen Menschen unmöglich sein, ihr Dasein zu fristen. Die Folge wird eine Massenauswanderung sein, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, eine Überflutung Amerikas, Asiens und Europas durch den verhassten Chinesen, der dem amerikanischen, australischen und europäischen Arbeiter auf der Grundlage des chinesischen Lebensstandards, des niedrigsten der Welt, Konkurrenz machen wird – und wenn die Produktionsweise in Europa bis dahin noch nicht umgewälzt ist, so wird ihre Umwälzung dann  notwendig werden. Die kapitalistische Produktion erzeugt ihren eigenen Untergang, und Sie können sicher sein, sie wird das auch in Russland tun…“[6]

Die Zunahme des Militarismus und Imperialismus, die vor allem darauf abzielten, die Eroberung der nicht-kapitalistischen Gebiete des Planeten zu vervollständigen, versetzte ihn auch in die Lage, mit bemerkenswerter Klarheit die Gefahren dieser Entwicklungen zu sehen, die auf das Zentrum des Systems – auf Europa – zurückzufallen und die Zivilisation in die Barbarei zu stürzen drohen, bei gleichzeitiger Beschleunigung des Reifungsprozesses der Revolution.

„Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie erahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse.“[7]

Als dies jedoch eintrat, meinte Engels nicht, dass solch ein Krieg unvermeidlich den Sozialismus bringen werde: Er hatte die wohlbegründete Sorge, dass der allgemeine Erschöpfungszustand auch das Proletariat betreffen und es unfähig machen könnte, seine Revolution zu vollziehen (somit, würden wir hinzufügen, eine gewisse Attraktion für etwas utopische Entwürfe, die den Krieg hinauszögern oder auf Eis legen wollen, wie die Ersetzung der stehenden Heere durch eine Volksmiliz). Doch Engels hatte Anlass zu hoffen, dass die Revolution vor einem paneuropäischen Krieg ausbricht. Ein Brief an Bebel (24.-26. Oktober 1891) verleiht dieser „optimistischen“ Sichtweise Ausdruck: „Die Berichte lassen Dich sagen, ich hätte den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft auf 1898 geweissagt. Da ist ein kleiner Irrtum irgendwo. Ich habe nur gesagt, bis 98 könnten wir möglicherweise ans Ruder kommen. Die alte bürgerliche Gesellschaft könnte, falls dies nicht geschähe, noch einige Zeit fortvegetieren, solange nicht ein äußerer Anstoß den morschen Kasten zusammenkrachen lässt. So eine faule Kiste kann ein paar Jahrzehnte vorhalten nach ihrem wesentlichen inneren Tod, wenn die Luft ruhig bleibt.“

In dieser Passage findet man sowohl die Illusionen der damaligen Bewegung als auch ihre grundlegende theoretische Stärke. Die dauerhaften Errungenschaften der sozialdemokratischen Partei vor allem an der Wahlfront und in Deutschland führten zu der übertriebenen Hoffnung, dass es eine Art von unaufhaltsamem Prozess zur Revolution geben könnte (und sogar die Revolution selbst in halb-parlamentarischen Begriffen betrachtet werden könnte, trotz der so häufig wiederholten Warnungen vor dem parlamentarischen Kretinismus, der ein zentraler Gesichtspunkt der schnell aufkeimenden Ideologie des Reformismus war). Gleichzeitig waren die Konsequenzen eines Scheiterns des Proletariats bei der Machtergreifung klar: ein Kapitalismus, der einige Jahrzehnte als „faule Kiste“ überlebt – wenngleich Engels, wie die meisten damaligen Revolutionäre, wahrscheinlich nicht angenommen hätte, dass dieser Kapitalismus mehr als ein Jahrhundert in seiner Niedergangskrise ausharren kann. Doch die theoretische Untermauerung, um solch einen Zustand zu antizipieren, kommt in diesen Zeilen deutlich zum Ausdruck.

Luxemburg führt den Kampf gegen den Revisionismus an

Und dennoch ist diese Phase, eben weil die große imperialistische Expansion in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts es dem Kapitalismus ermöglicht hatte, exorbitante Wachstumsraten zu erzielen, in der Erinnerung vor allem eine Zeit beispiellosen Wohlstands und Fortschritts, eines sich stetig verbessernden Lebensstandards für die Arbeiterklasse nicht nur dank der günstigen objektiven Bedingungen, sondern auch aufgrund des wachsenden Einflusses der in Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien organisierten Arbeiterbewegung. Dies war besonders in Deutschland der Fall, und hier war die Arbeiterbewegung auch mit der Hauptherausforderung konfrontiert: dem Aufstieg des Revisionismus.

Mit den Schriften Eduard Bernsteins Ende der 1890er Jahre vorneweg, stritten die Revisionisten dafür, dass die Sozialdemokratie anerkennen sollte, dass die Entwicklung des Kapitalismus einige fundamentale Elemente in der Analyse von Marx außer Kraft gesetzt habe – vor allem die Voraussage ständig wachsender Krisen und folgerichtig der Verarmung des Proletariats. Der Kapitalismus habe gezeigt, dass er mittels der Mechanismen des Kredits und der Bildung riesiger Trusts und Kartelle und durch den Anstoß einer gut organisierten Arbeiterbewegung seine Tendenzen zu Anarchie und Krise überwinden und der Arbeiterklasse wachsende Zugeständnisse machen könne. Das „Maximalziel“ der Revolution, das im Programm der sozialdemokratischen Partei wie in einem Schrein eingeschlossen war, sei daher überflüssig geworden; und die Partei sollte sich selbst als das anerkennen, was sie in Wahrheit sei: eine „demokratisch-sozialistische Reformpartei“, die eine allmähliche und friedliche Umwandlung des Kapitalismus zum Sozialismus anstrebe.

Eine Reihe von Leuten aus dem linken Flügel der Sozialdemokratie antwortete auf diese Argumente. In Russland polemisierte Lenin gegen die Ökonomisten, die die Arbeiterbewegung auf den „Brot-und-Butter“-Kampf reduzieren wollten; in Holland führten Gorter und Pannekoek die Polemik gegen den wachsenden Einfluss des Reformismus in den Gewerkschaften und in der parlamentarischen Arena an. In den USA schieb Louis Boudin ein wichtiges Buch, The Theoretical System of Karl Marx (1907) als Antwort auf die revisionistischen Argumente – wir werden später darauf zurückkommen. Doch es war vor allem Rosa Luxemburg in Deutschland, die mit dem Kampf gegen den Revisionismus assoziiert wird und die im Kern den marxistischen Begriff des Niedergangs und katastrophalen Zusammenbruchs des Kapitalismus bekräftigte.

Beim Studium der Polemik Rosa Luxemburgs gegen Bernstein, Sozialreform oder Revolution (1900), fällt auf, wie oft die vom Letztgenannten vorgebrachten Argumente jedes Mal, wenn sich der Kapitalismus den Anschein gab, die Krise – wenn auch nur oberflächlich – überwunden zu haben, wiedergekäut wurden: „Nach Bernstein wird ein allgemeiner Zusammenbruch des Kapitalismus mit dessen Entwicklung immer unwahrscheinlicher, weil das kapitalistische System einerseits immer mehr Anpassungsfähigkeit zeigt, andererseits die Produktion sich immer mehr differenziert. Die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus äußert sich nach Bernstein erstens in dem Verschwinden der allgemeinen Krisen, dank der Entwicklung des Kreditsystems, der Unternehmerorganisationen und des Verkehrs sowie des Nachrichtendienstes, zweitens in der Zähigkeit des Mittelstandes infolge der beständigen Differenzierung der Produktionszweige sowie der Hebung großer Schichten des Proletariats in den Mittelstand, drittens endlich in der ökonomischen und politischen Hebung der Lage des Proletariats infolge des Gewerkschaftskampfes.“[8]

Wie oft ist uns nicht nur von den offiziellen Ideologen der Bourgeoisie, sondern auch von jenen, die eine weitaus radikalere Ideologie parat zu haben meinen, erzählt worden, dass Krisen eine Sache der Vergangenheit seien, weil der Kapitalismus heute auf nationaler oder gar internationaler Ebene vernetzt sei, weil er unbegrenzten Zugriff zum Kredit und zu anderen finanziellen Manipulationen habe. Wie oft ist uns erzählt worden, dass die Arbeiterklasse aufgehört habe, eine revolutionäre Kraft zu sein, weil sie nicht mehr mit der absoluten Verelendung konfrontiert sei, die Engels in seinem Buch über die Bedingungen der Arbeiterklasse in Manchester 1844 geschildert hatte, oder weil sie immer weniger unterscheidbar gegenüber den Mittelschichten sei. So hörten sich die lautstarken soziologischen Refrains der 1950er und 1960er Jahre an vom Schlage eines Herbert Marcuse und Cornelius Castoriadis. Und sie waren erneut zu vernehmen in den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und mit dem kreditfinanzierten Boom, der sich erst kürzlich als Mogelpackung entlarvt hatte.

Entgegen dieser Argumente bestand Luxemburg darauf, dass die „Organisation“ des Kapitals durch Kartelle und Kredite, weit entfernt davon, die Krisen zu überwinden, eine Antwort auf die Widersprüche des Systems war und dazu neigte, diese Widersprüche auf eine höhere und verheerendere Stufe zu heben.

Der Kredit wurde von Luxemburg im Kern als ein Mittel zur Erleichterung der Ausweitung des Marktes verstanden, während das Kapital sich in immer weniger Händen konzentrierte. Zu diesem historischen Zeitpunkt war dies sicherlich der Fall – es gab eine reale Möglichkeit für den Kapitalismus, außerhalb seiner Sphäre zu expandieren, und der Kredit beschleunigte größtenteils diese Expansion. Doch Luxemburg begriff gleichzeitig auch die zerstörerische Seite des Kredits, da diese Expansion des Marktes auch die Grundlage für den zukünftigen Konflikt mit den Massen von in Bewegung gesetzten Produktivkräften legte: „So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel zur Beseitigung oder auch nur zur Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil ein besonders mächtiger Faktor der Krisenbildung. Und dies ist auch gar nicht anders möglich. Die spezifische Funktion des Kredits ist – ganz allgemein ausgedrückt – doch nichts anderes, als den Rest von Stabilität aus allen kapitalistischen Verhältnissen zu verbannen und überall die größtmögliche Elastizität hineinzubringen, alle kapitalistischen Potenzen in höchsten Maße dehnbar, relativ und empfindlich zu machen. Dass damit die Krisen, die nichts anderes als der periodische Anprall der einander widerstrebenden Potenzen der kapitalistischen Wirtschaft sind, nur erleichtert und verschärft werden können, liegt auf der Hand.“[9]

Damals war der Kredit noch nicht das, was er heute zum größten Teil geworden ist – nicht so sehr ein Mittel zur Beschleunigung der Expansion in einen realen Markt, sondern ein künstlicher Markt an sich, von dem der Kapitalismus in zunehmendem Maße abhängig geworden ist. Doch die Funktion des Kredits als eine Medizin, die die Krankheit noch verschlimmert, ist dabei in dieser Epoche und vor allem seit dem Ausbruch des so genannten „credit crunch“ von 2008 noch evidenter geworden.

Auch in der Tendenz der Kapitalisten, sich selbst auf nationaler und gar internationaler Ebene zu organisieren, erkannte Luxemburg nicht eine Lösung der Antagonismen des Systems, sondern eine wirksame Kraft, diese Antagonismen noch schroffer und zerstörerischer zu gestalten: „… (Kartelle) verschärfen endlich den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der kapitalistischen Weltwirtschaft und dem nationalen Charakter des kapitalistischen Staates, indem sie zur Begleiterscheinung einen allgemeinen Zollkrieg haben und so den Antagonismus zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten aufs höchste steigern. Dazu kommt die direkte revolutionäre Wirkung der Kartelle auf die Konzentration der Produktion, technische Vervollkommnung etc. So erscheinen die Kartelle in ihrer endgültigen Wirkung auf die kapitalistische Wirtschaft nicht nur als  kein ‚Anpassungsmittel‘, das ihre Widersprüche verwischt, sondern geradezu als eines der Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung der eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr enthaltenen Widersprüche, zur Beschleunigung des eigenen Unterganges geschaffen hat.“[10]

Diese Vorhersagen sollten sich – vor allem als die Organisation des Kapitals von der Ebene der Kartelle zu den nationalen „staatskapitalistischen Trusts“ wechselte, die sich 1914 gegenseitig die Kontrolle über den Weltmarkt streitig machten – angesichts der gesamten Geschichte des 20. Jahrhunderts zutiefst bewahrheiten.

Luxemburg antwortete ebenfalls auf Bernsteins Argument, dass das Proletariat keine Revolution zu machen braucht, weil es einen immer höheren Lebensstandard infolge seiner effektiven Organisierung in Gewerkschaften und durch die Aktivitäten seiner Repräsentanten im Parlament genieße. Sie warnte, dass die gewerkschaftlichen Aktivitäten enge Grenzen haben; sie beschreibt diese Aktivitäten als „Sisyphusarbeit“, notwendig, aber ständig frustriert in ihren Bemühungen, den Anteil des Arbeiters an dem Produkt seiner Arbeit zu erhöhen, dies wegen der unvermeidlichen Steigerung der Ausbeutungsrate, die von der Entwicklung der Produktivität bewirkt wird. Die weitere Entwicklung des Kapitalismus sollte die historischen Grenzen der Gewerkschaften gar noch deutlicher aufzeigen. Selbst wenn die Aktivitäten in den Gewerkschaften (wie auch parallel auf dem Tätigkeitsfeld des Parlaments und der Kooperativen) noch ihre Gültigkeit für die Arbeiterklasse hatten, so waren die Revisionisten jedoch bereits dabei, die Realität zu verfälschen, indem sie argumentierten, dass solche Tätigkeiten der Arbeiterklasse ständige und unbegrenzte Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen sichern könnten.

Und während Bernstein eine Tendenz zur Abmilderung der Klassenverhältnisse durch die starke Zunahme kleiner Unternehmen und somit zum Wachstum der Mittelschichten erblickte, bekräftigte Luxemburg die Existenz jener Tendenz, die allerdings erst im folgenden Jahrhundert vorherrschend wurde: die Entwicklung des Kapitalismus zu immer gigantischeren Formen der Konzentration und Zentralisierung sowohl auf der Ebene der „Privat“-Unternehmen als auch auf der Ebene des Staates und der imperialistischen Bündnisse. Andere Linksrevolutionäre wie Boudin antworteten auf die Behauptung, dass das Proletariat selbst zur Mittelschichte werde, mit dem Argument, dass viele Angestellte und technische Berufe, die angeblich die Arbeiterklasse schlucken werden, in Wahrheit selbst ein Produkt des Proletarisierungsprozesses sind – auch diese Tendenz hat sich in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher abgezeichnet. Boudins Worte aus dem Jahr 1907 klingen vertraut, wie auch die fadenscheinigen Argumente, die gegen sie gerichtet werden: „Ein großer Teil dessen, was als neue Mittelklasse bezeichnet wird und als solche in den Einkommensstatistiken erscheint, ist in Wirklichkeit Teil des regulären Proletariats. Die neue Mittelklasse ist, wie immer sie aussehen mag, ein gehöriges Stück kleiner, als man aus den Einkommenstabellen entnehmen könnte. Diese Konfusion ist einerseits dem alten und fest verwurzelten Vorurteil geschuldet, dem zufolge Marx angeblich allein der Handarbeit Wert schaffende Eigenschaften zuschrieb, und andererseits auf die Trennung der Aufsicht vom Eigentumsbesitz zurückzuführen – praktiziert in den Aktiengesellschaften, wie oben angeführt. Aufgrund dieser Umstände werden große Teile des Proletariats als Angehörige der Mittelklasse, d.h. der niederen Schichten der kapitalistischen Klasse, gezählt. Dies ist bei nahezu all jenen zahllosen und an Zahl zunehmenden Berufen der Fall, in denen das Arbeitsentgelt als ‚Gehalt‘ statt als ‚Lohn‘ bezeichnet wird. All diese Gehaltsempfänger, die möglicherweise das Gros, aber mit Sicherheit einen großen Anteil an der ‚neuen‘ Mittelklasse stellen, sind, gleich, wie hoch ihr Gehalt ist, in Wirklichkeit genauso Teil des Proletariats wie die untersten Tagelöhner.“[11](eigene Übersetzung)

Kurs auf das Debakel der bürgerlichen Zivilisation

Die heutige offene Wirtschaftskrise findet in einem sehr fortgeschrittenen Stadium der Fäulnis des Kapitalismus statt. Luxemburg antwortete auf Bernstein in einer Zeit, die sie, auch hier mit bemerkenswerter Klarheit, als eine Periode charakterisierte, die noch nicht die Niedergangsepoche war, aber eine, in der das Nahen dieser Epoche immer offensichtlicher wurde. Diese Passage taucht in Luxemburgs Entgegnung auf Bernsteins empirische (und empirizistische) Frage auf: Warum haben wir seit den frühen 1870er Jahren keinerlei Manifestationen des alten Zehn-Jahres-Krisenzyklus mehr erlebt? Luxemburgs Antwort bestand darin, darauf zu bestehen, dass dieser Zyklus das Produkt der Jugendphase des Kapitalismus war; der Weltmarkt befand sich damals in einer „Übergangsperiode“ zwischen der Periode seines maximalen Wachstums und dem Anbruch der Niedergangsepoche: „Der Weltmarkt ist immer noch in der Ausbildung begriffen. Deutschland und Österreich traten erst in den 70er Jahren in die Phase der eigentlichen großindustriellen Produktion, Russland erst in den 80er Jahren, Frankreich ist bis jetzt noch zum großen Teil kleingewerblich, die Balkanstaaten haben noch zum beträchtlichen Teil nicht einmal die Fesseln der Naturalwirtschaft abgestreift, erst in den 80er Jahren sind Amerika, Australien und Afrika in einen regen und regelmäßigen Warenverkehr mit Europa getreten. Wenn wir deshalb einerseits die plötzlichen sprungweisen Erschließungen neuer Gebiete der kapitalistischen Wirtschaft, wie sie bis zu den 70er Jahren periodisch auftraten und die bisherigen Krisen, sozusagen die Jugendkrisen, im Gefolge hatten, bereits hinter uns haben, so sind wir andererseits noch nicht bis zu jenem Grade der Ausbildung und der Erschöpfung des Weltmarkts vorgeschritten, der einen fatalen periodischen Anprall der Produktivkräfte an die Marktschranken, die wirklichen kapitalistischen Alterskrisen, erzeugen würde. Wir befinden uns in einer Phase, wo die Krisen nicht mehr das Aufkommen des Kapitalismus und noch nicht seinen Untergang begleiten.“[12]

Interessanterweise ließ Luxemburg in der zweiten Ausgabe, die 1908 veröffentlicht wurde, diese Passage und das folgende Kapitel aus und erwähnte stattdessen die Krise von 1907-08, die sich gerade auf die mächtigsten Industrienationen konzentrierte: Für Luxemburg neigte sich die „Übergangsperiode“ offenbar ihrem Ende zu.

Ferner ließ sie anklingen, dass die frühere Erwartung, wonach die neue Epoche von einer „großen kommerziellen Krise“ eingeleitet werde, sich als falsch erweisen könnte – bereits in Sozialreform oder Revolution wies sie auf das Wachstum des Militarismus hin, eine Entwicklung, die sie immer mehr beschäftigen sollte. Hinter folgender Beobachtung lag sicherlich das Kalkül, dass die neue Epoche möglicherweise von einem Krieg statt von einer offenen Wirtschaftskrise eingeleitet werden könnte: „Wenn die bisherige sozialistische Theorie annahm, der Ausgangspunkt der sozialistischen Umwälzung würde eine allgemeine und vernichtende Krise sein, so muss man unseres Erachtens dabei zweierlei unterscheiden: den darin verborgenen Gedanken und dessen äußere Form. Der Gedanke besteht in der Annahme, die kapitalistische Ordnung würde von sich aus, kraft eigener Widersprüche, den Moment zeitigen, wo sie aus den Fugen geht, wo sie einfach unmöglich wird. Dass man sich diesen Moment in der Form einer allgemeinen und erschütternden Handelskrise dachte, hatte unseres Erachtens seine guten Gründe, bleibt aber nichtsdestoweniger für den Grundgedanken unwesentlich und nebensächlich.“[13]

Doch welche Form diese „Senilitätskrise“ auch immer annehmen sollte, Luxemburg bestand darauf, dass ohne diese Vision des katastrophalen Niedergangs des Kapitalismus der Sozialismus zu einer bloßen Theorie wird: „Vom Standpunkte des wissenschaftlichen Sozialismus äußert sich die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung vor allem in der wachsenden Anarchie des kapitalistischen Systems, die ihn auch in eine ausweglose Sackgasse drängt. Nimmt man jedoch mit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in der Richtung zum eigenen Untergang, dann hört der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu sein.“

„Die Bernsteinsche Theorie steht vor einem Entweder – Oder. Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das Ergebnis, dann sind aber auch die ‚Anpassungsmittel‘ unwirksam und die Zusammenbruchstheorie  richtig. Oder es sind die ‚Anpassungsmittel‘ wirklich solche, die einen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht das Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft. Dieses Dilemma läuft auf ein anderes hinaus: Entweder hat Bernstein in bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie, oder der Sozialismus ist keine Utopie, dann muss aber die Theorie der ‚Anpassungsmittel‘ nicht stichhaltig sein. That is the question, das ist die Frage.“[14]

In diesem Passus schildert Luxemburg mit völliger Klarheit die innige Beziehung zwischen der revisionistischen Anschauung und der Ablehnung der Marxschen Theorie des kapitalistischen Niedergangs – und umgekehrt die Notwendigkeit einer solchen Theorie als Grundstein einer zusammenhängenden Revolutionskonzeption.

Im nächsten Artikel dieser Serie werden wir uns anschauen, wie Luxemburg und andere danach strebten, die Ursprünge der nahenden Krise im grundlegenden Prozess der kapitalistischen Akkumulation zu lokalisieren.

Gerrard, 2009

[1] Siehe zum Beispiel den Artikel „1895 – 1905: Parlamentarische Illusionen verhüllen die Perspektive der Revolution“ (Internationale Revue, Nr. 88, engl., franz., span. Ausgabe), oder das Schlusskapitel unseres Buches Der Kommunismus ist keine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit.

[2] Aufheben Nr. 2/3: https://libcom.org/aufheben [33]

[3] Aufheben Nr. 2

[4] https://www.marxists.org/archive/marx/works/1891/06/29.htm [34].

[5] Engels an Florence Kelley-Wischnewetzky, 3. Februar 1886, MEW Bd. 36

[6] Brief an Nikolai Danielson, 22. September 1892, MEW Bd. 38

[7] Engels, Einleitung (zu Sigismund Borkheims Broschüre Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten, 15. Dezember 1887, MEW Bd. 21

[8] Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Kapitel 1, „Die Bernsteinsche Methode“.

[9] ebenda. Kapitel 2, „Anpassung des Kapitalismus“

[10] ebenda

[11] Das theoretische System von Karl Marx, 1907

[12] Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Kapitel 2

[13] ebenda, Kapitel 1

[14] ebenda

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [3]

Die ungarische Revolution 1919: Das Beispiel Russlands 1917 inspirierte die ungarische Arbeiterklasse, Teil 1

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Die ungarische Revolution 1919

Der revolutionäre Ansturm des ungarischen Proletariats wurde sehr stark durch eine internationale Triebkraft bestimmt. Er war das Ergebnis zweier Faktoren: die durch den Krieg unhaltbar gewordene Lage und die inspirierende Ausstrahlung der russischen Oktoberrevolution 1917.

Die ungarische Revolution 1919

Der revolutionäre Ansturm des ungarischen Proletariats wurde sehr stark durch eine internationale Triebkraft bestimmt. Er war das Ergebnis zweier Faktoren: die durch den Krieg unhaltbar gewordene Lage und die inspirierende Ausstrahlung der russischen Oktoberrevolution 1917.

Wie in der Einleitung zu dieser Serie gesagt, brachte der Erste Weltkrieg eine wahre Explosion der Barbarei mit sich. Aber noch gewaltiger war der „Frieden“, der seitens der kapitalistischen Großmächte in aller Eile geschlossen wurde, nachdem im November 1918 in Deutschland die Revolution ausbrach.[1] Denn der Frieden brachte auch nicht die geringste Erleichterung für das Leiden der Massen mit sich und auch keine Minderung des Chaos und des sich auflösenden gesellschaftlichen Lebens infolge der Kriegswirren.  Der Winter 1918 und der Frühling 1919 wirkten wie ein Schreckgespenst: Hunger, Lähmung des Transportwesens, gewaltige Konflikte unter Politikern, Besetzung von Ländern durch Siegermächte, Krieg gegen Sowjetrussland, ein gewaltiges Chaos auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, Ausbruch und Verbreitung einer Epidemie, die „Spanische Grippe“ genannt wurde, die fast ebenso viele Tote hinterließ wie der Krieg selbst. In den Augen der europäischen Bevölkerung war der „Frieden“ noch schlimmer als der Krieg.

Der Wirtschaftsapparat war bis aufs Äußerste ausgeblutet worden, so dass das ungewöhnliche Phänomen der Unterproduktion zu beobachten war, wie Bela Szantò[2] im Falle Ungarns feststellte: „Infolge der Kriegsanstrengungen der Kriegswirtschaft, die durch die Jagd nach Extraprofiten verursacht wurde, waren die Produktionsmittel vollständig verschlissen, Maschinen ruiniert worden. Deren Erneuerung hätte gewaltige Investitionen erfordert, während sie gleichzeitig nie hätten amortisiert werden können. Es gab keine Rohstoffe mehr. Die Fabriken standen still. Infolge der Demobilisierung und infolge der Schließung von Fabriken war eine riesige Massenarbeitslosigkeit entstanden“[3].

Am 19.7.1919 schrieb die Londoner Times: „Der Geist des Chaos regiert überall auf der Welt, von Amerika im Westen bis China im Osten, vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee; keine Gesellschaft, keine Zivilisation, so stark sie auch noch sein mögen, keine Verfassung, so demokratisch sie auch sein mag, kann sich diesem bösartigen Einfluss entziehen. Überall Anzeichen eines Zusammenbruchs der grundlegenden gesellschaftlichen Beziehungen, die durch diese fortgesetzten Spannungen hervorgerufen werden“[4]). Auf diesem Hintergrund löste das russische Beispiel eine Welle des Enthusiasmus und der Hoffnung für die Weltarbeiterklasse aus. Die Arbeiter hatten dem tödlichen Virus eines immer tiefer im Chaos versinkenden Kapitalismus etwas entgegen zu halten: den weltweiten revolutionären Kampf, der dank des Beispiels vom  Oktober 1917 richtungsweisend wirkte.

Die demokratische Republik des Oktober 1918

Ungarn, das immer noch dem Österreichisch-Ungarischen Reich angehörte und zu den besiegten Mächten im Krieg zählte, litt sehr  unter diesen Folgen. Gleichzeitig sollte das ungarische Proletariat, das äußerst stark in Budapest zusammengeballt war, wo ein Siebtel der Bevölkerung lebte und fast 80% der Industrie konzentriert war, eine gewaltige Kampfbereitschaft an den Tag legen.

Den Aufständen von 1915, die durch die dreiste Hilfe der Sozialdemokratischen Partei niedergeschlagen worden waren, folgte eine Phase der Apathie mit zaghaften Regungen in den Jahren 1916 und 1917. Aber im Januar 1918 schlug die soziale Unruhe um in das, was wahrscheinlich der erste internationale Massenstreik der Geschichte war, welcher zahlreiche Länder Mitteleuropas erfasste und in dessen Zentrum Budapest und Wien standen. Am 14. Januar brach die Bewegung los, am 16. Januar erreichte sie Niederösterreich und die Steiermark, am 17. Januar Wien, und am 23. Januar die großen Rüstungsbetriebe in Berlin. Die Bewegung hatte auch einen großen Widerhall in Slowenien, der Tschechoslowakei, Polen und Kroatien[5]. Der Kampf polarisierte sich um drei Ziele: Kampf gegen den Krieg, gegen die Nahrungsmittelknappheit und Solidarität mit der russischen Revolution. Zwei Schlachtrufe waren in verschiedenen Sprachen immer wieder zu hören: „Nieder mit dem Krieg“ und „Es lebe das russische Proletariat“.

In Budapest brach der Streik in zahlreichen Fabriken außerhalb der Kontrolle der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften aus, jeweils angespornt durch das Beispiel Russlands. Resolutionen zugunsten der Arbeiterräte waren verabschiedet worden… ohne dass sie jedoch selbst ins Leben gerufen wurden. Die Bewegung gab sich keine Organisationsform, was die Gewerkschaften wiederum ausnutzten, um an die Spitze der Bewegung zu treten und Forderungen aufzwingen, die nichts mit den Sorgen und Nöten der Massen zu tun hatten, insbesondere die Forderung nach allgemeinen Wahlen. Die Regierung wollte den Streik mit Hilfe von Soldaten niederschlagen lassen, die Kanonen und Maschinengewehre zum Einsatz bringen sollten. Der geringe Erfolg der Machtdemonstrationen und die wachsenden Zweifel der Soldaten, die weder an der Front kämpfen noch die Arbeiter unterdrücken wollten, schreckte die Regierung ab, welche dann innerhalb von 24 Stunden ihre Haltung änderte und den Forderungen nach allgemeinem Wahlrecht ‚nachgab‘, welche niemand erhoben hatte - außer eben Gewerkschaften und Sozialdemokratie.

Ermuntert durch diesen Erfolg drangen diese in die Betriebe ein, um sich den Streiks entgegenzustellen. Sie wurden sehr kühl empfangen. Nichtsdestotrotz führten die Erschöpfung, die mangelnden Nachrichten aus Österreich und Deutschland und die schrittweise Wiederaufnahme der Arbeit durch die schwächsten Teile der Klasse dazu, die Moral der Beschäftigten der großen Metallbetriebe zu untergraben, die schließlich dann auch wieder die Arbeit aufnahmen.

Gestärkt durch diesen Sieg, begannen die Sozialdemokraten “eine Repressionskampagne gegen all die Kräfte, die sich für die Wiederbelebung des revolutionären Klassenkampfes unter den Massen einsetzten. In Népszava, der größten Zeitung der Partei, wurden verleumderische Artikel veröffentlicht, die viel Nahrung lieferten für politische Verfolgungen durch die reaktionäre Wkerle-Vaszonyi-Regierung“[6].

Ungeachtet der Repression nahmen die Unruhen weiter zu. Im Mai meuterten die Soldaten des Ojvideck-Regimentes gegen ihre Entsendung an die Front. Sie besetzten die Telefonzentrale und den Bahnhof. Die Arbeiter aus der Stadt eilten ihnen zu Hilfe. Die Regierung entsandte Sondertruppen, die drei Tage die Stadt bombardieren mussten, um wieder die Kontrolle herzustellen. Die Repression war gnadenlos: jeder zehnte Soldat – gleich ob er sich aktiv an dem Aufstand beteiligt hatte oder nicht, wurde erschossen; Tausende Menschen ins Gefängnis gesteckt.

Im Juni schoss die Polizei auf die streikenden Arbeiter einer Metallfabrik in der Hauptstadt, mehrere Arbeiter wurden getötet und verletzt. Die Arbeiter zogen schnell zu den benachbarten Betrieben, in denen sofort die Produktion eingestellt wurde und versammelten sich auf der Straße. Innerhalb von wenigen Stunden war ganz Budapest lahm gelegt. Am nachfolgenden Tag dehnte sich die Bewegung auf das ganze Land aus. Improvisierte Vollversammlungen, inmitten einer revolutionären Atmosphäre, stimmten über die zu treffenden Maßnahmen ab. Die Regierung verhaftete Delegierte, schickte wichtige Arbeiter an die Front, die Straßenbahnen wurden unter Begleitung von mit Bajonetten bewaffneten Soldaten wieder in Betrieb genommen. Nach acht Tagen Kämpfen endeten diese in einer Niederlage.

In der Arbeiterklasse kam es jedoch zu einer Bewusstseinsentwicklung: „Unter immer mehr Arbeitern breitete sich die Überzeugung aus, dass die Politik der Sozialdemokratischen Partei und das Verhalten der Führer der Partei nicht angebracht waren, um eine revolutionäre Orientierung zu verfolgen (…). Die revolutionären Kräfte hatten angefangen, sich zusammen zu schließen; die Beschäftigten der großen Fabriken nahmen direkt Kontakt zueinander auf. Fast ständig wurden geheime Treffen und Versammlungen  abgehalten; die Konturen einer unabhängigen proletarischen Politik fingen an sich abzuzeichnen“[7]. Diese Zirkel wurden langsam als die Revolutionäre Gruppe bekannt.

Trotz der Repression nahmen die Meutereien der Soldaten immer mehr zu. Täglich kam es zu neuen Streiks. Die Regierung, die unfähig war, einen verlorenen Krieg weiterzuführen, und die konfrontiert war mit einer immer stärker zerfallenden Armee, einer gelähmten Wirtschaft und einem totalen Versorgungsmangel, brach zusammen. Um solch ein gefährliches Machtvakuum zu verhindern, beschloss die Sozialdemokratische Partei, die damit wiederum unter Beweis stellte, für wessen Interessen sie eintrat, die bürgerlich demokratischen Parteien in einem Nationalrat zusammenzubringen.

Am 28. Oktober war der Soldatenrat gegründet worden, der sich mit der revolutionären Gruppe abstimmte; beide riefen zu einer großen Demonstration in Budapest auf, die sich zur historischen Burgstadt begeben sollte, um dem königlichen Gesandten einen Brief zu übergeben. Vor dieser hatte eine riesige Zahl Soldaten und Polizei Stellung bezogen. Die Soldaten ließen die Menge durch, aber die Polizei eröffnete das Feuer auf sie und tötete dabei viele Demonstranten. „Die Wut über die Polizei war riesengroß. Am nächsten Tag stürmten Arbeiter die Waffenschmieden und bewaffneten sich“ [8].

Die Regierung versuchte, die Armeeeinheiten aus Budapest zu verbannen, die an der Spitze der Arbeiterräte gestanden hatten, was wiederum einen Aufruhr hervorrief. Tausende Arbeiter und Soldaten versammelten sich in der Rakóczi Straße, die Hauptarterie der Stadt, um deren Abtransport zu verhindern. Eine Kompanie Soldaten, die den Befehl zur Abreise hatte, weigerte sich und verbrüderte sich mit der Menge vor dem Astoria Hotel. Gegen Mitternacht wurden die beiden Telefonzentralen besetzt.

Am Morgen und während des darauf folgenden Tages wurden öffentliche Gebäude, Kasernen, der Hauptbahnhof, Lebensmittelgeschäfte von Soldaten und bewaffneten Arbeitern besetzt. Massendemonstrationen zogen zu den Gefängnissen und befreiten die politischen Gefangenen. Die Gewerkschaften, die im Namen der Massen zu sprechen vorgaben, forderten, die Macht dem Nationalrat zu übergeben. Am Vormittag des 31. Oktober  übergab Herzog Haik – der Regierungschef – die Macht einem anderen Herzog, Károlyi, Chef der Partei der Unabhängigkeit und Präsident des Nationalrates.

Ohne einen Finger gerührt zu haben, fiel ihm die gesamte Macht in die Hände. Aber wegen der Bedrohung durch die noch unorganisierten und wenig bewussten, arbeitenden Massen konnte er die Macht nicht fest in seinen Händen halten, Deshalb verwarf die Regierung jeglichen revolutionären Anspruch und suchte ihre Legitimität durch die ungarische Monarchie, die ein Teil des niedergehenden Österreichisch-Ungarischen Reiches war. Während der König abwesend war, begaben sich Mitglieder des Nationalrates, mit den Sozialdemokraten an ihrer Spitze, auf die Suche nach dem Repräsentanten des Kaisers, Erzherzog Josef, der die neue Regierung ernannte.

Diese Nachricht empörte viele Arbeiter. Eine Kundgebung wurde auf dem Tisza Calman-Tér abgehalten. Trotz strömenden Regens versammelte sich eine große Menge und beschloss zum Sitz der Sozialdemokratischen Partei zu ziehen, um die Ausrufung der Republik zu verlangen.

Im 19. Jahrhundert war die Ausrufung der Republik eine Forderung der Arbeiterbewegung, die diese Regierungsform als offener und günstiger für ihre Interessen als die konstitutionelle Monarchie ansah. Aber in Anbetracht der neuen Situation, in der die Wahl einzig zwischen bürgerlicher oder proletarischer Macht bestand, stellte die Republik die letzte Schutzmauer des Kapitals dar. Die Republik wurde mit Unterstützung der Monarchie geboren und die hohen Kirchenführer, an deren Spitze der Erzbischof von Ungarn stand, wurden von dem ganzen Nationalrat aufgesucht. Der Sozialdemokrat Kunfi hielt die folgende berühmte Rede: „Ich als überzeugter Sozialdemokrat habe die außerordentliche Verantwortung übernommen zu sagen, dass wir nicht handeln, indem wir uns leiten lassen von Klassenhass oder Klassenkampf. Und wir rufen jeden dazu auf, die Klasseninteressen und eigenen Interessen beiseite zu schieben und uns bei der Bewältigung der vor uns stehenden Aufgaben zu helfen.“[9] Die ganze ungarische Bourgeoisie schloss sich hinter ihrem neuen Retter, dem Nationalrat, zusammen, deren treibende Kraft die Sozialdemokratische Partei war. Am 16. November wurde die neue Republik feierlich ausgerufen.

Die Gründung der Kommunistischen Partei

Die Arbeiterklasse kann ihren revolutionären Ansturm nicht erfolgreich abschließen, wenn sie in ihren Reihen nicht das lebensnotwendige Werkzeug der Kommunistischen Partei schafft. Aber es reicht nicht, dass diese einige internationalistische programmatische Positionen bezieht,  denn die Positionen müssen auch in konkreten Vorschlägen an das Proletariat umgesetzt werden. Die Partei muss sich durch die Fähigkeit auszeichnen, mit großem Weitblick die Ereignisse und die notwendigen Orientierungen sorgfältig zu analysieren. Daher ist es wichtig, dass die Partei international aufgebaut ist und keine einfache Summe von nationalen Parteien ist, somit kann sie besser das erdrückende Gewicht und die irreführenden Folgen einer  momentbezogenen und lokalen Sichtweise und die Fixierung auf nationale Besonderheiten bekämpfen, aber auch besser Solidarität, gemeinsame Debatten, eine globale Sicht und Perspektiven vorschlagen.

Das Drama der revolutionären Anstürme in Deutschland und Ungarn war die Abwesenheit einer Internationale. Sie wurde ziemlich spät gegründet, im März 1919, als der Aufstand in Berlin schon niedergeschlagen und der revolutionäre Ansturm in Ungarn gerade begonnen hatte[10].

Die ungarische Kommunistische Partei kämpfte besonders mit dieser Schwierigkeit. Wir erwähnten schon, dass einer ihrer Gründer die Revolutionäre Gruppe war, die von Delegierten und anderen aktiven Arbeitern der Budapester Großfabriken gebildet worden war[11]. Dieser schlossen sich GenossInnen an, die im November 1918 aus Russland gekommen waren, und die die von Béla Kun angeführte kommunistische Gruppe gegründet hatten, sowie die Revolutionäre Sozialistische Union mit anarchistischer Tendenz und die Mitglieder der sozialistischen Opposition, einem Kern, der innerhalb der ungarischen Sozialdemokratischen Partei nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gegründet worden war.

Vor der Ankunft Béla Kuns und seiner GenossInnen hatten die Mitglieder der Revolutionären Gruppe die Möglichkeit erörtert, eine Kommunistische Partei zu gründen. Die Debatte über diese Frage führte zu einer Blockade, da es zwei Tendenzen gab, welchen keine Einigung gelang: einerseits die Anhänger der Bildung einer internationalistischen Fraktion innerhalb der Sozialdemokratischen Partei, und andererseits diejenigen, die die Gründung einer neuen Partei als dringlich erachteten. Schließlich wurde beschlossen, eine Union mit dem Namen Ervin Szabó zu bilden[12], welche die Diskussion fortsetzen wollte. Mit dem Eintreffen der Militanten aus Russland änderte sich die Lage schlagartig. Das Prestige der Russischen Revolution und die Überzeugungskünste Béla Kuns ließen das Pendel zugunsten der unmittelbaren Bildung der Kommunistischen Partei ausschlagen. Am 24. November wurde diese schließlich gegründet. Das programmatische Dokumente der Partei enthielt viele wertvolle Punkte[13]: „Während die Sozialdemokratische Partei versuchte, die Arbeiterklasse zugunsten des Wiederaufbaus des Kapitalismus wirken zu lassen, besteht die Aufgabe der neuen Partei darin, den Arbeitern aufzuzeigen, dass dem Kapitalismus schon ein tödlicher Schlag versetzt wurde, und dieser eine Entwicklungsstufe erreicht hat, in welcher er sowohl moralisch als auch wirtschaftlich in den  Ruin getrieben wird“; „Massenstreik und bewaffneter Aufstand: dies sind die von den Kommunisten befürworteten Mittel der Machtergreifung. Sie arbeiten nicht auf die Gründung einer bürgerlichen Republik hin (…) sondern auf die Diktatur des Proletariats mittels der Arbeiterräte.“ Die Partei wollte, „die bewusste Entwicklung des ungarischen Proletariats unterstützen, es aus seinen alten Bindungen, die es an die unehrliche, ignorante und korrupte herrschende Klasse fesselten, lösen und (…) den Geist der internationalen Solidarität wiederbeleben, der bislang systematisch geknebelt wurde.“ Und das ungarische Proletariat sollte mit der „russischen Rätediktatur verbunden werden sowie mit allen anderen Ländern, wo eine ähnliche Revolution ausbrechen könnte.“

Eine Zeitung - Vörös Ujsàg (Rote Zeitung) wurde gegründet, und die Partei stürzte sich in eine fieberhafte Agitation, die in Anbetracht des entscheidenden Moments, den die Bewegung durchlief, unabdingbar war[14]. Aber diese Agitation wurde nicht weiter durch eine tiefer gehende programmatische Debatte und durch eine methodische, kollektive Einschätzung der Ereignisse untermauert. Die Partei war in Wirklichkeit noch ziemlich jung und unerfahren, sie verfügte über wenig Zusammenhalt, weshalb sie – wie wir im nächsten Artikel sehen werden – zahlreiche schwere Fehler beging.

Gewerkschaften oder Arbeiterräte?

In der historischen Phase zwischen 1914-23 stand das Proletariat vor einer komplizierten Frage. Einerseits hatten sich die Gewerkschaften während des imperialistischen Krieges als Rekrutierungskräfte für das Kapital verhalten, und die aufkommenden Reaktionen der Arbeiter entfalteten sich außerhalb der Gewerkschaften. Gleichzeitig lagen die heldenhaften Zeiten, in denen die Arbeiterkämpfe von den Gewerkschaften ausgetragen wurden, noch nicht so lange zurück; diese hatten große wirtschaftliche Entbehrungen, viel Repression, viele Anstrengungen gemeinsamer Treffen bedeutet. Die Arbeiter betrachteten die Gewerkschaften noch immer als auf ihrer Seite stehend und meinten sie wieder zurückerobern zu können.

Gleichzeitig gab es einen enormen Enthusiasmus für die Arbeiterräte in Russland, die dort 1917 die Macht ergriffen hatten. In Ungarn, Österreich, Deutschland strebten die Kämpfe nach der Bildung von Arbeiterräten. Während in Russland die Arbeiter eine umfangreiche Erfahrung hinsichtlich des Wesens, der Funktionsweise, der sie schwächenden Hürden und der Sabotageversuche seitens der herrschenden Klasse gesammelt hatten, verfügten die Arbeiter in Ungarn und Deutschland nicht über so viel Erfahrung.

All diese historischen Faktoren trugen zu dieser “hybriden” Situation bei, die von der Sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften geschickt ausgenutzt wurde, um am 2. November den Arbeiterrat Budapests zu bilden, der durch eine seltene Mischung von Gewerkschaftsführern, Sozialdemokratischen Führern zusammen mit Delegierten aus einigen der großen Betriebe Budapests einberufen worden war. In den darauf folgenden Tagen blühten alle möglichen „Räte“ auf, die aber nichts anderes waren als gewerkschaftliche Organisationen und Kooperativen, welche sich diesen in der Mode befindlichen Namen gaben: Polizeirat (er wurde am 2. November gegründet und total von der Sozialdemokratie kontrolliert), Beamtenrat, Studentenrat. Selbst ein Priesterrat wurde am 8. November gegründet. Diese Ausbreitung von „Räten“ verfolgte das Ziel, die eigenständige Gründung von Räten durch die Arbeiter selbst zu verhindern.

Die Wirtschaft war gelähmt. Der Staat konnte nicht viel einfordern, und da jeder von ihm Hilfe verlangte, bestand seine Reaktion im Drucken von Papiergeld um Subventionen zu leisten, die Löhne der staatlich Beschäftigten auszuzahlen und die laufenden Kosten zu übernehmen. Im Dezember 1918 traf der Finanzminister sich mit den Gewerkschaften, um sie zu bitten, die Lohnforderungen fallen zu lassen, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, damit die Wirtschaft wieder angekurbelt werden könne und die Zügel bei der Verwaltung der Wirtschaft in die Hand zu nehmen. Die Gewerkschaften waren sehr kooperationswillig.

Aber dies empörte die Arbeiter. Erneut wurden Massenversammlungen abgehalten. Die Kommunistische Partei, die erst kurz zuvor gegründet worden war, trat an die Spitze des Protestes. Sie hatte beschlossen, in den Reihen der Gewerkschaften zu wirken, bald darauf sollte sie die Mehrheit der Arbeiter der großen Betriebe für sich gewinnen. In ihrem Programm war die Bildung von Arbeiterräten geplant, aber deren Bildung war als vereinbar mit der Existenz von Gewerkschaften angesehen worden[15]. Dies führte zu einem ständigen Zickzackkurs. Der Arbeiterrat von Budapest, der von der Sozialdemokratie als Präventivmaßnahme ins Leben gerufen worden war, hatte sich in einen leblosen Körper verwandelt. Zu diesem Zeitpunkt gab es einige Bemühungen der Organisierung und Bewusstwerdung in einem Rahmen, wo die Gewerkschaften immer wenig kontrollieren konnten, wie zum Beispiel die Massenversammlung der Metallarbeitergewerkschaft als Reaktion auf die Pläne des Ministers. Nach zwei Tagen Debatten nahm diese eine sehr radikale Position ein. „Aus der Sicht der Arbeiterklasse kann die staatliche Kontrolle der Produktion keine Wirkung zeigen, da die Volksrepublik nur eine abgewandelte Form der kapitalistischen Herrschaft ist, wo der Staat weiterhin das ist, was er vorher war: das kollektive Organ der Klasse, die die Produktionsmittel besitzt und die Arbeiterklasse unterdrückt.“[16].

Die Radikalisierung der Arbeiterkämpfe

Die Desorganisierung und Lähmung der Wirtschaft trieb die ArbeiterInnen und die große Mehrheit der Bevölkerung an den Rand des Hungers. Unter diesen Umständen beschloss die Versammlung, dass „in allen großen Betrieben Fabrikkontrollräte gebildet werden sollen, die in ihrer Eigenschaft als Organe der Arbeitermacht die Produktion in den Betrieben, die Versorgung mit Rohstoffen und ebenso die Funktionsweise und den ganzen Ablauf in den Betrieben  kontrollieren“[17]. Aber sie verstanden sich nicht als Partnerorganisationen des Staates oder als „Selbstverwaltungsorgane“, sondern als Hebel und als Ergänzung im Kampf um die politische Macht: „Die Arbeiterkontrolle stellt nur eine Übergangsphase zum System der Arbeiterverwaltung dar, die wiederum die Übernahme der politischen Macht zur Voraussetzung hat (…) In Anbetracht all dessen verurteilen die Delegiertenversammlung und die Mitglieder der Organisation jegliche „Aussetzung“ des Klassenkampfes, auch wenn diese nur vorübergehend sein soll; sie verurteilen ebenso jede Unterstützung der konstitutionellen Prinzipien und betrachten als unmittelbare Aufgabe der Arbeiterklasse, die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte als Faktor der Diktatur des Proletariats zu organisieren“[18].

Am 17. Dezember beschloss der Arbeiterrat von Szeged, der zweitgrößten Stadt, die Kommunalverwaltung aufzulösen und die “Macht zu ergreifen”. Dies war ein isolierter Schritt, der die Nervosität in Anbetracht der sich verschlechternden Lage zum Ausdruck brachte. Die Regierung reagierte vorsichtig und nahm Verhandlungen auf, die zu einer Wiedereinsetzung der Kommunalverwaltung mit „sozialdemokratischer Mehrheit“ führten. Weihnachten 1918 verlangten die ArbeiterInnen einer Budapester Fabrik Zusatzlohn. Sofort schlossen sich ArbeiterInnen aus Nachbarbetrieben dieser Forderung an. Innerhalb von wenigen Tagen wurde in Budapest überall diese Forderung erhoben, die auch in den Provinzen aufgegriffen wurde. Den Unternehmern blieb nichts anderes übrig als nachzugeben[19].

Anfang Januar bildeten die Bergarbeiter von Salgótarján einen Arbeiterrat, welcher entschied, die Macht zu übernehmen und eine Miliz auf die Beine zu stellen.  Dies brachte die Zentralregierung in Rage, die sofort Elitetruppen schickte, welche den Bezirk militärisch besetzten und 18 Menschen erschossen und 50 verletzte. Zwei Tage später fassten die Arbeiter aus Sátoralja-Llihely den gleichen Beschluss – wiederum reagierte die Regierung auf die gleiche Weise und erneut kam es zu einem Blutbad. In Kiskunfélegyhaza organisierten die Frauen eine Demonstration insbesondere gegen zu hohe Lebensmittelpreise und allgemein gegen zu hohe Lebenshaltungskosten; die Polizei schoss auf die Menge und tötete 10 Demonstranten und verletzte 30. Zwei Tage später traten die Arbeiter von Pozsony auf den Plan; der Arbeiterrat der Stadt proklamierte die Diktatur des Proletariats. Aufgrund von mangelnden Kräften bat die Regierung die tschechoslowakische Regierung um die militärische Besetzung der Stadt (es handelt sich um eine Grenzregion).[20].

Das Bauernproblem wurde immer akuter. Aus der Armee entlassene Soldaten kehrten in ihre Dörfer zurück, damit breitete sich die Agitation aus. Auf Versammlungen wurde die Aufteilung des Bodens gefordert. Der Budapester Arbeiterrat[21] bekundete seine große Solidarität, eine Versammlung wurde vorgeschlagen mit dem Ziel, der „Regierung eine Lösung der Agrarfrage aufzuzwingen.“ Im ersten Treffen wurde keine Einigung erzielt, erst nach einem weiteren Anlauf wurde der Vorschlag der Sozialdemokraten akzeptiert, wonach „einzelne Bauernhöfe übernommen werden können bei gleichzeitiger Entschädigung der früheren Besitzer“. Dies beruhigte die Lage vorübergehend, aber nur wenige Wochen, wie wir im nächsten Artikel sehen werden. In Arad, in der Nähe der rumänischen Grenze, besetzten die Bauern Ende Januar das Land, und die Regierung schickte ein Großaufgebot Militär, um sie davon abzuhalten, was wiederum ein neues Massaker hervorrief.

Februar 1919: Repression gegen die Kommunisten

Im Februar verwandelte sich die Journalistengewerkschaft in eine Rat und verlangte die Zensur aller Artikel die sich gegen die Revolution richteten. Die Versammlungen der Drucker und der verwandten Berufe erhielten Zulauf und unterstützten diese Maßnahme. Auch die Metallarbeiter beteiligten sich an Aktionen  die das Ziel hatten die Mehrheit der Presse unter die Kontrolle der Arbeiter zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt war die Publikation von  Mitteilungen und geschriebenen Artikeln unter der Kontrolle der kollektiven Entscheidung der Arbeiter.        

Budapest war zu einem gewaltigen Ort von Debatten geworden[22]. Jeden Tag, jede Stunde fanden Diskussionen zu einer Reihe von Themen statt. Überall wurden Gebäude und Anlagen besetzt. Nur Generälen und großen Bossen wurde das Versammlungsrecht verweigert; und wenn sie es versuchten, wurden sie von Gruppen von Metallarbeitern und Soldaten auseinander getrieben, die dann ihre Luxuswohnungen besetzten.

Neben der Entwicklung der Arbeiterräte und auf dem Hintergrund des Chaos und der Unterbrechung der Produktion entstand eine zweite Organisationsform in den Betrieben – die Fabrikräte, die die Produktion und die Verteilung lebenswichtiger Güter und Dienstleistungen übernahmen, um Mängel zu vermeiden. Ende Januar ergriff der Budapester Arbeiterrat eine kühne, zentralisierende Initiative: die Gasproduktion, Rüstungsbetriebe, die größten Baustellen, die Zeitung Deli Hirlap und das Ungarn-Hotel wurden unter Arbeiterkontrolle gestellt.

Dies stellte eine Herausforderung für die Regierung dar, und der Sozialist Garami reagierte mit einem Gesetzesvorschlag, der die Fabrikräte zu einer Handlangerrolle der Bosse verurteilte, nachdem die Unternehmer wieder die Produktion und die Verwaltung ihrer Betriebe übernehmen konnten. Gegen diese Maßnahme erhoben sich massive Proteste. In den Budapester Arbeiterräten waren die Diskussionen sehr lebhaft. Am 20. Februar „warf die Sozialdemokratie eine Bombe“ bei der dritten Sitzung zu diesem Gesetzesvorschlag. Ihre Delegierten unterbrachen das Treffen mit der sensationellen Nachricht: „Die Kommunisten haben einen Angriff gegen Népszava gestartet. Die Redaktionsräume sind mit Maschinengewehren gestürmt worden. Mehrere Redakteure sind schon gestorben. Auf den Straßen liegen viele Tote und Verletzte“[23].

Dadurch konnte der Gesetzesvorschlag gegen die Fabrikräte mit einer knappen Mehrheit verabschiedet werden, und dadurch wurde auch eine neue Stufe eingeleitet: die des Versuchs der gewaltsamen Niederschlagung der Kommunistischen Partei.

Die Erstürmung der Zeitung Népszava stellte sich bald als eine von der Sozialdemokratie inszenierte Provokation heraus. Diese Operation fand zu einem besonders wichtigen Zeitpunkt statt – überall entstanden mehr Arbeiterräte, die sich zunehmend gegen die Regierung richteten, gleichzeitig wurde dadurch der Höhepunkt einer Kampagne der Sozialdemokratie gegen die Kommunistische Partei erreicht, die diese seit Monaten eingefädelt hatte.

Schon im Dezember 1918 hatte die Regierung nach einem Vorschlag der Sozialdemokratie die Benutzung von Druckmaterialien verboten, weil sie damit den Druck und den Vertrieb von Vörös Ujsàg unterbinden wollte. Im Februar 1919 ging die Regierung gewaltsam vor. „Eines Morgens umstellte eine Gruppe von 160 mit Granaten und Maschinengewehren bewaffneten Polizisten das Sekretariat. Unter dem Vorwand einer Hausdurchsuchung drangen die Polizisten in das Gebäude ein, zerschlugen Möbel und Ausrüstung und schleppten alles in acht großen Fahrzeugen fort.“ [24]

Szanto berichtete, dass “die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs durch die weiße Konterrevolution in Deutschland von den ungarischen Konterrevolutionären als Signal für den Kampf gegen den Bolschewismus aufgefasst wurde.“[25]. Ein sehr einflussreicher bürgerlicher Journalist, Ladislas Fényes, startete eine hartnäckige Kampagne gegen die Kommunisten. Er forderte: „Sie müssen entwaffnet werden.“  Die Sozialdemokratie behauptete weiter, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg “ihren Versuch, die Einheit der Arbeiterbewegung zu untergraben, mit ihrem Leben bezahlt hatten.“ Alexander Garbai, der später Vorsitzender der ungarischen Arbeiterräte werden sollte, meinte, “Die Kommunisten sollten an die Wand gestellt und erschossen werden, weil niemand die Sozialdemokratische Partei spalten darf ohne dafür mit seinem Leben zu zahlen.“[26]. Man berief sich betrügerisch auf die Einheit der Arbeiter, die für das Proletariat grundlegend ist, um die bürgerliche Offensive zu unterstützen und auszuweiten.[27]

Die Frage der “Bedrohung der Einheit der Arbeiter” wurde von der Sozialdemokratie vor dem Arbeiterrat aufgeworfen. Die Arbeiterräte, die gerade erst ihre Aktivitäten aufgenommen hatten, wurden mit einer heiklen Frage konfrontiert, die sie schlussendlich lähmen sollte: mehrfach stellten die Sozialdemokraten den Antrag auf Ausschluss der Kommunisten aus Versammlungen, weil sie „die Arbeiterbewegung gespalten haben“. Sie setzten eigentlich nur die Kampagne ihrer deutschen Gesinnungsbrüder fort, die nach November 1918 die Frage der Einheit als Vorwand zum Ausschluss der Spartakisten genommen hatten, um somit eine Pogromatmosphäre gegen sie zu stiften.

Der Angriff gegen die Zeitung Népszava muss im gleichen Zusammenhang gesehen werden. Sieben Polizisten kamen dabei ums Leben. Im Verlauf der gleichen Nacht am 20. Februar wurde eine ganze Reihe von kommunistischen Militanten verhaftet. Die Polizei, die erzürnt war wegen des Todes ihrer Kollegen, folterte Gefangene. Am 21. Februar verbreitete Népszava eine Erklärung, in der Kommunisten als „konterrevolutionäre Söldner im Dienst der Kapitalisten“ angeprangert wurden und rief aus Protest zu einem Generalstreik auf. Zu einer Demonstration noch am Nachmittag vor dem Parlament wurde aufgerufen. 

Die Beteiligung an der Demonstration war enorm. Viele Arbeiter, die aufgrund der Vorwürfe gegen die Kommunisten erbost waren, beteiligten sich, aber insbesondere die Sozialdemokraten hatten viele Beamte, Kleinbürger, Armeeoffiziere, Geschäftsleute usw. mobilisiert, die strenge Maßnahmen seitens der bürgerlichen Justiz gegen die Kommunisten forderten.

Am 22. Februar berichtete die Presse über Folter an Gefangenen. Die Népszava verteidigte die Polizei. „Wir verstehen die Wut der Polizei und fühlen tiefe Sympathie für die Trauer über ihre gefallenen Kollegen, die die Arbeiterpresse verteidigten. Wir können dankbar dafür sein, dass die Polizei unsere Partei unterstützt hat, dass sie organisiert ist und Solidaritätsgefühle gegenüber dem Proletariat zeigt.“[28]

Diese widerwärtige Sprache lieferte die Schlüsselbegriffe für eine zweistufige Offensive gegen das Proletariat, die von der Sozialdemokratie angeführt wurde: erstens die Kommunisten als revolutionäre Avantgarde niederschlagen, anschließend immer gewalttätiger gegen die proletarischen Massen vorgehen. Am gleichen Tag, den 22. Februar, wurde der Antrag auf Ausschluss der Kommunisten von den Arbeiterräten angenommen. Sollten die Kommunisten damit vollständig enthauptet werden? Es sah danach aus, dass die Konterrevolution gewinnen würde.

Im nächsten Artikel werden wir sehen, wie diese Offensive durch eine starke Reaktion durch das Proletariat zurückgeschlagen wurde.

C. Mir, 3. März 2009

[1] Der allgemeine Waffenstillstand wurde am 11. November 1918, wenige Tage nach dem Ausbruch der Revolution in Kiel (Norddeutschland) und der Abdankung Kaiser Wilhelms unterzeichnet. Siehe die Artikelserie zu diesem Thema, die in International Review Nr. 133 begann.

[2] Siehe das Buch dieses Autors: Die ungarische Räterepublik, S. 40, spanische Ausgabe.

[3] So wurden Erscheinungen wie Unterproduktion, die durch die totale und vollständige Mobilisierung aller Ressourcen für Rüstung und Krieg verursacht wurde, auch von Gers Hardach in seinem Buch Der Erste Weltkrieg (S. 86, spanische Ausgabe) aufgegriffen. In Deutschland wurden von 1917 an Zeichen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs mit einer Unterbrechung der Versorgung und einem wachsenden Chaos festgestellt, das schließlich gar in einer Blockade der Kriegsproduktion mündete.

[4] Karl Radek, von Szantò zitiert (S. 10, spanische Ausgabe).

[5] In seinem Buch Weltkommunismus, schrieb der aus Österreich stammende alte kommunistische Militant Franz Borkenau: „Es war auf verschiedenen Ebenen die grösste revolutionäre Bewegung mit rein proletarischem Ursprung welche die moderne Welt je gesehen hatte.  (…) Die internationale Koordination welche die Komintern später zu erreichen versuchte entstand hier automatisch, innerhalb der Grenzen der zentralen Staaten, aus der Gemeinschaft der Interessen in allen Ländern heraus, und durch die Dringlichkeit von zwei Hauptproblemen, Brot und die Verhandlungen von Brest-Litovsk (dies waren Friedensverhandlungen zwischen der Sowjetregierung und den Deutschen Reich im Januar-März 1918). Es waren überall die Forderungen nach einem Frieden ohne Annexionen und Zahlungen mit Russland, nach mehr Nahrung und politischer Demokratie zu hören.“ (Seite 92 der englischen Ausgabe, von uns übersetzt)

[6] Béla Szantò, Die ungarische Revolution 1919, Spanische Ausgabe, S. 21.

[7] Szantò, S. 24.

[8] Szantò, S. 28.

[9] Szantò, S. 35.

[10] Siehe: “Deutschland 1918 – Bildung der Partei, Abwesenheit der Internationale”, International Review Nr. 135

[11] Sie ähnelten den revolutionären Obleuten in Deutschland. Es gibt einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen der Bildung der Bolschewistischen Partei in Russland, der KPD in Deutschland und der Ungarischen KP: „Die Tatsache, dass die drei erwähnten Kräfte die wir erwähnt haben eine entscheidende Rolle im Szenario der Entstehung der Partei bildeten war keinesfalls eine Eigenheit der Situation in Deutschland. Eine der Charakteristiken des Bolschewismus während der Russischen Revolution war der Weg mit dem er grundsätzlich die Kräfte die innerhalb der Arbeiterklasse existierten vereinte: die Partei der Vorkriegszeit, welche das Programm und die organisatorische Erfahrung repräsentierte; die fortgeschrittensten Arbeiter, welche in den Fabriken und an den Arbeitsplätzen  über ein Klassenbewusstsein verfügten; und die revolutionäre Jugend, welche durch den Kampf gegen den Krieg politisiert worden war.“ (International Review Nr. 135)

[12] Ein Militanter des linken Flügels der Sozialdemokratie, der 1910 die Partei verließ und sich auf anarchistische Positionen zubewegte. Er starb 1918, nachdem er sich mit einer internationalistischen Position energisch gegen den Krieg gestellt hatte.

[13] Wir zitieren die Zusammenfassung der Prinzipien durch Béla Szantó im oben erwähnten Buch.

[14] Bei der Agitation und der Aufnahme von neuen Militanten war die Partei sehr erfolgreich. Innerhalb von vier Monaten wuchs sie von 4.000 auf 70.000 Mitglieder an.

[15] Die gleiche Position herrschte im russischen Proletariat und unter den Bolschewiki vor. Aber während die Gewerkschaften in Russland sehr schwach waren, waren sie in Ungarn und in anderen Ländern viel stärker.

[16] Szantò, S 43.

[17] ebenda.

[18] ebenda

[19] Als Ausgleich schlug der Sozialdemokratische Minister vor, dass die Fabrikbesitzer 15 Millionen Kronen als Kredit bekommen sollten. Dies bedeutete, dass die Lohnerhöhungen, die den Arbeitern zugestanden worden waren, innerhalb weniger Tage aufgrund der Inflation aufgefressen sein würden.

[20] Dieses Gebiet sollte unter tschechischer Herrschaft bis zum Ausbruch der Revolution im August 1919 bleiben.

[21] Von Januar an lebte er mit all den Wendungen wieder auf, die wir oben erwähnt haben. Die großen Betriebe schickten Delegierten, viele von ihnen waren Kommunisten, die die Wiederaufnahme dieser Treffen forderten.

[22] Dies war eines der entscheidenden Merkmale der Russischen Revolution, wie sie zum Beispiel John Reed in seinem Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten, hervorhob.

[23] Szantò, S. 60.

[24] Szantò, S. 51.

[25] ebenda

[26] Szantò, S 52.

[27] Wir werden in einem späteren Artikel sehen, dass die Frage der Einheit das trojanische Pferd der Sozialdemokratie war, um die Kontrolle über die Arbeiterräte aufrechtzuerhalten, als diese die Macht ergriffen.

[28] Szantò, S 63.

Historische Ereignisse: 

  • Ungarn; Revolution; 1919 [35]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [36]

Die ungarische Revolution 1919: Das Beispiel Russlands inspirierte die ungarische Arbeiterklasse, Teil 2

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Im ersten Teil dieses Artikels[1] haben wir gesehen, wie die Sozialdemokratische Partei, Hauptbollwerk des Kapitalismus, ein widerwärtiges Manöver vollzog, um den überall zunehmenden Arbeiterkämpfen entgegenzutreten. Dieses Manöver zielte darauf ab, die Kommunisten für einen seltsamen Ansturm verantwortlich zu machen, der gegen die Reaktion der sozialdemokratischen Zeitung Népszava ausgeführt wurde, um sie zu kriminalisieren und später eine Welle der Unterdrückung auszulösen. Dies sollte, angefangen bei den Kommunisten, durch die Vernichtung der entstehenden Arbeiterräte und die Niederschlagung jeglicher revolutionärer Bestrebungen im ungarischen Proletariat enden.

Im zweiten Teil werden wir nun sehen, wie dieses Manöver scheiterte. Als die revolutionäre Situation weiter reifte, leitete die Sozialdemokratische Partei ein weiteres, ebenso riskantes Manöver ein, das schlussendlich zu einem Erfolg für die Kapitalisten wurde: Der Zusammenschluss mit der Kommunistischen Partei, „die Machtergreifung“, und die Organisierung der „Diktatur des Proletariats“, wodurch die aufsteigende Kampfbewegung und die Selbstorganisierung des Proletariats aufgefangen werden konnte. Dadurch wurde das Proletariat in eine Sackgasse und in eine Niederlage geführt.

März 1919: Krise der bürgerlichen Republik

Die Wahrheit über den Angriff auf die Zeitung Népszava wurde bald bekannt. Die Arbeiter fühlten sich getäuscht, ihre Wut wurde noch größer, als sie von den Folterungen an den Kommunisten erfuhren. Die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratischen Partei wurde untergraben. All das begünstigte die Popularität der Kommunisten. Die Forderungskämpfe nahmen seit Ende Februar 1919 immer mehr zu; die Bauern besetzten das Land ohne die Umsetzung der schon lange versprochenen „Agrarreform“ abzuwarten.[2] Immer mehr ArbeiterInnen beteiligten sich an den Sitzungen des Arbeiterrates von Budapest, in tumultartigen Diskussionen wurde heftige Kritik an den Führern der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften geübt. Die bürgerliche Republik, die im Oktober 1918 so viele Illusionen geweckt hatte, enttäuschte immer mehr. Die von den Kriegsschauplätzen zurückgeführten 25.000 Soldaten waren in ihren Kasernen eingesperrt worden; sie organisierten sich nunmehr in Soldatenräten. In der ersten Märzwoche wählten nicht nur die Vollversammlungen in den Kasernen ihre Delegierten, wobei der Anteil der kommunistischen Delegierten zunahm. Es gab auch immer mehr Abstimmungen, wo man kundtat, dass man „nicht mehr den Befehlen der Regierung folgen wird, solange diesen nicht vom Soldatenrat Budapests zugestimmt worden ist“.

Am 7. März wurde eine außerordentliche Sitzung des Budapester Arbeiterrates eröffnet, der eine Resolution verabschiedete. Darin wurde „die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel und die Übernahme der Leitung der Produktion durch die Räte“ gefordert. Aber auch wenn die Vergesellschaftung des bürgerlichen Staatsapparates ohne dessen Zerstörung nur eine lahme Maßnahme sein kann, spiegelte diese Resolution dennoch das große Selbstvertrauen der Räte wider und war eine Antwort auf zwei dringende Fragen: Erstens: die durch die Unternehmer ausgeübte Sabotage eines immer stärker desorganisierten Teils der Produktion und deren Kriegstreiben; Zweitens: der schreckliche Mangel an Lebensmitteln und lebensnotwendiger Produkte.

Die Ereignisse überstürzten sich. Der Arbeiterrat der Metallarbeiter stellte der Regierung ein Ultimatum. Ihr wurden fünf Tage bis zur Übergabe der Macht an die Parteien der Arbeiterklasse eingeräumt[3]. Am 19. März fand die bis zum damaligen Zeitpunkt größte Demonstration statt, zu der vom Budapester Arbeiterrat aufgerufen worden war. Die Arbeitslosen forderten Zahlungen und Lebensmittelkarten sowie kostenlose Wohnungen. Am 20. März streikten die Schriftsetzer; deren Streik wurde am folgenden Tag mit zwei Forderungen ausgedehnt: Freilassung der kommunistischen  Führer und Einsetzung einer „Arbeiterregierung“.

Während diese Ereignisse eine Reifung der revolutionären Situation zeigen, bringen sie aber auch zum Ausdruck, dass die Arbeiterklasse bei weitem noch nicht das politische Niveau erreicht hatte, das für den Sturm auf die Macht erforderlich ist.  Um die Macht zu ergreifen und in den Händen zu halten, muss das Proletariat auf zwei Kräfte bauen: die Arbeiterräte und die Kommunistische Partei. Im März 1919 steckten  die Arbeiterräte in Ungarn noch in ihrer Anfangsphase. Sie hatten gerade erst ihre Macht und ihre Selbständigkeit verspürt; sie waren noch dabei, sich aus der erstickenden Umklammerung durch die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften zu lösen.

Ihre beiden Hauptschwächen waren:

–  ihre Illusionen über die Möglichkeit einer “Arbeiterregierung”, in der Sozialdemokraten und Kommunisten vereint wären. Wie wir später sehen werden, erwies sich dies als Grab für die weitere revolutionäre Entwicklung;

– ihre Organisation erfolgte noch nach Wirtschaftsbereichen: Räte der Metallindustrie, Schriftsetzer, Textilarbeiter usw. Seit 1905 erfolgte die Organisierung der Räte auf horizontaler Ebene, alle Arbeiter waren ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu einer Branche, einer Region, Land usw. übergreifend  organisiert. In Ungarn bestanden die Räte auf der Grundlage von Wirtschaftsbezirken und Städten; dies birgt die Gefahr der Zerstreuung und des Branchenegoismus in sich.

Im ersten Teil des Artikels hoben wir hervor, wie schwach und heterogen die Kommunistische Partei noch war,  und dass die Debatten in ihren Reihen erst angefangen hatten. Ihr fehlte eine solide internationale Struktur, welche sie hätte leiten können; die Kommunistische Internationale hielt gerade ihren Gründungskongress ab. Aus diesem Grund litt sie unter großen Schwächen, wie wir sehen werden. Es mangelte ihr an Klarheit, weshalb sie leicht in die Falle lief, die von der Sozialdemokratie gestellt wurde.

Der Zusammenschluss mit der Sozialdemokratischen Partei und die Ausrufung der Sowjetrepublik

Oberst Vix, Repräsentant der Entente[4], stellte ein Ultimatum, in dem die Schaffung einer entmilitarisierten Zone auf ungarischem Gebiet verlangt wurde, das direkt vom alliierten Militärkommando befehligt wurde und eine Fläche von 200 km umfasste, d.h.  ungefähr die Hälfte des Landes.

Die herrschende Klasse tritt der Arbeiterklasse nie mit offenem Visier entgegen. Die Geschichte zeigt, dass sie versucht, die Arbeiterklasse in Sackgassen zu treiben. Die Rechte eröffnete das Feuer mit der Drohung einer militärischen Besetzung, die im April konkret in einer richtigen Invasion umgesetzt wurde. Die Linke wiederum trat sofort mit einer pathetischen Erklärung des Präsidenten Károlyi auf: „Das Land ist in Gefahr. Die schwierigste Stunde unserer Geschichte ist gekommen. (…) Der Moment ist gekommen, wo die ungarische Arbeiterklasse mit ihrer Macht, der einzig organisierten Kraft im Land, mit ihren internationalen Beziehungen  das Vaterland vor Anarchie und Zerstückelung retten muss. Ich schlage deshalb eine homogene sozialdemokratische Regierung vor, die den Imperialisten entgegentreten wird. Bei diesem Kampf geht es um das Überleben unseres Landes. Um diesen Kampf erfolgreich zu führen, muss die Arbeiterklasse unbedingt wieder vereint werden, die von den Extremisten hervorgerufene Agitation und Unordnung müssen aufhören. Zu diesem Zweck müssen die Sozialdemokraten eine gemeinsame Linie mit den Kommunisten finden.“[5]

Das Kreuzfeuer seitens der Rechten gegen den Klassenkampf, die die militärische Besetzung ins Spiel brachten, und der Linken, die die Verteidigung der Nation in den Vordergrund stellten, verfolgte das gleiche Ziel: Rettung der Herrschaft der Kapitalisten. Die militärische Besetzung – die schlimmste Kränkung, die ein Nationalstaat erleiden kann – zielte in Wirklichkeit auf die Niederschlagung der revolutionären Tendenzen des ungarischen Proletariats ab. Zudem bot sie der Linken die Möglichkeit, die Arbeiter auf die Verteidigung des Vaterlandes einzuschwören. Diese Falle war schon im Oktober 1917 in Russland gestellt worden,  als die russische Bourgeoisie in Anbetracht ihrer Unfähigkeit, das Proletariat niederzuschlagen, die Besetzung Petrograds durch deutsche Truppen bevorzugte. Die Arbeiterklasse konnte aber dieses Manöver geschickt vereiteln, indem sie die Macht ergriff. Im Fahrwasser des Grafen Károlyi sich bewegend, legte der rechte Sozialdemokrat Garami die einzuschlagende Strategie dar: „Die Regierung den Kommunisten übertragen, ihren totalen Bankrott abwarten, und erst dann, wenn die Lage  heran gereift ist und die Gesellschaft von diesem Abschaum  befreit ist, können wir eine homogene Regierung bilden“[6]. Der zentristische Flügel der Partei[7] präzisierte diese Politik. „Wir müssen feststellen, dass Ungarn von der Entente geopfert wird;  da sie entschieden hat, die Revolution zu liquidieren, bleibt die einzige Waffe, über die diese verfügt, Sowjetrussland und die Rote Armee. Um deren Unterstützung zu gewinnen, muss die ungarische Arbeiterklasse in der Tat die Macht in ihren Händen halten, und Ungarn muss eine wahre Volksrepublik und Sowjetrepublik sein.“   Sie fügten an: „Um zu verhindern, dass die Kommunisten die Macht missbrauchen, müssen wir sie besser mit ihnen ergreifen.“ [8].

Der linke Flügel der sozialdemokratischen Partei nahm eine proletarische Position ein und bewegte sich auf die Kommunisten zu.  Dem gegenüber manövrierten die Rechten um Garami und die Zentristen um Garbai geschickt. Garami trat von all seinen Ämtern zurück. Der rechte Flügel opferte sich zugunsten des zentristischen Flügels, der „sich für ein kommunistisches Programms aussprach“,  damit gelang es ihm, die Linken zu verführen.[9]

Mit diesem Schwenk schlug die neue zentristische Führung die unmittelbare Verschmelzung mit der Kommunistischen Partei vor und nichts anderes als die Machtergreifung! Eine Delegation der Sozialdemokratischen Partei begab sich zum Gefängnis, um Béla Kun zu treffen und schlug ihm den Zusammenschluss der beiden Parteien und die Bildung einer „Arbeiterpartei“, den Ausschluss aller „bürgerlichen“ Parteien und ein Bündnis mit Russland vor. Die Gespräche dauerten weniger als einen Tag; im Anschluss daran verfasste Béla Kun ein Protokoll mit sechs Punkten, die besonders hervorgehoben wurden: „Die Führungsspitzen der ungarischen Sozialdemokratischen Partei und der ungarischen Kommunistischen Partei haben den vollständigen und unmittelbaren Zusammenschluss ihrer jeweiligen Organisationen beschlossen. Der Name der neuen Organisation wird Vereinigte Sozialistische Partei Ungarns PSUH) sein. (…) Die PSUH ergreift sofort die Macht im Namen der Diktatur des Proletariats. Diese Diktatur wird von den Arbeiter–, Bauern– und Soldatenräten ausgeübt.  Es wird keine Nationalversammlung mehr geben (…) Das engst mögliche politisch–militärische Bündnis  mit Russland wird geschlossen“[10].

Präsident Károlyi, der die Verhandlungen aufmerksam verfolgte, reichte seinen Rücktritt ein und richtete eine Erklärung “an das Proletariat der Welt, um Hilfe und Gerechtigkeit zu erhalten. Ich trete zurück und übergebe die Macht an das Proletariat des ungarischen Volkes“[11].

Während der Demonstration am 22. März schloss sich „der ex–Homo Regius, der Erzherzog Joseph–August sowie Philippe Egalité der Demonstration auf Seiten der Arbeiter an.“[12]. Die neue, am nächsten Tag gebildete Regierung mit Béla Kun und anderen, aus dem Gefängnis befreiten kommunistischen Führern, wurde vom zentristischen Sozialdemokraten Garbai geleitet[13]. Sie verfügte über eine zentristische Mehrheit mit zwei für den linken Flügel reservierten Posten und zwei anderen, für die Kommunisten vorgesehenen Stellen, darunter eine für Béla Kun. Eine sehr riskante Operation begann, indem die Kommunisten als Geiseln der Politik der sozialdemokratischen Politik genommen wurden und die gerade gegründeten Arbeiterräte mit dem vergifteten Geschenk der „Machtübernahme“ sabotiert werden sollten. Die Sozialdemokraten überließen das Hauptamt Béla Kun, der voll in die Falle lief und zum Sprecher und Unterstützer einer ganzen Reihe von Maßnahmen wurde, welche sein Ansehen untergruben[14].

Die “Einheit” führt zur Spaltung der revolutionären Kräfte

Die Proklamierung der ‚Vereinigten‘ Partei bewirkte vor allem, dass die Annäherung zwischen den linken Sozialdemokraten und den Kommunisten aufgehalten wurde, die durch die Radikalisierung der Zentristen verführt worden waren. Aber das Schlimmste war, dass eine Pandora–Büchse unter den Kommunisten geöffnet worden war, die sich in verschiedene Tendenzen spalteten. Die Mehrheit um Béla Kun wurde zur Geisel der Sozialdemokraten; eine andere Tendenz bildete sich um Szamuelly, der in der Partei verblieb aber eine unabhängige Politik betreiben wollte. Die Mehrzahl der Anarchisten spaltete sich ab und bildete die Anarchistische Union, welche jedoch die Regierung mit einer Oppositionshaltung unterstützte[15].

Die einige Monate zuvor gegründete Partei, welche erst jetzt eine wirkliche Organisation schuf und zu intervenieren anfing, löste sich vollständig auf. Die Debatte wurde unmöglich, ihre Mitglieder gerieten in ständige Auseinandersetzungen. Diese hielten sich an keine Prinzipien oder eine unabhängige Analyse der Lage. Stattdessen lief man ständig den Ereignissen hinterher und ließ sich durch die subtilen Manöver der zentristischen Sozialdemokraten irreführen.

Die Desorientierung über die wirkliche Lage in Ungarn erfasste auch einen so erfahrenen und klaren Militanten wie Lenin. In seinen Gesammelten Werken sind die Gespräche mit Béla Kun am 22. und 23. März 1919 veröffentlicht[16]. Lenin bat Béla Kun: „Bitte mitzuteilen welche reellen Garantien Sie dafür haben, dass die neue ungarische Regierung wirklich kommunistisch und nicht nur einfach sozialistisch, das heißt sozialverräterisch wird? Haben die Kommunisten Mehrheit in der Regierung?Wann kommt der Rätekongress zusammen? Worin besteht reell die Anerkennung der Diktatur des Proletariats durch die Sozialisten?“. Lenin stellte die richtigen grundsätzlichen Fragen. Aber alles stützte sich auf persönliche Kontakte und nicht auf eine kollektive internationale Debatte. Lenin zog die Schlussfolgerung: „Die Antwort, die Genosse Béla Kun gab, war völlig zufriedenstellend und zerstreute alle unsere Zweifel. Es stellte sich heraus, dass die linken Sozialisten zu Béla Kun ins Gefängnis gekommen waren, um über die Regierungsbildung zu beraten. Und nur diese mit den Kommunisten sympathisierenden linken Sozialisten sowie Leute des Zentrums haben die neue Regierung gebildet, während die rechten Sozialisten, die sozusagen unversöhnlichen und unverbesserlichen Sozialverräter, völlig aus der Partei ausgeschieden sind, ausgeschieden sind, ohne dass ihnen ein einziger Arbeiter gefolgt wäre.“. Man kann hier erkennen, dass Lenin zumindest schlecht informiert war und die Lage nicht richtig einschätzte, denn das Zentrum der Sozialdemokratie verfügte in der Regierung über die Mehrheit und die linken Sozialdemokraten befanden sich in den Händen ihrer “Freunde” des Zentrums.

Von einem entwaffnenden Optimismus mitgerissen, zog Lenin die Schlussfolgerung: „Die Bourgeoisie selber hat die Macht den Kommunisten Ungarns abgetreten. Die Bourgeoisie hat der ganzen Welt gezeigt, dass sie, wenn eine schwere Krise eintritt, wenn die Nation in Gefahr ist, nicht reagieren kann. Es gibt nur eine einzige wirklich vom Volk getragene, vom Volk geliebte Macht – die Macht der Arbeiter–, Soldaten– und Bauernräte.“    

Einmal an der Macht wurden die Arbeiterräte sabotiert

Diese Macht bestand in Wirklichkeit nur auf dem Papier. Vor allem die Vereinigte Sozialistische Partei ergriff die Macht, ohne dass der Budapester Sowjet oder irgendein anderer Sowjet im Lande sich irgendwie daran beteiligte[17]. Auch wenn die Regierung sich formell dem Budapester Arbeiterrat „untergeordnet“ erklärte, präsentierte diese jegliche Dekrete, Befehle und Entscheidungen als Tatbestände, gegenüber denen der Rat nur ein relatives Vetorecht besaß. Die Arbeiterräte befanden sich in der Zwangsjacke der parlamentarischen Praxis. „Die Angelegenheiten des Proletariats wurden weiter verwaltet – oder besser gesagt – durch die alte Bürokratie sabotiert, anstatt durch die Arbeiterräte selbst vertreten zu werden; diesen gelang es nie, zu einem aktiven Organ zu werden“ [18].

Der schlimmste Schlag gegen die Räte war die Wahlaufruf seitens der Regierung, um eine „Nationalversammlung der Arbeiterräte“ zu bilden. Das von der Regierung aufgezwungene Wahlsystem bestand in der Durchführung der Wahlen an zwei Daten – (7. Und 14. April 1919), „den Modalitäten der formellen Demokratie folgend (Listenwahlen, mit Wahlkabinen usw.)“[19]. Dies war die Wiederauflage der typischen Mechanismen der bürgerlichen Wahlen, wodurch das Wesen der Arbeiterräte ausradiert wird. Während in der bürgerlichen Demokratie die gewählten Organe das Ergebnis einer Stimmabgabe durch atomisierte, voneinander getrennte Individuen sind, stützen sich die Arbeiterräte auf ein radikal neues und unterschiedliches Konzept politischen Handelns: Über Entscheidungen, zu treffende Maßnahmen wird in den Debatten beratschlagt und abgestimmt, an denen sich die organisierten Massen beteiligen. Die Massen begnügen sich nicht damit, Entscheidungen zu treffen, sondern setzen sie auch in die Praxis um.

Aber der Triumph des Wahlmanövers war nicht nur auf die Geschicklichkeit der Sozialdemokratie bei Manövern zurückzuführen, sie beuteten nur die bestehenden Verwirrungen nicht nur unter den Massen aus, sondern auch die der Mehrzahl der kommunistischen Militanten, insbesondere die der Gruppe um Béla Kun.  Die jahrelange Beteiligung an Wahlen und die parlamentarische Tätigkeit – eine während der aufsteigenden Phase des Kapitalismus für den Fortschritt des Proletariats notwendige Tätigkeit – hatte Gewohnheiten und Sichtweisen aufkommen lassen, die mit einer eindeutig abgeschlossenen Phase verbunden waren, und jetzt eine klare Reaktion auf die neue Lage verhinderten, die den endgültigen Bruch mit dem Parlamentarismus und der Wahlbeteiligung verlangten.

Der Wahlmechanismus und die Disziplin der „Vereinigten“ Partei führten dazu, dass bei „der Vorstellung der Kandidaten für die Wahlen zu den Räten die Kommunisten die Sache der Sozialdemokraten vertreten mussten; einige von ihnen wurden noch nicht einmal gewählt.“ Szantó stellte fest, dass dies den Sozialdemokraten die Möglichkeit bot, „eine wortradikale, revolutionär–kommunistische Sprache zu sprechen, um revolutionärer zu erscheinen als die Kommunisten“[20].

Diese Politik rief einen heftigen Widerstand hervor. Die Aprilwahlen wurden im 8. Budapester Bezirk angezweifelt. Szamuelly gelang es, die offizielle Liste seiner eigenen Partei (!) zu annullieren und Wahlen aufzuzwingen, die sich auf die Ergebnisse der Debatten in den Vollversammlungen stützten, die wiederum einen Sieg einer Koalition von Dissidenten der PSUH und Anarchisten ermöglichten, die sich um Szamuelly zusammengeschlossen hatten.

Andere Versuche,  wirkliche Arbeiterräte ins Leben zu rufen, wurden Mitte April gestartet. Einer Bewegung der Stadtviertel–Räte gelang es, eine Konferenz der Stadtviertel–Räte in Budapest einzuberufen, welche die „sowjetische Regierung“ scharf kritisierte und eine Reihe von Vorschlägen zur Verbesserung der Versorgungslage, zur Niederschlagung der Konterrevolutionäre und hinsichtlich des Verhältnisses zu den Bauern und der Fortsetzung des Krieges  machte.  Und sie schlug – gerade ein Monat nach den Wahlen – eine Neuwahl der Räte vor. Béla Kun, der als Geisel der Sozialdemokratie wirkte, erschien auf der letzten Sitzung der Konferenz und übte die Feuerwehrrolle aus; seine Sprache grenzte an Demagogie: „Wir stehen schon so weit links, dass man nicht noch weiter links rücken kann. Eine noch stärkere Linkswende könnte nur eine Konterrevolution werden“[21].

Die wirtschaftliche Umorganisierung stützte sich auf die gegen die Räte eingestellten Gewerkschaften

Der revolutionäre Ansturm hatte mit dem wirtschaftlichen Chaos, dem Warenmangel und der Sabotage durch die Unternehmer zu kämpfen. Während der Schwerpunkt einer jeden proletarischen Revolution die politische Macht der Räte ist, heißt dies aber nicht, dass man die Kontrolle der Produktion vernachlässigen darf. Auch wenn es unmöglich ist, eine revolutionäre Umwälzung der Produktion hin zum Kommunismus zu starten, solange die Revolution nicht weltweit gesiegt hat, darf man daraus nicht schlussfolgern, dass das Proletariat auf eine besondere Wirtschaftspolitik von Beginn der Revolution an verzichten könnte. Diese muss insbesondere zwei prioritäre Fragen berücksichtigen. Die erste ist – alle möglichen Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die Ausbeutung der ArbeiterInnen zu reduzieren und sicherzustellen, dass sie so viel Zeit wie möglich haben,  um ihre Energie für die aktive Beteiligung an den Arbeiterräten zur Verfügung zu stellen.

Unter dem Druck des Budapester Arbeiterrates beschloss die Regierung die Abschaffung der Akkordarbeit und die Kürzung des Arbeitstages mit dem Ziel, „es den Arbeitern zu ermöglichen, sich am politischen und kulturellen Leben der Revolution zu beteiligen“[22].

Die zweite Maßnahme war der Kampf für eine bessere Versorgung und gegen die Sabotage, so dass Hunger und das unvermeidbare wirtschaftliche Chaos nicht das Ende der Revolution einläuten konnten. Nachdem sie mit diesem Problem konfrontiert wurden, schufen die Arbeiter schon vom Januar 1919 an Fabrikräte und Bereichsräte. Wie wir im ersten Teil dieses Artikels gesehen haben, verabschiedete der Budapester Rat einen mutigen Plan zur Kontrolle der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Aber die Regierung, die sich auf sie stützen musste, unternahm systematisch Anstrengungen, um ihnen die Kontrolle über die Produktion und die Versorgung zu entreißen und diese immer mehr den Gewerkschaften zu übertragen. Béla Kun beging damals schwerwiegende Fehler. So erklärte er im Mai 1919: “Unser Industrieapparat fußt auf den Gewerkschaften. Diese müssen sich mehr emanzipieren und zu gewaltigen Betrieben werden, die die Mehrheit der Beschäftigten umfassen, dann alle Beschäftigten einer Industriebranche insgesamt. Die Gewerkschaften beteiligen sich an der technischen Leitung; sie müssen sich darauf ausrichten, langsam die Führungsaufgaben zu übernehmen. So garantieren sie, dass die für das Regime zentralen Wirtschaftsorgane und die arbeitende Bevölkerung zusammen wirken und die Arbeiter sich an die Leitung des Wirtschaftslebens gewöhnen“[23]. Roland Bardy kommentiert diese Analyse kritisch: „Als Gefangener eines abstrakten Schemas, konnte sich Béla Kun nicht der Logik seiner Position bewusst sein, und dass die Sozialisten die Macht übernahmen, die ihnen vorher entrissen worden war (…) Eine Zeit lang werden die Gewerkschaften die Bastion der reformistischen Sozialdemokratie sein, und sich ständig in Konkurrenz mit den Sowjets befinden“[24].

Der Regierung gelang es durchzusetzen, dass nur die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und Bauern Zugang zu den Kooperativen und den Konsumgenossenschaften erhielten. Dies gab den Gewerkschaften einen wichtigen Hebel zur Kontrolle in die Hand.

Béla Kun theoretisierte dies: „Die kommunistische Herrschaft ist die der organisierten Gesellschaft. Wer leben und Erfolg haben will, muss einer Organisation angehören. Die Gewerkschaften dürfen den Mitgliederbeitritt nicht erschweren“[25]. Wie Bardy meint: „Die Gewerkschaften für alle zu öffnen, war ein sicherer Weg, um das zahlenmäßige Übergewicht des Proletariats in seinen Reihen abzuschaffen und somit langfristig die „demokratische“ Funktionsweise der Klassengesellschaft wieder herzustellen.“ (…) „Die alten Arbeitgeber, Grundbesitzer und ihre Diener beteiligten sich nicht an der aktiven Produktion (Industrie und Landwirtschaft), sondern an den Dienstleistungen. Das Aufblähen dieses Bereiches ermöglichte es der alten herrschenden Klasse als Parasitenklasse zu überleben und von der Verteilung der Produkte zu profitieren, ohne jedoch in den aktiven Produktionsprozess integriert zu sein“[26]. Dieses System begünstigte die Spekulation und den Schwarzmarkt, ohne auch nur in der Lage zu sein, die Probleme des Hungers und des Mangels, unter denen die ArbeiterInnen der großen Städte litten, zu lösen.

Die Regierung ermunterte die Schaffung von großen Agrarbetrieben, die von einem System der „Kollektivierung“ beherrscht wurden. Dies war ein großer Betrug. ‚Produktionskommissare’ wurden an die Spitze der kollektivierten Bauernhöfe gestellt, und wenn sie keine arroganten Bürokraten waren, handelte es sich um die alten Großgrundbesitzer! Diese lebten übrigens immer noch auf ihrem Gut und forderten von den Bauern, dass diese sie weiterhin mit „Herr“ anredeten.

Von den kollektivierten Bauernhöfen erwartete man die Ausdehnung der Revolution auf dem Land und die garantierte Versorgung, aber sie leisteten weder das eine noch das andere. Die Tagelöhner und die armen Bauern, die zutiefst von der Wirklichkeit der kollektivierten Betriebe enttäuscht waren, nahmen immer mehr von ihnen Abstand. Übrigens verlangten deren Führer einen Tausch, den die Regierung unmöglich eingehen konnte: landwirtschaftliche Produkte im Austausch für Dünger, Traktoren und Maschinen zu liefern. Sie verkauften deshalb ihre Waren an Spekulanten und Aufkäufer; das hatte zur Folge, dass der Hunger und der Mangel solche Ausmaße erreichten, dass der Budapester Arbeiterrat verzweifelt die Umwandlung von Parks und Gärten in landwirtschaftlich benutzten Boden anordnete.

Die Entwicklung des weltweiten revolutionären Kampfes und die Lage in Ungarn

Die einzige Möglichkeit für das ungarische Proletariat, der Falle, in die es geraten war, zu entrinnen, bestand im Vorantreiben des Kampfes des Weltproletariats. In der Zeit von März bis Juni 1919 gab es große Hoffnungen trotz des heftigen Gegenschlags, den die Niederschlagung des Aufstands im Januar 1919 in Berlin hervorgerufen hatte[27]. Im März 1919 wurde die Kommunistische Internationale gegründet, im April die Bayrische Räterepublik ausgerufen, die durch die sozialdemokratisch geführte Regierung niedergeschlagen wurde. Die revolutionäre Agitation in Österreich, wo sich die Räte konsolidierten, wurde ebenfalls durch das Manöver eines Provokateurs namens Bettenheim abgewürgt, welcher die junge kommunistische Partei zu einem verfrühten Aufstand trieb, der im Mai 1919 leicht nieder geworfen werden konnte. In Großbritannien brach der große Streik in den Clyde Schiffswerften aus, bei dem Arbeiterräte gebildet wurden, und der auch Meutereien in der Armee auslöste. Streikbewegungen entstanden in Holland, Norwegen, Schweden, Jugoslawien, Rumänien, Tschechoslowakei, Polen, Italien und selbst in den USA. Aber diese Bewegungen steckten erst in ihrer Anfangsphase. Damit verfügten die Armeen Frankreichs und Großbritanniens, die am Ende des Krieges noch mobilisiert geblieben waren, noch über einen großen Spielraum, um die Polizistenrolle zu übernehmen und die revolutionären Erhebungen niederzuschlagen. Zunächst konzentrierten sie sich auf Russland (1918–20) und Ungarn (von April 1919 an). Als die ersten Meutereien in der Armee gemeldet wurden, und als Folge der Kampagnen, die im Krieg gegen das revolutionäre Russland geführt wurden, ersetzte man die Rekruten schnell  durch Kolonialtruppen, die gegenüber dem Proletariat viel resistenter waren.

Im Falle Ungarns zog die französische Kommandantur die Lehre aus der Weigerung der Soldaten, die Aufständischen von Szeged gewaltsam niederzuschlagen. Frankreich blieb ein wenig im Hintergrund und hetzte die Nachbarstaaten gegen Ungarn auf: Rumänien und die Tschechoslowakei wurden zur Speerspitze bei den Operationen gegen die ungarischen Arbeiter. Diese Staaten übten die Gendarmenrolle aus, aber sie wollten auch dem ungarischen Staat Gelände entreißen.

Das belagerte Russland konnte nicht die geringste militärische Hilfe leisten. Der Versuch der Roten Armee und der Guerilla–Kämpfer um Nestor Machno, im Juni 1919 eine Offensive im Westen zu starten, um eine Verbindung zu Ungarn aufzubauen, wurde durch den gewaltsamen Gegenangriff des Generals Denikin vereitelt.

Aber das zentrale Problem bestand darin, dass der Hauptfeind des Proletariats “in seinem eigenen Haus” wohnte[28]. Am 30. März schuf die Regierung der „Diktatur des Proletariats“ pompös die Rote Armee in Ungarn. Es war die gleiche alte, aber umgetaufte Armee. All die Schaltstellen waren weiterhin besetzt von den alten Generälen, die von einem Korps politischer Kommissare überwacht wurden, welche von den Sozialdemokraten beherrscht wurden, und aus dem die Kommunisten ausgeschlossen worden waren.

Die Regierung verwarf einen Vorschlag der Kommunisten, die Polizeikräfte aufzulösen. Die Arbeiter dagegen entwaffneten selbst die Wächter. Die Belegschaft mehrerer Budapester Betriebe verabschiedete Resolutionen zu diesem Thema, die sofort umgesetzt wurden: „Nur die Sozialdemokraten erteilten Erlaubnisse. Aber sie ließen es nicht zu, dass die Entwaffnung tatsächlich vollzogen wurde, und nur nach einem langen Widerstand stimmten sie der Entlassung der Polizei, der Gendarmerie und der Sicherheitsgarde zu“[29]. Die Rote Armee wurde per Dekret gebildet; und sie nahm in ihre Reihen entlassene Polizeikräfte auf.

Die Armee und Polizei, Rückgrat des bürgerlichen Staates, blieben somit dank dieser Taschenspielertricks intakt. Es überraschte deshalb nicht, dass die Rote Armee so leicht bei der April–Offensive auseinander brach,  die von den rumänischen und tschechischen Truppen lanciert worden war. Mehrere Regimenter wechselten gar die Seite.

Den mobilisierten Arbeitern gelang es am 30. April gegen die Invasionstruppen vor den Toren Budapests das Blatt zu wenden. Die Anarchisten und die Gruppe um Szamuelly betrieben eine verstärkte Agitation. An der 1. Mai Demonstration beteiligten sich viele Arbeiter; man rief nach der ‚Bewaffnung des Volkes’, und die Gruppe um Szamuelly verlangte, „Alle Macht den Räten“. Am 2. Mai wurde eine Massenveranstaltung organisiert, in der die Arbeiter zur Mobilisierung aufgerufen wurden. Innerhalb weniger Tage schlossen sich allein in Budapest 40.000 Freiwillige der Roten Armee an.

Die Rote Armee, die durch die Aufnahme vieler Arbeiter und die Ankunft von internationalen Brigaden mit französischen und russischen Freiwilligen verstärkt worden war, startete eine Großoffensive, bei der eine Reihe von Siegen über die rumänischen, serbischen und besonders tschechischen Truppen errungen wurden, die eine große Niederlage erlitten und deren Soldaten massiv desertierten. In der Slowakei führten die Aktionen der Arbeiter und rebellierenden Soldaten zur Bildung eines Arbeiterrates, die mit Unterstützung der Roten Armee die Slowakische Räterepublik ausrief (16. Juni). Der Rat schloss ein Bündnis mit der ungarischen Republik und verfasste ein Manifest, das an alle tschechischen Arbeiter gerichtet wurde.

Dieser Erfolg alarmierte die Weltbourgeoisie. „Die Pariser Friedenskonferenz, die über den Erfolg der Roten Armee besorgt ist, richtete am 8. Juni ein neues Ultimatum an Budapest, in dem gefordert wurde, dass die Rote Armee ihren Vormarsch einstelle, und die ungarische Regierung aufforderte nach Paris zu kommen, um „über die ungarischen Grenzen“ zu diskutieren.“ Später wurde ein zweites Ultimatum gestellt, in dem der Einsatz von Gewalt in Erwägung gezogen wurde, wenn das Ultimatum nicht eingehalten würde[30].

Der von Béla Kun unterstützte Sozialdemokrat Bohm wollte um jeden Preis Verhandlungen mit dem französischen Staat aufnehmen, der als ersten Schritt die Aufgabe der Slowakischen Sowjetrepublik forderte, dem am 24. Juni zugestimmt wurde. Diese Republik wurde dann am 28. Juni niedergeschlagen und alle Militanten ab dem darauf folgenden Tag gehängt.

Die Entente vollzog einen taktischen Wandel. Die Ausschreitungen der rumänischen Truppen und ihre territorialen Ansprüche waren die Ursache für ein stärkeres Zusammenrücken um die Rote Armee, was im Mai deren Siege begünstigt hatte. Eine provisorische Regierung wurde in aller Eile um zwei Brüder des früheren Präsidenten Károlyi gebildet, die ihre Regierungsgeschäfte in der von den Rumänen besetzten Zone aufnahm, aber sich wiederum zurückziehen musste. Sie murrte,  um den Anschein einer „unabhängigen Regierung“ zu erwecken. Der rechte Flügel der Sozialdemokratie trat dann wieder in Erscheinung und unterstützte offen diese Regierung.

Am 24. Januar kam es in Budapest zu einem Aufstandsversuch, der von den rechten Sozialdemokraten organisiert wurde. Die Regierung verhandelte mit den Aufständischen und gab der Forderung nach einem Verbot der « Kumpel Lenins », den internationalen Brigaden und den von den Anarchisten kontrollierten Regimentern nach. Diese Repression beschleunigte das Auseinanderbrechen der Roten Armee : in ihren Reihen kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen, immer mehr Soldaten desertierten und die Meutereien nahmen zu. 

Die endgültige Niederlage und die brutale Niederschlagung

Die Demoralisierung erreichte in der Budapester arbeitenden Bevölkerung ihren Höhepunkt. Viele Arbeiter flüchteten mit ihren Familien aus der Stadt. Auf dem Land nahmen die Bauernaufstände gegen die Regierung zu. Rumänien begann erneut seine Militäroffensive. Von Mitte Juni an hatten die Sozialdemokraten wieder ihre Kräfte zusammengeschlossen, sie verlangten den Rücktritt Béla Kuns und die Bildung einer neuen Regierung unter Beteiligung der Kommunisten. Am 20. Juli befahl Béla Kun eine verzweifelte militärische Gegenoffensive gegen die rumänischen Truppen mit den verbliebenen Überresten der Roten Armee, welche sich dann aber am 23. Juli ergeben mussten. Am 31. Juli trat Béla Kun schließlich zurück. Eine neue Regierung mit den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften an der Spitze wurde gebildet, die sofort eine blutige Repression gegen die Kommunisten, Anarchisten und all die Arbeitermilitanten startete, die noch nicht hatten flüchten können. Szamuelly wurde am 2. August ermordet. 

Am 6. August wurde diese Regierung wiederum durch eine Handvoll Militärs gestürzt, die dabei auf keinen Widerstand stießen. Die rumänischen Truppen zogen in Budapest ein. Die Gefangenen wurden mit mittelalterlichen Foltermethoden gepeinigt, bevor sie getötet wurden. Verletzte oder kranke Soldaten wurden aus den Krankenhäusern geholt und auf die Straße geschleppt, wo sie auf alle möglichen Arten erniedrigt wurden, um dann getötet zu werden. In den Dörfern zwangen die Truppen die Bauern, Prozesse gegen ihre eigenen Nachbarn zu organisieren, die sie als verdächtig  betrachteten, diese Verdächtigen zu foltern und anschließend zu töten. Wer sich weigerte, dessen Haus wurde angezündet, mit den im Haus eingesperrten Bewohnern.

Während 129 Konterrevolutionäre in den 133 Tagen der Räterepublik erschossen worden waren, wurden zwischen dem 15. und 31. August mehr als 5.000 Menschen ermordet. 75.000 Menschen wurden verhaftet. Massenprozesse begannen im Oktober. 15.000 Arbeiter wurden von Militärtribunalen verurteilt, von denen viele die Todesstrafe erhielten oder zu Zwangsarbeit verurteilt wurden.

Zwischen 1920 und 1944 genoss die grausame Diktatur Hortys trotz ihrer Sympathien für den Faschismus die Unterstützung der westlichen Demokratien, dies geschah aus Dank für ihr Vorgehen gegen die Arbeiterklasse.

C. Mir, 4. September 2010

 

[1] siehe Teil 1 in derselben Ausgabe (Internationale Revue 47)

[2] Durch eine koordinierte Aktion besetzten die Bauernkomitees die landwirtschaftlichen Güter des größten Adligen, Graf Esterhazy.

[3] Dies spiegelt die wachsende Politisierung der Arbeiter wider, aber auch ihre unzureichende Bewusstseinsentwicklung, da sie eine Regierung forderten, in der die sozialdemokratischen Verräter und die Kommunisten zusammenarbeiten sollten, obwohl die Kommunisten wegen der Manöver der Sozialdemokraten eingesperrt worden waren.

[4] Während des Ersten Weltkriegs gehörte der Entente das imperialistische Lager um Großbritannien, Frankreich und Russland bis zur Oktoberrevolution 1917 an.

[5] Roland Bardy, 1919, La Commune de Budapest, S. 83. Der Großteil der in diesem Artikel verwerteten Informationen stützt sich auf die französische Ausgabe dieses Buches, das sehr reichhaltig dokumentiert ist.

[6] ebenda

[7] Der zentristische Flügel der ungarischen Partei bestand aus ebenso reaktionären Kadern wie die des rechten Flügels, aber sehr viel gerissener und fähig, sich an die Lage anzupassen.

[8] Roland Bardy, S. 84.

[9] In seinem Buch  Die Ungarische Revolution von 1919 zitiert Béla Szanto in der spanischen Ausgabe S. 88 (Kapitel – «Mit wem hätten sich die Kommunisten verbünden sollen?» einen Sozialdemokraten, Buchinger, der meinte, «das Bündnis mit den Kommunisten auf der Grundlage ihres gesamten Programms sei ohne die geringste Überzeugung umgesetzt worden».

[10] Roland Bardy, S. 85.

[11] ebenda, S. 86.

[12] ebenda, S. 99.

[13] Dieser Mensch hatte im Februar 1919 geschrien: «Die Gewehrläufe müssen auf die Kommunisten gerichtet werden», und im Juli 1919 erklärte er: «Ich kann die geistige Welt, auf die sich die Diktatur des Proletariats stützt, nicht verstehen» (Szanto, op.cit., S. 99).

[14] Béla Szanto, op. cit, S. 82 (spanische Ausgabe), berichtet, dass am darauf folgenden Tag Béla Kun seinen ParteigenossenInnen eingestand, «Die Dinge laufen zu gut, ich hab die ganze Nacht darüber nachgedacht, welche Fehler wir gemacht haben könnten», Kapitel: «Im Sturmlauf zur Diktatur des Proletariats».

[15] In der Anarchistischen Union hob sich eine eigenständig organisierte Tendenz ab, die sich «Die Kumpel Lenins» nannten, und die für die «Verteidigung der Macht der Arbeiterräte» eintrat. Sie spielte eine bedeutsame Rolle während der militärischen Verteidigung der Revolution.

[16] Band 29 der deutschen Ausgabe, S. 213, 230 und 231. Die Dokumente heißen «Niederschrift eines Funktelegramms an Béla Kun» und «Mitteilung über ein Funkgespräch mit Béla Kun».

[17] Der Arbeiterrat Szegeds  – eine Stadt in der entmilitarisierten Zone, die aber tatsächlich von 16.000 französischen Soldaten besetzt war – handelte auf revolutionäre Art und Weise. Am 21. März organisierte der Rat den Aufstand und besetzte alle strategisch wichtigen Punkte. Die französischen Soldaten weigerten sich gegen sie zu kämpfen, die Militärführung beschloss daher den Rückzug. Am 23. März wählte der Rat einen Regierungsrat, an dem sich ein Arbeiter aus der Glasindustrie, einer aus der Bauindustrie und ein Rechtsanwalt beteiligten. Am 24. März wurde Kontakt mit der neuen Budapester Regierung aufgenommen.

[18] Szantó, op. cit., S. 106, Kapitel «Theoretische und prinzipielle Widersprüche und ihre Folgen».

[19] Roland Bardy, op. cit., S. 101.

[20] Béla Szanto, op. cit., S. 91, Kapitel «Mit wem hätten sich die Kommunisen verbünden sollen?»

[21] Roland Bardy, op. cit., S. 105.

[22] ebenda, S. 117.

[23] ebenda, S. 111.

[24] ebenda, S. 112.

[25] ebenda, S. 127.

[26] ebenda, S. 126

[27] Siehe den vierten Teil unserer Serie zur Revolution in Deutschland in: International Review Nr. 136

[28] Béla Szanto, op. cit., S. 146: „Die Konterrevolution fühlte sich so stark, dass sie in ihren Veröffentlichungen Männer als ihnen zugehörig bezeichnen konnte, die an der Spitze der Arbeiterbewegung standen und wichtige Ämter in der Diktatur der Räte innehatten.“

[29] ebenda, S. 104, Kapitel  “Theoretische und prinzipielle Widersprüche und ihre Folgen”.

[30] Alan Woods, La République soviétique hongroise de 1919, la révolution oubliée. Auf spanisch: https://www.marxist.com/republica–sovietica–hungara–1919.htm [37]

Historische Ereignisse: 

  • Ungarn; Revolution; 1919 [35]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [36]

Editorial: Soziale Revolten im Maghreb und im Nahen Osten, nukleare Katastrophe in Japan, Krieg in Libyen:

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Die letzten Monate waren reich an historischen Ereignissen. Auch wenn die Revolten im Maghreb und im Nahen Osten keinen Zusammenhang haben mit dem Tsunami, der über Japan hinweggefegt ist und eine nukleare Katastrophe zur Folge gehabt hat, so zeigen doch all diese Ereignisse mit aller Deutlichkeit auf, welche Alternative sich mehr denn je für die Menschheit stellt: Sozialismus oder Barbarei. Während die Erhebungen in vielen Ländern ein Echo gefunden haben, entlarvt sich die kapitalistische Gesellschaft als vollkommen unfähig, die Kernkraft unter Kontrolle zu halten. Umgekehrt steht der Heroismus der japanischen Arbeiter, die ihr Leben in den Trümmern der Atomanlage von Fukushima riskieren, in schreiendem Gegensatz zur Heuchelei der großen imperialistischen Staaten im Konflikt in Libyen. Nur die proletarische Revolution kann die Menschheit vor dem kapitalistischen Horror retten

Die letzten Monate waren reich an historischen Ereignissen. Auch wenn die Revolten im Maghreb und im Nahen Osten keinen Zusammenhang haben mit dem Tsunami, der über Japan hinweggefegt ist und eine nukleare Katastrophe zur Folge gehabt hat, so zeigen doch all diese Ereignisse mit aller Deutlichkeit auf, welche Alternative sich mehr denn je für die Menschheit stellt: Sozialismus oder Barbarei. Während die Erhebungen in vielen Ländern ein Echo gefunden haben, entlarvt sich die kapitalistische Gesellschaft als vollkommen unfähig, die Kernkraft unter Kontrolle zu halten. Umgekehrt steht der Heroismus der japanischen Arbeiter, die ihr Leben in den Trümmern der Atomanlage von Fukushima riskieren, in schreiendem Gegensatz zur Heuchelei der großen imperialistischen Staaten im Konflikt in Libyen.

Massenmobilisierungen haben Regierungen gestürzt

Seit einigen Monaten haben Protestbewegungen in einem geografisch noch nie da gewesenen Ausmaß verschiedene Länder erfasst . Die ersten Revolten im Maghreb haben schnell eine Ausbreitung erfahren und einige Wochen später sind auch in Jordanien, Jemen, Bahrain, im Iran und in afrikanischen Ländern südlich der Sahara Demonstrationen ausgebrochen. All diese Bewegungen sind in ihrem Klassencharakter, und auch in der Reaktion der herrschenden Klasse, nicht identisch. Doch die ökonomische Krise welche die Bevölkerung seit 2008 in eine immer erdrückendere Misere stürzt, machte die korrupten und repressiven Regime in dieser Region immer unerträglicher. Die Arbeiterklasse hat bis anhin noch nicht als eine selbständige Kraft auftreten können in dem Sinne, dass sie die Richtung der Revolten, welche sich oft als Revolten aller ausgebeuteten Schichten, der ruinierten Bauernschaft und der verarmenden Mittelschichten manifestierten, hätte in die Hände nehmen können. Doch war der Einfluss der Arbeiter auf das Bewusstsein bei den Parolen und Organisationsformen, die sich die Bewegungen gaben, spürbar. Eine Tendenz zur Selbstorganisierung hat sich beispielsweise bei den Komitees zum Schutz der Quartiere gezeigt, welche sich in Ägypten und Tunesien gegen die Repression der Polizei und die absichtlich aus Gefängnissen entlassenen Diebesbanden, die ein Chaos anrichten sollten, formierten. Sicher, viele dieser Revolten haben offen versucht, die Bewegung durch Massendemonstrationen, Versammlungen und Treffen zur Koordination und Zentralisierung der Entscheide zu verstärken. Anderseits spielte die Arbeiterklasse eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Ereignisse. In Ägypten ist die Arbeiterklasse wohl die geballteste und erfahrenste der Region, und die Streiks waren dort am massivsten. Die schnelle Ausbreitung der Bewegung und die Zurückweisung der versuchten gewerkschaftlichen Kontrolle haben entscheidend dazu geführt, dass die Militärführung zusätzlich unter dem Druck der USA gezwungen war, Hosni Mubarak zu feuern.               

Da die Mobilisierungen zahlreich sind und der Sturm der Revolte auch in anderen Ländern aufkommt, hat die herrschende Klasse größte Schwierigkeiten alles im Griff zu behalten. Gerade in Tunesien und Ägypten, wo der „Frühling des Volkes“ angeblich triumphiert, gehen die Konfrontationen gegen den „demokratischen Staat“ weiter. Alle diese Revolten sind eine großartige Erfahrung auf dem Weg hin zu einem revolutionären Bewusstsein. Wenn diese Welle von Aufständen, das erste Mal seit langer Zeit, eine Verbindung schuf zwischen ökonomischen Problemen und politischen Fragen, so machte deren Antwort noch Halt vor den Illusionen welche auf der Arbeiterklasse lasten, vor allem vor den demokratischen und nationalistischen Verblendungen. Diese Schwäche hat den demokratischen Pseudo-Oppositionellen erlaubt, sich als eine Alternative zu den korrupten Regierungs-Cliquen darzustellen. In Wirklichkeit stammen diese „neuen“ Regierungen meist aus dem Harem der alten Regime und die Situation grenzt oft an Clownerie. In Tunesien hat die Bevölkerung einen Teil der Regierung zum Rücktritt gezwungen, weil sie allzu offensichtlich eine Neuauflage des Ben Ali Regimes war. In Ägypten hält das Militär, welches die historische Stütze Mubaraks war, die Geschicke des Staates in den Händen und manövriert aus dieser Position heraus. In Libyen wird der „Nationale Übergangsrat“ vom ehemaligen Innenminister Gaddafis  Abdel Fattah Yunes al Abidi und einer Bande von alten hochrangigen Funktionären angeführt, welche über Jahre die Repression organisiert haben und von der Gunst ihres Führers profitierten und jetzt flugs auf den Geschmack gekommen sind, sich als Verteidiger der Menschenrechte und der Demokratie ausgeben.

In Libyen tobt der Krieg auf den Trümmern der Revolte der Massen

Aufgrund dieser Schwächen hat sich auch die Situation in Libyen in eine besondere Richtung entwickelt. Was anfänglich eine Erhebung der Bevölkerung gegen das Regime von Gaddafi war, hat sich in einen Krieg zwischen verschiedenen Lagern der herrschenden Klasse verwandelt, auf den sich die großen imperialistischen Staaten wie Geier stürzen und ein surrealistisches und blutiges Schmierentheater veranstalten. Diese Verschiebung von der Ebene des Klassenkampfes auf die Ebene der Interessen der verschiedenen bürgerlichen Fraktionen um die Kontrolle des libyschen Staates war vor allem deshalb möglich, weil die Arbeiterklasse in Libyen relativ schwach ist. Die lokale Industrie ist rückständig und vor allem auf die Erdölförderung konzentriert, welche direkt vom Gaddafi-Clan kontrolliert wird, der nie das Interesse hatte, die nationalen Interessen über seine eigenen Interessen zu stellen. Die Arbeiterklasse in Libyen ist zu großen Teilen aus ausländischen Arbeitskräften zusammengesetzt, welche sich anfänglich an den Protesten beteiligen konnten, aber dann aus Angst vor den Massakern flüchten mussten und sich wohl kaum mit einer „Revolution“ mit nationalistischen Akzenten identifizieren können. Libyen beweist heute auf tragische Art und Weise, wie notwendig es für die Arbeiterklasse ist, bei Volksaufständen eine zentrale Rolle zu spielen. Das Fehlen dieser Fähigkeit erklärt weitgehend die Entwicklung der Lage in Libyen.

Seit dem 19. März, nach mehreren Wochen von Massakern, hat unter der Fahne einer humanitären Intervention zum „Schutz der tyrannisierten libyschen Bevölkerung“ eine eigenartige Koalition Kanadas, der USA, Italiens, Frankreichs, Großbritanniens usw. direkt militärisch interveniert, um den Nationalen Übergangsrat zu unterstützen. Täglich werden Marschflugkörper abgeschossen und Flugzeuge werfen Bombenteppiche ab, vor allem über den Gebieten, die von den Gaddafi-treuen Truppen kontrolliert werden. Dies ist nichts anders als ein Krieg. Was sofort ins Auge sticht, ist die Verlogenheit der Regierungen dieser großen imperialistischen Mächte, welche sich einerseits mit der Flagge der Humanität schmücken, um ihren Krieg zu rechtfertigen, und andererseits angesichts der Massaker an den revoltierenden Massen in Bahrain, Jemen und Syrien keinen Finger rühren. Wo war diese großartige Koalition, als Gaddafi 1996 im Gefängnis von Abu Salim in Tripolis 1000 Insassen umbringen ließ? Dieses Regime hat über 40 Jahre lang eingekerkert, gefoltert, terrorisiert, Leute verschwinden lassen und umgebracht… ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wo war diese Koalition als Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten oder Bouteflika in Algerien im Januar und Februar auf die Aufständischen schießen ließ? Hinter der verlogenen Rhetorik der Großmächte häufen sich die Toten in den Leichenhallen. Die NATO hat schon jetzt vorgesehen, ihre Militäroperation fortzusetzen, bis zum Triumph des Friedens und der Demokratie.

In Wahrheit beteiligt sich heute jede Großmacht im Namen der eigenen Interessen am Krieg in Libyen. Die Spannungen innerhalb dieser Kriegskoalition, die unfähig ist, geeint vorzugehen, illustrieren, wie diese Staaten am Abenteuer in Libyen mit unterschiedlichem Engagement teilnehmen und sich wie Hyänen über den Kadaver hermachen, nur um ihren eigenen Einfluss in der Region zu verstärken. Für die USA ist Libyen kein strategischer Hauptplatz, weil sie in der Region schon über Verbündete wie Ägypten und Saudi-Arabien verfügen. Dies erklärt auch die anfängliche Unentschlossenheit der USA bei den Verhandlungen der UNO. Die USA haben als historischer Verbündeter Israels in der arabischen Welt einen katastrophalen Ruf, den die Invasionen in Afghanistan und Irak nur verstärkt haben. Dazu kommt, dass während der Revolten Regierungen an die Macht kamen, welche offener sind für anti-amerikanische Tendenzen, und wenn sich die USA ihre Zukunft in der Region nicht verbauen wollen, müssen sie bei den neuen Regierungscliquen ihren Ruf aufpolieren. Doch die USA können Großbritannien und Frankreich das Feld nicht allein überlassen. Diese haben, in unterschiedlicher Form, auch den Zwang, ihren Ruf aufzubessern, vor allem Großbritannien nach den Interventionen in Afghanistan und im Irak. Die französische Regierung verfügt trotz all ihrer Missgeschicke in den arabischen Ländern über eine gewisse Beliebtheit, die unter De Gaulle aufgebaut und durch die Weigerung, sich 2003 am Krieg im Irak zu beteiligen, verstärkt wurde. Eine Intervention gegen einen Gaddafi, der für die Nachbarstaaten allzu unkontrollierbar und unberechenbar ist, eröffnet für Frankreich die Möglichkeit, seinen Einfluss zu verstärken. Hinter den schönen Parolen und der verlogenen Freundlichkeit interveniert jede herrschende Klasse dieser Länder zu ihren eigenen Gunsten in Libyen und beteiligt sich, neben Gaddafi, an diesem makaberen Todestanz.

In Japan und anderswo: die Natur kennt Phänomene, der Kapitalismus produziert Katastrophen

Einige Tausend Kilometer von Libyen entfernt, in Japan, der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt, streut der Kapitalismus ebenfalls den Tod und zeigt, dass auch in den industrialisiertesten Ländern die Menschheit vor der Irrationalität und dem Leichtsinn der Bourgeoisie nicht sicher ist. Die Medien haben das Erdbeben und den Tsunami, die in Japan Zerstörung anrichteten, wie immer als ein Schicksal dargestellt, gegen das niemand etwas anrichten könne. Zweifellos, es ist nicht möglich zu verhindern, dass Naturgewalten ausbrechen, doch die Besiedlung von Hochrisikozonen mit Holzhäusern ist kein „Schicksal“ - und schon gar nicht der Bau von Atomkraftwerken in solch gefährdeten Zonen! Die herrschende Klasse ist direkt verantwortlich für die Tragweite dieser Katastrophe. Den Bedürfnissen der Produktion unterworfen, hat der Kapitalismus die Bevölkerung und die Industrie in krankhaftester Weise konzentriert. Japan ist eine Karikatur dieses geschichtlichen Phänomens: Millionen von Leuten sind an der Küste eines dünnen Landstrichs konzentriert, der besonders anfällig ist auf Erdbeben und dadurch ausgelöste Flutwellen. Erdbebensichere Infrastruktur existiert für die Reichen und für Bürogebäude, die zwar viele vor den Fluten beschützten, doch die Arbeiterklasse haust in hölzernen Hasenställen, in Gebieten von denen jeder weiß, dass sie hoch gefährdet sind. Es wäre logisch, die Bevölkerung weiter von den Küsten weg anzusiedeln. Doch Japan ist ein Exportland, und um den Profit zu maximieren, baut man die Fabriken in der Nähe der Häfen. Fabriken sind von den Wassermassen weggespült worden, was zusätzlich zur nuklearen Katastrophe ein ökonomisches Desaster bedeutet. Eine menschliche Katastrophe spielt sich in einem Zentrum des Weltkapitalismus ab. Größte Teile der Infrastruktur und Ausrüstung sind außer Betrieb und Zehntausende von Leuten ihrem Schicksal überlassen, ohne zureichende Wasserversorgung und Essen.

Doch die Irrationalität und der Leichtsinn der herrschenden Klasse beschränken sich nicht allein auf dies: 17 Atomkraftwerke wurden in dieser gefährdeten Region bebaut. Die Situation rund um den Reaktor von Fukushima, der stark beschädigt wurde, ist noch unsicher, doch die schwammigen Stellungnahmen der Regierenden lassen das Schlimmste befürchten. Es scheint sich ein nukleares Desaster von der Größenordnung Tschernobyls 1986 abzuspielen, vor den Augen einer komplett handlungsunfähigen Regierung, die sich darauf beschränkt, die Ruinen zu zuschütten und dabei zahlreiche Arbeiter opfert. Die Gewalt der Natur hat nichts mit der Katastrophe zu tun, die sich abspielt. Der Bau dieser Anlagen an den gefährdetsten Küsten ist wohl kaum eine brillante Idee, speziell wenn sie über Jahrzehnte in Gebrauch sind und minimal erneuert werden. Es hört sich verrückt an, dass die Anlage von Fukushima schon Hunderte von Störfällen hinter sich hat, welche auf schlechte Wartung zurückzuführen sind, und aufgrund dieser Schlamperei viele Kaderangestellte den Betrieb empört verlassen haben.

Nicht die Natur ist verantwortlich für dieses Desaster: Die absurden Gesetze der kapitalistischen Gesellschaft sind von A bis Z schuld daran, sowohl in den ärmsten sowie auch in den mächtigsten Ländern. Die Situation in Libyen und die Ereignisse in Japan zeigen auf, dass uns die Bourgeoisie nur noch ein zunehmendes Chaos zu bieten hat. Die Revolten in den arabischen Ländern, auch wenn sie Schwächen beinhalten, zeigen uns einen anderen Weg - den des Kampfes der Ausgebeuteten gegen den kapitalistischen Staat, den einzigen Ausweg aus der generalisierten Katastrophe, welche die Menschheit bedroht.

V, 27. März 2011

Aktuelles und Laufendes: 

  • Maghreb [38]
  • Fukushima [39]
  • Lybien [40]
  • Revolten [41]

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [42]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 1914-23: Zehn Jahre die die Welt erschütterten

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Die zehn Jahre zwischen 1914-1923 gehören zu den dichtesten Jahren der Geschichte der Menschheit. Innerhalb einer sehr kurzen Zeit fand ein schrecklicher Krieg statt, der  Erste Weltkrieg, der 30 Jahre wirtschaftliche Blütephase und ununterbrochenes Vorwärts schreiten der kapitalistischen Wirtschaft und des gesamten gesellschaftlichen Lebens zu Ende brachte. Gegenüber diesem Massentöten erhob sich 1917 das internationale Proletariat, angeführt von der russischen Arbeiterklasse. 1923 flachte das Echo dieser revolutionären Welle ab, nachdem sie durch die Reaktion der Bürgerlichen niedergeschlagen worden war. Innerhalb von 10 Jahren erlebte die Menschheit den Weltkrieg, der den Zeitraum der Dekadenz eröffnete, die Revolution in Russland und weltweit revolutionäre Anstürme und schließlich den Beginn einer von der bürgerlichen Konterrevolution ausgeübten Barbarei. Dekadenz des Kapitalismus, Weltkrieg, Revolution und Konterrevolution – sie alle prägten das wirtschaftliche, gesellschaftliche, psychologische und kulturelle Leben der Gesellschaft der Menschheit quasi ein Jahrhundert lang, und das alles dicht und intensiv gebündelt in einem kurzen Zeitraum von einem Jahrzehnt. Die heutigen Generationen müssen dieses Jahrzehnt gut kennen,  es verstehen, über dessen Bedeutung nachdenken, die Lehren daraus ziehen. Dies ist heute umso wichtiger, weil die Unkenntnis über die wahre Bedeutung dieses Zeitraums sehr groß ist. Dies ist vor allem auf den Berg von Lügen zurückzuführen, mit dem die herrschende Ideologie versucht hat, alles in Vergessenheit geraten zu lassen. Es spiegelt aber auch die Merkmale dieser Ideologie wider, welche bewusst oder unbewusst, gefesselt ist an die unmittelbare Situation und die Vergangenheit und die Zukunftsperspektiven ausblendet.

Diese Bindung an das Unmittelbare und Zufällige, dieses „für den Augenblick“ Leben, ohne Nachdenken, ohne Begreifen der Wurzeln, ohne sich an einer Perspektive zur Zukunft zu orientieren, erschwert die Kenntnis der Wesenszüge jener unglaublichen 10 Jahre, deren kritisches Studium uns hilfreiche Hinweise zum Begreifen der jetzigen Lage liefert.

Heute kennt man kaum den enormen Schock, den damals der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der damit verbundene qualitative Sprung in die Barbarei in der Bevölkerung auslöste. Nachdem die Menschheit quasi ein Jahrhundert lang imperialistische Krise mit all ihrem Terror, Zerstörung und insbesondere mit ihrer ideologischen und moralischen Barbarei erlebt hat, erscheint all dies heute als „das Normalste auf der Welt“,  was scheinbar keine Empörung und Rebellion mehr hervorrufen vermag. Aber damals war dies keineswegs die Haltung der Zeitgenossen, die seinerzeit zutiefst erschüttert wurden durch einen Krieg, dessen Bestialität einen bis dahin noch nie erreichten Punkt überschritt.

Noch weniger ist bekannt, dass dieses gewaltige Abschlachten im Ersten Weltkrieg nur dank der allgemeinen Erhebung des internationalen Proletariats mit den russischen ArbeiterInnen an der Spitze beendet wurde. Die ungeheure Sympathie, welche die Russische Revolution unter den Ausgebeuteten der ganzen Welt auf sich zog, ist auch kaum bekannt. Über die zahlreichen Episoden der Solidarität mit den russischen ArbeiterInnen und die Versuche der Nachahmung des russischen Beispiels woanders auf der Welt wurde ein dichter Schleier des Schweigens und der Verzerrung gelegt. Ebenso wenig bekannt sind die Gräueltaten zahlreicher demokratischer Regierungen, angefangen mit der deutschen, welche diese begingen, um den revolutionären Elan der Massen zu ersticken und niederzuschlagen.

Die größte und schlimmste Verzerrung kann man gegenüber der Oktoberrevolution 1917 feststellen. Sie wird systematisch als ein russisches Phänomen dargestellt, außerhalb des historischen Rahmens, den wir oben erwähnt haben; stattdessen werden zügellos Lügen und die schlimmsten Verleumdungen verbreitet. So sei sie zum Beispiel der Geniestreich – so die stalinistische Version oder ein Streich des Teufels, so die Gegner – Lenins und seiner Bolschewiki gewesen. Oder sie sei eine bürgerliche Revolution als Reaktion auf die zaristische Rückständigkeit gewesen, da damals die sozialistische Revolution unmöglich gewesen sei. Und der fanatische Eifer der Bolschewiki habe nur zu einer Niederlage führen können…

Aus diesem Blickwinkel wurde das internationale Echo der Oktoberrevolution als ein Modell dargestellt, das auf andere Länder übertragen werden könne. Dies ist die größte Deformation des Stalinismus. Diese Methode der Nachahmung des „Modells“ ist doppelt irreführend und hinterlistig. Erstens wird die Russische Revolution als ein nationales Phänomen dargestellt; und zweitens als ein „Sozialexperiment“, das von einer ausreichend entschlossenen und trainierten Gruppe einfach nach deren Willen übertragen werden könnte.

Diese Vorgehensweise verzerrt ganz gewaltig die Wirklichkeit der damaligen historischen Epoche. Die Russische Revolution war kein Experiment aus dem Labor, ausgetüftelt hinter den vier Wänden seines gewaltigen Territoriums. Sie war ein lebendiger und aktiver Bestandteil eines weltweiten Prozesses der Antwort der Arbeiter, ausgelöst durch den Krieg und die gewaltigen Leiden, die durch diesen hervorgerufen wurden. Die Bolschewiki hatten nicht die geringsten Absichten, ein fanatisches Modell aufzuzwingen, bei dem das russische Volk als Versuchskaninchen ausgenutzt wurde. In einer Resolution, die im April 1917 von der Partei verabschiedet wurde, stand: „Die objektiven Bedingungen der sozialistischen Revolution, welche fraglos in den fortgeschrittensten Ländern vor dem Krieg existierten, sind noch mehr heran gereift und   reifen als Konsequenz des Krieges mit einer Schnelligkeit weiter. Die Russische Revolution ist nur die erste Etappe der ersten Revolution die als Konsequenz des Krieges ausbricht. Die gemeinsame Aktion der Arbeiter verschiedener Ländern ist der einzige Weg welcher die kontinuierliche Entwicklung und den sicheren Erfolg der sozialistischen Weltrevolution garantiert.“

Es ist wichtig zu begreifen, dass die bürgerliche Geschichtsschreibung die weltweite revolutionäre Welle von 1917-23 – wenn sie diese nicht total verzerrt – völlig unterschätzt. Zum Beispiel im Erweiterten Exekutivkomitee-Treffen der Komintern von 1925, d.h. als die Stalinisierung schon eingesetzt hatte, wurde die Revolution in Deutschland als eine „bürgerliche Revolution“ eingestuft, womit all das in den  Abfalleimer der Geschichte geworfen wurde, was die Bolschewiki zwischen 1917-23 verteidigt hatten.

Diese Meinung, die heute von so vielen Historikern wie Politikern verbreitet wird, wurde damals von ihren damaligen Kollegen nicht geteilt. Lloyd George, ein britischer Politiker sagte 1919: „In ganz Europa sprudelt ein revolutionärer Geist. Es gibt ein tief greifendes Gefühl nicht nur der Unzufriedenheit, sondern der Wut und Revolte der ArbeiterInnen gegen ihre Lebensbedingungen nach dem Krieg. Die gesamte bestehende Ordnung wird auf politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene durch die Bevölkerung von einem Ende Europas bis zum anderen infrage gestellt“.

Die Russische Revolution kann nur als ein Teil eines revolutionären Ansturms der gesamten internationalen Arbeiterklasse verstanden werden. Aber gleichzeitig muss man die historische Epoche berücksichtigen, in der dieser stattfand: der Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die tiefer gehende Bedeutung desselben, d.h. der Eintritt des Kapitalismus in seinen historischen Niedergang, seine Dekadenz. Mit anderen Worten – man muss die Grundlagen berücksichtigen, um die Lage und deren Bedeutung zu begreifen. Aber gleichzeitig verlieren der Weltkrieg und die ganze Reihe der darauf folgenden Ereignisse ihre Bedeutung oder erscheinen als etwas Außergewöhnliches ohne irgendwelche Folgen, oder sie werden dargestellt als das Ergebnis einer unheilvollen Konjunktur, die wir heute hinter uns gelassen haben, so dass die heutige Lage überhaupt keine Verbindung zu damals hätte.

In unseren Artikeln haben wir mit Nachdruck gegen diese Sicht Stellung bezogen. Wir sind dabei von einem historischen und weltweiten Standpunkt ausgegangen, der den Marxismus auszeichnet. Wir glauben, dass man solch eine kohärente Erklärung für diese Epoche liefern kann, die als Orientierung für das Begreifen auch der gegenwärtigen Epoche dient und damit beiträgt zur Befreiung der Menschheit vom Joch des Kapitalismus. Mit anderen Worten, sowohl die Lage damals als auch die heutigen Verhältnisse können nicht verstanden werden und bleiben ohne Perspektive für all diejenigen, die zu einer revolutionären Umwälzung beitragen wollen; man würde sich hilflos einem Empirismus unterwerfen und nur im Dunkeln umher tappen. 

Mit diesen Artikeln wollen wir – als Fortsetzung der anderen Beiträge zu diesem Themenkomplex – jene Zeit besser beleuchten; wir stützen uns dabei auf Zeugenaussagen und Berichte von Teilnehmern. Wir haben uns ausführlich mit der Russischen und Deutschen Revolution befasst. Jetzt wollen wir uns mit weniger bekannten Erfahrungen in anderen Ländern befassen; all das mit dem Ziel, einen weltweiten Blick zu entwickeln. Denn wenn man diese Epoche ein wenig kennen lernt, ist man ganz erstaunt über die Vielzahl von Kämpfen und das ungeheure Echo, das die Revolution 1917 weltweit fand. Wir wollen damit ebenfalls zur Debatte und anderen Beiträgen von GenossInnen und revolutionären Gruppen auffordern.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [36]

Internationaler Klassenkampf: Was ist los in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten?

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Die gegenwärtigen Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika sind von historischer Bedeutung, deren Folgen bis jetzt noch nicht klar abzusehen sind. Aber es ist wichtig, eine Diskussion darüber anzustoßen, die es den Revolutionären ermöglichen wird, einen kohärenten Rahmen für ihre Analyse zu entwickeln. Die folgenden Punkte stellen keineswegs diesen Rahmen dar, noch liefern sie eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse. Sie tragen lediglich einige grundsätzliche Eckpunkte zur Debatte bei.[1]

Eine Welle von Kämpfen und ihre Unterschiede

1. Seit 1848 und 1917-1919 haben wir solch eine breitgefächerte, simultane Welle von Revolten nicht mehr gesehen. Das Epizentrum der Bewegung lag in Nordafrika (Tunesien, Ägypten und Libyen, aber auch Algerien und Marokko), Proteste gegen die bestehenden Regime sind im Gaza-Streifen, Jordanien, Irak, Iran, Jemen, Bahrain und Saudi-Arabien ausgebrochen, während in einer Reihe anderer repressiver arabischer Staaten, insbesondere Syrien, eine  erhöhte Alarmbereitschaft herrscht. Und das Echo dieser Proteste ist auch in anderen Teilen Afrikas zu vernehmen: Sudan, Tansania, Simbabwe, Swaziland…  Den Widerhall dieser Revolten spürt man auch bei den Demonstrationen gegen korrupte Regierungen und gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Kroatien, angesichts der Spruchbänder und Slogans der Studentendemos in Großbritannien sowie des Arbeiterkampfes in Wisconsin und sicher auch in vielen anderen Ländern. Das heißt nicht, dass all diese Bewegungen in der arabischen Welt identisch wären; sie sind es weder auf der Ebene ihres Inhaltes, ihrer Forderungen, noch hinsichtlich der Reaktion der herrschenden Klasse, aber es gibt sicher eine Reihe von Gemeinsamkeiten, weshalb man von dem Phänomen insgesamt sprechen kann.

Der historische Kontext

2. Der historische Rahmen, in dem sich diese Ereignisse abspielen, ist folgender:

– Eine tiefe, ja die schwerste Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus, die die schwächeren arabischen Länder mit besonderer Wucht getroffen hat und die jetzt schon Millionen  Menschen in bittere Armut gestürzt hat, wobei die Aussichten sich immer mehr verschlechtern. Die Jugend, die im Gegensatz zu vielen „überalterten“ Industriegesellschaften einen großen Bevölkerungsanteil ausmacht, ist durch die Arbeitslosigkeit und die Perspektivlosigkeit für die unzähligen gebildeten, aber auch ungebildeten jungen Menschen besonders hart getroffen. Bei allen Protesten stand die Jugend an vorderster Front.

- Das unerträglich korrupte und repressive Wesen all dieser Regimes in der Region. Nachdem lange Zeit die Bevölkerung durch das brutale Vorgehen der Geheimpolizei oder der Armee atomisiert oder terrorisiert werden konnte, tragen diese Waffen des Staates nun mit dazu bei, dass der Wille in der Bevölkerung wächst, zusammenzukommen und gemeinsam Widerstand zu leisten. Das war besonders ersichtlich in Ägypten, als Mubarak seine Schlägerbanden und Zivilpolizisten  auf die Menschen hetzte, die den Tahrir-Platz besetzten, um diese zu terrorisieren. Diese Provokationen verstärkten nur die Entschlossenheit der Menschen, sich zu verteidigen; statt der erhofften Einschüchterung strömten noch mehr Menschen herbei. Die empörende Korruption und die Gier der herrschenden Cliquen, die ungeheure Mengen an privatem Reichtum gescheffelt haben, während der Großteil der Menschen täglich ums Überleben kämpft, hat die Flammen der Rebellion weiter angefacht, nachdem die Menschen erst einmal die Angst verloren hatten.

– Diese plötzliche Furchtlosigkeit, die so stark ins Auge sprang, ist nicht nur das Resultat von Veränderungen auf örtlicher und regionaler Ebene, sondern auch die Folge einer veränderten Stimmung, der Unzufriedenheit und des offenen Klassenkampfes auf internationaler Ebene. In Anbetracht der Wirtschaftskrise zeigen die Ausgebeuteten und die Unterdrückten immer weniger Bereitschaft, die ihnen abverlangten Opfer zu leisten. Auf dieser Ebene ist wiederum die Rolle der neuen Generation ausschlaggebend gewesen; in diesem Sinn haben auch die Jugendrebellion in Griechenland vor zwei Jahren, die Studentenkämpfe in Großbritannien und Italien, der Kampf gegen die Rentenreform in Frankreich ihren Einfluss in der “arabischen” Welt hinterlassen, insbesondere im Zeitalter von Facebook und Twitter, in dem es der herrschenden Klasse viel schwerer fällt, eine lückenlose Nachrichtensperre über die Kämpfe gegen die bestehenden Verhältnisse zu verhängen.

Zum Klassencharakter dieser Bewegungen

3. Der Klassencharakter dieser Bewegungen ist nicht einheitlich und unterscheidet sich von Land zu Land und je nach Phase. Insgesamt jedoch kann man sie als Bewegungen der nichtausbeutenden Klassen, als Sozialrevolten gegen den Staat bezeichnen. Im Allgemeinen steht die Arbeiterklasse nicht an der Spitze dieser Rebellion, aber sie spielt sicherlich eine wesentliche Rolle und übt Einfluss aus, was sich an den Organisationsmethoden der Bewegung und in einigen Fällen an der spezifischen Entwicklung der Arbeiterkämpfe ablesen lässt, wie die Streiks in Algerien und vor allem die große Streikwelle in Ägypten, die ein Schlüsselfaktor bei der Entscheidung war, Mubarak fallen zu lassen (siehe dazu andere Artikel in unserer Presse). In den meisten dieser Länder ist die Arbeiterklasse nicht die einzige unterdrückte Klasse. Die Bauernschaft und andere Schichten, die aus noch älteren Produktionsweisen stammen, haben noch ein großes Gewicht auf dem Lande, auch wenn sie sehr zersplittert und durch Jahrzehnte kapitalistischen Niedergangs ruiniert sind. Dagegen lebt die Arbeiterklasse in den Städten, in denen das Zentrum der Revolten lag, Seite an Seite mit einer zahlenmäßig starken Mittelschicht, die zwar proletarisiert wird, dabei jedoch immer noch ihre Besonderheiten aufrechthält, und einer Masse von Slumbewohnern, die teilweise aus Arbeitern, teilweise aus kleinen Händlern und einem Heer von „Deklassierten“ bestehen. Selbst in Ägypten, wo es die am stärksten gebündelte und erfahrenste Arbeiterklasse im arabischen Raum gibt, haben, so hoben Augenzeugen hervor, die Proteste am Tahrir-Platz „sämtliche Klassen” mobilisiert, mit Ausnahme der höheren Chargen des herrschenden Regimes. In anderen arabischen Ländern war das Gewicht der nicht-proletarischen Schichten weitaus größer, als dies in den Kämpfen in den meisten zentralen Ländern der Fall ist.

Die Notwendigkeit, den Klassencharakter der Bewegung besser zu erfassen

4. Bei dem Versuch, den Klassencharakter dieser Rebellionen zu begreifen, muss man deshalb zwei sich ergänzende Fehler vermeiden: auf der einen Seite die Vermengung all dieser Massen mit dem Proletariat (eine Position, die am deutlichsten von der Groupe Communiste Internationaliste – GCI verkörpert wird) und auf der anderen Seite die Ablehnung alles Positiven in den Revolten, da sie nicht explizite Arbeiterrevolten sind. Ein Blick zurück auf die Ereignisse im Iran Ende der 1970er Jahre: auch damals gab es eine Volkserhebung, in der die Arbeiterklasse eine Zeitlang eine führende Rolle spielte, was jedoch am Ende nicht verhinderte, dass die Bewegung von den Islamisten einverleibt wurde. Auf einer größeren, historischen Ebene stellt sich das Problem der Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und allgemeinen gesellschaftlichen Revolten auch dem Staat in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus – einem Staat, der aus der Bewegung aller nicht-ausbeutenden Klassen hervorgeht, gegenüber dem die Arbeiterklasse aber ihre Selbständigkeit bewahren muss.

Die Methoden des Kampfes der Arbeiterklasse – ein Bezugspunkt?

5. In der Russischen Revolution 1917 wurden die Sowjets durch die Arbeiter ins Leben gerufen, aber sie stellten auch für die anderen unterdrückten Schichten ein Modell für ihre Organisierung dar. Ohne das richtige Augenmaß zu verlieren – es ist noch ein weiter Weg bis zum Anbruch einer revolutionären Situation, in der die Arbeiterklasse eine klare politische Führung gegenüber den anderen Schichten übernehmen kann –, ist  es offensichtlich, dass die Methoden des Arbeiterkampfes die sozialen Revolten in der arabischen Welt beeinflusst haben, was deutlich wird:

– In den Tendenzen zur Selbstorganisierung, deren deutlichster Ausdruck die Nachbarschaftsschutzkomitees waren, die als Reaktion auf die Taktik des ägyptischen Regimes gegründet wurden, kriminelle Banden auf die Bevölkerung zu hetzen. Sie werden auch deutlich in der „Delegiertenstruktur“ einiger der größten Versammlungen auf dem Tahrir-Platz, überhaupt in dem ganzen Prozess kollektiver Diskussion und Entscheidungsfindungen.

- In der Besetzung von Räumen und Plätzen, die normalerweise vom Staat kontrolliert werden, um einen zentralen Brennpunkt für Versammlungen und die Organisierung auf breiterer Ebene zu schaffen.

– In dem kollektiven Eintreten für die Notwendigkeit, sich selbst entschlossen gegen Schläger und Polizisten zur Wehr zu setzen, die von dem Regime gegen sie gehetzt wurden, wobei man gleichzeitig aber Gewalt, Zerstörung und Plünderung als Selbstzweck vermeiden wollte.

– In den bewussten Anstrengungen, sektiererische und andere Spaltungen zu überwinden, von denen das Regime stets zynisch Gebrauch machte: Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, zwischen Schiiten und Sunniten, religiösen und weltlichen Gruppen, Männern und Frauen.

– In den zahlreichen Versuchen der Verbrüderung mit den unteren Rängen der Soldaten, den Rekruten.

Es ist kein Zufall, dass diese Tendenzen sich am stärksten in Ägypten entwickelten, wo die Arbeiterklasse auf eine lange Tradition von Kämpfen schauen kann und in einer entscheidenden Phase der Bewegung als eine eigenständige Kraft in Erscheinung trat, indem sie eine Reihe von Kämpfen begann, die – wie jene von 2006-07 – als „Keime“ des zukünftigen Massenstreiks angesehen werden können. Diese Kämpfe enthielten viele der wichtigsten Merkmale des Massenstreiks: die spontane Ausdehnung von Streiks und Forderungen von einem Bereich auf den anderen, die kompromisslose Ablehnung der staatlichen Gewerkschaften, gewisse Tendenzen zur Selbstorganisierung, das Formulieren von politischen und ökonomischen Forderungen. Hier erkennt man in Ansätzen die Fähigkeit der Arbeiterklasse, als Tribüne, als Dreh– und Angelpunkt für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten aufzutreten und die Perspektive einer neuen Gesellschaft anzubieten.

Das Gewicht der Illusionen und andere Gefahren

6. All diese Erfahrungen sind wichtige Schritte bei der Entwicklung eines echten revolutionären Bewusstseins. Aber der Weg in dieser Richtung ist noch sehr lang, es stehen noch viele Hindernisse im Weg, Illusionen und ideologische Schwächen.

– Illusionen – vor allem über die Demokratie – sind noch sehr stark in jenen Ländern, in denen eine Mischung aus militärischen Tyrannen und korrupten Monarchien herrscht, in denen die Geheimpolizei allgegenwärtig ist und Verhaftungen, Folter und Ermordung von Dissidenten an der Tagesordnung sind. Diese Illusionen bieten der demokratischen „Opposition“ eine Gelegenheit, sich als eine Regierungsalternative anzubiedern: El Baradei und die Muslimbruderschaft in Ägypten, die Übergangsregierung in Tunesien, der Nationalrat in Libyen … In Ägypten macht man sich vor allem große Illusionen über die Armee als eine Kraft, die „auf Seiten des Volkes“ steht, obgleich jüngste Repressionsmaßnahmen seitens der Armee gegen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sicherlich eine Minderheit von Leuten zum Nachdenken veranlasst hat. Ein wichtiger Aspekt des demokratischen Mythos‘ in Ägypten ist die Forderung nach unabhängigen Gewerkschaften, die von vielen der kämpferischsten Arbeiter geteilt wird, die zu Recht die Auflösung der diskreditierten staatlichen Gewerkschaften verlangen.

– Illusionen über Nationalismus und Patriotismus, die offenkundig wurden angesichts der breiten Aneignung der Nationalfahne in Ägypten und Tunesien als ein Symbol der „Revolution“ oder – wie in Libyen – der alten monarchistischen Fahne als ein Emblem all jener, die in Opposition zum Gaddafi-Regime stehen. Auch die Brandmarkung Mubaraks als Agenten des Zionismus auf vielen Spruchbändern in Ägypten zeigt, dass die israelisch-palästinensische Frage ein wichtiger Hebel zur Ablenkung vom Klassenkampf und zur Mobilisierung für imperialistische Konflikte bleibt. Dennoch bestand nur wenig Interesse daran, die palästinensische Frage in den Vordergrund zu stellen, da die Herrschenden das Leid der Palästinenser lange genug ausgeschlachtet haben, um vom Leid abzulenken, das sie ihrer eigenen Bevölkerung zumuten. Und es schwang sicherlich ein Element des Internationalismus mit, wenn Nationalfahnen anderer Länder geschwenkt wurden, um die Solidarität mit den Revolten in diesen Ländern zum Ausdruck zu bringen. Das schiere Ausmaß der Revolten in der „arabischen“ Welt und darüber hinaus ist eine Verdeutlichung der materiellen Wirklichkeit des Internationalismus, aber die patriotische Ideologie ist sehr anpassungsfähig, und bei diesen Ereignissen sehen wir, dass sie sich in populistische und demokratische Formen verwandeln kann.

– Illusionen über die Religion angesichts der häufigen Abhaltung öffentlicher Gebete und des Einsatzes von Moscheen als Organisationszentren der Rebellion. In Libyen gibt es Anhaltspunkte dafür, dass von Anfang an gesonderte islamistische Gruppen (einheimische und nicht – wie Gaddafi behauptet – Ableger der al-Qaida) eine wichtige Rolle in der Revolte spielten.  Zusammen mit der Rolle von Stammesloyalitäten spiegelt dies die relative Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen sowie die Rückständigkeit des Landes und seiner staatlicher Strukturen wider.  Doch gemessen daran, wie sehr sich die radikalen Islamisten vom Schlage Bin Ladens als Antwort auf das Elend der Massen in den „muslimischen Ländern“ gebrüstet haben, haben die Revolten in Tunesien und Ägypten und sogar in Libyen und den Golfstaaten wie Jemen und Bahrain gezeigt, dass die Jihad-Gruppen mit ihrer Praxis kleiner terroristischer Zellen und mit ihrer schädlichen sektiererischen Ideologie durch den massiven Charakter der Bewegung und deren aufrichtigen Streben nach Überwindung der sektiererischen Spaltungen nahezu vollkommen marginalisiert worden sind.

Zur Tragödie in Libyen

7. Die gegenwärtige Lage in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten ist noch im Fluss. Als diese Zeilen geschrieben wurden, erwartete man Proteste in Riad, auch wenn das saudische Regime bereits dekretiert hatte, dass alle Demonstrationen den Gesetzen der Scharia widersprechen. In Ägypten und Tunesien, wo die „Revolution“ angeblich schon triumphiert hat, kommt es ständig zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und dem nun „demokratischen“ Staat, der mehr oder weniger von den gleichen Kräften verwaltet wird, die den Laden vor dem Abgang der „Diktatoren“ führten. Die Streikwelle in Ägypten, die viele ihrer Forderungen schnell durchsetzen konnte, scheint jetzt abgeebbt zu sein. Doch weder die Arbeiterkämpfe noch die breitere soziale Bewegung haben in jenen Ländern einen größeren Rückschlag erlitten. Es gibt Hinweise darauf, dass weiterhin breit gefächerte Diskussionen und Reflexionen zumindest in Ägypten stattfinden. Doch in Libyen haben die Dinge einen ganz anderen Verlauf genommen. Was anfangs als echte gesellschaftliche Revolte von unten begann, mit unbewaffneten Zivilisten, die mutig Kasernen stürmten und den Sitz der so genannten „Volkskomitees“ in Brand setzten, insbesondere im Osten des Landes, ist schnell zu einem sehr blutigen und totalen „Bürgerkrieg“ zwischen bürgerlichen Fraktionen ausgeartet, wobei die imperialistischen Mächte wie Geier über dem Gemetzel kreisen. Aus marxistischer Sicht ist dies ein Beispiel für die Umwandlung eines beginnenden Bürgerkrieges – im Sinne einer direkten und gewaltsamen Konfrontation zwischen den Klassen – in einen imperialistischen Krieg. Das historische Beispiel Spaniens 1936 – sehen wir einmal ab von den beträchtlichen Unterschieden im globalen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und von der Tatsache, dass die anfänglichen Erhebungen gegen Francos Staatsstreich unverkennbar proletarischen Charakters waren – belegt, dass die nationale und internationale Bourgeoisie in solchen Situationen sowohl mit ihren fraktionellen, nationalen und imperialistischen Rivalitäten fortfährt als auch alle Ansätze einer sozialen Revolution ausmerzen kann.

8. Der Hintergrund für diese Wende der Ereignisse in Libyen ist die extreme Rückständigkeit des libyschen Kapitalismus, der mehr als 40 Jahre lang vorwiegend von einem Terrorapparat unter der direkten Führung Gaddafis beherrscht wurde. Diese Struktur hinderte die Armee daran, als eine Kraft zu wirken, die das nationale Interesse über das Partikularinteresse bestimmter Führer oder Fraktionen stellt, wie wir in Tunesien oder Ägypten gesehen haben. Gleichzeitig wird das Land von regionalen und Stammesspaltungen zerrissen; diese haben eine Schlüsselrolle bei  der Unterstützung für oder der Gegnerschaft zu Gaddafi gespielt. Ebenfalls scheint eine „nationale“ Spielart des Islamismus seit Beginn der Revolte eine Rolle gespielt zu haben, obgleich die Rebellion anfangs allgemeiner und sozialer ausgerichtet und nicht von tribalistischen oder islamistischen Motiven geleitet war. Die wichtigste Industrie in Libyen ist die Ölindustrie, und die Unruhen im Land haben den Ölpreis stark beeinflusst. Doch ein Großteil der in der Ölindustrie beschäftigten Arbeiter sind Migranten aus Europa, den anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, aus Asien und Afrika. Und obgleich es anfangs Berichte über Streiks in diesem Wirtschaftsbereich gab, ist die Massenflucht der ausländischen Arbeiter ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie sich kaum mit einer „Revolution“ identifizieren konnten,  in der die Nationalfahne hochgehalten wird.  In der Tat gab es Berichte über Verfolgungen und Übergriffen gegen schwarze Arbeitskräfte durch die „Rebellen“, da Gerüchte verbreitet wurden, dass einige der angeheuerten Söldner aus schwarzafrikanischen Staaten stammen sollten,  was zu einem allgemeinen Misstrauen gegenüber allen schwarzafrikanischen Migranten führte. Die Schwäche der Arbeiterklasse in Libyen ist somit ein entscheidendes Element in der negativen Entwicklung der Lage dort.

Imperialistische Geier über Nordafrika

9. Ein klarer Beleg, dass die „Rebellion“ zu einem Krieg zwischen bürgerlichen Lagern ausgeartet ist, ist die überstürzte Abwendung hochrangiger Offizieller von Gaddafi (dazu gehören Botschafter im Ausland, Armee– und Polizeioffiziere sowie Beamte). Besonders die militärischen Befehlshaber  sind bei der „Regularisierung“ der bewaffneten Gaddafi-Gegner immer mehr in den Vordergrund gerückt. Doch das vielleicht deutlichste Zeichen ist die Entscheidung der „internationalen Gemeinschaft“, sich auf die Seite der „Rebellen“ zu stellen. Frankreich hat bereits den provisorischen Nationalrat in Bengasi als die Stimme des neuen Libyen anerkannt und den Gaddafi-Gegnern militärische Berater zu Seite gestellt. Nachdem man schon diplomatisch eingegriffen hatte, um den Rücktritt von Ben Ali und Mubarak zu beschleunigen, fühlten sich die USA und Großbritannien durch das Taumeln des Gaddafi-Regimes zu Beginn der Protestbewegung zu weiteren Taten ermuntert. So kündigte zum Beispiel William Hague übereilig an, dass sich Gaddafi bereits auf der Flucht nach Venezuela befände. Nachdem Gaddafis Kräfte im Begriff waren, die Oberhand zu gewinnen,  wurde das Gerede über die Einrichtung einer Flugverbotszone oder anderer Formen militärischen Eingreifens immer lauter. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels scheint es jedoch tiefgreifende Divergenzen innerhalb der EU und der NATO zu geben, wobei Großbritannien und Frankreich am stärksten für ein militärisches Eingreifen plädieren und die USA und Deutschland am stärksten zögern. Die Obama-Administration ist natürlich nicht aus Prinzip gegen militärische Interventionen,  aber sie möchte sich nicht der Gefahr aussetzen, ein weiteres militärisches Fiasko in der arabischen Welt zu erleben. Es kann auch sein, dass einige Teile der herrschenden Klasse auf der Welt meinen, dass Gaddafis „Vorgehensweise“ der Terrorisierung der Massen eine Methode sein kann, eine abschreckende Wirkung gegen weitere mögliche Unruhen in der Region auszuüben. Eins ist jedoch sicher: Die Ereignisse in Libyen wie auch die ganze Entwicklung in der Region haben die groteske Heuchelei der Herrschenden dieser Welt an den Tag gelegt. Nachdem man jahrelang Gaddafis Libyen als eine Brutstätte des internationalen Terrorismus beschimpft hatte (was es natürlich auch war), zeigten sich die Führer von Ländern wie die USA oder Großbritannien erfreut, als Gaddafi im Jahr 2006 einen scheinbaren Sinneswandel vollzog und seine Massenvernichtungswaffen aufgab, weil die Regierungen dieser Länder nach Rechtfertigungen suchten, ihre Haltung gegenüber den angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins zu begründen. Insbesondere Tony Blair hatte große Eile, den früheren “verrückten Terroristenführer” zu umgarnen. Heute, nur wenige Jahre später, wird Gaddafi wieder ein verrückter Terroristenführer genannt, und diejenigen, die ihn vorher unterstützt haben, müssen jetzt strampeln, um sich von ihm zu distanzieren. Und dies ist nur eine Episode in einer unendlichen Geschichte: All die neulich verjagten oder noch immer an der Macht befindlichen arabischen Diktatoren sind von den USA und anderen Mächten loyal unterstützt worden, und diese haben bislang wenig Interesse an den „demokratischen“ Bestrebungen der Menschen in Tunesien, Ägypten, Bahrain oder Saudi-Arabien gezeigt. Die  durch die Preissteigerungen und den Gütermangel verursachten Straßenproteste gegen die irakische Regierung, welche von den USA in den Sattel gehievt wurde, wie auch gegen die gegenwärtigen Herrscher im kurdischen Irak, auf die die Regierung mit Repression antwortete, zeigen auch, wie verlogen die Versprechen des „demokratischen Westens“ sind.

Erlebt die Demokratie einen neuen Aufschwung?

Zu den Perspektiven

10. Einige internationalistische Anarchisten in Kroatien äußerten auf www.libcom.org [43], dass die Ereignisse in den arabischen Staaten aus ihrer Sicht wie eine Neuauflage der Ereignisse in Osteuropa 1989 erscheinen, wo das Streben nach Wandel durch den Begriff der „Demokratie” sterilisiert wurde und eine Verbesserung in der Lage der Arbeiterklasse keineswegs eingetreten war. Hier handelt es sich um eine sehr legitime Sorge, wenn man das große Gewicht der demokratischen Verschleierungen innerhalb dieser neuen Bewegung betrachtet. Doch verliert man damit nicht einen wesentlichen Unterschied auf der Ebene der Klassenkonfiguration weltweit aus den Augen? Als der Ostblock 1989 zusammenbrach, hatte die Arbeiterklasse den Höhepunkt in ihren Kämpfen – Kämpfe, die sich seinerzeit politisch nicht weiterentwickelt hatten – bereits überschritten. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die daraufhin entfesselten Kampagnen über den angeblichen Tod des Kommunismus und das Ende des Klassenkampfes sowie das Unvermögen der ArbeiterInnen Osteuropas, auf dem eigenen Klassenterrain zu reagieren, bewirkten einen längeren Rückschlag für die internationale Arbeiterklasse. Während die stalinistischen Regimes in Wirklichkeit unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise litten, gab es für die Länder im Westen noch immer einen gewissen wirtschaftlichen Spielraum, um den Eindruck zu erwecken, dass der globale Kapitalismus vor einer neuen Blüte stand. Heute stehen wir vor einer anderen Lage. Das globale Ausmaß der kapitalistischen Krise ist nie so offensichtlich gewesen; die ArbeiterInnen müssen heute überall auf der Welt erkennen, dass sie vor den gleichen Problemen stehen: Arbeitslosigkeit, steigende Preise,  mangelnde Perspektiven innerhalb dieses Systems. Und während der letzten sieben, acht Jahre ist es zu einem langsamen, aber reellen Wiedererstarken der Arbeiterkämpfe auf der ganzen Welt gekommen. An der Spitze dieser Kämpfe stand zumeist eine neue Generation von ArbeiterInnen, die nicht so stark durch die Rückschläge der 1980er und 1990er Jahre geprägt war und aus der weltweit politisierte Minderheiten hervorgegangen sind. In Anbetracht dieser tiefgreifenden Unterschiede besteht die Aussicht, dass die Ereignisse in der arabischen Welt keine negative Auswirkungen auf den Klassenkampf in den zentralen Ländern haben, sondern zur allgemeinen Verstärkung des Klassenkampfes beitragen werden:

– durch die Bekräftigung der Macht der massiven und illegalen Straßenaktionen; deren Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass die Herrschenden der Welt ihre Selbstbeherrschung verlieren;

– indem die bürgerliche Propaganda, die die „Araber“ als eine gleichförmige Masse von gehirnlosen Fanatikern darstellt, durchkreuzt wird und die Fähigkeit der Massen dieser Regionen zum Diskutieren, Nachdenken und zur Selbstorganisierung deutlich geworden ist;  

– indem auch die Glaubwürdigkeit der Führer der zentralen Länder untergraben wird, deren Bestechlichkeit und Skrupellosigkeit durch deren Wendungen gegenüber der arabischen Welt entblößt wurde.

Politisierten Minderheiten werden diese sowie andere Punkte eher ins Auge fallen als der Mehrheit der Arbeiter in den Industriestaaten, aber langfristig werden sie zur wirklichen Vereinigung des Klassenkampfes über alle nationalen und kontinentalen Grenzen hinweg beitragen. Dies schmälert keinesfalls die Verantwortung und die Last der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern, die jahrelange Erfahrung mit den Freuden der „Demokratie“ und der „unabhängigen“ Gewerkschaften haben und deren historische und politische Traditionen tief verwurzelt und im Herzen des weltimperialistischen Systems gebündelt sind. Die Fähigkeit der Arbeiterklasse in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten, mit den demokratischen Illusionen zu brechen und den verarmten Massen der Bevölkerung einen anderen Weg aufzuzeigen, hängt vom Vermögen der Arbeiter in den zentralen Ländern ab, ihnen ein Beispiel eines selbstorganisierten und politisierten Arbeiterkampfes zu geben.

IKS, 11. März 2011

 

[1] Dieses Dokument wurde am 11. März 2011 redigiert, das heißt mehr als eine Woche vor der Intervention der „Koalition“ in Libyen. Aus diesem Grund bezieht es sich nicht auf diese Intervention, auch wenn es sie vorausahnt.

 

Syndikalismus in Deutschland, Teil 2: Die FVDG entwickelt sich hin zum revolutionären Syndikalismus

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Die FVDG entwickelt sich hin zum revolutionären Syndikalismus

Im vorhergehenden Artikel (Internationale Revue 46) haben wir die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in der SPD beschrieben, welche zur Entstehung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG, der Vorläuferorganisation des deutschen Syndikalismus führten. Dieser Überblick

Im vorhergehenden Artikel (Internationale Revue 46) haben wir die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in der SPD beschrieben, welche zur Entstehung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG, der Vorläuferorganisation des deutschen Syndikalismus führten. Dieser Überblick umfasste die 1870er Jahre bis ins Jahr 1903. Die 1897 gegründete FVDG verstand sich noch bis ins Jahr 1903 explizit als ein kämpferischer Teil der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung und hatte kaum Verbindungen zum Syndikalismus, der in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien stark präsent war. Die FVDG hatte auf der theoretischen Ebene konsequent den Anspruch der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter verteidigt, sich nebst ökonomischen auch um politische Fragen zu kümmern

Bedingt durch ihre Entstehungsgeschichte der Zerstreuung unter dem Sozialistengesetz und der Auseinandersetzungen mit dem großen gewerkschaftlichen Zentralverband, hatte es die FVDG aber nicht geschafft in ihren eigenen Reihen eine ausreichende Koordination für den gemeinsamen Kampf zu entwickeln. Die bereits bestehende, schon klar syndikalistische Organisation der IWW in den USA war der FVDG in der Frage der Zentralisierung ihrer Aktivitäten meilenweit voraus. Der alltägliche Hang zu föderalistischer Zerstreutheit, auch wenn dies in der FVDG noch nicht theoretisiert wurde, sollte immer eine Schwäche der FVDG bleiben. Angesichts der aufkommenden Massenstreiks sollte die Abneigung gegen die Zentralisierung des Kampfes der Arbeiterklasse immer deutlicher ein Hindernis für die FVDG werden.  

Die Debatte um die neuen Kampfformen im Massenstreik der Arbeiterklasse im anbrechenden 20. Jahrhundert wurde für die FVDG eine große Herausforderung und führte zu einem deutlichen Schritt in Richtung Syndikalismus. Eine Entwicklung die sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges verstärken sollte und die wir in diesem Artikel beleuchten.

Der Massenstreik stellt den verstaubten Gewerkschaftsgeist in den Schatten

Auf internationaler Ebene tauchen um die Wende ins 20. Jahrhundert immer mehr Vorboten des Massenstreiks als neue Kampfform der Arbeiterklasse auf. Der Massenstreik unterschied sich in seiner spontan ausbreitenden Dynamik, dem Branchen übergreifenden Charakter und vor allem der Aufnahme von politischen Forderungen vom althergebrachten Schema des wohl organisierten, beruflich beschränkten und lediglich auf ökonomische Forderungen begrenzten gewerkschaftlichen Klassenkampf des 19. Jahrhunderts. In den international  aufkeimenden Massenstreiks manifestierte sich nun eine Lebendigkeit der Arbeiterklasse, welche die planmäßig vorbereitet und fest am jeweiligen Stand der gewerkschaftlichen Streikkassen klebenden Streiks weit in den Schatten stellte.        

Schon 1891 war ein Streik von 125`000 und 1893 von 250`000 Arbeitern in Belgien ausgebrochen, 1896 und 1897 entfaltete sich ein Streik der Textilarbeiter von St. Petersburg, 1900 unter den Bergarbeitern im US–Staat Pennsylvania, 1902 und 1903 im Bergbau in Österreich und Frankreich, 1902 erneut ein Massenstreik in Belgien um das allgemeinen Wahlrecht, 1903 unter den Eisenbahnern in Holland und im September 1904 eine landesweite Streikbewegung in Italien.

Deutschland mit seinen mächtigen und traditionsreichen Gewerkschaften und seiner dicht organisierten Arbeiterklasse war zu der Zeit nicht das Epizentrum dieses neuen Phänomens von gewaltigen, sich ausdehnenden Flutwellen des Klassenkampfes mit politischen Anliegen. Um so heftiger aber wurde die Frage des Massenstreiks in den Reihen der Arbeiterklasse in Deutschland diskutiert. Das Unbehagen gegenüber dem alten gewerkschaftlichen Schema des kontrollierten Klassenkampfs, der die heilige „Ruhe der Nation“ nicht erschüttern sollte beschrieb Arnold Roller, ein Mitbegründer der FVDG, treffend am Beispiel des Bergarbeiterstreiks von 1905 im Ruhrgebiet, an dem sich 200`000 Arbeiter beteiligten: „Man (die Gewerkschaft) beschränkte sich darauf, dem Streik den Charakter einer Art friedlichen, abwartenden Demonstration zu verleihen, um vielleicht auf diese Weise, durch Anerkennung des „Wohlverhaltens“ Konzessionen bewilligt zu bekommen. Die im ähnlichen Geist organisierten Bergarbeiter anderer Gebiete, wie Sachsen, Bayern, usw. bezeugten ihre Solidarität einerseits durch Streikunterstützungen, andererseits aber auch gleichzeitig in der sonderbaren Weise, dass sie während des Streiks in Überstunden viele tausend Waggons mehr Kohle förderten – die fortgeschickt wurden, um sie während des Streiks in der Industrie, also im Dienst des Kapitals zu verwenden. (...) Während die Arbeiter im Ruhrgebiet hungerten, verhandelten deren Vertreter im Parlament und erhielten auch einige Versprechungen gesetzlicher Verbesserungen – aber nach Wiederaufnahme der Arbeit. Selbstverständlich blieb den deutschen Gewerkschaftsführern der Gedanke fern, durch Ausdehnung des Streiks auf die gesamte Kohlenindustrie einen wirklich starken Druck auf das Unternehmertum auszuüben.[1]

Wichtigster Auslöser der berühmten „Massenstreikdebatte“ von 1905/06 in der SPD und in den deutschen Gewerkschaften war aber zweifellos der gewaltige Massenstreik von 1905 in Russland, der in seiner Dimension und politischen Dynamik alles vorher Gesehene überstieg.[2]

Für die Gewerkschaften bedeuteten die Massenstreiks eine direkte Infragestellung ihrer Existenz und ihrer historischen Rolle. War ihre Rolle als geduldige ökonomische Verteidigungsorganisationen der Arbeiterklasse nun überholt? Der Massenstreik von 1905 in Russland, eine direkte Reaktion auf die durch den Russisch–Japanischen Krieg enorm verschärften Leiden der Arbeiterklasse und Bauernschaft, hatte deutlich gezeigt, dass nun politische Fragen wie Krieg und Revolution ins Zentrum der Arbeiterkämpfe rückten. Fragen welche die Kragenweite des traditionellen gewerkschaftlichen Denkens bei weitem überstiegen. „Das Gewerkschaftswesen ist eine Aktion der Arbeiter, die nicht über die Schranken des Kapitalismus hinausgeht. Seine Absicht ist nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Sein Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.“, wie es Anton Pannekoek präzise ausdrückte.[3]

Den Führern der in Deutschland zu mächtigen Organen angewachsenen Gewerkschaften also den Vorwurf fehlender Flexibilität zu machen, weil sie sich nicht mit der Kampfform des politischen Massenstreiks anfreunden konnten, trifft nicht des Pudels Kern. Ihre abwehrende Haltung gegen die Massenstreiks resultierte schlicht aus dem Wesen und Denken ihrer gewerkschaftlichen Organisationen selbst, die sie repräsentierten und die für die neuen Erfordernisse des Klassenkampfes von nun an nicht mehr genügten.

Dass die politischen Organisationen und Parteien der Arbeiterklasse nun das Wesen der Massenstreiks zu verstehen hatten lag auf der Hand. Jedoch „für die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Führer galt als Axiom: Generalstreik ist Generalunsinn!“.[4] Ohne die Realität wahrhaben zu wollen, glaubten sie in den Massenstreiks lediglich und sehr schematisch den vom Anarchisten und ehemaligen Mitgründer der holländischen Sozialdemokratie Domela Nieuwenhuis propagierten „Generalstreik“ zu erkennen. Jahrzehnte zuvor hatte Engels 1873 berechtigterweise in seiner Schrift Die Bakunisten an der Arbeit die eigenartige Vision eines Generalstreiks als ein hinter den Kulissen wohl vorbereitetes Aufstandsszenario als Generalunsinn kritisiert. Diese alte Vision eines „Generalstreiks“ zeichnete sich durch eine überall und gleichzeitig erfolgenden Arbeitsniederlegung der Arbeiterklasse aus, generalstabsmässig geleitet von den Gewerkschaften. Damit sollte die Macht der herrschenden Klasse ausgehungert und innert Stunden aus den Angeln gehoben werden. Das spontane Element des Klassenkampfes wurden dabei komplett unterschätzt. Die Führung der SPD und der Gewerkschaften fühlten sich berechtigt, Engels Ausspruch zum geflügelten Wort zu machen, um damit jeglichen Ansatz zur Debatte über die handfesten Massenstreiks die vor allem von der Parteilinken in der SPD um Rosa Luxemburg gefordert wurde ignorant zu unterdrücken.

Tief im Kern standen sich das alte anarchistische Muster vom grandios geplanten ökonomischen Generalstreik und die Auffassung der grossen Gewerkschaftszentralen aber sehr nahe. Was für sie zählte war lediglich die Quantität der Kämpfe. Doch das Potenzial der Arbeiterkämpfe politische Fragen in die Hand zu nehmen, also ihre Qualität, wiesen sie beide glattweg von sich. War die FVDG, die bisher zumindest theoretisch immer die politische Aktivität der Arbeiter verteidigt hatte, fähig darauf eine Antwort zu geben?

Die Position der FVDG zum Massenstreik

Innerhalb der FVDG entbrannte die Debatte um den Massenstreik im Jahre 1904. Dies im Hinblick auf den kommenden Internationalen Sozialistenkongress in Amsterdam, an dem diese Frage auf der Tagesordnung stand. In den Reihen der FVDG ging es nun darum, das Phänomen des Massenstreiks erst einmal zu verstehen, zumal auch ihre eigene ruhige Welt der geordneten Gewerkschaftsarbeit der kleinen Schritte von den Massenstreiks richtiggehend überrumpelt worden war. In ihrer allgemeinen Auffassung einer wohl geregelten Gewerkschaftsarbeit unterschied sich die kleine FVDG nicht wesentlich vom grossen sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband. Da die FVDG durch ihren schwachen Einfluss aber keinerlei Möglichkeiten hatte die Klassenkämpfe zu kontrollieren, standen sie der Frage des Massenstreiks weit offener gegenüber als die grossen gewerkschaftlichen Zentralverbände. Irritiert stellte sich die FVDG nun die Frage ob die ausgebrochenen Massenstreiks die historische Bestätigung der alten, fast theatralisch anmutenden Generalstreiksvisionen sei.

Gustav Kessler, Mitgründer der „Lokalisten“ und politische Autorität innerhalb der FVDG starb im Juni 1904. Kessler hatte innerhalb der Führung der FVDG am stärksten den Weg der Orientierung an der Sozialdemokratie verkörpert. Der sehr heterogene Charakter der FVDG als lose Vereinigung von Berufsverbänden hatte immer auch minoritären anarchistischen Tendenzen wie derjenigen um Andreas Kleinlein Platz gelassen. Kesslers Tod und die Wahl Fritz Katers zum Vorsitzenden der Geschäftskommission der FVDG im Sommer 1904 eröffnete nun deutlich eine Periode zunehmender Offenheit gegenüber syndikalistischen Ideen.

Es war aber vor allem der französische Syndikalismus der GCT, welcher einem Teil der FVDG mit dem Konzept des „Generalstreiks“ eine Antwort anzubieten schien, ohne sich jedoch offiziell darauf zu beziehen. Unter Kesslers Einfluss hatte die FVDG bis zu Beginn des Jahres 1904 offiziell die Propaganda für die Generalstreiksidee noch abgelehnt.

Die FVDG nahm zur Frage des Massenstreiks am umfassendsten in Form der von Raphael Friedeberg 1904 verfassten Schrift Parlamentarismus und Generalstreik und einer im August des selben Jahres verabschiedeten Resolution der FVDG Stellung. Friedebergs Standpunkt (er blieb bis 1907 noch Mitglied der SPD) war in den Jahren von 1904–07 sehr prägend für die FVDG und verdient daher näherer Betrachtung.[5]

Friedebergs Broschüre widmet sich größtenteils mit einer berechtigten und feinfühlig formulierten Kritik dem zerstörerischen und einschläfernden Einfluss des Parlamentarismus, wie er damals von der sozialdemokratischen Führung als das Non plus Ultra des Klassenkampfes verstanden wurde: „Die parlamentarische Taktik, die Überschätzung des Parlamentarismus, ist schon zu sehr eingewurzelt in den Massen des deutschen Proletariates. Sie ist ja auch gar zu bequem; alles soll die Gesetzgebung, alles die Änderung der Verhältnisse bringen, die eigenen Persönlichkeit braucht nichts anderes herzugeben als alle paar Jahre in diesen oder jenen Stimmkasten einen sozialistischen Zettel zu stecken. (...) Es ist ein schlechtes Erziehungsmittel des Proletariats. (...)  Ich will zugeben dass der Parlamentarismus eine historische Aufgabe in der Entwicklungsgeschichte des Proletariats gehabt hat, wohl auch noch haben wird.“  Wie wir sehen trägt dieser Anti–Parlamentarismus nicht den Charakter einer prinzipiellen Ablehnung, sondern geht von einem nun historisch erreichten Zeitpunkt aus, an dem sich dieses Propagandamittel für das Proletariat lediglich zu seinen Ungunsten entwickelt hatte.

In ähnlicher Weise wie Rosa Luxemburg unterstrich er dagegen den emanzipatorischen Charakter der großen Massenstreikbewegungen der vorangegangenen Jahre für das Proletariat: „Durch die Streiks schulen sich die Arbeiter, sie geben ihnen sittliche Kraft, sie bringen ihnen Solidaritätsgefühl, proletarisches Denken und Empfinden bei. Die Generalstreiksidee gibt den Gewerkschaften einen weiten Horizont wie ihn bisher der Gedanke der politischen Macht der Bewegung gegeben hat.“. Die „politische Macht“  war für Friedeberg Synonym für den Parlamentarismus. Dabei beschreibt er auch den ethischen Aspekt des Kampfes der Arbeiterklasse: „Wenn die Arbeiter aber den Klassenstaat stürzen wollen, wenn sie eine neue Weltordnung errichten wollen, dann müssen sie auch besser werden als die Schichten die sie bekämpfen, die sie beseitigen wollen. Deshalb müssen sie lernen, alles von sich zu stoßen was niedrig und gemein an ihnen ist, alles was unethisch ist. Das ist das Hauptkennzeichen der Generalsstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist.“

Bezeichnend für die Texte von Friedeberg ist die stetige Verwendung des Begriffs „Generalstreik“,  auch wenn von den konkreten politischen Massenstreiks der vergangenen Jahre die Rede ist und diese Anlass zu seinen Schriften waren.  

Obwohl die Triebfeder von Friedebergs Broschüre eine ehrliche Empörung gegenüber dem konservativen Geist in den gewerkschaftlichen Zentralverbänden war, die er mit Luxemburg teilte, kam er zu ganz anderen Schlussfolgerungen:

–   Er verwarf klar den bisher in der FVDG existierenden Drang sich auch um politische Fragen zu kümmern: „Wir führen keinen politischen Kampf und brauchen deshalb auch keine politischen Kampfformen. Unser Kampf ist ein ökonomischer und ein psychologischer.“ Dies war ein deutlicher Bruch mit der bisherigen Haltung der FVDG. In oberflächlicher Gleichsetzung von „Politik gleich Parlamentarismus“ verwarf er die politische Dynamik welche ja gerade die Massenstreiks ausgezeichnet hatten.     

–   Zudem zeichnete Friedeberg eine (auch innerhalb der FVDG sehr minderheitliche) unmaterialistische Auffassung  des Klassenkampfes, basierend auf psychologischen Überlegungen und der Strategie der „Verweigerung der Persönlichkeit“ – er nannte es „historischer Psychismus“. Hier zeigte sich deutlich seine Anlehnung an gewisse anarchistisch–kleinbürgerliche Auffassungen, nach denen ein individueller Rebellengeist und nicht die kollektive Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse das tragende Element des Klassenkampfes sei.    

–   Obwohl Friedeberg richtig die reformistische sozialdemokratische Idee der schrittweisen Übernahme der Staatsmacht anprangerte, verfiel er in eine gradualistische Auffassung desselben Zuschnittes, aber mit gewerkschaftlicher Prägung: „In den letzten Jahren allein sind die Gewerkschaften um 21 Prozent gewachsen, sie sind auf über eine Million Mitglieder gekommen, sodass wir mit Sicherheit, da für solche Dinge gewissermaßen gesetzmäßige Faktoren gelten, rechnen können, das in ca. 3–4 Jahren wir 2 Millionen Gewerkschaftsmitglieder haben werden, in 10 Jahren 3–4 Millionen. Und wenn die Generalstreiksidee immer weiter in das Proletariat eindringt (...) mehr als 4–5 Millionen Menschen zur Niederlegung der Arbeit zu bringen und dadurch den Klassenstaat zu beseitigen“. In Wirklichkeit bedeutete die immer stärkere Einbindung der Arbeiterklasse in die Gewerkschaften schon zur damaligen Zeit nicht bessere Bedingungen für die proletarische Revolution, sondern eine Fessel für die Arbeiterklasse.

–   Unter dem Drang ein „ethisches Kampfmittels ohne rohe Gewalt“ zu propagieren erkennt man bei Friedeberg aber auch eine große Unterschätzung der herrschenden Klasse und ihrer brutalen Repression in einer revolutionären Situation: „Das ist das Hauptzeichen der Generalstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist. (...) Was nachher kommt, wenn unsere Gegner uns zwingen wollen, wenn wir in Notwehr sind – das werden wir heute nicht bestimmen.“.

Doch im Wesentlichen sah Friedeberg in den aufkommenden Massenstreiks die Bestätigung der alten anarchistischen Generalstreiksidee. Seine grösste Schwäche bestand wohl darin, nicht erkannt zu haben, dass sich die Massenstreiks hin zu einem politischen Akt der Arbeiterklasse entwickelten. Stattdessen  beschränkte er die Perspektive der Massenstreiks auf eine rein ökonomische Ebene. Diese Auffassung brach deutlich mit der Tradition der FVDG, welche bis anhin immer vor einem rein ökonomischen Kampf  gewarnt hatte.

Die Basis der FVDG stand nicht geschlossen hinter den Auffassungen von Friedeberg, der Repräsentant eines minoritären sich zum Anarchismus hin bewegenden Flügels war. Dennoch waren Friedebergs Positionen für eine kurze Epoche bekanntes Aushängeschild der FVDG. Friedeberg selbst zog sich 1907 aus der FVDG in eine anarchistische Kolonie in Ascona zurück.

Ein Verständnis der Massenstreiks konnte die FVDG mit den Theorien Friedebergs nicht anbieten. Anstelle der Erkenntnis, dass die historisch anwachsende revolutionäre Stimmung diese neue Form von Arbeiterkämpfen hervorbrachte, welche eine Verschmelzung von ökonomischen und politischen Fragen darstellten, war die Generalstreiksidee mit der die FVDG nun auf die Bühne trat ein Schritt zurück – eine Flucht vor politischen Fragen.

Was war nun die Bedeutung und Rolle der FVDG bezüglich des Massenstreiks? Trotz all der Konfusionen, welche in den Schriften Friedebergs zu Tage traten, hatte die Debatte in der FVDG und ihre Schriften eine aufwühlende Funktion innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Es steht ihr das Verdienst zu, schon vor der Niederschrift der bekannten und viel klareren Broschüren von Luxemburg und Trotzki über den Massenstreik von 1905, auch innerhalb der SPD diese gewichtigen Fragen aufgeworfen zu haben.

Dass die FVDG zu diesem Zeitpunkt in ihrer Vorstellung der Revolution noch strikte von Gewerkschaften als Organe der Revolution ausging soll uns nicht erstaunen. Einerseits war sie ja selbst eine Vereinigung von Gewerkschaften – ein Schritt darüber hinaus zu gehen hätte ihre eigene Organisationsform direkt in Frage gestellt. Andererseits baute auch Rosa Luxemburg noch stark auf die Gewerkschaften, welche sie in mehreren Ländern als das direkte und vorwärts weisende Produkt des Massenstreiks (z.B. in Russland) beschrieb. Es dauerte noch fast 5 Jahre bis zur Veröffentlichung von Trotzkis Buch 1905, welches die Arbeiterräte als neue Organe der Revolution anstelle der Gewerkschaften beschrieb[6]. Was der FVDG und ihren Nachfolgeorganisationen immer blieb, war ihre Blindheit gegenüber den Arbeiterräten und ihr Festklammern an den Gewerkschaften als angebliche Organe der Revolution. Eine Schwäche die sich in den revolutionären Erhebungen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg fatal auswirken sollte.       

Geheimverhandlungen zur Verhinderung des Massenstreiks und die Debatte in Mannheim 1906

Innerhalb der SPD entbrannte ab 1905 nun ein regelrechter Kampf ob die Frage des Massenstreiks auf dem kommenden Parteitag von 1906 diskutiert werden durfte. Krampfhaft versuchte der Parteivorstand die damals wohl gewichtigste Erscheinung im Klassenkampf als nicht diskussionswürdig abzustempeln. Der Parteitag der SPD von 1905 in Jena hatte sich nur pro forma in einer Resolution für den Massenstreik als eine „eventuell zu propagierende Maßnahme“ ausgesprochen. Der Massenstreik wurde darin lediglich zu einem letzten Verteidigungsmittel gegen einen allfälligen Entzug des allgemeinen Wahlrechts degradiert. Die von Rosa Luxemburg eingebrachten Lehren aus dem Massenstreik in Russland wurden vom überwiegenden Teil der Führung der SPD als „Revolutionsromantik“ und auf die deutschen Verhältnisse keinesfalls übertragbar bezeichnet. 

Es erstaunt daher nicht, dass sich nach dem Kongress in Jena 1905 der Parteivorstand im Februar 1906 in Geheimverhandlungen mit der Generalkommission der Zentralgewerkschaften auf eine gemeinsame Verhinderung von Massenstreiks einigte. Diese Abmachung kam aber ans Tageslicht. Die FVDG veröffentlichte in ihrem Organ Einigkeit Teile des Protokolls dieses geheimen Treffens, welches ihnen in die Hände gekommen war. Darin stand unter anderem: „Der Parteivorstand hat nicht die Absicht, den politischen Massenstreik zu propagieren, sondern wird, soweit es ihm möglich ist, einen solchen zu verhindern suchen“. Diese Veröffentlichung löste in der SPD–Führung eine große „Empörung der Ertappten“ aus und zwang sie die Debatte um den Massenstreik auf dem Mannheimer Parteitag vom 22.–23. September 1906 erneut auf die Tagesordnung zu setzen.

Auch wenn es keine Zusammenarbeit zwischen der FVDG und der Parteilinken gab (im Gegenteil kritisierte Karl Liebknecht die Schwächen der FVDG – die er wie Luxemburg als „Anarchosozialisten“ bezeichnete – in übertrieben harter Manier), arbeitete die Veröffentlichung der Geheimprotokolle durch die Einigkeit Letzteren in die Hand. Als eine Strömung welche auf proletarischem Boden stand, war ihre Stossrichtung im Kampf gegen den Reformismus nicht grundsätzlich verschieden zu derjenigen der Revolutionäre.  

Bebels erste Worte in seinem Einleitungsreferat auf dem Mannheimer Parteitag widerspiegelten den ignoranten Unmut der Parteileitung, die sich bemüht sah sich wieder mit einer Frage auseinandersetzen zu müssen, welche sie ad acta zu legen gehofft hatte: „Als wir im vorigen Jahre in Jena auseinander gingen, hat wohl niemand geahnt, dass wir in diesem Jahre schon wieder über den Massenstreik sprechen müssen. (...) Durch die Indiskretion der so genannten „Einigkeit“ in Berlin ist es dann zu großen Debatten gekommen. (...)“[7]

Um sich aus der Peinlichkeit der durch die Einigkeit ans Licht geratenen Geheimabmachungen zu winden machte sich Bebel lustig über die FVDG und Friedebergs Beitrag: „Wie man angesichts einer solchen Entwicklung und der Macht der Unternehmerklasse gegenüber der Arbeiterklasse durch lokalorganisierte Gewerkschaften etwas ausrichten zu können glaubt, das verstehe wer mag. Jedenfalls ist der Parteivorstand und die Partei in ihrer grossen Mehrheit der Meinung, dass diese lokalistischen Gewerkschaften vollständig ohnmächtig sind, die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen.“[8] Wer sollte nur 8 Jahre später (1914) angesichts des Krieges mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten „vollständig ohnmächtig (sein) die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen“? Exakt der Parteivorstand der SPD, der lauthals den Kriegskrediten zustimmte! Die FVDG hingegen sollte trotz all ihrer Schwächen 1914 angesichts der Kriegsfrage noch fähig sein eine proletarische internationalistische Position gegen den Krieg einzunehmen. 

In der darauf folgenden dürftigen Parteitagsdebatte um den Massenstreik standen anstelle von politischen Argumenten bürokratische Streitereien und Rechtfertigungen darüber, ob sich Parteimitglieder nun an den Parteibeschluss von Jena 1905 zum Massenstreik halten sollten, oder an denjenigen des Gewerkschaftskongresses vom Mai 1906, welcher den Massenstreik klar verworfen hatte. Die Debatte drehte sich im Wesentlichen um den Antrag Bebels und Legiens, Parteimitgliedern die in der FVDG organisiert waren ein Ultimatum zum Übertritt in die Zentralgewerkschaften zu stellen. Bei Nichtübertritt sollten sie sofort aus der Partei ausgeschlossen werden.

Anstelle über die politischen Lehren aus den erfolgten Massenstreiks zu sprechen oder gar auf die Ausführungen in der eine Woche vorher erschienen Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften von Luxemburg einzugehen, wurde die Debatte auf einen kläglichen partei–juristischen Zank reduziert!

Nachdem Puttlitz, der eingeladene Vertreter der FVDG und Redakteur der Einigkeit aus Berlin, ausgelacht worden war, wandte sich Rosa Luxemburg vehement gegen den Versuch der Unterdrückung der politisch zentralen Massenstreik–Debatte mit rein formellen disziplinarischen Mitteln: „Ferner finde ich es unverantwortlich, wenn hier die Partei gewissermaßen als Zuchtrute gegen eine bestimmte Gruppe von Gewerkschaftlern gebraucht werden soll; daß wir uns damit innerhalb der Parteireihen Zank und Zwist auf den Hals laden sollen. Es ist doch kein Zweifel, daß unter den Lokalorganisierten sehr viele brave Genossen vorhanden sind, und es wäre unverantwortlich, wenn wir, um den Gewerkschaften in dieser Frage direkt zu dienen, den Zwist in unsere Reihen hineintrügen. Wir respektieren die Ansicht, daß die Lokalisten nicht den Zwist in den gewerkschaftlichen Organisationen soweit treiben sollen, daß sie die gewerkschaftliche Organisation dadurch unterbinden; aber im Namen der soviel gepriesenen Gleichberechtigung muß man doch mindestens dasselbe für die Partei anerkennen. Wenn wir die Anarchosozialisten, wie der Parteivorstand vorschlägt, aus der Partei direkt ausschließen, so geben wir damit ein trauriges Beispiel dafür, daß wir nur Energie und Entschlossenheit finden, um unsere Partei nach links abzugrenzen, daß wir nach rechts aber die Tore nach wie vor sehr weit offen lassen.

Von Elm hat hier angeführt als ein Beispiel des anarchistischen Unsinns, daß in der „Einigkeit“ oder in einer Konferenz der Lokalorganisierten ausgesprochen sei: „Der Generalstreik wäre als das einzige Mittel des wirklichen revolutionären Klassenkampfes zu betrachten.“ Nun ist das selbstverständlich ein Unsinn und nichts anderes. Aber, werte Anwesende, es steht genausoweit entfernt von der sozialdemokratischen Taktik und von unseren Prinzipien, wenn David erklärt, die gesetzlichen, parlamentarischen Mittel sind die einzigen Mittel der Sozialdemokratie. Man sagt uns, die Lokalisten, die Anarchosozialisten untergraben auf Schritt und Tritt durch ihre Agitation die sozialdemokratischen Grundsätze. Aber es ist genau ebenfalls eine Untergrabung sozialdemokratischer Grundsätze, wenn einer von den Zentralverbänden, wie Bringmann auf Eurer Konferenz im Februar sich gegen das Prinzip des Klassenkampfes erklärte.“[9]

Wie schon auf dem Parteitag im Jahre 1900 bei der Debatte um den Hamburger Gewerkschaftsstreit, widersetzte sich Luxemburg dem Versuch, die Schwäche der FVDG als Vorwand zu gebrauchen um die Diskussion zentraler Fragen zu umgehen. Sie erkannte, dass die grosse Gefahr nicht von einer gewerkschaftlichen Minderheit wie der FVDG kam, deren Mitglieder in der SPD oft auf der Seite des linken Flügels standen, sondern vom Zentrum und der Parteirechten.

Spaltung der FVDG und der endgültige Bruch mit der SPD 1908

Auch wenn die FVDG für die reformistische Führung SPD und den zentralen Gewerkschaftsverband keineswegs dieselbe Gefahr darstellte wie der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie um Liebknecht und Luxemburg konnten sie die FVDG nicht ignorieren, nur weil sie eine kleine Minderheit darstellte und die Lehren aus den Massenstreiks nicht wirklich erkannte. Das internationale Auftauchen von mächtigen revolutionär–syndikalistischen Bewegungen wie ab 1905 in den USA mit der IWW machte syndikalistische Tendenzen für den Reformismus zu einer potentiellen Gefahr.

Die auf dem Parteitag 1906 in Mannheim eröffnete Strategie, Druck auf die Mitglieder der FVDG zum Übertritt in die zentralen Gewerkschaften auszuüben wurde über Monate fortgesetzt. Einerseits wurde bekannten und kämpferischen Mitgliedern der lokalen Gewerkschaften lohnenswerte Posten in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratien angeboten. Andererseits für den Parteitag der SPD in Nürnberg, der 1908 stattfinden sollte, erneut ein Antrag über die Unvereinbarkeit einer Doppelmitgliedschaft in SPD und FVDG  angekündigt.

Doch die FVDG zerbrach vor allem an ihren eigenen Unklarheiten und den unterschiedlichen Ausrichtungen ihrer Berufsverbände. In einer Zeit in der es den politischen Massenstreik und das Auftauchen der Arbeiterräte zu verstehen galt, zerrieb sie sich in einer internen Auseinandersetzung um die Frage: Anschluss an die zentralen Gewerkschaftsverbände oder, hin zu einem syndikalistischen Weg der die politischen Fragen den ökonomischen unterordnete – eine Gegenüberstellung die gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit war. Auf ihrem außerordentlichen Kongress im Januar 1908  entschied die FVDG über einen Antrag der Maurer–Gewerkschaften die FVDG zugunsten eines Übertritts in die Zentralgewerkschaften aufzulösen. Obwohl dieser Antrag abgelehnt wurde bedeute er die Spaltung der FVDG und damit das Ende der langjährigen Geschichte einer unübersehbaren gewerkschaftlichen Opposition welche sich noch an die alte proletarische Tradition der Sozialdemokratie angelehnt hatte. Mehr als ein Drittel der FVDG trat sofort in die großen sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften über. Die Mitgliederzahl sank bis 1910 von ehemals 20`000 auf knapp 7000.

Der Führung der Sozialdemokratie fiel es danach nicht mehr schwer, den Bruch mit den Überresten der FVDG auf dem Parteitag im September 1908 mit einem endgültigen Verbot der Doppelmitgliedschaft FVDG–SPD zu besiegeln. Die Überreste der FVDG stellten für Legien und Konsorten nun keine ernstzunehmende Gefahr an der Basis mehr dar.

Wenn wir nach einem Überblick über die Entstehungsgeschichte des Syndikalismus in Deutschland suchen, so markiert das Jahr 1908 den Beginn einer neuen Etappe, die der erklärten Hinwendung von nur etwas weniger als der Hälfte der Mitglieder der FVDG zum revolutionären Syndikalismus. 

Hin zum revolutionären Syndikalismus

Da die FVDG als eine gewerkschaftliche Oppositionsbewegung entstanden war, die in ihren Anfangsjahren noch fest mit der Sozialdemokratie, also einer politischen Organisation der Arbeiterbewegung, verbunden war, hatte sie sich bis ins Jahr 1908 nie als syndikalistisch bezeichnet. Denn Syndikalismus bedeutet nicht lediglich Feuer und Flamme für gewerkschaftliche Aktivitäten zu sein, sondern eine Schritt weiter zu gehen und in den Gewerkschaften die einzige und alleinige Organisationsform zur Überwindung des Kapitalismus zu sehen – eine Rolle die diese von ihrem nach Reformen ringenden Wesen her gar nie spielen konnten und können.

Das wegweisende neue Programm der FVDG des Jahres 1911 „Was wollen die Lokalisten? Programm, Ziele und Wege der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ drückte diesen Standpunkt nun folgendermaßen aus: „Der Befreiungskampf der Arbeiter ist in erster Linie ein wirtschaftlicher Kampf, den ganz naturgemäß die Gewerkschaft, als die Organisation der Produzenten, auf allen Gebieten zu führen hat. (...) Die Gewerkschaft (und nicht die politische Partei) ist allein in der Lage, die wirtschaftliche Macht der Arbeiter gehörig zur Entfaltung zu bringen...“

Und während doch gerade die grossen Massenstreiks und der vergangenen Jahre die spontane Dynamik des Klassenkampfes bewiesen hatten, und parallel dazu der Bruch der Bolschewiki mit dem alten Konzept der „Massenpartei“ 1903 die Notwendigkeit von Organisationen revolutionärer politischer Minderheiten klarmachte, focht das neue Programm der FVDG zwar mit gutem Willen gegen einen alten „Dualismus“, aber.. mit komplett falschen Schlussfolgerungen: „Daher verwerfen wir den schädlichen Dualismus (Zweiteilung), wie ihn Sozialdemokratie und die ihr zugehörigen Zentralgewerkschaften praktizieren. Wir meinen die widersinnige Teilung der Arbeiterorganisationen in einen politischen und einen gewerkschaftlichen Flügel.“ (...)  Da wir den parlamentarischen Kampf ablehnen und an seine Stelle den direkten politischen Kampf mit gewerkschaftlichen Mitteln und nicht um die politische Macht, sondern um die soziale Befreiung setzten, so verliert eine politische Arbeiterpartei wie die Sozialdemokratie ohnehin jede Existenzberechtigung.“

Dieses neue Programm drückte eine absolute Blindheit gegenüber dem historischen Auftauchen und revolutionären Charakter von Arbeiterräten aus und flüchtete in die erwartungsvolle Theoretisierung eines neuen Gewerkschaftstypus als Allerweltsmittel:

–   als Antwort auf die (tatsächlich) überlebte Massenpartei,

–   als Ersatz für die verbürokratisierten grossen Gewerkschaften,

–   als Organ der Revolution,

–   und schlussendlich als Architekt der neuen Gesellschaft.

Welch allumfassende Aufgabe!

Doch vertrat die FVDG, wie es bezeichnend war für den revolutionären Syndikalismus zur damaligen Zeit, eine klare Verwerfung des bürgerlichen Staates und es Parlamentarismus. Sie verteidigte den Kampf der Arbeiterklasse gegen Krieg und Militarismus.

Das Verhältnis der FVDG gegenüber dem Anarchismus blieb in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ablehnen. Lediglich die Tatsache dass Friedebergs Theorien (auf seinem Weg vom Sozialdemokraten zum Anarchisten) in den Jahren 1904–07 Aushängeschild für die FVDG gewesen waren bedeute keinesfalls eine Hinwendung der gesamten Organisation zum Anarchismus. Im Gegenteil befürchteten die stark zum Syndikalismus tendierenden Kräfte um Fritz Kater, dass gerade auch von den Anarchisten ein „Bevormundung“ drohe, so wie sie von der SPD immer gegenüber den Gewerkschaften ausgeübt worden sei. Kater bezeichnete noch in der Einigkeit vom August 1912 den Anarchismus als „ebenso überflüssig wie jede andere politische Partei“[10]. Es ist falsch zu meinen, dass es die Präsenz offizieller Anarchisten gewesen wäre, welche die FVDG in den Syndikalismus führte. Die Parteifeindlichkeit, welche in der harten Auseinandersetzung mit der SPD entstanden war, wandte sich in den Jahren vor dem Krieg auch gegen die anarchistischen Organisationen. Es war auch keinesfalls der Einfluss des charismatischen Anarchisten Rudolf Rocker ab 1919, welcher die Parteifeindlichkeit  in die Nachfolgeorganisation der FVDG, die FAUD hinein trug. Diese Entwicklung hatte deutlich vorher stattgefunden. Rocker theoretisierte sie in den 20er Jahren für den deutschen Syndikalismus nur viel deutlicher als dies vor dem Krieg geschah.

Die weiteren Jahre bis hin zum Kriegsausbruch 1914 waren bei der FVDG gekennzeichnet von einem Rückzug auf sich selbst. Die grosse Auseinandersetzungen mit den Mutterorganisationen waren ausgefochten. Die Trennung vom gewerkschaftlichen Zentralverband hatte 1897 stattgefunden. Der Bruch mit der SPD gute 10 Jahre später, 1908.

Es entstand eine kuriose Situation, welche ein immer wieder auftauchendes Dilemma des Syndikalismus aufzeigt: Sich als Gewerkschaft deklarierend, welche bei möglichst vielen Arbeitern verankert sein wollte, war die FVDG aber auf ein Minimum von Mitgliedern zusammengeschrumpft. Von den ca. 7000 Eingeschriebenen war nur ein geringer Teil auch wirklich aktiv. Eine Gewerkschaft war sie nicht mehr! Vielmehr waren die Überreste der FVDG nun auf Propagandavereine für syndikalistische Ideen zusammengeschrumpft, hatten also vielmehr den Charakter von politischen Gruppen. Doch politische Organisationen wollten sie partout nicht sein!

Die Überreste der FVDG blieben – und das ist für die Arbeiterklasse eine absolut zentrale Frage – auf internationalistischem Boden und wandten sich trotz all ihrer Schwächen gegen die Bestrebungen der Bourgeoisie hin zu Militarismus und Krieg. Die FVDG und ihre Presse wurde sofort bei Kriegsausbruch im August 1914 verboten und viele ihrer noch aktiven Mitglieder in Schutzhaft genommen.

In einem folgenden Artikel werden wir die Rolle der Syndikalisten in Deutschland während des Ersten Weltkrieges und den Jahren der Deutschen Revolution 1918/19 und der weltrevolutionären Welle bis 1923 betrachten.

Mario 6.11.2009

[1] Arnold Roller (Siegfried Nacht): „Die direkte Aktion“ 1912. Roller verkörperte innerhalb der FVDG den bis dahin sehr minoritären anarchistischen Flügel.

[2] Siehe im Besonderen dazu auch: Internationale

 Nr. 90, 122, 123, 125 (engl., franz., span.) 

[3] Anton Pannekoek, „Das Gewerkschaftswesen“, 1936

[4] Paul Frölich, „Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat“, Kapitel: „Der politische Massenstreik“ 

[5] Friedeberg selber kam nicht etwa aus dem Anarchismus in die FVDG, sondern war SPD Stadtverordneter und Mitglied der sozialdemokratischen Berliner Parteileitung.

[6] Trotzki schrieb 1907 zuerst das Buch Unsere Revolution. Einige Kapitel daraus dienten als Grundlage für das Buch 1905, welches 1908/09 geschrieben wurde.

[7] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, S 227.

[8] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, Seite 295.

[9] ebenda, Seite 315 (oder in R. Luxemburg, Ges. Werke. Bd. 2, Seite 174)

[10] siehe auch: Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, S. 191–198

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Revolutionärer Syndikalismus [26]

Internationale Revue 48

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19. Kongress der IKS: Bereiten wir uns auf die Klassenkonfrontationen vor

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Im vergangenen Mai hat die IKS ihren 19. Kongress abgehalten. Ein Kongress stellt im Leben revolutionärer Organisationen einen Höhepunkt dar. Da diese ein integraler Bestandteil der Arbeiterklasse sind, ist es ihre Aufgabe, die Ergebnisse eines Kongresses an die Klasse weiterzugeben. Dies ist das Ziel dieses Artikels. Zuerst wollen wir herausstreichen, dass der 19. Kongress den Willen der IKS, sich gegen außen zu öffnen, in die Praxis umgesetzt hat, denn neben Delegationen der Sektionen der IKS waren nicht nur Sympathisanten von uns oder Leute von Diskussionszirkeln, an denen wir uns beteiligen, präsent, sondern auch Delegationen von Gruppen, mit denen die IKS in Diskussion und Kontakt steht: zwei Gruppen aus Südkorea und OPOP aus Brasilien[1]. Andere Gruppen wurden eingeladen und nahmen die Einladung an, konnten aber wegen der Hindernisse, welche die herrschende Klasse der europäischen Staaten Leuten außerhalb Europas immer mehr in den Weg legt, nicht teilnehmen.

In unseren Statuten steht:

„Der internationale Kongress ist das souveräne Organ der IKS. Deshalb hat er folgende Aufgaben:

–  Ausarbeitung von Analysen und generellen Orientierungen für die Organisation, vor allem bezüglich der internationalen Situation;

–  Untersuchen und Bilanzieren der Aktivitäten der Organisation seit dem letzten Kongress;

–  Formulieren unserer Arbeitsperspektiven für die Zukunft.“

Auf dieser Grundlage wollen wir den
19. Kongress bilanzieren und betrachten.

Die internationale Lage

Als ersten Punkt wollen wir unsere Analysen und Diskussionen über die internationale Situation erwähnen. Wenn die Organisation nicht in der Lage ist, sich ein klares Verständnis darüber zu erarbeiten, läuft sie Gefahr, nicht in angemessener Weise politisch auftreten zu können. Die Geschichte hat uns gelehrt, wie katastrophal eine falsche Analyse der internationalen Situation durch revolutionäre Organisationen sein kann. Nur die dramatischsten Fälle seien hier erwähnt: Die Unterschätzung der Kriegsgefahr durch die Mehrheit der 2. Internationale am Vorabend der imperialistischen Schlächterei des Ersten Weltkrieges 1914–18, auch wenn in der Zeit zuvor (durch den Anstoß des linken Flügels in der Internationale) deren Kongresse die Gefahr korrekt erkannt hatten und zur Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen sie aufgerufen hatten.

Ein anders Beispiel ist die von Trotzki vertretende Analyse während der 1930er Jahre, als er 1936 in den Arbeiterkämpfen in Frankreich und im Krieg in Spanien die Vorboten einer neuen internationalen revolutionären Welle sah. Diese Analyse brachte Trotzki 1938 dazu, eine „4. Internationale“ zu gründen, welche angesichts der „konservativen Politik der kommunistischen und sozialistischen Parteien“ deren Platz an der Spitze der „Massen von Millionen von Leuten, welche sich für den Weg zur Revolution einsetzen“, einnehmen sollte. Dieser Irrtum hat im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wesentlich zum Übertritt der Sektionen der 4. Internationale ins Lager der herrschenden Klasse beigetragen. Sie wollten sich um jeden Preis „an die Massen heften“, sie wurden von der Politik der „Résistance“ verschlungen, welche von den sozialistischen und sogenannten „kommunistischen“ Parteien geführt wurde – mit anderen Worten: zur Unterstützung des imperialistischen Lagers der Alliierten.

Etwas mehr in unserer politischen Nachbarschaft haben wir erlebt, wie sich Gruppen, die sich auf die Kommunistische Linke berufen, am ausgedehnten Streik vom Mai 1968 und an der darauf folgenden internationalen Bewegung von Arbeiterkämpfen vorbei lebten, indem sie diese als „lediglich Studentenbewegungen“ bezeichneten. Wir konnten auch das tragische Schicksal anderer Gruppen erleben, die den Mai 1968 als eine „Revolution“ bezeichneten, dann in die Enttäuschung stürzen und schlussendlich verschwanden, weil die Bewegung nicht das brachte, was sie sich davon erhofft hatten.

Heute ist es für revolutionäre Organisationen überaus wichtig, eine richtige Analyse der internationalen Situation zu erstellen, nur schon deshalb, weil die Herausforderungen der Geschichte, die sich in der letzten Zeit beschleunigt, bedeutend sind.

Wir haben in der letzten Nummer der Internationalen Revue die vom Kongress angenommene Resolution über die internationale Lage veröffentlicht, und es ist nicht notwendig, auf alle darin enthaltenen Aspekte zurückzukommen. Wir wollen lediglich die wichtigsten noch einmal unterstreichen.

Der erste und grundlegendste Aspekt ist der Weg, den die Krise des Kapitalismus durch die Staatsverschuldungen europäischer Staaten wie Griechenland eingeschlagen hat.

„In der Tat stellt diese potentielle Pleite einer wachsenden Reihe von Staaten eine neue Phase im Versinken des Kapitalismus in der unüberwindbaren Krise dar. Sie verdeutlicht die Grenzen der Maßnahmen, mit denen es der Bourgeoisie gelungen ist, den Fortgang der kapitalistischen Krise seit mehreren Jahrzehnten zu bremsen. (…) Die Maßnahmen, die von der G20 im März 2009 zur Vermeidung einer neuen „Großen Depression“ ergriffen wurden, zeigen die Politik auf, welche die herrschende Klasse seit einigen Jahrzehnten anwendet: Sie lässt sich zusammenfassen als Einschießung von beträchtlichen Kreditmassen in die Wirtschaft. Solche Maßnahmen sind nicht neu. Tatsächlich stellen sie seit 35 Jahren den Kern der Wirtschaftspolitik der herrschenden Klasse dar beim Versuch, dem großen Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise zu entgehen: der Unfähigkeit, zahlungsfähige Märkte zu finden, die ihre Produktion aufnehmen. (…) Der mögliche Zusammenbruch des Bankensystems und die Rezession zwangen alle Staaten, beträchtliche Summen in ihre Wirtschaft einzuschießen, während umgekehrt die Einnahmen sich im freien Fall befinden, weil die Produktion zurückgeht. Aus diesem Grund nahmen die Staatsdefizite in den meisten Ländern beträchtlich zu. Für die am meisten gefährdeten unter ihnen wie Irland, Griechenland oder Portugal bedeutete dies der potentielle Bankrott, die Unfähigkeit, die Staatsangestellten zu bezahlen und die Schulden zu begleichen. (…) Die „Rettungspläne“, welche die Europäische Bank und der Weltwährungsfond für sie ausarbeiteten, stellen lediglich neue Schulden dar, die ebenso wie die früheren zurück bezahlt werden müssen. Es ist mehr als ein Teufelskreis, es ist eine Höllenspirale. (…) Die Krise der Staatsschulden in den PIIGS (Portugal, Island, Irland, Griechenland, Spanien) ist nur ein kleiner Teil des Erdbebens, das die Weltwirtschaft bedroht. Nur weil die großen Industriemächte gegenwärtig noch über die Note AAA auf der Bewertungsskala der Rating–Agenturen verfügen (die gleichen Agenturen, die am Vorabend des Banken–Debakels von 2008 diesen ebenfalls die Bestnote erteilt hatten) heißt nicht, dass sich jene besser aus der Affäre ziehen würden. (…) Mit anderen Worten läuft die größte Weltmacht Gefahr, dass ihr das „offizielle“ Vertrauen in ihre Fähigkeit zur Bezahlung der Schulden entzogen wird – mindestens mit Dollars, die noch etwas wert sind. (…) Und seither hat sich die Lage in allen Ländern mit den verschiedenen Aufschwungsplänen nur noch verschlimmert. So stellt der Bankrott der PIIGS nur die Spitze des Eisbergs des Bankrotts einer Weltwirtschaft dar, die ihr Überleben seit Jahrzehnten nur der verzweifelten Flucht nach vorn in die Verschuldung verdankt. (…) Die Krise der Verschuldung verschob sich von der Bankensphäre in diejenige der Staatskassen, wodurch die kapitalistische Produktionsweise in eine neue Phase ihrer zugespitzten Krise eingetreten ist, in der sich die Gewalt und die Ausdehnung ihrer Erschütterungen noch einmal beträchtlich verschärfen werden. Es gibt für den Kapitalismus keinen „Ausgang aus dem Tunnel“. Dieses System kann die Gesellschaft nur noch in eine ständig wachsende Barbarei ziehen.“

Die Zeit unmittelbar nach dem Kongress hat diese Analyse bestätigt. Einerseits hat sich die Verschuldungskrise der europäischen Länder, die sichtbar nicht mehr nur die „PIIGS“ betrifft, sondern die gesamte Eurozone erfasst hat, mehr und mehr zugespitzt. Der angebliche „Erfolg“ des Europäischen Gipfels vom 22. Juli zu Griechenland hat kaum etwas verändert. Schon alle vorangegangenen Gipfeltreffen hatten sich vorgenommen, die Schwierigkeiten in diesem Land dauerhaft in den Griff zu bekommen, doch mit geringstem Erfolg!

Andererseits haben zur selben Zeit als Obama größte Schwierigkeiten hatte, seine Budgetpolitik durchzusetzen, die Medien „entdeckt“, dass die USA auch mit einer gigantischen Staatsverschuldung konfrontiert sind, deren Niveau (130% des Bruttoinlandproduktes) den PIIGS in nichts nachsteht. Die Bestätigung der Analysen, die am Kongress gemacht worden sind, ist nicht etwa ein besonderes Verdienst unserer Organisation. Das „Verdienst“, das wir für uns beanspruchen können, ist die Treue gegenüber den klassischen Analysen der Arbeiterbewegung, welche immer, seit der Entwicklung der marxistischen Theorie, unterstrichen haben, dass die kapitalistische Produktionsweise, gleich wie die früheren, vergänglich ist und ihre Widersprüche nicht überwinden kann. Die Diskussion am Kongress hat sich in diesem marxistischen Rahmen entfaltet. Es wurden verschiedene Standpunkte ausgetauscht, vor allem bezüglich der fundamentalen Gründe der kapitalistischen Widersprüche (welche im Wesentlichen in unserer Debatte über die 30 glorreichen Jahre dargelegt sind[2]) und über die Möglichkeit, dass die Weltwirtschaft durch die hemmungslose Ankurbelung der Geldpresse in eine Hyperinflation stürzt, vor allem in den USA. Eine große Einigkeit bestand hinsichtlich der Dramatik der aktuellen Lage. Die Resolution zur internationalen Lage wurde einstimmig angenommen.

Der Kongress nahm sich ebenfalls der Entwicklung der imperialistischen Konflikte an, wie man der Resolution entnehmen kann. Diesbezüglich gab es in den zwei Jahren seit dem letzten Kongress keine grundlegenden Veränderungen, sondern im Wesentlichen eine Bestätigung dessen, dass die größte Weltmacht USA trotz all ihrer militärischen Bemühungen unfähig ist, ihre „Leadership“ wieder herzustellen, die seit dem Ende des „Kalten Krieges“ bestanden hatte. Das Engagement der USA im Irak und in Afghanistan konnte der Welt keine „Pax Americana“ aufzwingen, im Gegenteil: „Die „neue Weltordnung“, die Vater George Bush vor 20 Jahren prognostizierte und die er sich unter der Vorherrschaft der USA erträumte, entlarven sich je länger je mehr als ein „Weltchaos“ – ein Chaos, das die Konvulsionen der kapitalistischen Wirtschaft nur noch verschlimmern wird.“ (Punkt 8 der Resolution)

Es war wichtig, dass sich der Kongress ganz besonders der heutigen Entwicklung im Klassenkampf gewidmet hat, denn neben der Wichtigkeit, welche diese Frage für Revolutionäre immer hat, steht heute die Arbeiterklasse wie selten zuvor in allen Ländern Angriffen auf ihre Existenzbedingungen gegenüber. Diese Angriffe sind besonders brutal in den Ländern, die der Europäischen Zentralbank und dem IWF unterworfen sind, wie das Beispiel Griechenlands zeigt. Doch sie breiten sich auch auf alle anderen Länder aus, durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit für die Regierungen, die Staatsschulden zu reduzieren.

Schon die Resolution des 18. Kongresses hatte deshalb hervorgehoben: „Doch die wichtigste Form, in der diese Angriffe stattfinden – Massenentlassungen, läuft der Entwicklung solcher Kämpfe (Massenkämpfe) zunächst zuwider. (…) Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann – namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die „Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zulassen –, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“

Der 19. Kongress hat nun festgestellt: „Die zwei Jahre, die uns vom letzten Kongress trennen, haben dies vollauf bestätigt. Diese Periode war nicht gezeichnet von verbreiteten Kämpfen gegen die massiven Entlassungen oder gegen die steigende Arbeitslosigkeit, welche die Arbeiterklasse in den am meisten fortgeschrittenen Ländern über sich ergehen lassen muss. Gleichzeitig gibt es aber bedeutende Kämpfe gegen die „notwendigen Kürzungen der Sozialausgaben“.“ Dennoch hält der Kongress fest: „Doch diese Antwort ist immer noch schüchtern, vor allem dort, wo die Sparmaßnahmen die brutalsten Formen angenommen haben, in Ländern wie z.B. Griechenland oder Spanien, auch wenn die Arbeiterklasse dort in letzter Zeit ein bedeutendes Niveau an Kampfbereitschaft gezeigt hat. In gewisser Weise scheint die Brutalität der Angriffe in den Reihen der Arbeiterklasse ein Gefühl der Machtlosigkeit ausgelöst zu haben, vor allem auch, weil sie durch „linke“ Regierungen durchgesetzt wurden.“ Seither hat die Arbeiterklasse in diesen Ländern aber bewiesen, dass sie nicht resigniert. So vor allem in Spanien, wo die Bewegung der „Empörten“ während mehrerer Monate zu einem Orientierungspunkt für die anderen Länder in Europa und in anderen Kontinenten geworden ist.  

Diese Bewegung in Spanien begann just im Moment, als der Kongress stattfand, deshalb konnten diese Ereignisse auf dem Kongress nicht diskutiert werden. Somit war der Kongress vor allem geprägt vom Nachdenken über die sozialen Bewegungen, welche die arabischen Länder seit Ende 2010 erfasst haben. In den Diskussionen zeigte sich keine absolute Einigkeit darüber, vor allem nicht über die Frage ihres neuartigen Charakters. Doch der gesamte Kongress sammelte sich um die Analyse welche in der Resolution enthalten ist:

„Die massivsten Bewegungen, die wir in der letzten Zeit erlebt haben, entfalteten sich nicht in den am höchsten industrialisierten Ländern, sondern in Ländern der Peripherie des Kapitalismus, vor allem in einigen Ländern der arabischen Welt wie in Tunesien und Ägypten. Dort war die herrschende Klasse, nachdem sie erst mit einer brutalen Repression geantwortete hatte, gezwungen, die Diktatoren abzusetzen. Diese Bewegungen waren nicht klassische Arbeiterkämpfe, wie sie sich in diesen Ländern kurz zuvor ereignet hatten (z.B. die Arbeitskämpfe in Gafsa in Tunesien 2009 oder die massiven Streiks in der ägyptischen Textilindustrie während des Sommers 2007, die eine große Solidarität von anderen Sektoren erhielten). Sie haben oft die Form sozialer Revolten angenommen, in denen sich verschiedenste Teile der Gesellschaft wiederfanden: Beschäftigte des Staates und der Privatwirtschaft, Arbeitslose, aber auch Kleinhändler und Bauern und Freiberufliche, die Jugend usw. Aus diesem Grund ist die Arbeiterklasse über die meiste Zeit hinweg nicht direkt als solche erkennbar aufgetreten (wie zum Beispiel in den Streiks in Ägypten in der Endphase der Revolte) und konnte noch weniger eine führende Rolle einnehmen. Dennoch ist der Ursprung dieser Revolten (was sich in vielen Forderungen widerspiegelte) derselbe wie derjenige von Arbeiterkämpfen in anderen Ländern: die dramatische Zuspitzung der Krise und die zunehmende Misere, welche innerhalb der gesamten nichtausbeutenden Bevölkerung um sich greift. Wenn die Arbeiterklasse in diesen Kämpfen im arabischen Raum im Allgemeinen nicht als Klasse aufgetreten ist, so war ihr Einfluss in den Ländern, in denen sie ein stärkeres Gewicht hat, dennoch spürbar. Dies vor allem durch die Atmosphäre einer großen Solidarität in den Revolten und die Fähigkeit, Fallen von blinder und verzweifelter Gewalt zu vermeiden, auch dann, wenn sie mit einer starken Repression konfrontiert waren. Wenn schlussendlich die herrschende Klasse in Tunesien und Ägypten auf den Ratschlag der USA hin die alten Diktatoren über die Klinge springen ließ, so geschah dies weitgehend wegen der starken Präsenz der Arbeiterklasse in diesen Bewegungen.“

Das Erwachen der Arbeiterklasse in peripheren Ländern des Kapitalismus hat den Kongress gedrängt, auf unsere Analyse, die wir 1980 während der Massenstreiks in Polen gemacht hatten, zurück zu kommen: „Damals argumentierte die IKS auf der Basis der Positionen, die von Marx und Engels entwickelt wurden, dass der Funke zur proletarischen Revolution vor allem in den zentralen Ländern des Kapitalismus entspringen wird. Dies aufgrund der großen Konzentration der Arbeiterklasse in diesen Ländern und vor allem aufgrund ihrer historischen Erfahrung, welche sie eher in die Lage versetzt, von der herrschenden Klasse gestellte ideologische Fallen zu durchschauen. Einer der wichtigsten Schritte für die weltweite Arbeiterklasse in der Zukunft wird nicht nur die Entfaltung massiver Kämpfe in den zentralen Ländern Westeuropas sein, sondern auch die Fähigkeit, die demokratischen und gewerkschaftlichen Fallen zu vermeiden, indem sie den Kampf in die eigenen Hände nimmt. Diese Bewegungen werden für die weltweite Arbeiterklasse ein Orientierungspunkt sein, einschließlich für die Arbeiterklasse im mächtigsten kapitalistischen Land, den USA, wo das Abgleiten in die zunehmende Armut, das schon heute Millionen von Beschäftigten betrifft, den „amerikanischen Traum“ in einen Albtraum verwandelt hat.“

Diese Analyse erhält eine erste Bestätigung durch die jüngste Bewegung der „Empörten“ in Spanien. Während die Demonstranten in Tunis und Kairo die nationalen Flaggen für ein Zeichen ihres Kampfes hielten, so fehlten diese seit Ende des letzten Frühlings in den meisten großen Städten Europas (vor allem in Spanien). Zweifelsohne ist die Bewegung der „Empörten“ noch mit starken Illusionen in die Demokratie behaftet, doch sie hatte die Qualität, aufzuzeigen, dass alle Staaten, selbst die „demokratischsten“ und damit auch die von Linken regierten, ein Feind der Arbeiterklasse sind.

Die Intervention der IKS in den sich entfaltenden Kämpfen

Wie wir bereits festgestellt haben, besteht die Fähigkeit revolutionärere Organisationen darin, die aktuelle historische Situation zu analysieren und mitunter auch in der Ehrlichkeit, sich von Analysen, welche durch die Realität in Frage gestellt werden, zu lösen. Dies ist eine Bedingung für die Qualität ihrer Intervention innerhalb der Arbeiterklasse, nicht nur was die Form angeht, sondern auch den Inhalt. Das heißt für eine revolutionäre Organisation schlussendlich, auf der Höhe der Verantwortung zu sein, deretwegen sie die Arbeiterklasse hervorgebracht hat.

Auf der Grundlage einer Einschätzung der Wirtschaftskrise, der furchtbaren Angriffe, die diese für die Arbeiterklasse nach sich zieht, und auf der Grundlage der ersten Antworten derselben auf diese Angriffe, ging der 19. Kongress der IKS davon aus, dass wir in eine neue Phase der Entwicklung des Klassenkampfes eintreten, die deutlich intensiver und massenhafter sein werden als in der Zeitspanne zwischen 2003 und heute. In dieser Hinsicht ist es aber vielleicht noch schwieriger als beim Verlauf der Krise, der diese Entwicklung im Großen und Ganzen bestimmt, kurzfristige Voraussagen zu treffen. Es gilt hingegen, eine allgemeine Tendenz auszumachen und angesichts der Entwicklung der Lage besonders wachsam zu sein, um schnell und angemessen reagieren zu können, wenn sie es erfordert, sei es mittels Stellungnahmen oder der direkten Intervention in den Kämpfen.

Der 19. Kongress schätzte die Bilanz der Intervention der IKS seit dem letzten Kongress als unbestreitbar positiv ein. Immer wenn es nötig war, und oft sehr schnell, wurden Stellungnahmen in zahlreichen Sprachen auf unserer Webseite und in den territorialen Zeitungen veröffentlicht. Im Rahmen dessen, was wir mit unseren bescheidenen Kräften leisten können, verbreiteten wir unsere Presse anlässlich der Demonstrationen, welche die sozialen Bewegungen begleiteten. Solche Bewegungen waren in der letzten Zeit insbesondere die Bewegung gegen die Rentenreform im Herbst 2010 in Frankreich oder die Mobilisierungen der Schülerinnen und Schüler gegen die Angriffe, die vor allem die zukünftigen Studentinnen und Studenten aus der Arbeiterklasse betrafen. Gleichzeitig hielt die IKS öffentliche Diskussionsveranstaltungen in zahlreichen Ländern verschiedener Kontinente ab, welche die sozialen Bewegungen zum Thema hatten. Gleichzeitig intervenierten die Mitglieder der IKS, wenn immer es möglich war, in den Versammlungen, Kampfkomitees, Diskussionszirkeln, Internetforen, um die Positionen und Analysen der Organisation zu verbreiten und an der internationalen Debatte teilzunehmen, die diese Bewegungen ausgelöst hatten.

Diese positive Bilanz dient in keiner Weise dazu, die Militanten der IKS „bei der Stange zu halten“ oder gegenüber den Lesern des Artikels zu bluffen. Sie kann von Allen, welche die Aktivitäten unserer Organisation kennen, überprüft und bestätigt werden, da es sich um unsere öffentlichen Aktivitäten handelt.

Weiter zog der Kongress eine positive Bilanz über unsere Intervention gegenüber Leuten und Gruppen, die kommunistische Positionen verteidigen oder sich solchen Positionen annähern.

Die Perspektive einer starken Entfaltung der Klassenkämpfe bringt auch ein Heranwachsen von revolutionären Minderheiten mit sich. Auch wenn die Arbeiterklasse noch nicht in massive Kämpfe eingetreten ist, so haben wir festgestellt (wie schon in der Resolution zur internationalen Lage vom 17. Kongress festgehalten[3]), dass ein solches Heranwachsen vor allem deshalb entsteht, weil seit 2003 die Arbeiterklasse den Rückschlag, den sie ab 1989 nach dem Zusammenbruch des sogenannten „sozialistischen“ Blocks durch die Kampagnen über das „Ende des Kommunismus“ und somit das „Ende des Klassenkampfes“ erlitt, wieder zu überwinden beginnt. Seither, auch wenn noch schüchtern, hat sich diese Tendenz durch regelmäßige Kontakte und Diskussionen mit Einzelpersonen und Gruppen in verschiedenen Ländern bestätigt. „Dieses Phänomen der Herausbildung von Kontakten betrifft nicht nur die Länder, in denen die IKS schon präsent ist. Und die Zunahme von Kontakten ist auch nicht sofort in allen Ländern spürbar, in denen die IKS aktiv ist – weit entfernt davon. Wir können sogar sagen, dass diese Erscheinungen nur einer Minderheit der Sektionen der IKS vorbehalten bleibt.“ (mündliche Präsentation des Berichts über die Kontakte auf dem Kongress)

In der Tat sind oft Kontakte in Ländern aufgetaucht, in denen die IKS nicht (oder noch nicht) mit Sektionen präsent ist. Dies hatten wir auch an der „panamerikanischen“ Konferenz festgestellt, welche im November 2010 abgehalten wurde und auf der unter anderen OPOP, Genossen aus Brasilien, Peru, der Dominikanischen Republik und Ecuador teilnahmen[4]. Wegen der Entwicklung dieses Umfeldes von Kontakten „hat unsere Arbeit ihnen gegenüber stark zugenommen, was auch einen arbeitsmäßigen und finanziellen Aufwand mit sich bringt, so wie ihn unsere Organisation noch nie für die Kontaktarbeit leistete, aber auch die zahlreichsten und spannendsten Diskussionen seit unserer Gründung erlaubte“ (Bericht über die Kontakte).

Dieser Bericht „schenkte den neuen Entwicklungen hinsichtlich unserer Kontakte besondere Aufmerksamkeit, namentlich der Zusammenarbeit mit Anarchisten. Es gelang uns bei gewissen Gelegenheiten, in Kämpfen gemeinsame Sache mit Leuten und Gruppen zu machen, die sich im gleichen Lager wie wir befinden – in demjenigen des Internationalismus.“ (Einführung des Berichts am Kongress) Diese Zusammenarbeit mit Leuten und Gruppen, die sich auf den Anarchismus berufen, stieß in der Organisation zahlreiche und fruchtbare Diskussionen an, die es uns erlaubten, die verschiedenen Facetten dieser Strömung besser kennen zu lernen und insbesondere die ganze Vielfältigkeit, die es in diesem Milieu gibt, besser zu verstehen (von simplen Linken, die bereit sind, alle möglichen bürgerlichen Bewegungen und Ideologien wie den Nationalismus zu unterstützen, bis hin zu eindeutig proletarischen Leuten mit einem standfesten Internationalismus).

„Eine andere Veränderung ist unsere Zusammenarbeit in Paris mit Leuten, die sich zum Trotzkismus bekennen (…) Grundsätzlich waren diese Leute (während den Mobilisierungen gegen die Rentenreform) sehr aktiv in der Hinsicht, dass die Arbeiterklasse ihren Kampf außerhalb des gewerkschaftlichen Rahmens in die eigenen Hände nehmen soll, und sie haben auch die Diskussionen in der Arbeiterklasse gefördert, so wie es die IKS tut. Aus diesen Gründen haben wir uns ihren Anstrengungen angeschlossen. Dass sich ihre Haltung auf Konfrontationskurs mit der klassischen Praxis des Trotzkismus befindet, ist umso besser.“ (mündliche Einführung zum Bericht)   

Der Kongress konnte auch eine positive Bilanz unserer Aktivitäten gegenüber Leuten ziehen, die revolutionäre Positionen verteidigen oder sich ihnen annähern. Dies ist eine sehr wichtige Arbeit gegenüber der Arbeiterklasse, da sie zur Bildung der zukünftigen revolutionären Partei beiträgt, welche für eine proletarische Revolution unabdingbar ist[5]. 

Organisationsfragen

Jede Diskussion über die Tätigkeit einer revolutionären Organisation muss sich auch der Bilanz ihrer Funktionsweise widmen. Gerade hier stellte der Kongress auf der Grundlage der verschiedenen Berichte große Schwächen in unserer Organisation fest. Wir haben bereits in unserer Presse und auch auf öffentlichen Veranstaltungen organisatorische Schwierigkeiten thematisiert, mit denen die IKS in ihrer Vergangenheit konfrontiert war. Dies nicht aus Exhibitionismus, sondern weil es einer traditionellen Vorgehensweise innerhalb der Arbeiterbewegung entspricht. Der Kongress diskutierte lange über diese Schwierigkeiten, im Besonderen über den Zustand des oft angeschlagenen Organisationsgewebes und die Schwierigkeit, wirklich kollektiv zu arbeiten, ein Problem, von dem einige Sektionen betroffen sind. Die IKS hat aber keine Krise wie 1981, 1993 und 2001. 1981 hatten wir erlebt, wie ein beträchtlicher Teil der Organisation die politischen und organisatorischen Prinzipien, auf deren Grundlage wir uns zusammengeschlossen hatten, in Frage stellte, was zu gravierenden Spannungen und zum Verlust der Hälfte unserer Sektion in Großbritannien führte. 1993 und 2001 war die IKS mit dem Problem des Clangeistes konfrontiert, der zu einem Loyalitätsverlust gegenüber der Organisation und zu erneuten Austritten führte (1995 vor allem von Mitgliedern der Sektion in Paris und 2001 von solchen des Zentralorgans)[6]. Einer der Gründe der letzten zwei Krisen ist für die IKS das Gewicht der Konsequenzen aus dem Zusammenbruch des so genannten „sozialistischen“ Blocks, denn dieses Ereignis hat zu einem enormen Rückfluss im Bewusstsein der Arbeiterklasse geführt. Dazu kommt noch ein verstärkter sozialer Zerfall, der in der maroden kapitalistischen Gesellschaft um sich greift. Die heutigen Probleme haben teilweise dieselben Gründe, doch es ist kein Verlust der Überzeugung und der Loyalität zur Organisation sichtbar.        

Alle Genossinnen und Genossen der Sektionen in denen sich diese Schwierigkeiten zeigen, sind voll überzeugt von der Richtigkeit des Kampfes, den die IKS führt, sind absolut loyal und beweisen ihren selbstlosen Einsatz. Auch wenn die IKS mit der schwierigsten Periode seit dem Ende der Konterrevolution, das durch den Ausbruch der Bewegung im Mai 1968 markiert wurde, konfrontiert war, eine Periode gekennzeichnet von einem generellen Rückfluss des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft vom Beginn der 1990er Jahre an, so blieben die Mitglieder der IKS „standfest auf ihrem Posten“. Oft kennen sich diese Genossen und Genossinnen seit mehr als dreißig Jahren und arbeiten so lange politisch zusammen. Häufig gibt es aus diesem Grund zwischen ihnen freundschaftliche und von Vertrauen geprägte Beziehungen. Aber kleine Fehler, kleine Schwächen, Verschiedenheiten im Charakter, die jeder und jede bei den anderen akzeptieren muss, führen manchmal zu Spannungen oder zur wachsenden Schwierigkeit, nach Jahrzehnten überhaupt noch zusammen arbeiten zu können, gerade in kleinen Sektionen, die insbesondere wegen des allgemeinen Zurückweichens der Arbeiterklasse in den 1990er Jahren keine „Blutauffrischung“ mit neuen Mitgliedern erfahren haben. Heute beginnt diese „Blutauffrischung“ einige IKS–Sektionen wieder zu beleben, aber es ist klar, dass die neuen Mitglieder sich nur dann gut in die Organisation werden integrieren können, wenn sich das Organisationsgewebe als Ganzes verbessert. Der Kongress diskutierte offen über diese Schwierigkeiten, was einige der eingeladenen Gruppen dazu verleitete, auch über ihre Organisationsschwierigkeiten zu berichten. Natürlich fand der Kongress keine „Zauberlösung“ für diese Probleme, die auch schon an früheren Kongressen festgestellt worden waren. Die Aktivitätenresolution, welche die Organisation angenommen hat, erinnert deshalb an die auch schon früher vertretene Herangehensweise und ruft alle Genossinnen und Genossen und Sektionen dazu auf, sie systematisch in die Tat umzusetzen:

„Seit 2001 hat die IKS eine sehr anspruchsvolle theoretische Arbeit zur Vertiefung der Frage, was die Militanz in einer kommunistischen Organisation (und auch der Parteigeist) ist, aufgenommen. Wir mussten eine kreative Anstrengung leisten, um auf möglichst hohem Niveau folgende Aspekte zu verstehen:

–  die Ursprünge der proletarischen Solidarität und des Vertrauens,

–  die moralische und ethische Dimension des Marxismus,

–  die Demokratie und der Demokratismus und ihre Feindschaft gegenüber dem kommunistischen Engagement,

–  die Psychologie und Anthropologie und ihr Verhältnis zum Ziel des Kommunismus,

–  die Zentralisierung und die kollektive Arbeit,

–  die proletarische Debattenkultur,

–  der Marxismus und die Wissenschaften.

Kurzum, die IKS hat sich dafür eingesetzt, ein besseres Verständnis über die menschliche Dimension des kommunistischen Ziels und der kommunistischen Organisation zu erarbeiten. Dies um die Tragweite der Vision über ein kommunistisches Engagement neu zu entdecken, welche im Verlauf der Konterrevolution fast gänzlich verlorengegangen war, und auch um sie gegen die Angriffe von Zirkeln und Clans zu schützen, welche sich in einer Atmosphäre der Ignoranz und Leugnung gegenüber Fragen der Organisation und des Engagements entwickelt hatten“ (Punkt 10).

„Die Verwirklichung einheitlicher Prinzipien für die Organisation – die kollektive Arbeit – erfordern die Entfaltung aller menschlichen Qualitäten in Verbindung mit einer theoretischen Anstrengung zur Erfassung des kommunistischen Engagements als etwas Positives, so wie es im Punkt 10 formuliert ist. Dies erfordert, dass sich der gegenseitige Respekt, die Solidarität, die Reflexe der Zusammenarbeit, ein herzlicher Geist des Verständnisses und der Sympathie für die Anderen, soziale Beziehungen und die Großzügigkeit entwickeln müssen“ (Punkt 15).

Die Diskussion über „Marxismus und Wissenschaft“

Eines der Anliegen in den Diskussionen und in der vom Kongress angenommenen Aktivitätenresolution drehte sich um die Notwendigkeit, auch die theoretischen Aspekte der vor uns stehenden Fragen zu vertiefen. Aus diesem Grund widmete dieser Kongress – wie auch schon die früheren – einen Punkt der Tagesordnung einer theoretischen Frage: „Marxismus und Wissenschaft“, welche wir, wie die Mehrheit der anderen theoretischen Fragen, innerhalb der Organisation vorgängig diskutiert hatten, und zu der wir auch Texte veröffentlichten. Wir gehen hier nicht ausführlich auf dieses Thema ein, dem schon im Vorfeld des Kongresses zahlreiche Diskussionen in den Sektionen vorangegangen waren. Aber es gilt trotzdem darauf hinzuweisen, dass die Delegationen ob dieser Diskussion sehr zufrieden waren, was insbesondere auch den Beiträgen eines Wissenschafters, Chris Knights[7], zu verdanken war, den wir eingeladen hatten, an einem Teil des Kongresses teilzunehmen. Es war nicht das erste Mal, dass die IKS einen Wissenschafter zu ihrem Kongress einlud. Vor zwei Jahren war Jean–Louis Dessalles gekommen, um uns seine Überlegungen zur Entwicklung der Sprache darzulegen, was zu sehr interessanten und spannenden Diskussionen geführt hatte[8]. Wir möchten uns herzlich dafür bedanken, dass Chris die Einladung angenommen hat, und die Qualität seiner Interventionen wie auch deren Lebendigkeit und Verständlichkeit für wissenschaftliche Laien, die wir zum größten Teil sind, begrüßen. Chris Knight hat sich dreimal zu Wort gemeldet[9]. Er hat in der allgemeinen Debatte das Wort ergriffen und alle Anwesenden waren nicht nur von der Qualität seiner Argumente beeindruckt, sondern auch von seinem Verhalten, strikte die Redezeit und den Rahmen der Debatte zu respektieren (etwas, das den Mitgliedern der IKS oftmals schwer fällt). Danach präsentierte er in sehr bildlicher Art und Weise eine Zusammenfassung seine Theorie über die Ursprünge der Zivilisation und der menschlichen Sprache und erläuterte die ersten „Revolutionen“, welche die Menschheit kannte, in denen die Frau eine führende Rolle spielte (eine Idee, die er von Engels aufnimmt), Umwälzungen, auf die mehrere andere folgten und die der Menschheit jedes Mal einen Fortschritt erlaubten. Er sieht die kommunistische Revolution als Kulminationspunkt dieser Serie von Revolutionen und geht davon aus, dass die Menschheit die Fähigkeit besitzt, dorthin zu gelangen.

Die dritte Intervention von Chris Knight war ein sehr herzlicher Dank an unseren Kongress.

Nach dem Kongress haben alle Delegationen die Diskussion über „Marxismus und Wissenschaft“ und die Beteiligung von Chris Knight daran als einen der interessantesten und anregendsten Momente des Kongresses hervorgehoben – als etwas, das das Interesse der Gesamtheit der Sektionen für solche theoretischen Fragen stärkt.

Bevor wir zur Schlussfolgerung in diesem Artikel kommen, müssen wir noch erwähnen, dass die Teilnehmer an diesem IKS–Kongress, der fast exakt 140 Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Kommune abgehalten wurde, den Kämpfern dieser ersten revolutionären Anstrengung des Proletariates gedachten.[10]         

Wir ziehen keine triumphalistische Bilanz über den 19. Kongress des IKS, vor allem weil er die Organisationsschwierigkeiten abstecken musste, mit denen wir kämpfen. Schwierigkeiten, die wir überwinden müssen, wenn die Organisation weiterhin an den Rendezvous teilnehmen will, zu denen die Geschichte die revolutionären Organisationen einlädt. Vor uns steht deshalb ein langer und schwieriger Kampf. Doch soll uns diese Perspektive nicht entmutigen. Denn schließlich ist der Kampf der ganzen Arbeiterklasse auch lang und schwierig, voller Hinterhalte und Niederlagen. Diese Perspektive soll die Organisationsmitglieder vielmehr in ihrem Willen bestärken, diesen Kampf zu führen. Ein grundlegender Wesenszug eines/r jeden kommunistischen Militanten ist es, ein/e Kämpfer/in zu sein.

IKS 31.07.2011


[1]  OPOP war schon auf dem letzten Kongress der IKS anwesend. Siehe zu dieser Gruppe mehr in den Artikeln über den 17. und 18. Kongress in Internationale Revue Nr. 40 und 44.

[2] Siehe dazu: Internationale Revue Nr. 42,43,44, 45,46

[3] „Wie 1968 geht heute die Zunahme der Arbeiterkämpfe mit einem vertieften Nachdenken einher. Dabei stellt das Auftauchen neuer Leute, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken zuwenden, lediglich die Spitze des Eisbergs dar.“ (Internationale Revue Nr. 40)   

[4] Siehe dazu unseren Artikel: “5ª Conferencia Panamericana de la Corriente Comunista Internacional – Un paso importante hacia la unidad de la clase obrera”. https://es.internationalism.org/RM120 [44]–panamericana.

[5] Der Kongress hat eine Kritik aufgenommen und diskutiert, welche im Bericht über die Kontakte an einer Formulierung in der Resolution über die internationale Situation vom 16. Kongress geübt wurde: „Die IKS bildet bereits das Skelett der zukünftigen Partei“. Die Kritik lautet: „Es ist nicht möglich, schon heute zu formulieren, welchen organisatorischen Anteil die IKS an der künftigen Partei haben wird, denn dies hängt vom allgemeinen Zustand und der Entwicklung des neuen Milieus und auch unserer Organisation ab“. Das heißt, die IKS hat die Verantwortung, das Erbe der Kommunistischen Linken lebendig zu halten und zu bereichern, damit die jetzigen und kommenden Generationen von Revolutionären und auch die künftige Partei davon profitieren können. Mit anderen Worten: Sie hat die Aufgabe, eine Brücke zwischen den Revolutionären von 1917–23 und der zukünftigen revolutionären Welle zu bilden.  

[6] Die Leute, welche ihre Loyalität gegenüber der Organisation aufgaben, verfielen oft einer Dynamik, welche wir als „parasitär“ bezeichnen: Unter dem Anschein, die „wirklichen“ Positionen der Organisation zu verteidigen, unternahmen sie alles Mögliche, um die Organisation zu verunglimpfen und zu diskreditieren. Wir haben zu dieser Frage einen Texte verfasst („Aufbau der revolutionären Organisation: Thesen über den Parasitismus“, in Internationale Revue Nr. 22). Es soll hier erwähnt werden, dass einige Genossen der IKS, die keineswegs solche Verhaltensweisen bestreiten und im besten Willen, die Organisation zu verteidigen, diese Analyse über den Parasitismus nicht teilen. Diese Meinungsverschiedenheiten kamen auch auf dem Kongress zur Sprache.        

[7]  Chris Knight ist ein britischer Akademiker, der bis 2009 am London East College Anthropologie unterrichtete. Er ist insbesondere Autor des Buches Blood Relations, Menstruation and the Origins of Culture, worüber wir Beiträge auf unserer englischsprachigen Webseite veröffentlichten (https://en.internationalism.org/2008/10/Chris–Knight [45]) und das sich treu auf die Evolutionstheorie von Darwin und auch auf die Arbeiten von Marx und vor allem Engels abstützt (namentlich auf Der Ursprung der Familie, des Eigentums und des Staats). Er bezeichnet sich als „100%igen“ Marxisten und Anthropologen. Er ist überdies Mitglied der Radical Anthropology Group und anderer Zusammenschlüsse, welche meist durch Straßentheater die kapitalistischen Institutionen denunzieren und lächerlich machen. Er wurde von der Universität entlassen, weil er eine Veranstaltung organisierte, die mit den Protesten gegen den G20–Gipfel im März 2009 in London in Zusammenhang stand. Chris Knight wurde des „Aufrufs zum Mord“ angeklagt, weil er eine Puppe, die einen Banker darstellte, aufgehängt hatte, die mit der Aufschrift „Eat the bankers!“ versehen war. Wir sind nicht mit allen Positionen und Aktionsformen von Chris Knight einverstanden. Doch aufgrund der Diskussionen, die wir mit ihm seit einiger Zeit führen, sind wir von seiner Aufrichtigkeit, seiner Treue zur Emanzipation der Arbeiterklasse und seiner Haltung, dass die Wissenschaften und eine Kenntnis darüber ein Instrument zur Emanzipation sind, überzeugt. In diesem Rahmen wollen wir Chris Knight unsere volle Solidarität gegenüber den repressiven Maßnahmen (Entlassung und Gefängnis), unter denen er zu leiden hat, ausdrücken.     

[8] Siehe den Artikel über den 18. Kongress der IKS in Internationale Revue Nr. 44 

[9] Wir haben auf unserer Website Auszüge aus den Redebeiträgen von Chris Knight publiziert. 

[10] Die angenommene Erklärung ist auf der Website in französischer Sprache zu finden.

Dekadenz des Kapitalismus (VII): Rosa Luxemburg und die Grenzen der kapitalistischen Expansion

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Wie wir im letzten Artikel dieser Serie sahen, war das zentrale Ziel der revisionistischen Attacken gegen den revolutionären Kern des Marxismus dessen Theorie des unvermeidlichen Niedergangs des Kapitalismus, der aus den unlösbaren Widersprüchen in seinen Produktionsverhältnissen herrührt. Eduard Bernsteins Revisionismus, den Rosa Luxemburg so scharfsinnig in Sozialreform oder Revolution widerlegte, gründete sich größtenteils auf eine Reihe empirischer Beobachtungen aus der beispiellosen Expansions– und Wohlstandsperiode, die die mächtigsten kapitalistischen Nationen in den letzten Jahrzehnten des    19. Jahrhunderts erlebt hatten. Der Anspruch, die Kritik an die „katastrophistische“ Sichtweise von Marx auf eine gründlich theoretische Untersuchung der ökonomischen Theorien von Marx zu gründen, war nur gering. Bernsteins Argumente ähnelten in vielerlei Hinsicht jenen Argumenten, die von etlichen bürgerlichen Experten in der wirtschaftlichen Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg und selbst im prekären „Wachstum“ in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts bevorzugt wurden: Der Kapitalismus liefert die Güter, ergo wird er immer in der Lage sein, Güter zu liefern.

Andere Ökonomen jedoch, die nicht völlig losgelöst von der Arbeiterbewegung waren, versuchten ihre reformistischen Strategien auf eine „marxistische“ Vorgehensweise zu gründen. Ein solcher Fall war der Russe Tugan–Baranowski, der 1901 ein Buch mit dem Titel Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen in England veröffentlichte. Der Arbeit von Struve und Bulgakow ein paar Jahre zuvor folgend, war Tugan–Baranowskis Studie Teil der „legalen marxistischen“ Antwort auf die russischen Volkstümler, die zu argumentieren versuchten, dass der Kapitalismus bei seiner Etablierung in Russland mit unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert werde; eine dieser Schwierigkeiten sei das Problem, ausreichende Märkte für seine Produkte zu finden. Wie Bulgakow versuchte Tugan, Marx‘ Schemata der erweiterten Reproduktion in Band 2 vom Kapital als Beweis dafür ins Feld zu führen, dass es kein grundsätzliches Problem bei der Realisierung von Mehrwert im kapitalistischen System gebe, dass es für ihn möglich sei, auf harmonische Weise wie in einem „geschlossenen System“ unendlich zu akkumulieren. Wie Rosa Luxemburg zusammenfasste:

„Die ‚legalen‘ russischen Marxisten haben über ihre Widersacher, die ‚Volkstümler‘, zweifellos gesiegt, sie haben aber zuviel gesiegt. Alle drei – Struve, Bulgakow, Tugan–Baranowski – haben im Eifer des Gefechts mehr bewiesen als zu beweisen war. Es handelte sich darum, ob der Kapitalismus im allgemeinen und insbesondere in Rußland entwicklungsfähig sei, und die genannten Marxisten haben diese Fähigkeit so gründlich dargetan, daß sie sogar die Möglichkeit der ewigen Dauer des Kapitalismus theoretisch nachgewiesen haben.“ [1]

Tugans These wurde umgehend von jenen beantwortet, die noch der marxistischen Krisentheorie anhingen, insbesondere vom Sprecher der „marxistischen Orthodoxie“, Karl Kautsky, der insbesondere darauf bestand, dass der Kapitalismus, da weder die Kapitalisten noch die ArbeiterInnen die Gesamtheit des vom System produzierten Mehrwerts konsumieren können, konstant dazu getrieben werde, neue Märkte außerhalb seiner selbst zu erobern:

„Die Kapitalisten und die von ihnen ausgebeuteten Arbeiter bieten einen mit der Zunahme des Reichtums der ersteren und der Zahl der letzteren zwar stets wachsenden, aber nicht so rasch wie die Akkumulation des Kapitals und die Produktivität der Arbeit wachsenden und für sich allein nicht ausreichenden Markt für die von der kapitalistischen Großindustrie geschaffenen Konsummittel. Diese muß einen zusätzlichen Markt außerhalb ihres Bereiches in den noch nicht kapitalistisch produzierenden Berufen und Nationen suchen. Den findet sie auch, und sie erweitert ihn ebenfalls immer mehr, aber ebenfalls nicht rasch genug. Denn dieser zusätzliche Markt besitzt bei weitem nicht die Elastizität und Ausdehnungsfähigkeit des kapitalistischen Produktionsprozesses. Sobald die kapitalistische Produktion zur entwickelten Großindustrie geworden ist, wie dies in England schon im neunzehnten Jahrhundert der Fall war, enthält sie die Möglichkeit derartiger sprunghafter Ausdehnung, daß sie jede Erweiterung des Marktes binnen kurzem überholte. So ist jede Periode der Prosperität, die einer erheblichen Erweiterung des Marktes folgte, von vornherein zur Kurzlebigkeit verurteilt, und die Krise wird ihr notwendiges Ende.

Dies ist in kurzen Zügen die, soweit wir sehen, von den ‚orthodoxen‘ Marxisten allgemein angenommene, von Marx begründete Krisentheorie.“ [2]

Mehr oder weniger gleichzeitig schaltete sich ein Mitglied des linken Flügels der amerikanischen Sozialistischen Partei, Louis Boudin, mit einer ähnlichen, wenn auch etwas ausgereifteren Analyse in The Theoretical System of Karl Marx in die Debatte ein. [3]

Während Kautsky, wie Luxemburg in Die Akkumulation des Kapitals – Antikritik (1915) hervorhob, das Problem der Krise mit dem Begriff der „Unterkonsumtion“ in Verbindung brachte  und in den etwas ungenauen Rahmen der relativen Geschwindigkeit von Akkumulation und Expansion des Marktes stellte[4], lokalisierte sie Boudin exakter im einmaligen Charakter der kapitalistischen Produktionsweise und in den Widersprüchen, die zum Phänomen der Überproduktion führten:

„Unter den alten Sklaven– und Feudalsystemen gab es nie ein solches Problem wie die Überproduktion, und zwar weil bei der Produktion für den heimischen Verbrauch die einzige Frage, die sich stellte, folgende war: Wie viele der produzierten Produkte sollen dem Sklaven bzw. dem Leibeigenen gegeben werden, und wieviel soll zum Sklavenhalter bzw. Feudalherrn übergehen? Wenn jedoch die entsprechenden Anteile der beiden Klassen danach ermittelt werden, fährt jeder fort, seinen Anteil zu konsumieren, ohne irgendwelche Probleme dabei zu erzeugen. Mit anderen Worten, die Frage war stets, wie die Produkte verteilt werden sollen, und es stellte sich aus dem Grund nie die Frage der Überproduktion, weil das Produkt nicht auf dem Markt verkauft werden sollte, sondern von den Personen verbraucht wurde, die unmittelbar in seine Produktion mit einbezogen waren, sei es als Sklave oder als Herr (…) Nicht so jedoch mit unserer modernen kapitalistischen Industrie. Es trifft zu, dass alle Produkte mit Ausnahme jener Portion, die zum Arbeitenden geht, wie einst an den Sklavenhalter nun an den Kapitalisten gehen. Das jedoch regelt die Angelegenheit keineswegs; der Grund hierfür ist, dass der Kapitalist nicht für sich selbst, sondern für den Markt produziert. Er hat kein Interesse an den Dingen, die der Arbeitende produziert, sondern will sie verkaufen; sie haben absolut keinen Wert für ihn, es sei denn, er ist in der Lage, sie zu verkaufen. Verkäufliche Güter in den Händen des Kapitalisten sind sein Vermögen, sein Kapital, doch wenn diese Güter unverkäuflich sind, sind sie wertlos, und sein ganzes Vermögen, das in seinen Lagerhäusern enthalten ist,  schmilzt in dem Augenblick dahin, wenn die Güter aufhören, marktfähig zu sein.

Wer kauft dann die Güter von unserem Kapitalisten, der neue Maschinen für ihre Herstellung eingesetzt und somit ihren Ausstoß weitgehend noch vergrößert hat? Natürlich gibt es andere Kapitalisten, die diese Dinge möglicherweise haben wollen, doch wenn die Produktion der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit berücksichtigt wird, was macht dann die kapitalistische Klasse mit dem gestiegenen Ausstoß, der nicht vom Arbeitenden aufgenommen werden kann? Die Kapitalisten selbst können ihn nicht nutzen, weder dadurch, dass jeder seine eigene Manufaktur hält, noch dadurch, dass sie sich ihn gegenseitig abkaufen. Und aus einem ganz einfachen Grund kann die kapitalistische Klasse nicht alle Mehrprodukte nutzen, die die Arbeitenden produzieren und die sie als ihre Profite aus der Produktion an sich reißen. Dies wird bereits durch die eigentliche Prämisse der kapitalistischen Produktion im Großmaßstab und der Akkumulation des Kapitals ausgeschlossen. Kapitalistische Produktion im Großmaßstab setzt die Existenz großer Beträge kristallisierter Arbeit in Form großer Eisenbahnen, von Dampfschiffen, Fabriken, Maschinen und anderer solcher angefertigter Produkte voraus, die nicht von den Kapitalisten konsumiert worden waren und die an sie als ihr Anteil oder Profit aus der Produktion früherer Jahre gefallen sind. Wie bereits festgestellt wurde, bestehen all die großen Vermögen unserer modernen kapitalistischen Könige, Prinzen, Barone und anderer Würdenträger der Industrie, mit oder ohne Titel, aus Werkzeugen und Maschinen in der einen oder anderen Form, das heißt, in einer nicht konsumierbaren Form. Es ist der Anteil der kapitalistischen Profite, den die Kapitalisten ‚angespart‘ und daher nicht konsumiert haben. Wenn die Kapitalisten all ihre Profite konsumieren würden, gäbe es keine Kapitalisten im modernen Sinn des Wortes, gäbe es keine Akkumulation des Kapitals. Damit das Kapital akkumulieren kann, darf der Kapitalist unter keinen Umständen seinen gesamten Profit konsumieren. Der Kapitalist, der dies tut, hört auf, ein Kapitalist zu sein und unterliegt in der Konkurrenz mit den anderen Kapitalisten. Mit anderen Worten, der moderne Kapitalismus setzt ein sparsames Verhalten der Kapitalisten voraus, das heißt, dass ein Teil der Profite des einzelnen Kapitalisten nicht konsumiert werden darf, sondern angespart werden muss, um das bereits existierende Kapital zu vergrößern (…) Er kann daher nicht seinen gesamten Anteil an den gefertigten Produkten konsumieren. Es liegt daher auf der Hand, dass weder der Arbeitende noch der Kapitalist die Gesamtheit des angewachsenen Fertigungsproduktes konsumieren kann. Doch wer dann kann es aufkaufen?“ [5]

Boudin unternimmt dann – in einer Passage, die Luxemburg ausführlich in einer Fußnote zu Die Akkumulation des Kapitals zitiert und die sie als eine „glänzende Kritik“ des Buches von Tugan–Baranowski darstellt [6] – den Versuch, darauf zu antworten, wie der Kapitalismus mit diesem Problem fertig wird:

„Das in den kapitalistischen Ländern produzierte Mehrprodukt hat – mit einigen später zu erwähnenden Ausnahmen – nicht darum die Räder der Produktion in ihrem Lauf gehemmt, weil die Produktion geschickter in die verschiedenen Sphären verteilt worden ist oder weil aus der Produktion von Baumwollwaren eine Produktion von Maschinen geworden ist, sondern deshalb, weil auf Grund der Tatsache, daß sich einige Länder früher kapitalistisch umentwickelt haben als andere und daß es auch jetzt noch einige kapitalistisch unentwickelt gebliebene gibt, die kapitalistischen Länder wirklich eine außerhalb liegende Welt haben, in welche sie die von ihnen nicht selbst zu verbrauchenden Produkte hineinwerfen konnten, gleichviel, ob diese Produkte nun in Baumwoll– oder in Eisenwaren bestanden. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß die Wandlung von den Baumwoll– zu den Eisenwaren als führendem Produkt der hauptsächlichen kapitalistischen Länder etwa bedeutungslos wäre. Im Gegenteil, sie ist von der größten Wichtigkeit. Aber ihre Bedeutung ist eine ganz andere, als Tugan–Baranowski ihr beilegt. Solange die kapitalistischen Länder Waren zur Konsumtion ausführten, solange war noch Hoffnung für den Kaptalismus in jenen Ländern. Da war noch nicht die Rede davon, wie groß die Aufnahmefähigkeit der nichtkapitalistischen Außenwelt für die kapitalistisch produzierten Waren wäre und wie lange sie noch dauern würde. Das Anwachsen der Maschinenfabrikation im Export der kapitaistischen Hauptländer auf Kosten der Konsumtionsgüter zeigt, daß Gebiete, welche früher abseits vom Kapitalismus standen und deshalb als Abladestelle für sein Mehrprodukt dienten, nunmehr in das Getriebe des Kapitalismus hineingezogen worden sind, zeigt, daß, da ihr eigener Kapitalismus sich entwickelt, sie ihre eigenen Konsumtionsgüter selbst produzieren. Jetzt, wo sie erst im Anfangsstadium ihrer kapitalistischen Entwicklung sind, brauchen sie noch die kapitalistisch produzierten Maschinen. Aber bald genug werden sie sie nicht mehr brauchen. Sie werden ihre eigenen Eisenwaren produzieren, genauso wie sie jetzt ihre eigenen Baumwoll– und andere Konsumtionswaren erzeugen. Dann werden sie nicht nur aufhören, eine Abnahmestelle für das Mehrprodukt der eigentlichen kapitalistischen Länder zu sein, vielmehr werden sie selbst ein Mehrprodukt erzeugen, das sie nur schwer werden unterbringen können.“[7]

Boudin geht anschließend weiter als Kautsky, indem er darauf beharrt, dass die näher rückende Vervollständigung der Eroberung der Erde durch den Kapitalismus auch den „Anfang vom Ende des Kapitalismus“ bedeutet.

Luxemburgs Untersuchung des Akkumulationsproblems

Zur gleichen Zeit, als diese Antworten verfasst wurden, lehrte Luxemburg an der Parteischule in Berlin. Die Skizzierung der historischen Evolution des Kapitalismus als Weltsystem veranlasste sie, sich noch eingehender mit den Schriften von Marx zu befassen, und dies sowohl wegen ihrer Integrität als Lehrerin und als Militante (sie hatte einen Horror davor, alte Wahrheiten einfach nur in neuen Verpackungen zu präsentieren, und betrachtete es als die Aufgabe eines jeden Marxisten, die marxistische Theorie weiterzuentwickeln und zu bereichern) als auch wegen der immer dringenderen Notwendigkeit, die Perspektiven zu erkennen, die dem Weltkapitalismus bevorstehen. Bei ihren neuen Nachforschungen fand sie vieles bei Marx, das ihre Ansicht unterstützte, wonach das Problem der Überproduktion im Verhältnis zum Markt der Schlüssel zum Verständnis des Übergangscharakters der kapitalistischen Produktionsweise war (siehe „Die tödlichen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft“ in Internationale Revue Nr. 46). Dennoch schien es ihr, dass Marxens Schema der erweiterten Reproduktion in Band 2, mag auch Marx die Absicht gehabt haben, es als ein rein abstraktes, theoretisches Modell zu benutzen, um sich dem Problem anzunähern, beinhalteten, dass der Kapitalismus, den Marx aus argumentativen Gründen auf eine Gesellschaft reduzierte, die allein aus Kapitalisten und Arbeitern zusammengesetzt war, auf eine im Kern harmonische Angelegenheit, auf ein geschlossenes System hinauslaufen könnte, in dem ausreichend vom Mehrwert zur Verfügung gestellt wird, der durch die gegenseitige Interaktion der beiden Hauptabteilungen der Produktion (den Produktionsgüter– und Konsumgütersektor) produziert wird. Ihr schien dies im Widerspruch zu anderen Passagen bei Marx (zum Beispiel in Band 3) zu stehen, die auf die Notwendigkeit einer beständigen Ausweitung des Markts beharrten und die gleichzeitig eine immanente Grenze dieser Ausweitung postulierten. Wenn der Kapitalismus als ein sich selbst regulierendes System operieren könnte, mag es temporäre Ungleichgewichte zwischen den Produktionszweigen geben, aber keine unerbittliche Tendenz, unverdauliche Massen von Waren zu produzieren, also keine unlösbare Überproduktionskrise. Wenn der Kapitalist schlicht danach strebt, für sich selbst zu akkumulieren, und eine ständig wachsende Nachfrage generiert, um den gesamten Mehrwert zu realisieren, wie können dann Marxisten gegen die Revisionisten argumentieren, dass der Kapitalismus tatsächlich dazu verdammt ist, in eine Phase katastrophaler Krisen einzutreten, die die objektiven Fundamente einer sozialistischen Revolution schaffen?

Luxemburgs Antwort war, dass es notwendig sei, von abstrakten Schemata abzurücken und  den Aufstieg des Kapitalismus in seinen historischen Kontext zu setzen. Die gesamte Geschichte der kapitalistischen Akkumulation  könne nur als ein konstanter Prozess der Interaktion mit den nichtkapitalistischen Ökonomien, von denen er umgeben sei, begriffen werden. Die primitivsten Gemeinschaften, die vom Jagen und Sammeln lebten und noch keinen marktfähigen gesellschaftlichen Mehrwert generiert hatten, waren für den Kapitalismus nutzlos und mussten durch eine Politik der direkten Zerstörung und des Genozids (auch die menschlichen Ressourcen in diesen Gemeinschaften waren eher ungeeignet für die Sklavenarbeit) beiseite gefegt werden. Doch die Ökonomien, die einen marktfähigen Mehrwert entwickelt hatten und wo insbesondere die Warenproduktion bereits im Innern entwickelt war (große Zivilisationen wie Indien und China), boten nicht nur Rohstoffe, sondern auch enorme Märkte für die Produktion der kapitalistischen Metropolen, was den Kapitalismus in den zentralen Ländern in die Lage versetzte, das Überangebot an Waren abzusetzen. Dieser Prozess ist bereits eloquent im Kommunistischen Manifest beschrieben worden. Doch gleichzeitig bestand das Manifest darauf, dass, auch wenn die etablierten kapitalistischen Mächte versuchten, die kapitalistische Entwicklung ihrer Kolonien einzuschränken, diese Weltregionen unvermeidlich Teil der bürgerlichen Welt wurden, deren vor–kapitalistischen Ökonomien ruiniert und nach den Erfordernissen der Lohnarbeit umgebaut wurden – womit das Problem der zusätzlichen Nachfrage, die für die Akkumulation erforderlich ist, auf eine andere Ebene verlagert wurde. Umso mehr der Kapitalismus, wie Marx es selbst formuliert hatte, also dazu neigte, zu einem universellen System zu werden, desto mehr war er dazu verdammt, zusammenzubrechen: „Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben.“[8]

Diese Vorgehensweise versetzte Luxemburg in die Lage, das Problem des Imperialismus zu begreifen. Das Kapital hatte erst begonnen, sich in die Frage des Imperialismus und seiner ökonomischen Fundamente zu vertiefen, der zu dem Zeitpunkt, als das Buch geschrieben worden war, noch nicht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Marxisten gerückt war. Nun waren sie mit dem Imperialismus als eine Antriebskraft nicht nur für die Eroberung der nicht–kapitalistischen Welt, sondern auch bei der Verschärfung interimperialistischer Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Großmächten um die Vorherrschaft über den Weltmarkt konfrontiert. War der Imperialismus eine Option, war er für das Weltkapital von Nutzen, wie viele seiner liberalen und reformistischen Kritiker verfochten, oder war er eine immanente Notwendigkeit der kapitalistischen Akkumulation auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung? Auch hier waren die Implikationen weitreichend, denn wenn der Imperialismus nicht mehr als eine zusätzliche Option für das Kapital war, dann war es plausibel, zugunsten einer mäßigenden und pazifistischen Politik zu argumentieren. Luxemburg jedoch zog die Schlussfolgerung, dass der Imperialismus eine Notwendigkeit für das Kapital war – ein Mittel zur Verlängerung seiner Herrschaft, das ihn gleichermaßen unwiderruflich in den Ruin treibt.

„Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus. Geographisch umfaßt dieses Milieu heute noch die weitesten Gebiete der Erde. Gemessen jedoch an der gewaltigen Masse des bereits akkumulierten Kapitals der alten kapitalistischen Länder, das um die Absatzmöglichkeiten für sein Mehrprodukt wie um Kapitalisierungsmöglichkeiten für seinen Mehrwert ringt, gemessen ferner an der Rapidität, mit der heute Gebiete vorkapitalistischer Kulturen in kapitalistische verwandelt werden, mit anderen Worten: gemessen an dem bereits erreichten hohen Grad der Entfaltung der Produktivkräfte des Kapitals erscheint das seiner Expansion noch verbleibende Feld als ein geringer Rest. Demgemäß gestaltet sich das internationale Vorgehen des Kapitals auf der Weltbühne. Bei der hohen Entwicklung und der immer heftigeren Konkurrenz der kapitalistischen Länder um die Erwerbung nichtkapitalistischer Gebiete nimmt der Imperialismus an Energie und Gewalttätigkeit zu, sowohl in seinem aggressiven Vorgehen gegen die nichtkapitalistische Welt wie in der Verschärfung der Gegensätze zwischen den konkurrierenden kapitalistischen Ländern. Je gewalttätiger, energischer und gründlicher der Imperialismus aber den Untergang nichtkapitalistischer Kulturen besorgt, um so rascher entzieht er der Kapitalakkumulation den Boden unter den Füßen. Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverlängerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf kürzestem Wege objektiv ein Ende zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daß dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muß. Schon die Existenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung äußert sich in Formen, die die Schlußphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten.“

Die entscheidende Schlussfolgerung in Die Akkumulation des Kapitals war daher, dass der Kapitalismus in eine „Periode der Katastrophen“ eintreten werde. Es ist wichtig festzuhalten, dass Luxemburg nicht, wie oftmals fälschlicherweise behauptet wurde, behauptete, dass der Kapitalismus im Begriff sei, in einer Sackgasse zu landen. Sie machte sehr deutlich, dass das nichtkapitalistische Milieu „geographisch… die weitesten Gebiete der Erde“ umfasst und dass die nichtkapitalistischen Ökonomien nicht nur in den Kolonien immer noch existierten, sondern auch in großen Teilen Europas.[9] Sicherlich war der Umfang dieser wirtschaftlichen Zonen in Wertbegriffen verschwindend, verglichen mit der wachsenden  Kapazität des Kapitals, neue Werte zu generieren. Doch die Welt war noch weit entfernt davon, ein System des reinen Kapitalismus zu werden, wie es Marxens Reproduktionsschemata vorsahen:

„Das Marxsche Schema der Akkumulation ist – richtig verstanden – gerade in seiner Unlösbarkeit die exakt gestellte Prognose des ökonomisch unvermeidlichen Untergangs des Kapitalismus im Ergebnis des imperialistischen Expansionsprozesses, dessen spezielle Aufgabe ist, die Marxsche Voraussetzung: die allgemeine  ungeteilte Herrschaft des Kapitals, zu verwirklichen.

Kann dieser Moment je wirklich eintreffen? Allerdings ist das nur eine theoretische Fiktion, gerade weil die Akkumulation des Kapitals nicht bloß ökonomischer, sondern politischer Prozess ist.“[10]

Für Luxemburg war eine Welt aus lauter Kapitalisten und Arbeitern eine theoretische Fiktion, doch je mehr dieser Punkt erreicht wurde, desto schwieriger und desaströser wurde der Akkumulationsprozess, was Katastrophen auslöste, die nicht nur „rein“ ökonomisch waren, sondern auch militärisch und politisch. Der Weltkrieg, der ausbrach, kurz nachdem Die Akkumulation des Kapitals veröffentlicht worden war, war eine überwältigende Bestätigung dieser Prognose. Für Luxemburg gab es keinen rein wirtschaftlichen Kollaps des Kapitalismus und noch weniger eine automatische, garantierte Verbindung zwischen dem kapitalistischen Zusammenbruch und der sozialistischen Revolution. Was sie in ihrem theoretischen Werk ankündigte, war exakt das, was sich in der katastrophalen Geschichte des darauf folgenden Jahrhunderts bestätigen sollte: die wachsende Manifestation des Niedergangs des Kapitalismus als eine Produktionsweise, die die Menschheit vor die Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei stellt und insbesondere die Arbeiterklasse dazu aufruft, die Organisation und das Bewusstsein zu entwickeln, die für die Überwindung des Systems und seine Ersetzung durch eine höhere Gesellschaftsordnung nötig sind.

Ein Sturm der Kritik

Luxemburg nahm an, dass ihre Thesen nicht besonders kontrovers sind, eben weil sie sie auf die Schriften von Marx und seiner späteren Nachfolger seiner Methode stützte. Und dennoch wurden sie mit einem Sturm der Kritik begrüßt – nicht nur von den Revisionisten und Reformisten, sondern auch von Revolutionären wie Pannekoek und Lenin, die sich in dieser Debatte auf der Seite nicht nur der legalen Marxisten in Russland, sondern auch der Austro–Marxisten wiederfanden, die Teil des semi–reformistischen Lagers innerhalb der Sozialdemokratie waren.

„Ich habe Rosas neues Buch Die Akkumulation des Kapitals gelesen. Sie ist da in ein erschreckendes Durcheinander geraten. Sie hat Marx entstellt. Ich bin sehr froh darüber, dass Pannekoek und Eckstein und O. Bauer alle übereinstimmend sie verurteilen und gegen sie äußerten, was ich 1899 gegen die Narodnikis sagte.“[11]

Es bestand Einigkeit darin, dass Luxemburg schlicht und einfach Marx falsch gelesen habe und ein Problem erfunden habe, wo keines existiere: Das Schema der erweiterten Reproduktion zeige, dass der Kapitalismus in der Tat ohne immanente Grenzen in einer Welt, die nur aus ArbeiterInnen und Kapitalisten besteht, akkumulieren könne. Die Gleichungen, die Marx am Schluss aufgestellt hatte, müssen also richtig sein. Bauer war ein bisschen nuancierter: Er erkannte an, dass die Akkumulation nur fortgesetzt werden kann, wenn sie von einer wachsenden effektiven Nachfrage gespeist wird, doch wartete er mit einer simplen Antwort auf: Die Bevölkerung wachse, und daher gibt es mehr ArbeiterInnen, eine Lösung, die das Problem auf den Nullpunkt zurücksetzt, da diese neuen ArbeiterInnen immer noch nur das variable Kapital konsumieren können, das ihnen von den Kapitalisten transferiert wird. Die entscheidende Ansicht – nahezu von allen damaligen Kritikern an Luxemburg vertreten – war, dass die Reproduktionsschemata in der Tat zeigten, dass es kein unlösbares Realisierungsproblem für den Kapitalismus gibt.

Luxemburg war sich sehr wohl bewusst, dass die Argumente, die von Kautsky (oder Boudin, obgleich er eine weitaus weniger bekannte Gestalt in der Bewegung war) zur Verteidigung derselben Thesen vorgestellt wurden, nicht eine solche Empörung ausgelöst hatten:

„Soweit steht fest: Kautsky widerlegte 1902 bei Tugan–Baranowski genau dieselben Behauptungen, die jetzt von den ‚Sachverständigen‘ meiner Akkumulationserklärung entgegengehalten werden, und die ‚Sachverständigen‘ der marxistischen Orthodoxie bekämpfen bei mir als horrende Abirrung vom wahren Glauben genau dieselbe, nur exakt durchgeführte und auf das Problem der Akkumulation angewandte Auffassung, die Kautsky vor nun 14 Jahren dem Revisionisten Tugan–Baranowski als die ‚allgemein angenommene‘ Krisentheorie der orthodoxen Marxisten entgegenhielt.“ [12]

Warum diese Aufregung? Sie ist leicht zu verstehen, sofern sie von den Reformisten und Revisionisten kam, weil sie vor allem darum besorgt waren, jegliche Möglichkeit eines Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems zu verneinen. Die Aufregung unter den Revolutionären ist schwerer zu begreifen. Wir können natürlich auf die Tatsache hinweisen – und dies ist sehr bedeutsam hinsichtlich der hysterischen Antwort –, dass Kautsky nicht danach strebte, sein Argument in Beziehung zum Reproduktionsschema zu setzen[13] und somit nicht als „Kritiker“ gegen Marx in Erscheinung trat. Möglicherweise liegt dieser konservative Geist vielen Kritikern Luxemburgs zugrunde: eine Sichtweise, wonach das Kapital eine Art Bibel ist, die alle Antworten für unser Verständnis des Aufstiegs und Falls der kapitalistischen Produktionsweise hat – in der Tat ein geschlossenes System! Im Gegensatz dazu argumentierte Luxemburg entschieden dafür, dass Marxisten das Kapital als das anerkennen, was es war – das Werk eines Genies, aber immer noch ein unvollendetes Werk, besonders in seinem zweiten und dritten Band; und ein Werk, das keinesfalls alle folgenden Entwicklungen in der Evolution des kapitalistischen Systems umfassen konnte.

Jedoch gab es unter all den empörten Antworten zumindest eine sehr klare Verteidigung der Theorie Luxemburgs in jener Zeit des Krieges und Umbruchs: „Rosa Luxemburg als Marxist“ vom Ungarn Georg Lukács, der damals Repräsentant des linken Flügels der kommunistischen Bewegung war.

Lukács‘ Essay, das in der Sammlung Geschichte und Klassenbewusstsein (1922) veröffentlicht wurde, beginnt mit der Skizzierung der grundsätzlichen methodischen Überlegung in der Debatte über Luxemburgs Theorie. Er argumentiert, dass der fundamentale Unterschied zwischen dem proletarischen und bürgerlichen Ausblick auf die Welt darin besteht, dass, während die Bourgeoisie durch ihre gesellschaftliche Stellung dazu verdammt ist, die Gesellschaft vom Standpunkt einer atomisierten, konkurrierenden Einheit zu betrachten, das Proletariat allein eine Vision der Realität in ihrer Gesamtheit entwickeln kann:

„Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet entscheidend den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität. Die Kategorie der Totalität, die allseitige, bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen und originell zur Grundlage einer ganz neuen Wissenschaft umgestaltet hat. Die kapitalistische Trennung des Produzenten vom Gesamtprozess der Produktion, die Zerstückelung des Arbeitsprozesses in Teile, die die menschliche Eigenart des Arbeiters unberücksichtigt lassen, die Atomisierung der Gesellschaft in planlos und zusammenhanglos drauflosproduzierende Individuen usw. musste auch das Denken, die Wissenschaft und Philosophie des Kapitalismus tiefgehend beeinflussen. Und das gründlich Revolutionäre der proletarischen Wissenschaft besteht nicht bloß darin, dass sie der bürgerlichen Gesellschaft revolutionäre Inhalte gegenüberstellt, sondern in allererster Reihe in dem revolutionären Wesen der Methode selbst. Die Herrschaft der Kategorie der Totalität ist der Träger des revolutionären Prinzips der Wissenschaft.“

Er geht dann dazu über, aufzuzeigen, dass ihr Mangel an solch einer proletarischen Methode Luxemburgs Kritiker daran hinderte, das Problem zu begreifen, das sie in Die Akkumulation des Kapitals formuliert hatte:

„Denn die Debatte, von Bauer, Eckstein usw. geführt, drehte sich nicht um die Frage, ob die Lösung des Problems der Akkumulation des Kapitals, die Rosa Luxemburg vorschlug richtig oder falsch war. Man stritt im Gegenteil darum, ob hier überhaupt ein Problem vorlag und bestritt mit der äußersten Heftigkeit das Vorhandensein eines wirklichen Problems. Vom methodischen Standpunkt der Vulgärökonomie ist dies durchaus verständlich, ja notwendig. Denn, wenn die Frage der Akkumulation einerseits als ein Einzelproblem der Nationalökonomie behandelt, andererseits vom Standpunkt des Einzelkapitalisten betrachtet wird, so liegt hier in der Tat überhaupt kein Problem vor.

Diese Ablehnung des ganzen Problems hängt eng damit zusammen, dass die Kritiker Rosa Luxemburgs an dem entscheidenden Abschnitt des Buchs („Die geschichtlichen Bedingungen der Akkumulation“ achtlos vorbeigegangen sind und die Frage konsequent in der Form gestellt haben: ob die Formeln von Marx, die auf Grundlage der methodologisch isolierenden Annahme einer nur aus Kapitalisten und Proletariern bestehende Gesellschaft beruhen, richtig sind und wie man sie am besten auslegen kann. Dass diese Annahme bei Marx selbst nur eine methodologische war, um das Problem klarer zu fassen, von der aber zur umfassenden Fragestellung, zur Einstellung der Frage in die Totalität der Gesellschaft fortgeschritten werden muss, haben die Kritiker ganz übersehen. Sie haben übersehen, dass Marx in bezug auf die sogenannte ursprüngliche Akkumulation im ersten Band des Kapital gerade in bezug auf diese Frage ein Fragment ist, das gerade dort abbricht, wo dieses Problem aufgerollt werden muss; dass dementsprechend Rosa Luxemburg nichts anderes getan hat, als das Fragment von Marx in seinem Sinne zu Ende zu denken und seinem Geiste gemäß zu ergänzen.

Sie haben dennoch folgerichtig gehandelt. Denn vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten, vom Standpunkt der Vulgärökonomie muss dieses Problem tatsächlich nicht gestellt werden. Vom Standpunkt des einzelnen Kapitalisten erscheint die wirtschaftliche Wirklichkeit als eine von ewigen Naturgesetzen beherrschte Welt, deren Gesetzen er sein Tun und lassen anzupassen hat. Die Realisierung des Mehrwertes, die Akkumulation vollzieht sich für ihn (allerdings selbst hier nur sehr oft, durchaus nicht immer) in der Form eines Tausches mit anderen Einzelkapitalisten. Und das ganze Problem der Akkumulation ist auch nur das einer Form der mannigfachen Wandlungen, die die Formeln G–W–G und W–G–W im Laufe der Produktion, Zirkulation usw. aufnehmen. So wird die Frage der Akkumulation für die Vulgärökonomie eine einzelwissenschaftliche Detailfrage, die mit dem Schicksal des Gesamtkapitalismus so gut wie überhaupt nicht verbunden ist, deren Lösung die Richtigkeit der Marxschen „Formeln“ hinreichend garantiert, die höchstens – wie bei Otto Bauer – „zeitgemäß“ verbessert werden müssen. Dass mit diesen Formeln die ökonomische Wirklichkeit prinzipiell niemals erfasst werden kann, da die Voraussetzung der Formeln eine Abstraktion von dieser Gesamtwirklichkeit ist (Betrachtung der Gesellschaft, als ob sie nur auf Kapitalisten und Proletariern bestünde), dass also die Formeln nur zur Klarlegung des Problems, als Sprungbrett zur Einstellung des richtigen Problems dienen können, haben Bauer und seine Genossen ebenso wenig begriffen, wie seinerzeit die Ricardo–Schüler die marxistischen Fragestellungen.“

Eine Passage in den Grundrissen, zu denen Lukács seinerzeit noch keinen Zugang hatte, bestätigt diese Vorgehensweise: Der Gedanke, dass die Arbeiterklasse ein ausreichender Markt für die Kapitalisten ist, ist eine Illusion, die typisch ist für die limitierte Vorstellungskraft der Bourgeoisie:

„Eigentlich geht uns hier das Verhältnis des einen Kapitalisten zu den Arbeitern des andren Kapitalisten noch gar nichts an. Es zeigt sich nur die Illusion jedes Kapitalisten, ändert aber nichts am Verhältnis von Kapital überhaupt zu Arbeit. Jeder Kapitalist weiß von seinem Arbeiter, dass er ihm gegenüber nicht als Produzent dem Konsumenten [gegenüber] steht und wünscht seinen Konsum, i.e. seine Tauschfähigkeit, sein Salär möglichst zu beschränken. Er wünscht sich natürlich die Arbeiter der andren Kapitalisten als möglichst große Konsumenten seiner Ware. Aber das Verhältnis jedes Kapitalisten zu seinen Arbeitern ist das Verhältnis überhaupt von Kapital und Arbeit, das wesentliche Verhältnis. Die Illusion aber – wahr für den einzelnen Kapitalisten im Unterschied von allen andren –, dass außer seinen Arbeitern die ganze übrige Arbeiterklasse ihm gegenübersteht als Konsument und Austauscher, nicht als Arbeiter – Geldspender, entsteht eben dadurch. Es wird vergessen, dass, wie Mathus sagt, ‚the very existence of a profit upon any commodity pre–supposes a demand exterior to that of the labourer who has produced it’, und daher die demand of the labourer himself can never be an adequate demand. Da eine Produktion die andre in Bewegung setzt und sich daher Konsumenten in den Arbeitern des fremden Kapitals schafft, so erscheint für jedes einzelne Kapital die Nachfrage der Arbeiterklasse die durch die Produktion selbst gesetzt ist, als ‚adequate demand’. Diese durch die Produktion selbst gesetzte Nachfrage treibt sie voran über die Proportion, worin sie in bezug auf die Arbeiter produzieren müsste, einerseits; muss sie darüber hinaustreiben; andrerseits verschwindet oder schrumpft zusammen die Nachfrage exterior to the demand of the labourer himself, so tritt der collapse ein.“ [14]

Indem sie Marx‘ Buchstaben hinterfragte, erwies Luxemburg mehr als jeder andere ihr Vertrauen zu dem Geist seiner Worte; und es gibt noch mehr Worte von Marx, die zitiert werden könnten, um die zentrale Bedeutung des von ihr gestellten Problems zu stützen.

In den nächsten Artikel dieser Serie werden wir schauen, wie die revolutionäre Bewegung versuchte, den Prozess des Niedergangs des Kapitalismus, der sich vor ihren Augen in den turbulenten Jahrzehnten zwischen 1914 und 1945 abspielte, zu verstehen.

Gerrard


[1] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 24

[2] Neue Zeit, 1902, Nr. 5 (31), S. 140.

[3] Zuerst in Buchform veröffentlicht von Charles Kerr (Chicago) 1915, basierte diese Studie auf einer Reihe von Artikeln in der Internationalist Socialist Review zwischen Mai 1905 und Oktober 1906.

[4] „Wir sehen hier davon ab, daß Kautsky dieser Theorie den schiefen und zweideutigen Namen einer Erklärung der Krisen ‚aus Unterkonsumtion‘ anhängt, welche Erklärung Marx gerade im zweiten Bande des ‚Kapitals‘, S. 289, verspottet. Wir sehen ferner davon ab, daß Kautsky in der ganzen Sache nichts als das Krisenproblem erblickt, ohne, wie es scheint, zu bemerken, daß die kapitalistische Akkumulation auch abgesehen von Konjunkturschwankungen ein Problem darstellt.“ (Antikritik, Teil I). Interessant, dass so viele Kritiker Luxemburgs – nicht zuletzt die „marxistischen“ – sie beschuldigen, ein Unterkonsumtionist zu sein, wo sie so doch ausdrücklich diese Idee ablehnt! Es ist natürlich vollkommen richtig, dass Marx bei etlichen Gelegenheiten argumentierte: „Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen“ (Kapital, Bd. III, Kap. 30, S. 501, MEW), doch Marx war vorsichtig genug, um zu erklären, dass er sich nicht auf die „absolute Konsumtionskraft“ bezieht, sondern auf „die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder enger Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter.“ (ebenda, Kap. 15, S. 254, MEW). Mit anderen Worten: Krisen sind nicht das Resultat eines Widerstrebens der Gesellschaft, so viel wie physisch möglich zu konsumieren, noch sind sie – mehr der Punkt, angesichts der zahllosen Mystifikationen darüber, jener, die aus dem linken Flügel des Kapitals entstammen – durch „zu niedrige“ Löhne verursacht worden. Wenn dies der Fall wäre, dann könnten Krisen einfach durch die Anhebung der Löhne eliminiert werden, und dies ist genau das, was Marx im Kapital, Band II verspottet. Das Problem liegt vielmehr in der Existenz „antagonistischer Distributionsverhältnisse“, das heißt in den Lohnarbeitsverhältnissen selbst, die immer zu einem Mehr an Wert über das hinaus, was der Kapitalist seinen ArbeiterInnen zahlt, führen müssen.

[5] Boudin, S. 167–169, Übersetzung der Redaktion aus dem Englischen

[6] Die Akkumulation des Kapitals, Kap. 23, Fußnote. Luxemburgs Hauptkritik an Boudin war seine anscheinend vorausgreifende Idee, dass Rüstungsausgaben eine Form der Verschwendung oder „waghalsige Ausgaben“ sind, was allem Anschein gegen ihre Bemerkung vom „Militarismus als Gebiet der Kapitalakkumulation“ gerichtet ist, die in dem Kapitel mit demselben Titel in Die Akkumulation des Kapitals Erwähnung findet. Doch der Militarismus als ein Gebiet für die Akkumulation konnte nur in einer Epoche stattfinden, in der es eine reale Möglichkeit gab, durch den Krieg – oder: die kolonialen Eroberungen, um genau zu sein – substanzielle neue Märkte für die kapitalistische Expansion zu eröffnen. Mit dem Schrumpfen solcher Ventile konnte der Militarismus in der Tat zu einer reinen Verschwendung für den globalen Kapitalismus werden, auch wenn die Kriegswirtschaft eine „Lösung“ der Überproduktionskrise zu bieten scheint, mit der man die Wirtschaftsmaschinerie wieder in Bewegung setzen kann (am sichtbarsten in Hitlers Deutschland und während des Zweiten Weltkriegs). In der Realität drückt der Militarismus eine immense Zerstörung von Werten aus.

[7] Die Neue Zeit, 25. Jahrgang, 1. Band, Mathematische Formeln gegen Karl Marx, hier zitiert nach Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Fußnote im 23. Kapitel

[8] Grundrisse, Heft IV, Zirkulationsprozess, S. 313 f. der Ausgabe im Dietz Verlag

[9] „In Wirklichkeit gibt es in allen kapitalistischen Ländern, auch in denen der höchstentwickelten Großindustrie, neben kapitalistischen Unternehmungen im Gewerbe und in der Landwirtschaft noch zahlreiche handwerksmäßige und bäuerliche Betriebe, die einfache Warenproduktion betreiben. In Wirklichkeit gibt es neben alten kapitalistischen Ländern noch in Europa selbst Länder, in denen bäuerliche und handwerkmäßige Produktion bis jetzt sogar stark überwiegen, wie Rußland, der Balkan, Skandinavien, Spanien. Und endlich gibt es neben dem kapitalistischen Europa und Nordamerika gewaltige Kontinente, auf denen die kapitalistische Produktion erst auf wenigen zerstreuten Punkten Wurzeln geschlagen hat, während im übrigen die Völker jener Kontinente alle möglichen Wirtschaftsformen von der primitiv kommunistischen bis zur feudalen, bäuerlichen und handwerksmäßigen aufweisen.“ (Antikritik, Kap. 1). Siehe den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 46: ‚Chronische Überproduktion: eine unvermeidliche Fessel der kapitalistischen Produktion‘ als einen Beitrag zum Verständnis der Rolle, die von den außerkapitalistischen Märkten in der Periode der kapitalistischen Dekadenz gespielt werden (IKS–online).

[10] Antikritik, Kap. 5.

[11] Übersetzung der Redaktion aus dem Englischen, von Roman Rosdolskys The Making of  Marx’s Capital (Pluto Press, 1977). Darin unternimmt Roman Rosdolsky eine exzellente Kritik an Lenins Irrtum, der sich auf die Seite der russischen Legalisten und der Austro–Marxisten gegen Luxemburg stellte (s. S. 472f.). Obwohl er auch seine Kritik an Luxemburg hat, erkannte er den wahren Wert ihres Werkes und bestand darauf, dass der Marxismus notwendigerweise eine „Zusammenbruchs“–Theorie ist, und wies insbesondere auf die Tendenz zur Überproduktion, wie sie von Marx identifiziert worden war, als Schlüssel zum Verständnis hin. In der Tat sind einige seiner Kritiken an Luxemburg nur schwer zu entschlüsseln. Er besteht darauf, dass der Hauptirrtum darin lag, nicht zu verstehen, dass das Reproduktionsschema lediglich ein „heuristischer Ratschlag“ sei, wo doch schon Luxemburgs ganzes Argument gegen ihre Kritiker darin bestand, dass das Schema nur als heuristischen Ratschlag verstanden werden kann und nicht als ein wahres Abbild der historischen Evolution des Kapitals, nicht als mathematischen Beweis für die Möglichkeit einer unbegrenzten Akkumulation (siehe S. 490 in Rosdolskys Buch).

[12] Antikritik, Teil I.

[13] In der Tat stellte sich Kautsky später auf die Seite der Austro–Marxisten: „In seinem Hauptwerk kritisiert er heftig Rosa Luxemburgs ‚Hypothese‘, dass der Kapitalismus aus wirtschaftlichen Gründen zusammenbrechen muss; er behauptet, dass Luxemburg in Widerspruch zu Marx stehe, der das Gegenteil im zweiten Band des Kapital bewiesen habe, d.h. in den Schemata der Reproduktion“ (Rosdolsky, ob.zit., mit Zitat von: Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. II, S. 546–47)

[14] Grundrisse, Heft IV, Zirkulationsprozess, S. 322 f. der Ausgabe im Dietz Verlag. Marx erklärt auch an anderer Stelle, dass die Idee, die Kapitalisten könnten selbst den Markt für die erweiterte Reproduktion bilden, auf dem mangelnden Verständnis des Charakters des Kapitalismus beruht: „Da nicht Befriedigung der Bedürfnisse, sondern Produktion von Profit Zweck des Kapitals, und da es diesen Zweck nur durch Methoden erreicht, die die Produktionsmasse nach der Stufenleiter der Produktion einrichten, nicht umgekehrt, so muß beständig ein Zwiespalt eintreten zwischen den beschränkten Dimensionen der Konsumtion auf kapitalistischer Basis und einer Produktion, die beständig über diese ihre immanente Schranke hinausstrebt. Übrigens besteht das Kapital ja aus Waren, und daher schließt die Überproduktion von Kapital die von Waren ein. Daher das sonderbare Phänomen, daß dieselben Ökonomen, die die Überproduktion von Waren leugnen, die von Kapital zugeben. Wird gesagt, daß nicht allgemeine Überproduktion, sondern Disproportion innerhalb der verschiednen Produktionszweige stattfinde, so heißt dies weiter nichts, als daß innerhalb der kapitalistischen Produktion die Proportionalität der einzelnen Produktionszweige sich als beständiger Prozeß aus der Disproportionalität darstellt, indem hier der Zusammenhang der gesamten Produktion als blindes Gesetz den Produktionsagenten sich aufzwingt, nichts als von ihrem assoziierten Verstand begriffnes und damit beherrschtes Gesetz den Produktionsprozeß ihrer gemeinsamen Kontrolle unterworfen hat. Es wird weiter damit verlangt, daß Länder, wo die kapitalistische Produktionsweise nicht entwickelt, in einem Grad konsumieren und produzieren sollen, wie er den Ländern der kapitalistischen Produktionsweise paßt. Wird gesagt, saß die Überproduktion nur relativ, so ist dies ganz richtig; aber die ganze kapitalistische Produktionsweise ist eben nur eine relative Produktionsweise, deren Schranken nicht absolut, aber für sie, auf ihrer Basis, absolut sind. Wie könnte es sonst an Nachfragen für dieselben Waren fehlen, deren die Masse des Volks ermangelt, und wie wäre es möglich, diese Nachfrage im Ausland suchen zu müssen, auf fernern Märkten, um den Arbeitern zu Hause das Durchschnittsmaß der notwendigen Lebensmittel zahlen zu können? Weil nur in diesem spezifischen, kapitalistischen Zusammenhang das überschüssige Produkt eine Form erhält, worin sein Inhaber es nur dann der Konsumtion zur Verfügung stellen kann, sobald es sich für ihn in Kapital rückverwandelt. Wird endlich gesagt, daß die Kapitalisten ja selbst nur unter sich ihre Waren auszutauschen und aufzuessen haben, wo wird der ganze Charakter der kapitalistischen Produktion vergessen und vergessen, daß es sich um die Verwertung des Kapitals handelt, nicht um seinen Verzehr. Kurz, alle die Einwände gegen die handgreiflichen Erscheinungen der Überproduktion (Erscheinungen, die sich nicht um diese Einwände kümmern) laufen darauf hinaus, daß die Schranken der kapitalistischen Produktionsweise keine Schranken der Produktion überhaupt sind, und daher auch keine Schranken dieser spezifischen, der kapitalistischen Produktionsweise. Der Widerspruch dieser kapitalistischen Produktionsweise besteht aber gerade in ihrer Tendenz zur absoluten Entwicklung der Produktivkräfte, die beständig in Konflikt gerät mit den spezifischen Produktionsbedingungen, worin sich das Kapital bewegt und allein bewegen kann.“  (Das Kapital, Bd. III, Kapitel 15, Teil III, Hervorhebung von uns)

Editorial: Die ökonomische Katastrophe ist unvermeidbar

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In den letzten Monaten haben sich in kurzer Reihenfolge einschneidende Ereignisse abgespielt, welche die Dramatik der heutigen ökonomischen Situation bestätigen: die Unfähigkeit Griechenlands, seine Schulden in den Griff zu bekommen; gleichartige Probleme in Spanien und Italien; Zeichen einer extremen Verletzlichkeit Frankreichs im Falle eines Schuldenerlasses für Griechenland oder Italien; Blockierung des amerikanischen Repräsentantenhauses gegenüber einer Schuldenerhöhung des US-Staates; der Verlust der Note „AAA“ durch die USA – einer Bewertung, die bisher maximale Garantie für die Schuldrückzahlung hieß; zunehmende Anzeichen des drohenden Bankrotts von Banken, deren Beschwichtigungen niemanden mehr täuschen können, und der damit verstärkte Abbau von Personal, der schon am Laufen ist; die Bestätigung dieser Anzeichen durch den Zusammenbruch der französisch–belgischen Bank Dexia. Die Herrschenden dieser Welt rennen den Ereignissen nur hinterher, und die Löcher, die sie stopfen, brechen nur einige Wochen oder sogar Tag später wieder auf. Ihre Unfähigkeit, die Eskalation der Krise in den Griff zu bekommen, bestätigt nicht nur ihre Hilflosigkeit und ihr kurzfristiges Denken, sondern darüber hinaus die Tatsache, dass die katastrophale Dynamik des Kapitalismus nicht vermieden werden kann: Zusammenbruch von Finanzinstituten, Bankrott von Staaten, eine tiefe weltweite Rezession.

Die dramatischen Auswirkungen für die Arbeiterklasse

Die harten Sparmaßnahmen seit 2010 stürzen die Arbeiterklasse – und einen Großteil der restlichen Bevölkerung – in die Lage, wo sie der Mittel zur Existenzsicherung verliert. All die Sparmaßnahmen, die in der Euro–Zone verhängt wurden und noch geplant sind, ergäben eine lange Liste. Es ist trotzdem wichtig, einige dieser Maßnahmen zu beschreiben, da sie generell angewandt werden und bezeichnend sind für das Schicksal von Millionen von Ausgebeuteten. In Griechenland sind 2010 die Steuern auf Konsumgüter erhöht, das Pensionsalter auf 67 Jahre angehoben und die Löhne der staatlichen Angestellten brutal reduziert worden. Im September 2011 wurde beschlossen, 30’000Angestellte der öffentlichen Dienste in eine vorübergehende Arbeitslosigkeit zu schicken – mit einer 40%igen Reduktion ihrer Löhne –, den Rentnern mit mehr als 1200 Euro Einkommen monatlich 20% zu streichen und alle Einkommen über 5000 Euro jährlich mit mehr Steuern zu belasten[1]. In fast allen Ländern werden die Steuern angehoben, das Rentenalter erhöht, und bei den staatlichen Ausgaben werden Millionen gekürzt. Ein Resultat daraus ist eine empfindliche Schwächung der öffentlichen Dienste, auch derjenigen, die lebenswichtig sind. In Barcelona werden Operationssäle und Notfalldienste der Spitäler nur noch reduziert aufrecht erhalten, Spitalbetten wurden massenhaft gestrichen[2]; in Madrid haben 5000 nicht diplomierte Lehrer ihre Arbeit verloren[3], was mit einer Anhebung von 2 Arbeitsstunden wöchentlich für die diplomierten Lehrer kompensiert wird.

Die Arbeitslosenzahlen sind immer alarmierender: 7,9% in Großbritannien Ende August, 10% in der gesamten Euro–Zone (20% in Spanien) Ende September[4] und 9.1% in den USA in derselben Periode. Während des Sommers 2011 haben Entlassungen und Stellenabbau zugenommen: 6500 beim Technologiekonzern Cisco, 6000 bei Lockheed Martin, 10’000 bei HSCB, 30’000 bei der Bank of America, um nur einige zu nennen. Die Einkommen der ausgebeuteten Lohnabhängigen sind im Sinkflug: Nach offiziellen Angaben sank in Griechenland das Realeinkommen Anfang 2011 um mehr als 10%, in Spanien um mehr als 4%, und nur um etwas weniger in Portugal und Italien. In den USA überleben 45,7 Millionen Leute – dies sind 12% mehr als vor einem Jahr[5] – nur noch dank Essensmarken von 30 Dollar pro Woche, die vom Staat ausgegeben werden.

Doch das Schlimmste steht noch bevor.

Es stellt sich immer akuter die Frage der Überwindung des kapitalistischen Systems, denn in seinem Niedergang zieht es die Menschheit in den Ruin. Die Protestbewegungen, die als Reaktion auf die Angriffe seit Frühjahr 2011 in verschiedensten Ländern ausgebrochen sind, auch wenn sie Schwächen und Unsicherheiten in sich tragen, sind erste Meilensteine einer proletarischen Reaktion gegenüber der Krise des Kapitalismus (siehe dazu in dieser Internationalen Revue den Artikel „Die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland und Israel: von der Empörung zur Vorbereitung der Klassenkämpfe“)

Seit 2008 kann die herrschende Klasse die Tendenz zur Rezession nicht mehr aufhalten

Anfang 2010 mochte die Illusion aufkommen, dass es den Staaten gelungen sei, den Kapitalismus vor einer andauernden Rezession in Sicherheit zu bringen – einer Rezession, die sich 2008 und zu Beginn des Jahres 2009 in einem schwindelerregenden Absturz der Produktion ausgedrückt hatte. Am Ende hatten weltweit alle großen Banken die massiven Injektionen von Geld in die Wirtschaft weitergeführt. Ben Bernanke, der Direktor der FED (die große Konjunkturpakete lancierte), erhielt deswegen den Übernamen „Hubschrauber–Ben“, weil er in den USA Dollars wie aus einem Hubschrauber über das Land warf. Zwischen 2009 und 2010 ist nach offiziellen Zahlen (die bekanntlich meist überbewertet sind) die Wachstumsrate in den USA von 2,6% auf +2,9% und in der Euro–Zone von -4,1% auf +1,7% gestiegen. In den sog. „Schwellenländern“ schienen die Wachstumsraten, welche gesunken waren, gegen Ende 2010 wieder den Stand vor der Finanzkrise zu erreichen: 10,4% in China und 9% in Indien. Alle Staaten und ihre Medien stimmten dann in den Kanon über den Aufschwung ein, auch wenn das Produktionsniveau aller hochentwickelten Länder in der Realität nie mehr das Niveau von 2007 erreichte. Mit anderen Worten: Anstelle einer Erholung war es nur eine Injektion von Palliativmedikamenten in eine generelle Abwärtsdynamik der Produktion. Und diese wirkte lediglich für ein paar Quartale:

–  In den hochentwickelten Ländern begannen die Wachstumsraten Mitte des Jahres 2010 wieder zurückzugehen. Die prognostizierte Wachstumsrate für die USA betrug 0,8%. Ben Bernanke kündigte an, dass der amerikanische Wiederaufschwung ein „Zeichen der Zeit“ sei. Doch das Wachstum in den großen europäischen Staaten (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) geht gegen Null. Auch wenn die Regierungen der südeuropäischen Länder (Spanien 0,6% 2011, nach -0,1% im Jahr 2010[6]; Italien 0,7% 2011[7]) immer wieder und mit allen Mitteln beteuern, ihre Länder befänden sich nicht in einer Rezession, so ist in der Realität, angesichts der Sparmaßnahmen, die sie einschlagen und weiter planen, ihre Perspektive nicht weit von derjenigen Griechenlands entfernt, wo die Produktion 2011 um 5% zurückging.

–  Für die „Schwellenländer“ ist die Situation alles andere als brillant. Auch wenn es dort 2010 bedeutende Wachstumsraten gegeben hat, fällt das Jahr 2011 viel schlechter aus. Der IWF prognostizierte ein Wachstum von 8,4% für 2011[8], doch es gibt viele Indizien gerade für einen Rückgang in China[9]. Es wird prognostiziert, dass das Wachstum Brasiliens, das 2010 noch 7,5% betrug, 2011 auf 3,7% fallen wird[10]. Was Russland angeht, ist das Kapital drauf und dran, sich aus diesem Land zurückzuziehen[11]. Kurzum, im Gegensatz zu dem, was die Ökonomen und viele Politiker seit Jahren erzählen, sind die sog. „Schwellenländer“ keinesfalls die Lokomotive eines weltweiten Wiederaufschwungs. Ganz im Gegenteil werden sie besonders stark unter dem Rückgang in den hochentwickelten Ländern leiden und einen Einbruch ihrer Exporte in Kauf nehmen müssen, die Hauptfaktor ihres Wachstums waren.

Der IWF nahm seine Prognosen über ein Wachstum von 4% in den Jahren 2011 und 2012 zurück, um anzudeuten, dass eine Rezession für das Jahr 2012 nicht auszuschließen sei. Dies, nachdem vorher immer wieder von einer „deutlichen Abschwächung“ des Wachstums fabuliert wurde[12]. Mit anderen Worten, die herrschende Klasse wird sich langsam selber bewusst, an welchem Punkt die Wirtschaft angelangt ist. Angesichts dieser Entwicklung muss man sich folgende Frage stellen: Weshalb haben die Zentralbanken nicht wie Ende 2008 und 2009 die Welt weiterhin mit Geld überschwemmt und die Geldmenge erheblich erhöht (in den USA wurde sie verdreifacht und in der Euro–Zone verdoppelt)? Der Grund liegt darin, dass die Ausschüttung von „leichtem Geld“ in die Wirtschaft die Widersprüche des Kapitalismus nicht löst. Was dabei herauskommt, ist weniger eine Produktionssteigerung als eine Inflation, welche in der Euro–Zone bei knapp 3%, in den USA bei etwas mehr als 3%, in Großbritannien bei 4.5%, und in den „aufstrebenden“ Ländern zwischen 6 und 9% liegt.

Die Herausgabe von Papier– oder elektronischem Geld führt zur Ausgabe von neuen Krediten… und zu einer höheren weltweiten Verschuldung. Dieses Szenario ist nicht neu. Genau so haben sich die großen Wirtschaftsmächte verschuldet – bis zur Unfähigkeit, ihre Schulden zurückzuzahlen. Sie sind heute zahlungsunfähig, und davon betroffen sind die europäischen Staaten, die USA und das gesamte Bankensystem.

Das Geschwür der öffentlichen Verschuldung

Die Euro–Zone

Die europäischen Staaten geraten immer mehr in Schwierigkeiten, nur schon die Zinsen für ihre Schulden zu bezahlen.

In der Euro–Zone sind die ersten Zahlungsverzüge gewisser Staaten deshalb aufgetreten, weil diese im Gegensatz zu den USA, Großbritannien und Japan die Währungsausgaben nicht mittels der eigenen Geldpresse steuern und mit „leichtem Geld“ die Laufzeiten ihrer Verbindlichkeiten verlängern können. Die Herausgabe von Euros untersteht der Europäischen Zentralbank EZB, welche in der Hand der großen Staaten Europas ist, vor allem Deutschlands. Und wie jedermann weiß, treibt eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Geldmenge bei gleichzeitiger Stagnation der Produktion nur die Inflation in die Höhe. Um dies zu verhindern, vergab die EZB nur zögerlich finanzielle Mittel an Staaten, die sie benötigten, um nicht selbst in die Situation des Zahlungsverzugs zu geraten.

Dies ist einer der Hauptgründe, weshalb die Länder der Euro–Zone seit eineinhalb Jahren unter dem Schatten des Schuldnerverzugs Griechenlands stehen. Das Problem, vor dem die Euro–Zone steht, ist unlösbar, denn eine Weigerung, die Schulden Griechenlands zu bezahlen führt zu einer Einstellung der Hilfeleistung an Griechenland und zu dessen Austritt aus der Euro–Zone. Die Gläubiger Griechenlands, unter ihnen die europäischen Staaten und große europäische Banken, geraten damit wiederum in Schwierigkeiten, ihren Verpflichtungen nachzukommen, was ihren drohenden Bankrott beschleunigt. Die Euro–Zone selbst ist damit in Frage gestellt, deren Existenz für die nördlichen Exportstaaten, und speziell Deutschland, unabdingbar ist.    

Es ist vor allem Griechenland, das seit eineinhalb Jahren ins Rampenlicht des Schuldnerverzugs gerückt ist. Doch Staaten wie Spanien und Italien befinden sich in einer vergleichbaren Situation, sie sind nicht mehr in der Lage, die nötigen Steuereinnahmen zu generieren, um wenigstens einen Teil ihrer Schulden zurückzubezahlen[13]. Ein Blick auf den Schuldenberg Italiens, dessen Zahlungsunfähigkeit wohl vor der Türe steht, zeigt, wie die Euro–Zone auch dieses Land nicht dabei unterstützen kann, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Die Anleger glauben immer weniger an Italiens Rückzahlungsfähigkeit und geben daher nur noch Kredite mit sehr hohen Zinsen. Die Lage Spaniens ist vergleichbar mit derjenigen Griechenlands.

Die Stellungnahmen der Regierungen und Behörden in der Euro–Zone, vor allem der Regierung Deutschlands, legt ihre Hilflosigkeit gegenüber dem drohenden Bankrott einiger Staaten offen. Die Mehrheit der herrschenden Klasse in der Euro–Zone ist sich bewusst, das Problem liegt nicht darin zu wissen, ob Griechenland tatsächlich im Zahlungsverzug ist: die Ankündigung einer Beteiligung der Banken von 21% am Rettungspaket für Griechenland ist bereits eine Bestätigung dieser Situation, bestätigt auf dem Treffen von Merkel und Sarkozy vom 9. Oktober, an dem von einem Zahlungsausfall Griechenlands in der Höhe von 60% seiner Schulden die Rede war. Das Problem, vor dem die herrschende Klasse steht, ist Mittel zu finden, damit dieser Zahlungsausfall in der Euro–Zone so wenig Turbulenzen wie möglich verursacht. Denn der Fall Griechenland provoziert in ihren Reihen eine heikle Situation mit Divergenzen und Zweifeln. Auch die politischen Parteien, welche in Deutschland an der Macht sind, haben sich an der Frage entzweit, ob man Griechenland überhaupt finanziell stützen soll, wie man dies allenfalls tun soll und ob dies auch für andere Staaten gültig ist, welche im Laufschritt demselben Schicksal wie Griechenland entgegenlaufen. Als Beispiel dient anschaulich der Plan, der von den Behörden der Euro–Zone am 21. Juli zur „Rettung“ Griechenlands verabschiedet wurde und vorsieht, die Darlehenskapazität des Europäischen Stabilitätsfonds von 220 auf 440 Milliarden Euro zu erhöhen – mit der Konsequenz einer Beitragserhöhung der einzelnen Staaten. Während Wochen wurde der Plan von wichtigen Teilen der Regierungsparteien in Deutschland zurückgewiesen, erst nach einem Meinungsumschwung wurde er am 29. September vom Bundestag klar angenommen! Bis Anfang August sträubte sich die deutsche Regierung gegen den Ankauf von italienischen und spanischen Staatsanleihen durch die EZB. Angesichts der finanziellen Schieflage dieser Länder stimmte der deutsche Staat am 7. August dem Kauf solcher Obligationen durch die EZB doch zu[14]. Zwischen dem 7. und 22. August kaufte die EZB danach Staatsschulden dieser beiden Länder auf[15]! All diese Widersprüche und Zögerungen zeigen, wie eine international gewichtige Bourgeoisie wie diejenige Deutschlands sich ihres politischen Kurses nicht mehr sicher ist. Generell hat Europa, angeführt von Deutschland, den Weg der Sparprogramme eingeschlagen. Doch das schließt nicht aus, gewisse Staaten und Banken minimal durch die Errichtung des Europäischen Stabilitätsfonds zu stützen (was natürlich eine Vergrößerung der finanziellen Mittel dieser Institution erfordert), oder die EZB anzuweisen, genügend Geld zu drucken, um Staaten, die ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können, zu Hilfe zu eilen und damit deren Zahlungsunfähigkeit hinauszuschieben.

Gewiss, das Problem ist nicht allein das der deutschen Bourgeoisie, sondern der gesamten herrschenden Klasse, denn sie ist als gesamtes seit Ende der 1960er Jahre immer mehr in die Verschuldung gerutscht, um die Überproduktion in den Griff zu bekommen. Heute ist ein Punkt erreicht, an dem es nicht nur sehr schwierig geworden ist, die Schulden zu amortisieren, sondern auch nur die Zinsen zu bezahlen. Der Wirtschaftskurs, der heute mittels der drakonischen Sparmaßnahmen einschlagen wird, vermindert nicht nur die Einkommen, er reduziert gleichzeitig auch die Nachfrage, was die Überproduktion verschärft und den Fall in die Rezession beschleunigt.

Die Vereinigten Staaten

Die USA standen im Sommer 2011 vor gleichartigen Problemen.

Die Verschuldungslimite von 14‘294 Milliarden Dollar, die 2008 gesetzt worden war, wurde im Mai 2011 erreicht. Sie musste angehoben werden, damit die USA, ähnlich wie die Eurozone, noch ihren Verpflichtungen nachkommen konnten, einschließlich der internen, d.h. der Gewährleistung der staatlichen Aufgaben. Auch wenn der unglaubliche Archaismus und die Dummheit der Tea Party ein die Krise verschärfender Faktor waren, so lag der eigentliche Grund des Problems, vor denen der Präsident und der Kongress der USA standen, woanders. Das eigentliche Problem bestand darin, dass man vor der folgenden Alternative stand, wovon eine Seite zu wählen war:

–  entweder Weiterverfolgung der Verschuldungspolitik des Bundes, wie es die Demokraten verlangten, d.h. letztlich von der FED verlangen, weiteres Geld zu schaffen mit dem Risiko, einen unkontrollierten Absturz des Wertes der Währung zu verursachen;

–  oder eine drastische Sparpolitik verfolgen, wie es die Republikaner forderten, insbesondere mit Kürzungen der öffentlichen Ausgaben in den nächsten 10 Jahren um 4000 bis 8000 Milliarden Dollars. Zum Vergleich sei erwähnt, dass das BIP der USA 2010 14‘624 Milliarden Dollars betrug, was die Dimensionen der Budgetkürzungen und damit des Abbaus von Arbeitsplätzen, die ein solcher Plan vorsieht, ermessen lässt.

Zusammengefasst war die Alternative, vor der die USA in diesem Sommer standen, die folgende: Entweder Gefahr laufen, einer potentiell galoppierenden Inflation die Tür zu öffnen, oder eine Sparpolitik betreiben, die einzig zu einer starken Verringerung der Nachfrage führen konnte, und damit einen Rückgang oder sogar eine Vernichtung der Profite verursachen, was schließlich zu massenhaften Schließungen von Betrieben und zu einem schwindelerregenden Absturz der Produktion führen würde. Aus der Sicht der Interessen des nationalen Kapitals war sowohl die Position der Republikaner als auch diejenige der Demokraten legitim. Hin und her gerissen zwischen den Widersprüchen, in denen die nationale Wirtschaft stand, mussten sich die amerikanischen Behörden mit Halbheiten zufrieden geben – mit widersprüchlichen und planlosen Maßnahmen. Der Kongress stand wieder einmal vor der Zwang, gleichzeitig das Budget um Tausende von Milliarden Dollars zu kürzen und einen neuen Plan zur Schaffung von Arbeitsplätzen umzusetzen.

Der Ausgang des Streites zwischen Republikanern und Demokraten zeigt, dass die USA im Gegensatz zur Europa eher auf die Vergrößerung der Schulden setzen, denn die Limite der Bundesverschuldung wurde bis 2013 um 2100 Milliarden Dollars erhöht, und auf der anderen Seite sollen die Ausgaben in den nächsten 10 Jahren um 2500 Milliarden gekürzt werden.

Doch wie in Europa zeigt dieser Entscheid, dass der amerikanische Staat nicht weiß, welche Politik er einschlagen soll angesichts seiner Verschuldung.

Die Zurückstufung der amerikanischen Kreditwürdigkeit durch Standard and Poor’s und die Reaktionen, die dies hervorrief, sind eine Veranschaulichung der Tatsache, dass die Bourgeoisie genau weiß, dass sie in einer Sackgasse steckt und dass sie über keine Mittel verfügt, um daraus auszubrechen. Im Gegensatz zu vielen anderen Entscheiden der Rating–Agenturen seit dem Beginn der Suprime–Krise scheint dieser Beschluss folgerichtig: Die Agentur zeigt an, dass die Aktiven zu gering sind, um die Erhöhung der Verschuldung zu decken, die der Kongress beschlossen hat, und dass folglich die Fähigkeit der USA, ihre Schulden zurück zu zahlen, abgenommen hat. Mit anderen Worten wird für diese Institution der Kompromiss, der eine ernsthafte politische Krise in den Vereinigten Staaten um den Preis einer Erhöhung der Schuldenlast dieses Landes verhindert hat, die Zahlungsunfähigkeit des amerikanischen Staates selbst beschleunigen. Der Vertrauensverlust der Geldbesitzer dieser Welt in den Dollar, der unausweichlich auf den Urteilsspruch von Standard and Poor’s folgen wird, zieht seinen Wert nach unten. Dazu kommt, dass der Entscheid, die staatliche Verschuldungslimite der USA zu erhöhen, zwar die Lähmung der Bundesverwaltung abwendet, aber nichts am Bankrott zahlreicher Bundesstaaten und Gemeinden ändert. Seit dem 4. Juli befindet sich der Staat Minnesota im Schuldnerverzug, und er musste 22‘000 Staatsangestellte bitten, zu Hause zu bleiben[16]. Verschiedene amerikanische Städte (unter ihnen Central Falls und Harrisburg, Hauptstadt von Pennsylvania) befinden sich in derselben Lage; eine Lage, welcher Kalifornien – und nicht als einziger Staat – offenbar schon in naher Zukunft nicht entrinnen kann.

Angesichts der Vertiefung der Krise seit 2007 konnten die Staaten weder in der Eurozone noch in Nordamerika der Aufgabe ausweichen, die Verantwortung für Schulden mitzutragen, die eigentlich und ursprünglich durch den privaten Sektor eingegangen worden waren. Diese neuen öffentlichen Schulden vergrößerten einzig die Staatsschuld, die ihrerseits ohnehin schon seit Jahrzehnten wuchs. Daraus resultierte ein Schuldentilgungsplan, dem die Staaten nicht nachleben können. Sowohl in den USA als auch in der Eurozone drückt sich dies in massenhaften Entlassungen im öffentlichen Dienst, in den unendlichen Kürzungen der Löhne und in der ebenfalls unendlichen Erhöhung der Steuern aus.

Die drohende ernsthafte Bankenkrise

2008 und 2009, nach dem Untergang von einigen Banken wie Bear Stearns und Northern Rock und dem ungeschminkten Bankrott von Lehman Brothers, rannten die Staaten zahlreichen anderen zu Hilfe, indem sie sie rekapitalisierten, um sie vor dem gleichen Ende zu bewahren. Wie steht es nun um die Gesundheit der Finanzinstitute? Sie ist wieder äußerst schlecht. Zunächst sind die Buchhaltungen der Banken weit entfernt davon, nur noch gedeckte Forderungen aufzuweisen. Weiter sind zahlreiche Banken heute Inhaber eines Teils der Staatsanleihen, die vielleicht nicht mehr zurückbezahlt werden. Ihr Problem besteht darin, dass der Wert ihrer erworbenen Forderung in der Zwischenzeit beträchtlich geschrumpft ist.

Die kürzlich erfolgte Erklärung des IWF, die sich auf die Erkenntnis über die gegenwärtigen Schwierigkeiten der europäischen Banken stützte und forderte, dass diese ihre Eigenmittel um 200 Milliarden erhöhten, provozierte gehässige Reaktionen und Beteuerungen von Seiten der Finanzinstitute, wonach bei ihnen alles gut laufe. Und dies zu einer Zeit, als alles auf das Gegenteil hindeutete:

–  die amerikanischen Banken sind nicht mehr bereit, die amerikanischen Filialen europäischer Banken mit Dollars zu refinanzieren, und transferieren ihre in Europa platzierten Guthaben nach Hause;

–  die europäischen Banken leihen sich gegenseitig je länger je weniger Geld aus, weil sie je länger je weniger sicher sind, das Geld wieder zurück zu erhalten, und ziehen es vor, ihre Vermögen – wenn auch zu einem sehr tiefen Zins – bei der EZB anzulegen;

–  Folge dieses sich verallgemeinernden Vertrauensverlusts: Die Zinsen für Darlehen zwischen Banken steigen unaufhörlich, auch wenn sie noch nicht die Höhe von Ende 2008 erreicht haben[17].

Dem Ganzen die Krone aufgesetzt haben einige Wochen nach der Beteuerung der Banken über ihren guten Gesundheitszustand die Pleite und Liquidation der französisch–belgischen Bank Dexia, ohne dass eine andere Bank sich dafür interessiert hätte, ihr zu Hilfe zu kommen.

Zu ergänzen ist, dass die amerikanischen Banken es sich nicht leisten können, ihren europäischen Branchenfreunden gegenüber groß „die Muskeln spielen“ zu lassen: Aufgrund ihrer ernsthaften Schwierigkeiten hat die Bank of America soeben 10% ihrer Arbeitsplätze gestrichen und Goldman Sachs, die Bank, die zum Symbol für Spekulation schlechthin geworden ist, 1000 Leute entlassen. Und auch sie ziehen es vor, ihre flüssigen Mittel bei der FED zu hinterlegen, als anderen amerikanischen Banken zu leihen.

Die Gesundheit der Banken ist für den Kapitalismus wesentlich, denn dieser funktioniert nicht ohne ein Bankensystem, das ihn mit Geld versorgt. Die Tendenz, die wir gegenwärtig erleben, geht Richtung „Credit Crunch“, das heißt hin zu einer Situation, in der die Banken das Geld nicht mehr ausleihen, wenn auch nur das geringste Risiko besteht, dass es nicht mehr zurück bezahlt wird. Dies führt schlussendlich zu einem Stillstand der Kapitalzirkulation, d.h. Stillstand der Wirtschaft. Man versteht unter diesem Gesichtswinkel besser, warum das Problem der Erhöhung der Eigenmittel der Banken mittlerweile zuoberst auf der Tagesordnung der zahlreichen Sitzungen und Gipfel steht, die auf internationaler Ebene stattgefunden haben, noch weiter oben als die Lage von Griechenland, die allerdings auch immer noch ungelöst ist. Im Grunde genommen zeigt das Problem der Banken die äußerste Ernsthaftigkeit der wirtschaftlichen Lage auf und veranschaulicht für sich allein die unentwirrbaren Schwierigkeiten, vor denen der Kapitalismus steht.

Als die USA die Note AAA verloren, titelte die französische Wirtschaftstageszeitung Les Echos am 8. August 2011 auf der ersten Seite: „Amerika herabgestuft, die Welt vor dem Ungewissen“. Wenn das wichtigste Wirtschaftsmedium der französischen Bourgeoisie eine solche Orientierungslosigkeit ausdrückt, eine solche Zukunftsangst, so drückt es die Ratlosigkeit der Bourgeoisie selber aus. Seit 1945 beruht der westliche Kapitalismus (und nach dem Zusammenbruch der UdSSR der Kapitalismus auf der ganzen Welt) darauf, dass die Stärke des amerikanischen Kapitals schließlich die letzte Sicherheit darstellt, indem es die Gesamtheit der Dollars zu Verfügung stellt, die überall auf der Welt die Zirkulation der Waren, und somit des Kapitals, sicherstellen. Nun ist die gewaltige Anhäufung von Schulden, welche die amerikanische Bourgeoisie seit Ende der 1960er Jahren gemacht hat, um der Rückkehr der offenen Krise des Kapitalismus etwas entgegen zu stellen, zu einem beschleunigenden und vertiefenden Faktor derselben Krise geworden. Alle, die einen Teil der amerikanischen Schulden halten – zuerst der amerikanische Staat selbst –, sind eigentlich Besitzer eines Guthabens – das je länger je weniger wert ist. Die Währung, in der diese Schuld zu bezahlen ist, wird ihrerseits im gleichen Ausmaß schwächer – wie der amerikanische Staat.

Das Fundament der Pyramide, auf der die Welt nach 1945 aufgebaut wurde, löst sich auf. 2007, während der Finanzkrise, wurde das Weltfinanzsystem durch die Zentralbanken gerettet, d.h. durch die Staaten; heute stehen diese am Rande des Bankrotts, und die Banken können sie keinesfalls retten; wohin sich die Kapitalisten auch wenden: Es gibt nichts, was einen wirklichen Wirtschaftsaufschwung ermöglichen könnte. In der Tat setzt sogar ein sehr geringes Wachstum die Emission von neuen Schuldtiteln voraus, damit die nötige Nachfrage geschaffen werden kann, die es erlaubt, die Waren abzusetzen; nun sind aber schon die Zinsen der bestehenden Schulden nicht mehr zahlbar und stürzen Banken und Staaten in die Zahlungsunfähigkeit.

Wie wir gesehen haben, werden Entscheide, die als unwiderruflich erklärt worden sind, innerhalb von wenigen Tagen wieder in Frage gestellt, Beteuerungen über die Gesundheit der Wirtschaft und der Banken werden ebenso schnell dementiert. In einem solchen Zusammenhang sind die Staaten mehr und mehr gezwungen, den Kurs jeden Tag neu zu bestimmen. Es ist wahrscheinlich, wenn auch nicht sicher – eben weil die Bourgeoisie durch eine noch nie erlebte Situation verwirrt ist –, dass sie angesichts der bestehenden Probleme und mit dem Ziel, Zeit zu gewinnen, weiterhin Geld übers Kapital gießt, und zwar über das Finanz–, das Handels– und das Industriekapital, auch wenn dies zu einer Inflation führt, die schon begonnen hat und die sich verstärken und je länger je mehr außer Kontrolle geraten wird. Dies wird nicht die Fortsetzung der Entlassungen, der Lohnkürzungen und der Steuererhöhungen verhindern; vielmehr wird die Inflation das Elend der großen Mehrheit der Ausgebeuteten verschlimmern. Am gleichen Tag, als Les Echos den Titel trug: „Amerika herabgestuft, die Welt vor dem Ungewissen“, titelte eine andere französische Wirtschaftstageszeitung, La tribune, „Überholt“ in Bezug auf die großen Entscheidungsträger dieses Planeten, von denen auf der Frontseite auch eine Foto zu sehen war. Ja, diejenigen, die uns Milch und Honig versprochen, dann uns getröstet haben, als offensichtlich geworden ist, dass uns nicht das Schlaraffenland, sondern ein Albtraum blüht, geben nun zu, dass sie „überholt“ sind. Sie sind überholt, weil ihr System, der Kapitalismus, definitiv hinfällig geworden und drauf und dran ist, die große Mehrheit der Weltbevölkerung in das schrecklichste Elend zu stürzen.

Vitaz, 10.10.2011


[1] https://www.lefigaro.fr/conjoncture/2011/09/22/04016 [46]–20110922ARTFIG00699–la–colere–gronde–de–plus–en–plus–fort–en–grece.php

[2] https://news.fr.msn.com/m6 [47]–actualite/monde/espagne–les–enseignants–manifestent–%C3%A0–madrid–contre–les–coupes–budg%C3%A9taires

[3] https://www.rfi.fr/europe/20110921 [48]–manifestations–enseignants–lyceens–espagne

[4] Statistique Eurostat

[5] Le Monde, 7.–8. August 2011

[6] https://finance [49]–economie.com/blog/2011/10/10/chiffres–cles–espagne–taux–de–chomage–pib–2010–croissance–pib–et–dette–publique/

[7] https://www.globalix.fr/content/la [50]–dynamique–de–la–dette–italiennela–dynamique–de–la–dette–italienne

[8] IWF, Perspektiven der Weltwirtschaft, Juli 2010

[9] Le Figaro, 3. Oktober 2011

[10] Les Echos, 9. August 2011

[11] http://www.lecourrierderussie.com/2011/10/12/poutine [51]–la–crise–existe/

[12] http://www.lefigaro.fr/flash [52]–eco/2011/10/05/97002–20111005FILWWW00435–fmi–recession–mondiale–pas–exclue.php

[13] siehe Le Monde, 5. August 2011

[14] Les Echos, August 2011

[15] Les Echos, 16. August 2011

[16] www.rfi.fr/fr/ameriques/20110702-faillite-le-gouvernement-minnesota-cesse-activites [53]

[17] https://www.gecodia.fr/Le–stress–interbancaire–en–Europe–s–approche–du–pic–post–Lehman_a2348.html [54]

Geschichte der Arbeiterbewegung: Was sind Arbeiterräte? Teil 1: Warum tauchen 1905 Arbeiterräte auf?

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Am 2. März 1919, bei der Eröffnung des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale, behauptete Lenin, dass das „Sowjetsystem“ (wie Arbeiterräte in der russischen Sprache heißen), das noch bis vor Kurzem für die großen Arbeitermassen „Latein“ gewesen sei, mittlerweile sehr verständlich und insbesondere je länger je mehr eine allgemeine Praxis geworden sei. Er zitierte ein Beispiel: „Heute lese ich zum Beispiel in einer antisozialistischen Zeitung die telegraphische Mitteilung, dass die englische Regierung den Rat der Arbeiterdelegierten in Birmingham empfangen und ihre Bereitwilligkeit erklärt hat, die Räte als wirtschaftliche Organisationen anzuerkennen.“[1]

Heute, 90 Jahre später schreiben uns GenossInnen in verschiedenen Ländern, um uns zu fragen: „Was sind Arbeiterräte?“, weil sie feststellen, dass sie darüber zu wenig wissen, und sich gern eine klareres Bild darüber machen möchten. Das Bleigewicht der schrecklichsten Konterrevolution der Geschichte, die Schwierigkeiten, die seit 1968 die Politisierung der Kämpfe der Arbeiterklasse behindern; die Verfälschungen oder das vollständige Totschweigen der Kommunikations– und Kulturmedien über die historischen Erfahrungen des Proletariats führen dazu, dass Wörter wie Sowjet oder Arbeiterrat, die so selbstverständlich waren für die Arbeitergeneration der Jahre 1917–23, heute etwas Fremdes geworden sind oder in einem ganz anderen Sinn verwendet werden, als sie zu Beginn hatten.[2]

Dies wird also das Ziel des vorliegenden Artikels sein: einen Beitrag zu leisten zu einer einfachen Erklärung der Fragen: Was sind Arbeiterräte? Warum sind sie aufgetaucht? Welchen geschichtlichen Bedürfnissen entsprachen sie? Haben sie heute immer noch eine aktuelle Bedeutung? Um auf diese Fragen zu antworten, werden wir uns auf die geschichtliche Erfahrung unserer Klasse abstützen, eine Erfahrung, die ebenso von den Revolutionen von 1905 und 1917 geprägt ist wie von den Debatten und Schriften der Mitglieder revolutionärer Organisationen von damals: Trotzki, Rosa Luxemburg, Lenin, Pannekoek …

Die geschichtlichen Bedingungen, unter denen Arbeiterräte entstehen

Wieso tauchen die Arbeiterräte 1905 auf, und nicht schon 1871 in der revolutionären Commune von Paris?[3]

Das Auftauchen von Arbeiterräten in der russischen Revolution von 1905 kann nur auf dem Hintergrund einer Analyse der Gesamtheit der folgenden Faktoren verstanden werden: der geschichtlichen Bedingungen der damaligen Zeit; der Kampferfahrungen, die sich das Proletariat erworben hatte und der Intervention der revolutionären Organisationen.

Was den ersten Faktor betrifft, befand sich der Kapitalismus am Gipfel seiner Entfaltung, zeigte aber immer deutlichere Anzeichen seines Niedergangs, insbesondere im imperialistischen Bereich. Trotzki legte in seiner Schrift Ergebnisse und Perspektiven, auf die wir uns hier abstützen werden, dar: „Indem der Kapitalismus allen Ländern seine Wirtschafts– und Verkehrsweise aufdrängt, hat er die ganze Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt.“ Und noch genauer: „Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Russlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, lässt sie die weltweite Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat.“[4] Die massenhaften Bewegungen und die Generalstreiks waren Produkte dieser neuen Epoche und waren schon vor 1905 in verschiedenen Teilen der Welt in Erscheinung getreten: Generalstreik in Spanien 1902 und in Belgien 1903 und auch in Russland zu verschiedenen Zeitpunkten.

So kommen wir zum zweiten Faktor. Die Arbeiterräte tauchen nicht aus dem Nichts auf wie ein Blitz aus heiterem Himmel. In den Jahren zuvor, seit 1896, brachen in Russland zahlreiche Streiks aus: Generalstreik der Textilarbeiter in Petersburg 1896 und 1897; die großen Streiks, die 1903 und 1904 den ganzen Süden Russlands erschütterten; etc. Sie stellten insofern Erfahrungen dar, als sich Tendenzen zur spontanen Mobilisierung zeigten, wo Kampforgane gebildet wurden, die nicht mehr den typisch gewerkschaftlichen Kampfformen entsprachen und mit denen der Boden für die Kämpfe von 1905 vorbereitet wurde: „(…) so wird doch jeder, der die innere politische Entwicklung des russischen Proletariats bis zu der heutigen Stufe seines Klassenbewusstseins und seiner revolutionären Energie kennt, die Geschichte der jetzigen Periode der Massenkämpfe mit jenen Petersburger Generalstreiks beginnen. Sie sind für das Problem des Massenstreiks schon deshalb wichtig, weil sie bereits alle Hauptmomente der späteren Massenstreiks im Keime enthalten.“ (Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften)

Was schließlich den dritten Faktor betrifft, so haben die proletarischen Parteien (die Bolschewiki und andere Tendenzen) natürlich keine vorausgehende Propaganda zum Thema der Arbeiterräte gemacht, denn deren Entstehung überraschte sie; sie hatten auch nicht vermittelnde Organisationsstrukturen aufgestellt, um sie vorzubereiten. Das zeigte Rosa Luxemburg auf am Beispiel der spontanen Bewegungen, wie derjenigen des Textilarbeiterstreiks in St. Petersburg in den Jahren 1896 und 1897: „Der nächste Anlass der Bewegung war ein ganz zufälliger, ja untergeordneter, ihr Ausbruch ein elementarer; aber in dem Zustandekommen der Bewegung zeigten sich die Früchte der mehrjährigen Agitation der Sozialdemokratie“ (Massenstreik, Partei und Gewerkschaften) Dabei klärt sie stringent die Rolle der Revolutionäre: „Den Anlass und den Moment vorauszubestimmen, an dem die Massenstreiks in Deutschland ausbrechen sollen, liegt außerhalb der Macht der Sozialdemokratie, weil es außerhalb ihrer Macht liegt, geschichtliche Situationen durch Parteitagsbeschlüsse herbeizuführen. Was sie aber kann und muss, ist, die politischen Richtlinien dieser Kämpfe, wenn sie einmal eintreten, klarlegen und in einer entschlossenen, konsequenten Taktik formulieren.“ (ebenda)

Diese Analyse erlaubt es, das Wesen der großen Bewegung zu verstehen, die Russland im Laufe des Jahres 1905 erschütterte und die entscheidende Phase in den letzten drei Monaten dieses Jahres durchlief, von Oktober bis Dezember, als sich die Entfaltung der Arbeiterräte verallgemeinerte.

Die revolutionäre Bewegung von 1905 hat ihren unmittelbaren Ursprung im denkwürdigen „Blutsonntag“, dem 22. Januar 1905[5]. Diese revolutionäre Bewegung erlebte im März 1905 einen ersten Rückfluss, um darauf auf verschiedenen Wegen im Mai und Juli wieder aufzutauchen[6]. In dieser Zeit allerdings hatte sie die Form von spontanen Ausbrüchen, die einen schwachen Organisationsgrad offenbarten. Ab September hingegen besetzte die Frage der allgemeinen Organisierung der Arbeiterklasse den ersten Platz: Man trat in die Phase der zunehmenden Politisierung der Massen ein, in denen die Grenzen des unmittelbaren Kampfes um Forderungen erschienen, aber auch die Erschöpfung aufgrund der Brutalität der zaristischen Repression einerseits und dem Zögern der liberalen Bourgeoisie andererseits[7].

Die Massendebatte

Wir wollen hier an das historische Umfeld, aus welchem die ersten Sowjets entsprungen sind, erinnern. Aber worauf beruht ihr konkreter Ursprung? Sind die Sowjets das Produkt einer entschiedenen und kühnen Minderheit? Oder umgekehrt, sind sie mechanisch aus den objektiven Bedingungen entsprungen?

Wenn die revolutionäre Propaganda, die über Jahre hinaus betrieben wurde, wie wir schon gesagt haben, zur Bildung der Sowjets beigetragen haben und wenn Trotzki eine Rolle ersten Ranges innerhalb des Sowjets von Sankt Petersburg gespielt hat, so war das Auftauchen der ersten Sowjets nicht das direkte Resultat der Propaganda oder der organisatorischen Vorschläge der marxistischen Parteien (die zu diesem Zeitpunkt in Menschewiki und Bolschewiki gespalten waren). Auch stimmt es nicht, wie Volin[8] in seinem Buch Die unbekannte Revolution[9] uns den ersten Sowjet vorstellt, dass er das Resultat der Initiative der Anarchisten gewesen sei. Ohne die Wahrhaftigkeit der von ihm geschilderten Fakten zu bezweifeln, so ist es doch wichtig zu sehen, dass die von ihm in Erinnerung gerufene Versammlung – die von Volin selbst als „privat“ bezeichnet wird – zwar ein weiteres Element gewesen sein mag, welches zum Prozess der Bildung des Sowjets beitrug, aber es war nicht sein Gründungsakt.

Es ist üblich geworden, den Sowjet von Iwanow–Wosnesensk als den ersten oder einer der ersten Sowjets zu bezeichnen.[10] Insgesamt sind 40 bis 50 Sowjets ausgemacht worden, zusätzlich noch einige Bauern– und Soldatensowjets. Anweiler besteht auf ihrer sehr unterschiedlichen Herkunft: „Die Geburt der Sowjets hat sich entweder in mittelbarer Form im Rahmen der alten Organisationen herausgeschält – aus Streikkomitees oder z.B. aus Abgeordnetenversammlungen – in unmittelbarer Form aus Initiativen der lokalen Organisationen der sozialdemokratischen Partei, die den Zweck verfolgten, einen entscheidenden Einfluss auf die Sowjets auszuüben. Das begrenzte Verhältnis zwischen den Streikkomitees und den wirklichen Arbeiterabgeordneten, die diesen Namen verdienten, war offensichtlich. Nur in den wichtigsten Zentren, wo sich die Revolution der Klasse abspielte, wie (Sankt Petersburg einmal ausgelassen) in Moskau, Odessa, Novosibirsk und im Donezbecken, hatten die Räte eine klar abgegrenzte Form erlangt.“[11]

Aus diesem Grunde kann man die Urheberschaft der Sowjets nicht dieser oder jener Persönlichkeit oder Minderheit zuschreiben, sie sind nicht aus dem Nichts entstanden, spontan aus einer Generation heraus. Grundsätzlich waren sie das kollektive Werk der Klasse: Sie entstanden aufgrund verschiedenen Initiativen, aus verschiedenen Diskussionen, aus Vorschlägen, die da und dort vorgebracht wurden. Der Verlauf und das Fortschreiten all dieser verschiedenen Ereignisse haben zusammen mit der aktiven Intervention der Revolutionäre zur Entstehung der Sowjets geführt. Wenn wir diesen Prozess näher betrachten, können wir zwei entscheidende Faktoren herausschälen: die Massendebatte und die ansteigende Radikalisierung der Kämpfe.

Das Reifen des Bewusstseins in den Massen, welches ab September 1905 festzustellen ist, drückte sich in einem unbändigen Willen und Bedürfnis nach Debatte aus. Das Aufwallen von belebten Diskussionen in den Fabriken, den Universitäten, in den Quartieren erschien als ein „neues“ Phänomen, welches maßgeblich im Septembermonat aufkam. Trotzki zitiert einige Erlebnisberichte: „Völlig freie Volksversammlungen innerhalb der Universität zu einer Zeit, da Trepow[12] auf den Straßen mit unbeschränkter Gewalt herrschte – das ist eines der staunenerregendsten Paradoxe der revolutionär–politischen Entwicklung während der Herbstmonate des Jahres 1905.“ An diesen Versammlungen nehmen mehr und mehr Arbeiter teil. „Das Volk füllte alle Gänge, Auditorien und Säle, und die Arbeiter zogen direkt von der Fabrik in die Universität.“ Und Trotzki fügt hinzu: „Die offizielle Telegraphenagentur schilderte mit Worten des Grauens und Entsetzens das Publikum, das sich in der Aula der Wladimir–Universität in Kiew versammelt hatte. Abgesehen von Studenten, wurde dieser Menschenhaufen nach dem Wortlaut des Telegramms gebildet von ‚unbeteiligten Personen beiderlei Geschlechts, Zöglingen der Mittelschulen und der städtischen Privatschulen, Arbeitern, verschiedenem Pöbel und sonstigen zerlumpten Subjekten’.“[13]

Es handelte sich aber keineswegs um einen „Menschenhaufen“, wie das die Informationsagentur berichtet, sondern um ein Kollektiv, das mit einer bestimmten Ordnung und Methode, mit einer großen Disziplin und einem hohen Reifegrad die Situation reflektierte, was auch von einem Berichterstatter der bürgerlichen Zeitung Russj (Russland) anerkannt wurde. Trotzki zitierte daraus: „Was mich besonders auf dem Meeting in der Universität frappierte, war die ungewöhnliche, musterhafte Ordnung! In der Aula wurde eine kleine Pause angesagt und ich schlenderte durch die Gänge. Der Hauptgang bot das bewegte Bild der Straße. Alle anliegenden Auditorien waren dicht besetzt – hier fanden die Meetings der einzelnen Fraktionen statt. Der Gang selbst war bis auf den letzten Platz besetzt, und die Menge flutete in einem fort auf und ab. (...) Man konnte meinen, man befand sich auf einer zahlreich besuchten Abendgesellschaft, bloß ernster als gewöhnlich. Und dennoch war das alles Volk – unverfälschtes, urwüchsiges Volk, mit den schwieligen, roten Arbeiterhänden, mit jenen erdfarbigen Gesichten, die Leuten zu eigen sind, die sich bei Tage in geschlossenen, ungesunden Orten aufhalten.“[14]

Das war die gleiche Stimmung, wie man in der Industriestadt Iwanow–Wosnesenk zuvor im Mai vorgefunden hatte: „Die Vollversammlungen fanden jeden Morgen nach neun Uhr statt. Nachdem die Versammlungen (der Sowjets) beendet waren, begann die Vollversammlung, sie untersuchte alle Fragen, die im Zusammenhang mit den Streiks standen. Man legte über den Stand der Entwicklung, der Verhandlungen mit den Unternehmern und den Behörden einen Tätigkeitsbericht vor. Nach den Diskussionen legte man der Versammlung die Vorschläge, die von den Sowjets vorbereitet worden waren, vor. Darauffolgend hielten die Militanten der Parteien agitatorische Reden über die Lage der Arbeiterklasse und die Diskussionen gingen weiter, bis das Publikum von der Müdigkeit überwältigt wurde. Ab diesem Zeitpunkt fingen die Massen an, revolutionäre Hymnen zu singen und man beendete die Versammlung. Und das ging so alle Tage.“[15]

Die Radikalisierung der Kämpfe

Ein kleiner Streik, der in der Druckerei von Ssytin in Moskau ausgebrochen war, zündete die Lunte für die massiven Oktoberstreiks, während der sich die Sowjets generalisierten. Die Solidarität mit dem Streik von Ssytin, weitete den Streik auf mehr als 50 Moskauer Druckereien aus, am 26. September benannte sich die allgemeine Versammlung der Drucker und Typografen als Rat. Der Streik weitete sich auf andere Bereiche aus: auf die Bäckereien, auf die Metall– und die Textilindustrie. Die Agitation gewann einerseits die Eisenbahnsektoren und andererseits die Drucker von St. Petersburg für sich, weil letztere sich mit ihren Kollegen von Moskau solidarisierten.

Eine andere organisierte Front tat sich unerwartet auf: Eine Konferenz der Vertreter der Eisenbahner, die wegen den Alterskassenrenten zusammengekommen war, fand in St. Petersburg am 20. September statt. Die Konferenz richtete einen Appell an alle Arbeitersektoren, der sich nicht auf diese Frage begrenzte. Der Appell hob hervor, dass es notwendig sei, in den verschiedenen Arbeitssektoren Versammlungen abzuhalten, die ökonomische und politische Forderungen aufstellten. Ermutigt durch die Unterstützungstelegramme aus dem ganzen Land, berief die Konferenz eine neue Versammlung auf den 9. Oktober ein.

Kurz nach dem 3. Oktober beschloss „eine Delegiertenversammlung der Druckerei–, Maschinenbau–, Tischlerei–, Tabak– und vieler anderer Arbeiter (…), einen allgemeinen Delegiertenrat aller Moskauer Arbeiter ins Leben zu rufen“[16].

Der Streik der Eisenbahner, der spontan auf einigen Linien des Eisenbahnnetzes ausgebrochen war, wurde am 7. Oktober zu einem Generalstreik. In diesem Zusammenhang verwandelte sich die Versammlung, die für den 9. Oktober einberufen worden war, zu „einem Kongress der Delegierten der Eisenbahner von St. Petersburg. Es werden sofort auf allen telegraphischen Linien die Losungen des Streiks der Eisenbahner versandt: Achtstundentag, staatsbürgerliche Freiheiten, Amnestie, konstituierende Versammlung.“[17]

Die massiven Versammlungen an den Universitäten waren geprägt von intensiven Debatten über die Situation, die gemachten Erfahrungen, die Alternativen in der Zukunft, aber im Oktober ändert sich die Situation. Die Debatten flauen nicht ab, im Gegenteil, sie reifen bis zu dem Grad, dass sie zu offenen Kämpfen werden, ein Kampf der seinerseits beginnt, sich eine allgemeine Organisation zu geben, eine allgemeine Organisation, die nicht nur den Kampf leitet, sondern die massive Debatte integriert und vervielfacht. Die Notwendigkeit, sich zu versammeln und zu vereinigen, die verschiedenen Brennpunkte der Streiks zu vereinigen, wurde insbesondere vehement von den Arbeitern Moskaus vorangestellt. Ein Programm auszuarbeiten, das der Situation angepasste politische und ökonomische Forderungen aufstellt, die mit den wirklichen Möglichkeiten der Arbeiterklasse übereinstimmen – das war der Beitrag des Kongresses der Eisenbahner. Debatte, Einheitsorganisationen, Kampfprogramm, das sind die drei Säulen, auf denen die Sowjets aufgebaut werden. Entscheidend für die Bildung der Sowjets war also das Zusammenlaufen der verschiedenen Initiativen und Vorschläge der verschiedenen Sektoren der Arbeiterklasse, und keineswegs ein von irgendeiner Minderheit ausgearbeiteter „Plan“. In den Sowjets konkretisierte sich, was 60 Jahre zuvor, im Kommunistischen Manifest noch wie eine utopische Formel getönt hatte: „Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.“

Die Sowjets, Organe des revolutionären Kampfes

„Bereits am 26.[18] abends fand in dem Gebäude des Technologischen Instituts die erste Sitzung des zukünftigen Delegiertenrats statt. Es waren nicht mehr als 30 bis 40 Delegierte anwesend, und es wurde beschlossen, das Proletariat der Hauptstadt zu einem politischen Generalstreik aufzufordern, sowie Vorschläge zur Wahl von Delegierten zu machen.“[19]

Dieser Sowjet machte den folgenden Aufruf: „Die Arbeiterklasse nimmt ihre Zuflucht zu dem letzten machtvollen Mittel der Arbeiterbewegung der ganzen Welt – zum Generalstreik … In den nächsten Tagen wird in Russland Entscheidendes vor sich gehen. Diese Ereignisse werden auf lange Jahre hinaus das Schicksal der Arbeiterklasse bestimmen, wir müssen diesen Ereignissen in voller Bereitschaft entgegensehen, einig durch unseren gemeinsamen ‚Rat’ …“[20]

Diese Stelle zeigt den Weitblick, die langfristige Perspektive dieses Organs, das erst gerade im Kampf entstanden war. Sie drückt ganz einfach eine klare politische Sichtweise im Einklang mit dem tiefen Wesen der Arbeiterklasse aus und bezieht sich auf die internationale Arbeiterbewegung. Dieses Bewusstsein ist sowohl Ausdruck als auch aktiver Faktor der Ausdehnung des Streiks auf alle Sektoren und in alle Landesteile, der ab dem 12. Oktober praktisch zum Generalstreik wird. Der Streik lähmt die Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben, doch der Sowjet sorgt dafür, dass dies nicht zu einer Lähmung des  Arbeiterkampfes führt. Wie Trotzki es darstellte: „Er [der Streik] setzt Druckereien in Bewegung, wenn er Revolutionsbulletins bedarf, er benutzt den Telegraph für Streikbefehle und lässt Eisenbahnzüge mit den Delegierten der Streikenden fahren.“[21] Der Streik zeigt, „dass er mehr ist als eine einfache Arbeitsniederlegung, als ein passiver Protest mit über der Brust gekreuzten Armen. Er verteidigt sich und geht aus seiner Defensive zur Offensive über. In einigen südlichen Städten errichtet er Barrikaden, bemächtigt sich der Gewehrmagazine, bewaffnet sich und leistet, wenn auch nicht siegreichen, so doch heroischen Widerstand.“[22]

Der Sowjet ist die lebendige Bühne, auf der sich die Debatten um folgende Achsen drehen:

–  Welches Verhältnis zu den Bauern? Wie und unter welchen Bedingungen können sie, als unentbehrliche Verbündete, in den Kampf integriert werden?

–  Welche Rolle spielt die Armee? Werden die Soldaten aus der repressiven Maschinerie des Regimes desertieren?

–  Wie sich bewaffnen für die kommende, je länger je unausweichlichere Konfrontation mit dem zaristischen Staat?

Unter den Bedingungen von 1905 konnten diese Fragen nur gestellt, aber nicht beantwortet werden. Die Antworten sollte die Revolution von 1917 geben. Doch hätte sich das Potential, das sich 1917 entfaltete, ohne die großen Kämpfe von 1905 nicht aufbauen können.

Meistens nimmt man an, dass solche Fragen wie die, welche oben aufgeworfen worden sind, nur das Gespinst von kleinen Zirkeln von „Revolutionsstrategen“ sein können. Nichtsdestotrotz fand im Rahmen der Sowjets eine massenhafte Debatte genau über diese Fragen mit der Teilnahme und den Beiträgen von Tausenden von Arbeitern statt. Jene Pedanten, welche die Arbeiter für unfähig halten, sich um solche Angelegenheiten zu kümmern, hätten den Beweis dafür erlebt, dass die Arbeiter darüber ohne Hemmungen diskutierten, zu leidenschaftlichen und  engagierten Sachverständigen wurden, die ihre Intuition, ihre Gefühle und ihre während Jahren erworbenen Kenntnisse in den Tiegel der kollektiven Organisation gossen. Oder wie Rosa Luxemburg es bildlich darstellte: „(…) im Sturm der revolutionären Periode verwandelt sich eben der Proletarier aus einem Unterstützung heischenden vorsorglichen Familienvater in einen ‚Revolutionsromantiker’ (…)“.

Während am 26. Oktober kaum 40 Delegierte an der Sitzung des Sowjets teilnahmen, vergrößerten sich diese Zahlen von Tag zu Tag. Die erste Entscheidung einer jeden Fabrik, die sich als im Streik stehend erklärt, war, einen Delegierten zu wählen, dem ein bewusst von der Versammlung angenommenes Mandat erteilt wurde. Einige Branchen zögerten: Die Textilarbeiter von St. Petersburg, anders als ihre Kollegen in Moskau, schlossen sich dem Kampf erst am 29. an. Über die Textilarbeiter am 28. Oktober schreibt Trotzki: „Um die nicht streikenden Arbeiter zum Streik heranzuziehen, gebrauchte der Rat eine ganze Reihe von Mitteln – von den Aufrufen mit Worten bis zum Zwang mit Gewalt. Es war jedoch nicht nötig, zu äussersten Mitteln zu greifen. Wo der gedruckte Aufruf nicht half, dort genügte das Erscheinen eines Haufens von Streikenden, manchmal nur wenigen Leuten, dass die Arbeit eingestellt wurde.“[23]

Die Sitzungen des Sowjets waren die Antithese zu einem bürgerlichen Parlament oder einem Streitgespräch unter akademischen Gelehrten. „Von Vielrederei, dieser Krankheit aller Vertretungskörperschaften, war keine Spur. Die Fragen, die hier diskutiert wurden, die Ausbreitung des Streiks und die Forderungen an den Gemeinderat, waren rein praktischer Natur und wurden sachlich, kurz, energisch behandelt. Man fühlte, dass es auf jeden Moment ankomme. Die geringste Hinneigung zur Rhetorik begegnete entschiedener Abwehr seitens des Vorsitzenden, unter vollster Zustimmung der ganzen Versammlung.“[24]

Diese lebhafte und praktische Debatte, die sowohl tiefgreifend als auch konkret war, offenbarte eine Verwandlung im Bewusstsein und der gesellschaftlichen Psychologie der Arbeiter und wurde gleichzeitig zu einer mächtigen Triebkraft ihrer Entwicklung. Bewusstsein: kollektives Begreifen der gesellschaftlichen Lage und ihrer Perspektiven, der konkreten Macht der sich bewegenden Massen und der Ziele, die sie sich geben müssen; die Fähigkeit, die Freunde von den Feinden zu unterscheiden; der Entwurf einer neuen Sicht auf die Welt und ihre Zukunft. Aber gleichzeitig gesellschaftliche Psychologie: ein Faktor, der mit dem Bewusstsein zusammenhängt, aber doch von ihm zu unterscheiden ist; ein Faktor, der in der Moral und in der Lebenseinstellung der Arbeiter, in ihrer ansteckenden Solidarität, in ihrer Empathie mit anderen, in ihrer Aufgeschlossenheit und im Lernen und in ihrer selbstlosen Hingabe zur gemeinsamen Sache zum Ausdruck kommt.

Diese geistige Verwandlung mag denen als utopisch und unmöglich erscheinen, welche die Arbeiter nur durch das Prisma des Alltagslebens sehen, in dem sie sich als atomisierte Roboter ohne die geringste Initiative oder Kollektivgefühl zeigen, zerstört unter dem Gewicht der Konkurrenz und der Rivalität. Es ist aber genau die Erfahrung des Massenkampfes und der Entwicklung der Arbeiterräte, die aufzeigt, wie diese zur Triebkraft solcher Veränderungen werden, was Trotzki so beschrieben hat: „Der Sozialismus stellt sich nicht die Aufgabe, eine sozialistische Psychologie als Voraussetzung für den Sozialismus zu entwickeln, sondern sozialistische Lebensbedingungen als Voraussetzung einer sozialistischen Psychologie zu schaffen.“[25]

Die Vollversammlungen und die von ihnen gewählten und ihnen gegenüber verantwortlichen Räte werden sowohl das Gehirn als auch das Herz des Kampfes. Das Gehirn, damit Tausende von Menschen laut denken und Entscheidungen nach einer Zeit des Nachdenkens treffen können. Das Herz, damit diese Wesen aufhören, sich als verlorene Tropfen in einem Meer von sich gegenseitig fremden, potentiell feindlichen Menschen zu sehen, und stattdessen zu einem aktiven Teil einer großen Gemeinschaft werden, die sie alle vereinigt und jede und jeden ihre Stärke und Unterstützung fühlen lässt.

Indem der Sowjet sich auf diese festen Grundlagen stellte, gab er dem Proletariat eine Macht, die den bürgerlichen Staat herausforderte. Er wurde in zunehmendem Maße als gesellschaftliche Kraft wahrgenommen: „In dem Maße, wie der Oktoberstreik sich entwickelte und ausbreitet, wurde der Rat naturgemäß zum Mittelpunkt der allgemeinen politischen Aufmerksamkeit. Seine Bedeutung wuchs von Stunde zu Stunde. Vor allem schloss sich ihm das industrielle Proletariat an. Der Einsbahnerverband knüpfte enge Beziehungen zu ihm an. Der „Verband der Verbände“, der sich seit dem 27. Oktober dem Streik angeschlossen hatte, war schon von den ersten Schritten an gezwungen, das Protektorat des Rates anzuerkennen. Zahlreiche Streikkomitees (…) passten ihre Handlungen den Beschlüssen des Rates an.“[26]

Viele anarchistische und rätistische Autoren haben die Sowjets als Fahnenträger einer föderalistischen Ideologie dargestellt, die auf die lokale und auf Betriebsebene beschränkte Autonomie baue und dem angeblich „autoritären und einschränkenden“ Zentralismus, der dem Marxismus eigen sei, entgegenstehe. Ein Gedanke von Trotzki beantwortet diese Einwände: „Die Rolle Petersburgs in der russischen Revolution kann keineswegs mit der von Paris in der Revolution des 18. Jahrhunderts verglichen werden. Die allgemeine ökonomische Rückständigkeit Frankreichs und die Primitivität ihrer Verkehrsmittel einerseits, die Zentralisation der Verwaltung andererseits erlaubten es Paris, die Revolution ihrem Wesen nach innerhalb seiner Mauern zu lokalisieren. Ganz anders bei uns. Die kapitalistische Entwicklung hatte in Russland so viele selbständige revolutionäre Herde entstehen lassen, als sie Zentren der Großindustrie geschaffen hatte. Diese Herde waren selbständig, aber doch eng miteinander verbunden.“[27]

Hier sehen wir in der Praxis, was proletarische Zentralisierung bedeutet. Sie ist das Gegenteil der bürokratischen und lähmenden Zentralisierung, die charakteristisch für den Staat und allgemein für die ausbeutenden Klassen in der ganzen Geschichte ist. Die proletarische Zentralisierung beruht nicht auf der Einschränkung der Initiative und der Spontaneität der verschiedenen Bestandteile; vielmehr fördert sie sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, um ihre Entwicklung zu unterstützen. Wie Trotzki erwähnt: „Die Eisenbahn und der Telegraph dezentralisierten die Revolution trotz des zentralisierten Charakter des Staates, zugleich aber brachten sie Einheit in alle ihre lokalen Erscheinungsformen. Wenn man auch schließlich die Stimme Petersburgs als die von überragendster Bedeutung anerkennen kann, so doch nicht in dem Sinne, dass diese Stimme die Revolution auf dem Newsky–Prospekt oder bei dem Winterpalais konzentrierte, sondern einzig und allein so, dass die Losungsworte und Kampfmethoden der Hauptstadt mächtigen revolutionären Widerhall im ganzen Lande geweckt haben.“[28]

Der Sowjet war das Rückgrat dieser massenhaften Zentralisierung: „(…) so müssen wir in Petersburg selbst den Arbeiter–Delegiertenrat an die Spitze stellen“, fährt Trotzki weiter: „Nicht nur deshalb, weil dies die größte Arbeiterorganisation ist, die Russland bisher sah, auch nicht deshalb, weil der Petersburger Rat für Moskau, Odessa und eine Reihe anderer Städte mustergültig war, sondern vor allen Dingen deshalb, weil diese rein proletarische Klassenorganisation als die Organisation der Revolution par excellence auftrat. Der Rat war die Achse, um die sich alle Ereignisse bewegten, zu ihm zogen alle Fäden hin, von ihm ging jeder Kampfruf aus.“[29]

Die Rolle der Sowjets in der Schlussphase der Bewegung

Ende Oktober 1905 wurde klar, dass die Bewegung vor der Wahl steht: entweder Aufstand oder niedergeschlagen werden.

Es ist nicht das Ziel dieses Artikels, die Umstände zu analysieren, die zum zweiten Resultat führten[30]: Die Bewegung endete in der Tat mit einer Niederlage, und das zaristische Regime – noch einmal Herr der Lage – entfesselte eine grausame Repression. Und doch war die Weise, in der das Proletariat einen entschlossenen, heroischen und gleichzeitig völlig bewussten Kampf führte, eine Vorbereitung auf die Zukunft. Die schmerzliche Niederlage im Dezember 1905 bereitete die zukünftige Revolution von 1917 vor.

Der Petersburger Sowjet spielte dabei eine entscheidende Rolle: Er tat alles, was möglich war, um eine unvermeidliche Konfrontation unter den bestmöglichen Bedingungen vorzubereiten. Er bildete Arbeiterpatrouillen mit anfänglich defensivem Charakter (gegen die Strafexpeditionen der Schwarzhundertschaften, die der Zar aus dem Bodensatz der Gesellschaft auf die Beine gestellt hatte), stellte Waffendepots auf und organisierte und bildete Milizen aus.

Aber gleichzeitig wies der Petersburger Sowjet aus der Erfahrung der Arbeiteraufstände des 19. Jahrhunderts[31] darauf hin, dass der Schlüssel zur Situation die Haltung der Truppen war, weshalb sich der Hauptteil seiner Bemühungen auf die Frage konzentrierte, wie man die Soldaten für die eigene Sache gewinnen konnte.

Und tatsächlich fielen die Aufrufe und die Flugblätter an die Armeen, die Einladungen an die Truppen, sich an den Sitzungen des Sowjets zu beteiligen, nicht ins Leere. Sie stellten in einem gewissen Grad ein Echo auf die wachsende Unzufriedenheit unter den Soldaten dar, welche in der Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin (verewigt durch den berühmten Film) oder im Aufstand der Kronstädter Garnison im Oktober gipfelten.

Im November 1905 rief der Sowjet zu einem massenhaft befolgten Streik auf, dessen Ziele direkt politisch waren: das Ende des Kriegsrechts in Polen und die Aufhebung des militärischen Sondergerichts, das die Seeleute und die Soldaten von Kronstadt verfolgte. Dieser Streik konnte Teile der Arbeiterklasse mobilisieren, die bisher nie gekämpft hatten, und wurde von den Soldaten mit enormer Sympathie aufgenommen. Doch offenbarte der Streik auch die Erschöpfung der Kampfkraft der Arbeiter und eine mehrheitlich passive Haltung unter den Soldaten und Bauern, besonders in den Provinzen, was zum Misserfolg des Streiks führte.

Im Oktober und November ergriff der Sowjet zwei scheinbar paradoxe Maßnahmen, die aber lediglich der Vorbereitung der Konfrontation dienten. Sobald der Sowjet verstanden hatte, dass der Oktober–Streik am Abklingen war, schlug er den Arbeiterversammlungen vor, dass alle Arbeiter geschlossen die Arbeit wieder aufnehmen. Es war ein Akt der Stärke, der die Entschlossenheit und bewusste Disziplin der Arbeiter zum Ausdruck brachte. Dies geschah im November, bevor die Bewegung schwächer wurde. Diese Aktion war ein Mittel zur Schonung der Kräfte vor der allgemeinen Konfrontation und zeigte dem Feind die Stärke und die unerschütterliche Einheit der Kämpfenden.

Sobald die russische liberale Bourgeoisie sich der proletarischen Macht bewusst wurde, schloss sie die Ränge um das zaristische Regime. Dieses Regime fühlte sich nun gestärkt und fing mit der systematischen Jagd auf die Sowjets an. Bald wurde klar, dass die Arbeiterbewegung in den Provinzen sich auf dem Rückzug befand. Trotzdem warf sich das Moskauer Proletariat in den Aufstand, der erst nach 14 Tagen heftigen Kampfes niedergeschlagen wurde.

Diese Niederschlagung des Moskauer Aufstands war der Schlussakt von dreihundert Tagen Freiheit, Brüderlichkeit, Organisierung und Gemeinschaft, wie sie „einfache Arbeiter“ erlebten, welche die liberalen Intellektuellen so zu nennen beliebten. Während den letzten zwei Monaten hatten diese „einfachen Arbeiter“ eine einfache und bewegliche Struktur, die Sowjets, errichtet, die innerhalb kurzer Zeit eine unermessliche Macht verkörperte. Aber am Ende der Revolution schienen sie spurlos und für immer verschwunden zu sein. Abgesehen von revolutionären Minoritäten und den Gruppen fortgeschrittener Arbeiter sprach niemand mehr über sie. Und doch kamen sie 1917 auf die gesellschaftliche Bühne mit universellem Anspruch und unwiderstehlicher Kraft zurück. Wir werden darauf im unserem folgenden Artikel eingehen.

C.Mir, 5.11.2009


[1] Der I. Kongress der Kommunistischen Internationale, Protokoll der Verhandlungen in Moskau vom 2. bis zum 19. März 1919, Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg, 1921

[2]  Das Wort „Sowjet“ ist heute verknüpft mit dem barbarischen staatskapitalistischen Regime der ehemaligen UdSSR, und das Wort „sowjetisch“ ist synonym mit dem russischen Imperialismus der langen Zeit des Kalten Krieges (1945–89).

[3] Obwohl Marx die Commune als „die endlich gefundene Form der Diktatur des Proletariats“ bezeichnete und sie bemerkenswerte und vorankündigende Gemeinsamkeiten mit dem aufwies, was später die Sowjets werden sollten, ist die Pariser Commune eher verwandt mit den radikaldemokratischen Organisationsformen der städtischen Massen in der Französischen Revolution: „Die Initiative zur Ausrufung der Kommune ging vom Zentralkomitee der Nationalgarde aus, das an der Spitze eines Systems von Soldatendelegiertenräten stand, die sich in den einzelnen Einheiten gebildet hatten. Die Bataillonsklubs als unterste Organe wählten einen Legionsrat, der je 3 Vertreter in das 60–köpfige ZK entsandte. Außerdem war eine Generalversammlung aus Vertretern der Kompanien vorgesehen, die einmal monatlich zusammentreten sollte. Alle Delegierten waren jederzeit abberufbar.“ (Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden, 1958, S. 15)

[4] Zitat von Trotzki aus seinem Vorwort zu F. Lassalles Reden vor dem Geschworenengericht wiedergegeben in Trotzkis Schrift Ergebnisse und Perspektiven, 9. Kapitel Europa und die Revolution, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg–pers/9–europa.htm#top [55]

[5] Wir können hier nicht auf die Chronik der Ereignisse eingehen. Vgl. dazu Internationale Revue Nr. 35, Vor 100 Jahren: Die Revolution von 1905, Teil 1, /content/58/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-i [56]

[6] Das Buch von Rosa Luxemburg Massenstreik, Partei und Gewerkschaften beschreibt und analysiert mit großer Schärfe die Dynamik der Bewegung mit ihren Höhen und Tiefen, in ihren aufsteigenden Momenten und denjenigen des plötzlichen Rückflusses.

[7] Russland war bei dieser Weltlage des Kulminationspunktes und beginnenden Niedergangs des kapitalistischen Systems gefangen im Widerspruch zwischen dem Hindernis, das der feudale Zarismus für die kapitalistische Entwicklung darstellte, und der Notwendigkeit für die liberale Bourgeoisie, sich auf dieses System abzustützen, und zwar nicht nur auf den bürokratischen Apparat zu ihrer Entwicklung, sondern auch auf das Repressionsbollwerk gegen die nicht drängenden Ansprüche des Proletariats. Vgl. dazu das Buch von Trotzki 1905.

[8] Volin war ein anarchistischer Revolutionär, der dem Proletariat immer treu blieb und auf der Grundlage einer internationalistischen Position jede Beteiligung am Zweiten Weltkrieg ablehnte.

[9] „Eines Abends, als wir wie gewöhnlich mit einigen Arbeitern – auch Nosar war dabei – bei mir zu Hause saßen, kam jemand auf den Gedanken, eine kontinuierliche Arbeiterorganisation ins Leben zu rufen: eine Art Komitee, oder vielmehr Rat, der die Fortsetzung der Ereignisse genau verfolgen und als Verbindungsglied für alle Arbeiter dienen sollte, der über die jeweilige Lage informieren sollte und gegebenenfalls die revolutionären Arbeiter um sich scharen könnte.“ Volin, Die unbekannte Revolution, Verlag Association, Kapitel 2, Seite 104 (Nosar war der erste Vorsitzende des Petersburger Sowjets im Oktober 1905)     

[10] Er entstand am 13. Mai 1905 in der Industriestadt Iwanow–Wosnesensk im Zentrum Russlands. Für weitere Details vgl. den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 37 über 1905 (2. Teil).

[11] Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden, 1958

[12] Fjodor Fjodorowitsch Trepow, Berufsmilitär, war Chef der zaristischen Polizei in Warschau von 1860 bis 1861, dann wieder von 1863 bis 1866. Er hatte in Petersburg in den Jahren 1874–1880 die gleiche Funktion. Er war bekannt für seine brutalen Repressionsmethoden, die insbesondere in der Unterdrückung der Stundentenunruhen im Januar 1874 und der Demonstration vor der Kathedrale von Kazan 1876 zum Ausdruck kamen.

[13] Trotzki, 1905, Der Oktoberstreik, I. Kapitel

[14] ebenda

[15] Andres Nin, Los Soviets en Russia, S. 17 (unsere Übersetzung aus dem Spanischen)

[16] Trotzki, 1905, Der Oktoberstreik, II. Kapitel

[17] Ebenda, III. Kapitel

[18] Soweit hier aus Trotzki, 1905, in der deutschen Übersetzung, herausgegeben von der Kommunistischen Internationale, zitiert wird oder der Text sich auf solche Zitate bezieht, sind die Daten nach dem (neuen) gregorianischen Kalender angegeben, das heißt: Für die Umrechnung auf den 1905 in Russland noch geltenden julianischen Kalender sind 13 Tage abzuziehen.

[19] a.a.O., Die Entstehung des Arbeiter–Delegiertenrates

[20] a.a.O., von Trotzki zitiert

[21] a.a.O., Der Oktoberstreik, III

[22] a.a.O., VI

[23] a.a.O., Die Entstehung des Arbeiter–Delegiertenrates

[24] a.a.O.

[25] Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven, Kapitel 7: Die Voraussetzungen des Sozialismus. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg–pers/7–vorsoz.htm#top [57]

[26] Leo Trotzki, Die russische Revolution 1905, Die Entstehung des Arbeiter–Delegiertenrates

[27] a.a.O.

[28] a.a.O.

[29] a.a.O.

[30] Siehe dazu insbesondere den Artikel in der International Revue Nr. 37 über 1905 und die Rolle der Sowjets (2. Teil): /content/633/vor-100-jahren-die-revolution-von-1905-russland-teil-ii [58] 

[31] Insbesondere aus den Barrikadenkämpfen, aus denen Engels in seiner Einleitung zu Marxens Klassenkämpfen in Frankreich die Schlussfolgerungen gezogen hatte; er schrieb diese Einleitung 1895, und sie wurde sehr bekannt, weil die Kritik von Engels an den Barrikadenkämpfen von den Opportunisten innerhalb der Sozialdemokratie benutzt wurde, um die Ablehnung der Gewalt und den ausschließlichen Gebrauch parlamentarischer und gewerkschaftlicher Mittel zu begründen.

Internationaler Klassenkampf: Die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland und Israel

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Von der Empörung zur Vorbereitung der Klassenkämpfe

Vorbemerkung: Der Artikel wurde geschrieben bevor die OccupyWallstreet-Bewegung in den USA anfing. Deshalb konnten wir deren Einschätzung in diesem Artikel nicht mit berücksichtigen. In der Zwischenzeit haben wir einen separaten Artikel dazu veröffentlicht, https://de.internationalism.org/node/2181 [59])

Im letzten Editorial unserer Internationalen Revue Nr. 146 (englische, französische, spanische Ausgabe) haben wir über die Kämpfe in Spanien berichtet.[1] Seitdem hat sich das Beispiel dieser Kämpfe weiter auf Griechenland und Israel ausgedehnt.[2] In diesem Artikel wollen wir die Lehren dieser Bewegung ziehen und die Perspektiven untersuchen, die sich aus dem Bankrott des Kapitalismus und der brutalen Angriffe gegen die Arbeiterklasse und die große Mehrzahl der Weltbevölkerung ergeben.

Um diese zu begreifen, muss man kategorisch die alles auf die Gegenwart beziehende und empiristische Methode, die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorherrscht, verwerfen. Diese untersucht nämlich jedes einzelne Ereignis isoliert, außerhalb des historischen Kontextes und durch eine Begrenzung auf das Land, in dem diese stattfinden. Diese photographische Herangehensweise ist eine Widerspiegelung des ideologischen Niedergangs der Kapitalistenklasse, denn „Das einzige, was diese Klasse der Gesellschaft insgesamt anbieten kann, besteht darin, von einem Tag zum nächsten,  ohne Hoffnung auf Erfolg, dem unaufhaltsamen Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise zu widerstehen.“ (Manifest der IKS, 1989).[3]

Eine Photographie kann uns eine glückliche, lächelnde Person zeigen, aber solch ein Photo kann auch einen anderen Eindruck verbergen, wenn dieselbe Person nur wenige Sekunden zuvor ein ängstliches, besorgtes Gesicht macht. Wir brauchen eine Methode zur Einschätzung einer sozialen Bewegung. Man kann sie nur verstehen, indem man sie geschichtlich einordnet und untersucht, auf welchem Hintergrund sie entstanden ist und auf welche zukünftige Entwicklung sie hinweist. Man muss solche Bewegungen in einem weltweiten Kontext einordnen und sie nicht in dem national begrenzten Rahmen sehen, in dem sie entstehen. Und vor allem, sie müssen in ihrer Dynamik begriffen werden, nicht als das, was sie zu einem gegebenen Zeitpunkt sind, sondern was sie aufgrund der Tendenzen, Kräfte und Perspektiven werden können, die sie beinhalten und die früher oder später an die Oberfläche dringen werden.

Ist die Arbeiterklasse in der Lage, auf die Krise des Kapitalismus zu reagieren?

Wir haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen zweiteiligen Artikel veröffentlicht:[4] Warum hat die Arbeiterklasse den Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht überwunden? Wir haben in diesem Artikel daran erinnert, dass die kommunistische Revolution nicht automatisch eintreten wird und dass ihr Zustandekommen von dem Zusammenwirken zweier Faktoren abhängt, den objektiven und subjektiven. Der objektive Faktor ist durch die Dekadenz des Kapitalismus gegeben[5] und durch die Entwicklung einer offenen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch offensichtlich wird, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch andere Produktionsverhältnisse ersetzt werden müssen[6]. Der subjektive Faktor hängt mit dem kollektiven und bewussten Handeln des Proletariats zusammen.

Der Artikel zeigt auf, dass die Arbeiterklasse die Herausforderungen der Geschichte hat vorübergehen lassen. Bei der ersten Herausforderung, im 1. Weltkrieg, scheiterte der Versuch einer Reaktion durch eine Welle revolutionärer Kämpfe zwischen 1917-23. Bei der zweiten Herausforderung – der großen Depression von 1929 – trat die Arbeiterklasse als autonome Klasse nicht in Erscheinung. Und bei der dritten – dem 2. Weltkrieg – war die Arbeiterklasse nicht nur abwesend, sondern sie glaubte gar, dass die Demokratie und der Wohlfahrtstaat, diese beiden von den Siegermächten verbreiteten Mythen, einen Sieg für sie bedeuteten. Als die Krise Ende der 1960er Jahre wieder aufbrach, „hatte das Proletariat sich der Herausforderung zwar gestellt, (…), aber gleichzeitig konnte man die Vielzahl von Hindernissen sehen, vor denen es steht und die bislang seinen Weg zur proletarischen Revolution behindert haben“[7]. Diese Bremsen wirkten erneut während eines neuen Ereignisses welthistorischer Bedeutung: dem Zusammenbruch der sogenannten ‘kommunistischen’ Regime 1989, bei denen sie nicht nur keine aktive Rolle spielte, sondern bei denen sie zur Zielscheibe einer gewaltigen antikommunistischen Kampagne wurde, welche einen Rückgang ihres Bewusstseins und ihrer Kampfbereitschaft auslöste.

Was wir als „die fünfte Herausforderung“ der Geschichte bezeichnen können, begann 2007. Die immer offener werdende Krise offenbart das praktisch endgültige Scheitern der Politik des Kapitalismus, seine unüberwindbare Wirtschaftskrise in den Griff zu kriegen. Im Sommer 2011 wurde offensichtlich, dass die gewaltigen Geldspritzen, die in die Wirtschaft gepumpt wurden, den Aderlass nicht aufhalten können und der Kapitalismus in eine große Depression hineinrutscht, deren Ausmaß viel schlimmer sein wird als die von 1929.[8]

Aber in einer ersten Phase und trotz der Schläge, die das Proletariat einstecken musste, scheint das Proletariat erneut abwesend zu sein. Wir hatten solch eine Möglichkeit auf unserem 18. Internationalen Kongress (2009) ins Auge gefasst:  „Doch zunächst werden es aller Voraussicht nach verzweifelte und vergleichsweise isolierte Kämpfe sein, auch wenn ihnen andere Teile der Arbeiterklasse ehrliche Sympathie entgegenbringen. Selbst wenn es also in der nächsten Zeit keine bedeutende Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe gibt, dürfen wir nicht denken, dass sie aufgehört habe, für die Verteidigung ihrer Interessen zu kämpfen. Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann – namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die„Konjunkturprogramme“ angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zu lassen –, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“[9]

Die gegenwärtigen Bewegungen in Spanien, Israel und Griechenland deuten darauf hin, dass die Arbeiterklasse anfängt, sich dieser „fünften Herausforderung der Geschichte zu stellen“. Sie fängt damit an, sich darauf vorzubereiten, die Mittel zu entwickeln, um einen Sieg zu erlangen.[10]

In dem oben erwähnten Artikel haben wir hervorgehoben, dass die beiden Stützpfeiler, auf denen der Kapitalismus, zumindest in den zentralen Ländern, ruhte, um die Arbeiterklasse im Griff zu halten, die Demokratie und der sogenannte Wohlfahrtstaat waren. Die drei gegenwärtigen Bewegungen haben deutlich werden lassen, dass diese Stützpfeiler langsam infrage gestellt werden ; obwohl all dies noch sehr konfus geschieht, wird diese Infragestellung durch die katastrophale Entwicklung der Krise beschleunigt.

Die Infragestellung der Demokratie

Die Wut auf die Politiker im Allgemeinen und auf die Demokratie ist in den drei Bewegungen zum Vorschein getreten, wie auch die Empörung über die Tatsache, dass die Reichen und ihre politischen Anhängsel sich immer mehr bereichern und immer mehr bestechlich werden, während der Großteil der Bevölkerung wie eine Ware im Dienst der skandalösen Profite der ausbeutenden Minderheit gesehen wird ; eine Ware, die in den Mülleimer geworfen wird, sobald die „Geschäfte nicht gut laufen“. Auch die drastischen Sparprogramme wurden an den Pranger gestellt. Von diesen Programmen spricht niemand während der Wahlkämpfe, die aber zur Hauptbeschäftigung der Gewählten werden.

Es liegt auf der Hand, dass diese Gefühle und Haltungen nicht neu sind: Man hat zum Beispiel während der letzten 30 Jahre immer über die Politiker geschimpft. Und solche Gefühle können auch in Sackgassen gelenkt werden, wie es die Kräfte der herrschenden Klasse gegenüber diesen drei Bewegungen immer wieder versuchen, indem sie Werbung machen für „eine partizipierende Demokratie“, eine „Erneuerung der Demokratie“ usw.

Aber neu und besonders wichtig ist, dass diese Themen, welche, ob man es will oder nicht, die bürgerliche Demokratie, den bürgerlichen Staat und deren Herrschaftsapparat infrage stellen, zum Diskussionspunkt in den zahlreichenden Vollversammlungen werden. Man kann nicht Individuen vergleichen, die ihre Abscheu alleine, atomisiert, passiv und resigniert zum Ausdruck bringen, mit denen, die so etwas gemeinsam in den Versammlungen äußern. Ungeachtet aller Fehler, Verwirrungen, Sackgassen, die dort unvermeidlich zum Ausdruck kommen und mit der größten Ausdauer und Nachdruck bekämpft werden müssen, liegt der Kern der Sache eigentlich in der Tatsache, dass die Sachen offen zur Sprache gebracht werden. Dies stellt eine wichtige Politisierung der großen Massen dar, und auch ein Anfang einer Infragestellung dieser Demokratie, die dem Kapitalismus während des letzten Jahrhunderts so wertvolle Dienste geleistet hat.

Das Ende des sogenannten „Wohlfahrtstaats“

Nach dem 2. Weltkrieg baute der Kapitalismus das auf, was als „Wohlfahrtstaat“ bekannt wurde.[11] Dieser stellte eine der Hauptstützen der kapitalistischen Herrschaft während der letzten 70 Jahre dar. Er hat die Illusion geschaffen, der Kapitalismus habe die brutalsten Aspekte seiner Wirklichkeit überwunden: der Wohlfahrtstaat garantiere eine Sicherheit gegenüber der Arbeitslosigkeit, den Renten, der kostenlosen Gesundheitsversorgung und Bildung, Sozialwohnungen usw.

Dieser „Sozialstaat“, der die politische Demokratie ergänzt, ist in den letzten 25 Jahren schon stark zurückgebaut worden, um bald völlig zu verschwinden. In Griechenland, Spanien oder Israel (wo vor allem die Wohnungsnot die Leute zu Protesten angetrieben hat) stand die Angst vor der Abschaffung der sozialen Mindeststandards im Mittelpunkt der Mobilisierungen. Es liegt auf der Hand, dass die Herrschenden versucht haben, diese Proteste in „Reformen“ der Verfassung, der Verabschiedung von Gesetzen, die diese Leistungen „garantieren“ usw. umzuwandeln. Aber die Welle wachsender Unzufriedenheit wird dazu beitragen, all diese Schutzwälle, die die Arbeiterklasse zurückhalten sollen, zu untergraben.

Die Bewegung der Empörten – ein Höhepunkt von acht Jahren Kämpfen

Der Krebs des Pessimismus beherrscht die gegenwärtige Ideologie und dringt  ebenfalls in die Arbeiterklasse und ihre revolutionären  Minderheiten ein. Wie oben erwähnt hat die Arbeiterklasse alle ihre Herausforderungen, vor welche sie die Geschichte während eines Jahrhunderts kapitalistischen Niedergangs gestellt  hat, nicht angenommen. Deshalb haben sich in ihren Reihen beängstigende Zweifel an ihrer eigenen Klassenidentität und ihrer Fähigkeiten breit gemacht, die so weit gehen, dass sogar bei Ausdrücken von Kampfbereitschaft einige den Begriff „Arbeiterklasse“ verwerfen.[12] Diese Skepsis ist umso stärker, da sie durch den Zerfall des Kapitalismus noch vergrößert wird:[13] Hoffnungslosigkeit, fehlende konkrete Projekte hinsichtlich der Zukunft begünstigen Zögern und Misstrauen gegenüber jeder Perspektive kollektiven Handelns.

Die Bewegungen in Spanien, Israel und Griechenland stellen ungeachtet all ihrer Schwächen einen Anfang wirksamer Mittel gegen das Krebsgeschwür breit gestreuter Skepsis dar. Allein das Auftreten von Kämpfen und die Kontinuität, die diese darstellen, sowie die darin zum Vorschein kommende Bewusstseinsentwicklung seit 2003 bewirkt dies.[14]

Sie sind keine Bewegung, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel erscheint, sondern eine langsame Kondensierung während der letzten acht Jahre von kleinen Wolken und Sprühregen, die jetzt eine neue Qualität erreicht haben.

Die Arbeiterklasse erholt sich seit 2003 von dem langen Zeitraum des Rückflusses ihres Bewusstseins und ihrer Kampfbereitschaft, die sie nach den Ereignissen von 1989 hatte einstecken müssen. Dieser Prozess entwickelt sich aber nur langsam, mit Widersprüchen und auf gewundenen Wegen. Dies sieht man anhand:

–  einer Reihe von ziemlich isolierten Kämpfen in verschiedenen Ländern sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie, die von Beispielen geprägt sind, welche einen „Wegweiser für die  Zukunft“ darstellen: die Suche nach Solidarität, Versuche der Selbstorganisierung, das Auftauchen von neuen Generationen, Nachdenken über die Zukunft;

–  eine Entwicklung von internationalistischen Minderheiten, die eine revolutionäre Kohärenz suchen, sich viele Fragen stellen und Kontakt untereinander suchen, debattieren, Perspektiven aufzeigen…

2006 brachen zwei Bewegungen aus – der Kampf gegen den CPE in Frankreich[15] und der massive Streik der Beschäftigten in Vigo, Spanien, welche trotz der räumlichen Trennung voneinander, der unterschiedlichen Bedingungen oder der Altersunterschiede der Beteiligten ähnliche Züge aufwiesen: Vollversammlungen, Ausdehnung auf andere Bereiche, Massendemonstrationen… Es war wie ein erster Warnschuss, der aber folgenlos blieb.[16]

Ein Jahr später gab es in Ägypten Keime eines Massenstreiks, der von einer großen Textilfabrik ausging. Anfang 2008 kam es in einer Reihe von Ländern, sowohl in der Peripherie als auch im Zentrum des Kapitalismus zu gleichzeitigen, aber voneinander isolierten Kämpfen. Schließlich traten andere Bewegungen hinzu, wie die sich in 33 Ländern entwickelnden Hungerrevolten im ersten Quartal 2008. In Ägypten wurden diese unterstützt und teilweise von der Arbeiterklasse getragen. Ende 2008 revoltierte die Arbeiterjugend in Griechenland, die von einem Teil der Arbeiterklasse Rückendeckung erhielt. Auch gab es Keime internationalistischer Reaktionen 2009 in Lindsey (Großbritannien) und eine explosive Streikwelle im Süden Chinas (im Juni).

Nach dem anfänglichen Zurückweichen des Proletariats gegenüber den ersten Auswirkungen der Krise fing das Proletariat wie erwähnt an, entschlossener zu kämpfen und 2010 wurde erneut Frankreich von einer massiven Protestbewegung gegen die Rentenreform erschüttert. In dieser Bewegung kam es zu ersten Versuchen der Bildung von branchenübergreifenden Vollversammlungen. Im Dezember protestierten die Jugendlichen in Großbritannien gegen die brutale Erhöhung der Studiengebühren. 2011 schließlich brachen in Ägypten und Tunesien die großen Sozialrevolten aus. Die Kämpfe der Arbeiterklasse schienen wieder an Fahrt zu gewinnen, um einen neuen Sprung nach vorne zu machen: die Bewegung der Empörten in Spanien, dann Griechenland und Israel.

Handelt es sich um eine Bewegung der Arbeiterklasse?

Diese drei Bewegungen können nur in dem eben erwähnten Zusammenhang begriffen werden. Sie sind wie ein erstes Teil in einem Puzzle, das all die Teile der letzten acht Jahre zusammenfasst. Aber die Skepsis bleibt weiterhin sehr stark und viele fragen sich: Kann man von einer Klassenbewegung der Arbeiterklasse sprechen, da diese nicht als solche auftritt und auch keine Streiks oder Versammlungen am Arbeitsplatz gemeldet wurden?

Die Bewegung nennt sich „die Empörten“, eine sehr treffende Bezeichnung aus der Sicht der Arbeiterklasse,[17]  aber dieser Begriff lässt nicht sofort deutlich werden, welche Kraft sie in sich birgt, da sie sich nicht direkt mit der Arbeiterklasse identifiziert. Zwei Faktoren lassen sie im Wesentlichen als eine Sozialrevolte erscheinen:

Der Verlust der Klassenidentität

Die Arbeiterklasse hat einen herben Rückschlag erlitten hinsichtlich ihres eigenen Identitätsgefühls: „Die ohrenbetäubende Kampagne der Bourgeoisie über das „Ende des Kommunismus“, den „endgültigen Sieg des liberalen und demokratischen Kapitalismus“ und das „Ende des Klassenkampfes“, ja der Arbeiterklasse selbst haben dem Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft einen herben Rückschlag versetzt. Dieser Rückschlag war nachhaltig und dauerte über zehn Jahre. Er hat eine ganze Generation von Arbeitern geprägt und Ratlosigkeit, ja selbst Demoralisierung ausgelöst. Andersweitig hatten diese Ereignisse ein tiefes Gefühl der Machtlosigkeit in der Arbeiterklasse hinterlassen, was das Selbstvertrauen und die Kampfbereitschaft weiter sinken ließ“ (17. Kongress der IKS, 2007, Resolution zur internationalen Situation).[18]

Dies erklärt zum Teil, weshalb die Teilnahme der Arbeiterklasse an diesen Bewegungen nicht im Vordergrund stand, sondern dass sich eher Arbeiter als Individuen beteiligten (Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Rentner…), die nach einer Klärung suchen, sich gefühlsmäßig beteiligen, die aber nicht über die Kraft, den Zusammenhalt und die Klarheit verfügen, die man erlangt, wenn man kollektiv als Klasse handelt.

Aus diesem Identitätsverlust geht hervor, dass das Programm, die Theorie, die Traditionen, die Methoden des Proletariats von der großen Mehrheit der Arbeiter nicht als zu ihrer Klasse gehörig betrachtet werden. Sprache, Handlungsformen, Symbole – all das scheint bei der Bewegung der Empörten auf andere Quellen zurückzuführen zu sein. Dies ist eine gefährliche Schwäche, die geduldig bekämpft werden muss, damit es zu einer kritischen Wiederaneignung des theoretischen Erbes, der Erfahrung, der Traditionen der Arbeiterbewegung kommt, die diese während der letzten zwei Jahrhunderte erworben hat.

Die Anwesenheit von nicht-proletarischen Schichten

Unter den Empörten gibt es viele Mitglieder nicht-proletarischer Schichten, insbesondere eine immer stärker lohnabhängig werdende Mittelschicht. Wie wir in unserem Artikel zu Israel schrieben:

„Eine andere Methode besteht darin, sie als eine Bewegung des „Mittelstandes“ zu etikettieren. Es trifft zu, dass es sich, wie bei den anderen Bewegungen, hier um einen breiten sozialen Aufstand handelt, der die Unzufriedenheit vieler verschiedener Gesellschaftsschichten ausdrückt, vom kleinen Geschäftsmann bis zum Produktionsarbeiter, alle von ihnen von der Weltwirtschaftskrise, von der wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm und von der Verschärfung der Lebensbedingungen durch den unersättlichen Hunger der Kriegswirtschaft in einem Land wie Israel in Mitleidenschaft gezogen. Doch der „Mittelstand“ ist ein vager, alles und nichts sagender Begriff, der sich auf jedermann mit einer Ausbildung oder einem Job und – in Israel wie in Nordafrika, Spanien oder Griechenland – auf die wachsende Zahl von ausgebildeten jungen Menschen bezieht, die in die Reihen des Proletariats gedrängt werden und in schlecht bezahlten und unqualifizierten Jobs arbeiten, wenn sie denn welche finden.“[19]

Obgleich die Bewegung als sehr vage und ungenau definiert erscheint, stellt dies ihren Klassencharakter nicht infrage, vor allem wenn wir die Entwicklung in ihrer Dynamik betrachten, d.h. im Hinblick auf die Zukunft, wie es die GenossInnen der TPTG gegenüber der Bewegung in Griechenland tun. „Was die Politiker aller Couleur bei dieser Bewegung der Versammlungen besorgt, sind die wachsende Wut und die Empörung der ArbeiterInnen (und der kleinbürgerlichen Schichten), und dass diese nicht mehr mittels der politischen Parteien und Gewerkschaften zum Ausdruck kommen. Sie sind also nicht mehr so kontrollierbar und es ist besonders gefährlich für das repräsentative System der politischen Parteienlandschaft und der Gewerkschaften im Allgemeinen.[20]“

Die Arbeiterklasse ist in dieser Bewegung nicht als führende Kraft zu erkennen, auch gibt es keine spürbare Mobilisierung von den Arbeitsplätzen ausgehend. Man spürt vielmehr die Präsenz der Arbeiterklasse anhand der Dynamik des Suchens, der Klärung, der Vorbereitung des gesellschaftlichen Nährbodens, der Erkenntnis, dass wichtige Kämpfe auf uns zukommen. Darin steckt seine Bedeutung, auch wenn dies nur ein sehr kleiner, sehr unsicherer Schritt ist. Hinsichtlich Griechenlands meinen die GenossInnen von TPTG, dass die Bewegung „ein Ausdruck der Krise der Beziehungen zwischen den Klassen und der Politik im Allgemeinen darstellt. Kein anderer Kampf hat sich während der letzten Jahrzehnte so zweideutig und explosiv entwickelt“,[21] und gegenüber Israel äußerte sich ein Journalist folgendermaßen: „Anders als in Syrien oder Libyen, wo Diktatoren ihre eigenen Bürger zu Hunderten abschlachten, war es in Israel nie die Unterdrückung, die die Gesellschaftsordnung zusammenhielt, soweit es die jüdische Gesellschaft betraf. Es war die Indoktrination – eine vorherrschende Ideologie, um einen Begriff zu verwenden, der von kritischen Theoretikern bevorzugt wird. Und es war diese kulturelle Ordnung, die in dieser Protestwelle Dellen abbekam. Erstmals erkannte der Kern des israelischen Mittelstandes – es ist zu früh, um einzuschätzen, wie groß diese Gruppe ist -, dass er kein Problem mit anderen Israelis oder mit den Arabern oder mit bestimmten Politikern hat, sondern mit der gesamten Gesellschaftsordnung, mit dem gesamten System. In diesem Sinn ist es ein einmaliges Ereignis in der Geschichte Israels.“[22]

Die Merkmale zukünftiger Kämpfe

Aus dieser Sicht können wir die Merkmale dieser Kämpfe als mögliche Charakteristiken zukünftiger Kämpfe betrachten, welche diese jeweils kritisch aufgreifen und auf eine höhere Stufe stellen müssen:

–  neue Generationen der Arbeiterklasse treten in den Kampf ein. Dabei gibt es aber im Vergleich zu der 1968er Bewegung  einen wichtigen Unterschied:  Während damals die Jugend meinte, man müsse wieder bei Null anfangen und die „Alten“ seien „besiegt und verbürgerlicht“, gibt es heute Ansätze für einen vereinten Kampf verschiedener Generationen der Arbeiterklasse.

–  direkte Aktionen der Massen. Die Kämpfe haben sich auf die Straße ausgedehnt, Plätze sind besetzt worden.  Die Ausgebeuteten sind dort direkt zusammengekommen, man konnte zusammenleben, diskutieren und handeln.

–  Der Beginn einer Politisierung: ungeachtet der falschen Antworten, die heute und später gegeben werden, ist es wichtig, dass die großen Massen anfangen, sich direkt und aktiv mit den großen Fragen der Gesellschaft zu befassen. Das ist der Anfang ihrer Politisierung als Klasse.

–  Die Versammlungen: Sie sind mit der proletarischen Tradition der Arbeiterräte von 1905 und 1917 in Russland verbunden, die sich während der Welle revolutionärer Kämpfe zwischen 1927-23 auf Deutschland und andere Länder ausdehnte. Sie sind eine Waffe für die Bildung der Einheit, der Entwicklung der Solidarität, der Fähigkeit zur Bewusstseinsentwicklung und der Entscheidungen der Arbeitermassen. Der in Spanien sehr populäre Slogan „Alle Macht den Versammlungen“ spiegelt die aufkeimende zentrale Reflektion über Fragen wie den Staat, Doppelmacht usw. wider.

 – Die Debattenkultur: Die Klarheit, welche die Entschlossenheit und das Heldentum der proletarischen Massen inspiriert, kann nicht dekretiert werden. Genauso wenig ist sie das Ergebnis einer Indoktrinierung durch eine kleine Minderheit, die die Wahrheit „gepachtet“ hätte. Sie entsteht durch das Zusammenfließen von Erfahrung, dem Kampf und insbesondere der Debatten. Die Debattenkultur war bei diesen drei Bewegungen deutlich spürbar: alles wurde zur Diskussion gestellt. Alles was politisch, sozial, ökonomisch, menschlich ist, wurde durch diese gewaltigen improvisierten Agoras kritisch überprüft. Wie wir in der Einleitung zum Artikel der GenossInnen der TPTG aus Griechenland schrieben, ist dies von besonderer Bedeutung: „Die entschlossenen Bemühungen, um zur Entstehung dessen beizutragen, was die GenossInnen der TPTG „öffentlichen proletarischen Raum“ bezeichnen, welche es einer ständig wachsenden Zahl von Mitgliedern unserer Klasse ermöglichen wird, nicht nur den kapitalistischen Angriffen gegen unsere Lebensbedingungen entgegenzutreten, sondern auch die Theorien und Aktionen zu entfalten, die uns allen einen neue Art des Lebens ermöglichen“;[23]

 – die Herangehensweise an die Frage der Gewalt. „Seit jeher war das Proletariat der extremen Gewalt von Seiten der Bourgeoisie ausgesetzt, und im Falle einer versuchten Interessensverteidigung auch der Repression, sowohl im imperialistischen Krieg als auch durch die alltägliche Gewalt der Ausbeutung. Im Gegensatz zu den ausbeutenden Klassen ist das Proletariat keine gewalttätige Klasse von sich aus. Wenn auch das Proletariat Gewalt anwenden muss, und unter Umständen sehr entschlossen, so wird es ich nicht mit ihr identifizieren. Die notwendige Gewalt zum Umsturz des Kapitalismus muss in den Händen des Proletariats eine bewusste und organisierte Gewalt sein. Ihr muss ein Prozess des Bewusstseins und der Organisation anhand verschiedener Kämpfe gegen die Ausbeutung vorangehen.“[24] Wie während der Bewegung der Studenten 2006 waren die Herrschenden mehrere Male geneigt gewesen, die Bewegung der Empörten (insbesondere in Spanien) in die Falle gewalttätiger Zusammenstöße mit der Polizei zu locken, als die Bewegung zerstreut und schwach war, um diese somit zu diskreditieren und deren Isolierung zu erleichtern. Diese Fallen konnten vermieden werden und ein aktives Nachdenken über die Frage der Gewalt hat eingesetzt.[25]

Schwächen und Verwirrungen, die bekämpft werden müssen

Wir wollen diese Bewegungen überhaupt nicht glorifizieren. Nichts ist der marxistischen Methode fremder als einen entschlossenen Kampf, so wichtig und reichhaltig er auch sein mag, als ein endgültiges, abgeschlossenes und monolithisches  Modell darzustellen, das man wortwörtlich nachahmen könnte. Wir sind uns dessen Schwächen und Schwierigkeiten bewusst und sehen diese klar vor uns.

Die Anwesenheit eines „demokratischen Flügels“

Diese drängt auf die Verwirklichung einer „echten Demokratie“. Dieses Projekt wird von mehreren Richtungen vertreten, sogar von der Rechten in Griechenland. Es liegt auf der Hand, dass die Medien und Politiker sich auf diesen Flügel stützen, um die gesamte Bewegung dazu zu drängen, sich damit zu identifizieren.

Die Revolutionäre müssen energisch all die Verschleierungen, irreführenden Maßnahmen,  die Scheinargumente dieser Tendenz bekämpfen. Warum gibt es aber noch eine starke Neigung, sich nach all den Jahren von Täuschungen, Irreführungen und Lügen von den Verlockungen der Demokratie verführen zu lassen? Man kann drei Gründe anführen. Der erste liegt in dem Gewicht der nicht-proletarischen Schichten, die sehr anfällig sind für die demokratischen und interklassischen Verschleierungen. Der zweite Grund liegt in der Macht der in der Arbeiterklasse noch sehr verbreiteten demokratischen Verwirrungen und Illusionen, die besonders unter den Jugendlichen noch stark sind, weil sie noch nicht über viel politische Erfahrung verfügen. Der dritte Grund liegt in dem Druck, den der gesellschaftliche und ideologische Zerfall des Kapitalismus ausübt, welche die Tendenz begünstigt, sich in ein Gebilde „über den Klassen und den Konflikten“ zu flüchten, d.h. den Staat, der angeblich eine gewisse Ordnung, Gerechtigkeit und Vermittlung anbieten könne.

Aber es gibt noch einen tieferliegenden Grund, auf den wir hinweisen müssen. Im Der 18. Brumaire des Lois Bonaparte stellte Marx fest: „Proletarische Revolutionen dagegen, (…) kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen...“.[26] Heute deckt die ganze Entwicklung den Bankrott des Kapitalismus auf, die Notwendigkeit ihn zu überwinden und eine neue Gesellschaft zu errichten. Aber in einer Arbeiterklasse, die an ihren eigenen Fähigkeiten zweifelt und ihre Klassenidentität noch nicht wieder hergestellt hat, bringt dies jetzt und noch eine Zeitlang die Tendenz hervor, sich an morsche Äste zu klammern, auf falsche „Reformen“ und Hoffnung zu setzen auf eine „Demokratisierung“, selbst wenn man daran Zweifel hegt. All dies bietet der herrschenden Klasse noch einen Spielraum, bei dem sie Spaltung und Demoralisierung vorantreiben möchte, und es somit der Arbeiterklasse noch schwerer macht, dieses Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte und ihre Klassenidentität zu entwickeln.

Das Gift des Apolitischen

Es handelt sich um eine alte Schwäche, unter der das Proletariat seit 1968 leidet und die ihren Ursprung in der gewaltigen Enttäuschung und der tiefen Skepsis hat, welche die stalinistische und sozialdemokratische Konterrevolution hervorgerufen hatten, wodurch das Gefühl entsteht, dass jede politische Option, auch diejenige, welche sich auf die Arbeiterklasse beruft, in ihrem Kern schon den Keim des Verrats und der Unterdrückung enthalte. Daraus schlagen die Kräfte der herrschenden Klasse Profit,  welche durch die Vertuschung ihrer eigenen Identität und durch das Aufzwingen der Fiktion einer Intervention als „freie Bürger“ in der Bewegung aktiv sind und dort die Kontrolle über die Versammlungen an sich reißen und die Bewegung von Innen her sabotieren wollen. Die GenossInnen der TPTG zeigen dies sehr klar auf: „Am Anfang herrschte ein Gemeinsinn bei den Anstrengungen der Selbstorganisierung der Besetzung des Platzes und offiziell wurden die politischen Parteien nicht geduldet. Aber die linken Gruppen und insbesondere diejenigen, die aus SYRIZA stammen (eine Koalition der radikalen Linken), beteiligten sich schnell an den Versammlungen des Syntagma und besetzten wichtige Stellungen in der Gruppe, die gebildet worden war, um die Besetzung des Syntagma-Platzes zu betreiben, insbesondere im „Unterstützungssekretariat“ und in der „Kommunikationsgruppe“. Diese beiden Gruppen sind am wichtigsten, weil sie die Tagesordnungen der Versammlungen festlegen wie auch die Durchführung der Diskussionen leiten. Man konnte beobachten, dass diese Leute ihre politisch Zugehörigkeit nicht an den Tag legten und dass sie als Einzelpersonen auftraten“.[27]

Die Gefahr des Nationalismus

Diese Gefahr ist in Griechenland und Israel größer. Wie die GenossInnen der TPTG bemerken, „herrscht der Nationalismus (insbesondere in seiner populistischen Form) vor; er wird gleichzeitig von den verschiedenen Cliquen der Extremen Rechten und den linken und linksextremen Parteien begünstigt. Selbst für viele Arbeiter und Kleinbürger, die von der Krise betroffen sind, aber keiner politischen Partei angehören, erscheint die nationale Identität als eine letzte imaginäre Zufluchtsstätte, während alles andere dabei ist zusammenzubrechen. Hinter den Slogans „gegen die Regierung, die sich ans Ausland verkauft hat“ oder „für das Wohl des Landes“, „die nationale Souveränität“,  erscheint die Forderung einer „neuen Verfassung  als magische und vereinigende Lösung“.[28]

Dieser Hinweis der GenossInnen ist sehr richtig und tiefsinnig. Der Identitätsverlust und das Vertrauen in die Arbeiterklasse in ihre eigenen Kräfte, der langsame Prozess des Kampfes der Arbeiter auf der ganzen Welt begünstigt die Tendenz, sich „an etwas Nationalem“ festzuklammern. Dies ist aber nur eine utopische Flucht vor einer feindseligen Welt, die voll von Unsicherheiten ist.

Die Folgen der Kürzungen im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich, das wahre Problem, das durch die Schwächung dieser Dienstleistungsbereiche entstanden ist, werden benutzt, um die Kämpfe um die nationalistischen Schranken der Forderung einer „guten Erziehung“ (denn sie würde uns auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger machen) und eines „Gesundheitswesens im Dienste aller Bürger“ zu propagieren.

Die Angst und die Schwierigkeit, sich den Klassenkonfrontationen zu stellen

Deshalb wird die massive Mobilisierung der Arbeitslosen, der Prekären, der Arbeitslosenzentren usw.  erschwert, was wiederum ein Zögern, Zweifel und eine Tendenz begünstigt, sich an „Versammlungen“ festzuklammern, deren Teilnehmerzahl jeden Tag sinkt und deren „Einheit“ in Wirklichkeit nur die in ihren Reihen aktiven bürgerlichen Kräfte begünstigt. Dadurch entsteht für die Herrschenden ein Spielraum, die damit alle möglichen Tricks zur Sabotage der Vollversammlungen von Innen heraus einsetzen können. Gerade dies prangern die GenossInnen der TPTG an: „Die Manipulation der großen Versammlung auf dem Syntagma-Platz (es gibt weitere in anderen Stadtvierteln Athens und anderen Städten)  durch Mitglieder von Parteien oder von linken Organisationen, die  aber nicht als solche auftreten, liegt auf der Hand und dies ist ein echtes Hindernis für die Ausrichtung der Kämpfe auf einer Klassenebene. Aber aufgrund der tiefgreifenden Legitimitätskrise des politischen Repräsentationssystems im Allgemeinen müssen diese auch ihre eigene politische Identität verbergen und ein – nicht immer erfolgreich gelungenes – Gleichgewicht behalten zwischen allgemeinen und abstrakten Reden über die ‘Selbstbestimmung’, die ‘direkte Demokratie’, ‘kollektives Handeln’, ‘Antirassismus’ und ‘sozialen Wandel’ usw. und andererseits den extremen Nationalismus und das räuberische Verhalten einiger einzelner Mitglieder der extremen Rechten bändigen, die sich an den Versammlungen auf dem Platz beteiligten“.[29]
Der Zukunft mit klarem Kopf entgegensehen

Während es auf der Hand liegt, dass „der Kapitalismus überwunden werden muss, wenn die Menschheit überleben will“,[30] ist die Arbeiterklasse noch lange nicht dazu in der Lage, dieses Urteil zu vollstrecken. Die Bewegung der Empörten stellt einen kleinen Schritt in dieser Richtung dar.

In dem oben erwähnten zweiteiligen Artikel erwähnten wir, dass „einer der Gründe, weshalb die Vorhersagen der Revolutionäre in der Vergangenheit hinsichtlich des Ausgangs der Revolution nicht verwirklicht wurden, darin liegt, dass sie die Stärke der herrschenden Klasse unterschätzt haben, insbesondere deren politische Schlauheit.[31] Und diese Fähigkeit der Herrschenden, ihre politische Gerissenheit gegen die Kämpfe einzusetzen, ist heute spürbarer als je zuvor. So wurden zum Beispiel die Bewegungen der Empörten dieser drei Länder woanders sehr stark ausgeblendet; und wenn sie erwähnt wurden, dann nur mit der Version, dass sie eine „demokratische Erneuerung“ anstreben. Ein anderes Beispiel: die britische Bourgeoisie konnten die Unzufriedenheit ausschlachten, um die vorhandene Wut in einer nihilistischen Revolte enden zu lassen, die dann wiederum als Vorwand eingesetzt wurde, um die Repression zu verstärken und einschüchternd gegenüber jeder Reaktion der Klasse aufzutreten.[32]

Die Bewegungen der Empörten stellten eine erste Stufe dar in dem Sinne, da sie Schritte unternahmen, damit die Arbeiterklasse ihr Selbstvertrauen entwickelt und ihre eigene Klassenidentität aufbaut, aber dieses Ziel ist bei weitem noch nicht erreicht worden, denn dazu ist die Entwicklung von massiven Kämpfen auf einem direkt proletarischen Boden erforderlich, bei dem deutlich wird, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, gegenüber der Sackgasse des Kapitalismus den nicht-ausbeutenden Schichten eine revolutionäre Alternative anzubieten.

Wir wissen nicht, wie diese Perspektive umgesetzt werden kann, und wir bleiben wachsam gegenüber den Fähigkeiten und Initiativen der Massen, wie die vom 15. Mai in Spanien. Wir sind uns sicher, dass die internationale Ausdehnung der Kämpfe eine entscheidende Rolle dabei spielen wird.

Die drei Bewegungen haben den Keim eines internationalistischen Bewusstseins gepflanzt: während der Bewegung der Empörten in Spanien sagte man, dass die Bewegung inspiriert wurde durch den Tahrir-Platz in Ägypten;[33] sie strebte eine internationale Ausdehnung der Kämpfe an, auch wenn dies in der größten Konfusion geschah. Die Bewegungen in Israel und Griechenland erklärten ausdrücklich, dass sie dem Beispiel der Bewegung der Empörten in Spanien folgten. Die Demonstranten in Israel trugen Spruchbänder wie „Mubarak, Assad, Netanjahu, alle gleich“, was nicht nur eine beginnende Bewusstwerdung über den Feind aufzeigt, sondern auch ein embryonales Bewusstsein darüber, dass ihr Kampf mit dem der Ausgebeuteten der anderen Länder geführt werden muss und nicht gegen sie, wie es der Rahmen der nationalen Verteidigung verlangt.[34] „In Jaffna trugen Dutzende von arabischen und jüdischen Protestierenden Schilder, auf denen auf Hebräisch und Arabisch zu lesen war: „Araber und Juden wollen erschwingliche Wohnungen“ und „Jaffna will nicht Angebote nur für die Reichen“. (…) In der City von Akku wie auch in Ostjerusalem, wo es anhaltende Proteste sowohl von Juden als auch von Arabern gegen Wohnungsräumungen Letzterer im nahegelegenen Sheikh Jarrah gibt,  wurden gemeinsame jüdische und arabische Zeltlager errichtet. In Tel Aviv wurden Kontakte zu den Bewohnern der Flüchtlingslager in den besetzten Gebieten geknüpft, die die Zeltstädte besuchten und sich an den Diskussionen mit den Protestierenden beteiligten“.[35] Die Bewegungen in Ägypten und Tunesien sowie in Israel haben eine neue Lage entstehen lassen. Dies geschah in einem Teil der Welt, der wahrscheinlich Hauptschauplatz der weltweiten imperialistischen Zusammenstöße ist. Wie wir in unserem Artikel schrieben: „Die jüngste internationale Welle von Revolten gegen die kapitalistische Sparpolitik öffnet die Tür zu einer anderen Lösung: die Solidarität aller Ausgebeuteten über religiöse oder nationale Spaltungen hinweg; Klassenkampf in allen Ländern mit dem ultimativen Ziel einer weltweiten Revolution, die die Negation der nationalen Grenzen und Staaten sein wird. Ein oder zwei Jahre zuvor wäre eine solche Perspektive für die meisten völlig utopisch gewesen. Heute betrachtet eine wachsende Zahl von Menschen die globale Revolution als eine realistische Perspektive gegenüber der kollabierenden Ordnung des globalen Kapitals.“[36]

Die drei Bewegungen haben zur Herausbildung eines proletarischen Flügels beigetragen. Sowohl in Griechenland als in Spanien aber auch in Israel[37] entstehen „proletarische Flügel“ auf der Suche nach Selbstorganisierung, nach einem unnachgiebigen Kampf auf der Grundlage von Klassenpositionen und dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus. Die Probleme wie auch das Potenzial und die Perspektiven dieser großen Minderheit können im Rahmen dieses Artikels nicht aufgegriffen werden. Sicher ist, dass dies eine entscheidende Waffe für die Arbeiterklasse ist, mit der sie ihre zukünftigen Kämpfe vorbereiten wird.

C.Mir., 23.9.2011



[1]  Cf. https://fr.internationalism.org/node/4752 [60]. Da der Artikel diese Erfahrung im Einzelnen aufgriff, werden wir hier seinen Inhalt nicht wiederholen.

[2]  Siehe die Artikel über diese Bewegungen http://fr.internationalism.org/node/4776.

[3]  „Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit“, Manifest des 9. Internationalen Kongresses der IKS, 1991

[4]  Cf. Revue internationale nos 103 [61] et 104 [61].   Internationale Revue Nr. 103, 104, , engl., franz., span. Ausgabe,

[5] Zur Debatte um dieses wesentliche Konzept der Dekadenz des Kapitalismus siehe u.a. Revue internationale no 146, „Pour les révolutionnaires, la Grande Dépression confirme l‘obsolescence du capitalisme“.

[6] Revue internationale no 103, „A [61] [61]l‘aube [61] [61]du [61] [61]xxi [61]e [61] [61]siècle, [61] [61]pourquoi [61] [61]le [61] [61]prolétariat [61] [61]n‘a [61] [61]pas [61] [61]encore [61] [61]renversé [61] [61]le [61] [61]capitalisme ? [61]“: „Die zweite Bedingung der proletarischen Revolution besteht in der Entfaltung einer offenen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, womit offenbart wird, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch neue Produktionsverhältnisse ersetzt werden müssen.“

[7] Revue internationale no 104, „A [62] [62]l‘aube [62]du [62] [62]xxi [62]e [62] [62]siècle, [62] [62]pourquoi [62] [62]le [62] [62]prolétariat [62] [62]n‘a [62] [62]pas [62] [62]encore [62] [62]renversé [62] [62]le [62] [62]capitalisme ? II [62]“.

[8] Weltrevolution Nr. 168: „Die Weltwirtschaftskrise: Ein mörderischer Sommer“ 

[9] Cf. Revue internationale no 138, „Résolution [63] [63]sur [63] [63]la [63] [63]situation [63] [63]internationale [63]“.

[10] „Da die Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus über keine ökonomische Basis verfügt, besteht ihre eigentliche Stärke abgesehen von ihrer Zahl und ihrer Organisation in der Fähigkeit, sich über das Wesen, die Ziele und die Mittel ihres Kampfes bewusst zu werden“. Revue internationale Nr. 103, ebenda,

[11] „Die Verstaatlichungen und eine Reihe von gesellschaftlichen Maßnahmen (wie eine größere Kontrolle des Staates im Gesundheitswesen) sind vollkommen kapitalistische Maßnahmen (...). Die Kapitalisten haben ein ureigenes Interesse daran, dass die Arbeiter in gutem gesundheitlichem Zustand sind. (...) Aber diese kapitalistischen Maßnahmen werden als ‘Errungenschaften der Arbeiter’ dargestellt.“ Revue internationale Nr. 104, ebenda.

[12] Wir können hier nicht näher darauf eingehen, warum die Arbeiterklasse die revolutionäre Klasse der Gesellschaft ist und warum ihr Kampf die Zukunft für alle nicht-ausbeutenden Schichten darstellt, eine brennende Frage, wie wir später bei der Bewegung der Empörten sehen werden. Siehe dazu unsere Artikel in Internationale Revue Nr. 14 & 15 „Wer kann die Welt verändern“.

[13] Internationale Revue Nr. 13, „Der Zerfall: Letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“.

[14] Siehe dazu die Artikel zur Analyse des Klassenkampfes in Internationale Revue.

[15] IKS Online 2006, „Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006“.

[16] Die herrschende Klasse versucht diese Ereignisse zu verheimlichen. Die nihilistischen Revolten in den Vorstädten im November 2005 in Frankreich sind viel bekannter, selbst im politisierten Milieu, als die bewusste Bewegung der Studenten fünf Monate später.

[17] Empörung bedeutet weder Resignation noch Hass. Gegen die unerträgliche Entwicklung des Kapitalismus spiegelt Resignation eine Passivität wider, eine Tendenz alles zu verwerfen, ohne zu wissen, wie man sich wehrt. Hass im Gegenzug bringt ein aktives Gefühl zum Ausdruck, denn die Ablehnung kann in Kampf umschlagen, aber es handelt sich um einen blinden Kampf, ohne Perspektiven und Reflektion, um eine Alterntive zu entwickeln, Hass ist rein zerstörerisch. Es fließen eine Reihe von individuellen Reaktionen zusammen, aber nichts Kollektives kommt zustande. Die Empörung bringt die aktive Umwandung der Ablehnung zum Ausdruck, wobei man versucht bewusst zu kämpfen, eine Alternative zu entwickeln; sie ist also kollektiv und konstruktiv. „Die Empörung macht eine moralische Erneuerung nötig, einen kulturellen Wandel. Auch wenn manche Vorschläge ein wenig blauäugig oder seltsam erscheinen, sie spiegeln eine Begierde wider, die noch schüchtern und konfus zum Ausdruck kommt, „anders leben zu wollen“. „Vom Tahrir-Platz zur Puerta del Sol“

[18] Cf. Revue internationale Nr.130, „Résolution [64] [64]sur [64] [64]la [64] [64]situation [64] [64]internationale [64]“.

[19] Weltrevolution Nr. 168, „Proteste in Israel: „Mubarak, Assad, Netanjahu“ alle gleich“ .

[20] ICC online, „Une [65] [65]contribution [65] [65]du [65] [65]TPTG [65] [65]sur [65] [65]le [65] [65]mouvement [65] [65]des [65] [65]‚Indignés‘ [65] [65]en [65] [65]Grèce [65]“.

[21] Idem.

[22] „Révoltes sociales en Israël…“, op.cit.

[23] „Une contribution du TPTG“, op. cit.

[24] IKS Online 2006, „Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006“.

[25] Cf CCI-on line, “Qu [66]’ [66]y [66] [66]a-t-il [66] [66]derrière [66] [66]la [66] [66]campagne [66] [66]contre [66] [66]les [66] [66]„violents“ [66] [66]autour [66] [66]des [66] [66]incidents [66] [66]de [66] [66]Barcelone ? [66]“.

[26] Karl Marx, Der 18. Brumaire des Lois Bonaparte. MEW 8, S. 118.

[27] „Une contribution du TPTG…“, op. cit. Cf. aussi ICC on-line, „L‘apolitisme‘ [67] [67]est [67] [67]une [67] [67]mystification [67] [67]dangereuse [67] [67]pour [67] [67]la [67] [67]classe [67] [67]ouvrière [67]“.

[28] Idem.

[29] Idem.

[30] Losung der dritten Internationale.

[31] Revue internationale Nr.104, op. cit.

[32] IKS Online, 2011 „Die Krawalle in Großbritannien und die Sackgasse des Kapitalismus“.

[33] Die „Plaza de Cataluña“ wurde in „Plaza Tahrir“ umgetauft, was nicht nur einen internationalistischen Willen zum Ausdruck bringt, sondern auch ein Hohn für den katalonischen Nationalismus, der meint, der Platz sei sein größtes Prunkstück.

[34] Ein Demonstrant wurde in einem Interview mit dem Nachrichtensender RT gefragt, ob die Proteste von den Ereignissen in den arabischen Ländern inspiriert worden seien. Er antwortete: „Das, was auf dem Tahrir-Platz passierte, hat einen großen Einfluss. Das heißt, wenn Menschen begreifen, dass sie die Macht haben, dass sie sich selbst organisieren können, brauchen sie keine Regierung mehr, die ihnen vorschreibt, was sie tun sollen. Sie können nun ihrerseits der Regierung klar machen, was sie wollen.

[35] Idem.

[36] Idem.

[37] In dieser Bewegung „haben einige offen vor der Gefahr gewarnt, dass die Regierung militärische Zusammenstöße oder gar einen neuen Krieg auslösen könnte, um eine „nationale Einheit“ herzustellen oder die Bewegung zu spalten“ (ebenda). Dies stellt eine gewisse Distanzierung gegenüber dem israelischen Staat und seiner nationalen Einheit im Dienste der Kriegswirtschaft und des Krieges dar.

Syndikalismus in Deutschland, Teil 3: Die syndikalistische FVDG im Ersten Weltkrieg

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In den vorhergehenden zwei Artikeln haben wir aufgezeigt, wie sich ab den 1880er Jahren in den deutschen Gewerkschaften eine proletarische Oppositionsbewegung formierte. Anfänglich wandte sie sich gegen die Reduzierung des Arbeiterkampfes auf ökonomische Fragen, welche von den gewerkschaftlichen Zentralverbänden vorgegeben worden war. Später richtete sie sich ebenfalls gegen Illusionen in den Parlamentarismus und gegen die wachsende Staatsgläubigkeit der SPD. Doch erst ab 1908, nach dem Bruch mit der SPD, bewegte sich die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften FVDG offen in Richtung Syndikalismus. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 stellte die Syndikalisten in Deutschland vor die Feuerprobe: entweder Unterstützung der nationalistischen Politik der herrschenden Klasse oder Verteidigung des proletarischen Internationalismus. Neben den internationalistischen Minderheiten um Liebknecht und Luxemburg waren die revolutionären Syndikalisten der FVDG in Deutschland eine Strömung, die dem Kriegstaumel trotzte – aber leider allzu oft vergessen geht.

Die Prüfung der Stunde: Burgfrieden oder Internationalismus?

Hand in Hand mit der Sozialdemokratie, welche am 4. August 1914 offen für die Kriegskredite stimmte, hatten auch die Führungen der großen sozialdemokratischen Gewerkschaften ihr Haupt vor den Kriegsplänen der herrschenden Klasse gebeugt. An der Vorständekonferenz der sozialdemokratischen Gewerkschaften vom 2. August 1914, auf der beschlossen wurde, alle Lohnkämpfe und Streiks zugunsten des Burgfriedens und für eine ungestörte Kriegsmobilisierung einzustellen, hatte Rudolf Wissell die chauvinistische Haltung, die in den sozialdemokratischen Gewerkschaften überhand nahm, auf den Punkt gebracht: „Wird Deutschland in dem gegenwärtigen Kampfe besiegt, was wir alle nicht hoffen, so sind auch nach Beendigung des Krieges alle gewerkschaftlichen Kämpfe aussichtslos und zwecklos. Siegt Deutschland, so kommt auch eine aufsteigende Konjunktur, und es brauchen dann die Mittel der Organisation nicht so sehr in die Waagschale geworfen zu werden.“[1] Die schreckliche Logik der Gewerkschaften bestand darin, das Schicksal der Arbeiterklasse direkt an den Ausgang des Krieges zu knüpfen: Wenn es der „eigenen Nation“ und ihren Herrschenden durch Kriegsgewinn gut gehe, dann auch den Arbeitern, weil innenpolitische Zugeständnisse an die Arbeiterschaft zu erwarten seien. Deshalb müsse man alle Mittel zur Herbeiführung eines militärischen Sieges Deutschlands unterstützen.

Die Unfähigkeit der sozialdemokratischen Gewerkschaften und der SPD, angesichts des Krieges eine internationalistische Haltung zu vertreten, erstaunt nicht. Wenn man die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse an den nationalen Rahmen fesselt, den bürgerlichen Parlamentarismus als Allerweltsmittel vergöttert, statt den internationalen Antagonismus zwischen Arbeiterklasse und Kapitalismus als Orientierung zu nehmen, führt dies unweigerlich ins Lager des Kapitals.

Tatsächlich war der Krieg für die herrschende Klasse in Deutschland erst mit dem offenen Einschwenken der SPD und ihren Gewerkschaften durchführbar geworden! Die sozialdemokratischen Gewerkschaften nahmen mitnichten nur eine Rolle als Mitläufer ein. Nein, sie entwickelten eine wahre Kriegspolitik mit chauvinistischer Propaganda und waren ein entscheidender Faktor bei der Errichtung einer intensiven Kriegsproduktion. Der „sozialistische Reformismus“ hatte sich in einen „sozialistischen Imperialismus“ verwandelt, wie es Trotzki 1914 formulierte.      

Unter den Arbeitern, die in den Wochen und Monaten des Kriegsausbruchs in Deutschland versuchten, gegen den Strom zu schwimmen, befanden sich auch viele, die vom Syndikalismus beeinflusst waren. Beispielhaft für den Zusammenprall kämpferischer Teile der Arbeiterklasse mit den vom Burgfrieden besessenen Führungen der sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften war im Mai–Juni 1914, kurz vor Kriegsbeginn, der Streik auf dem deutschen Passagierdampfer „Vaterland“. Das damals weltweit größte Passagierschiff war ein protziges Aushängeschild des deutschen Imperialismus. Teile der Mannschaft waren während der Jungfernfahrt von Hamburg nach New York unter der starken Präsenz von Arbeitern des syndikalistischen Industrieverbandes in den Streik getreten. Der sozialdemokratische Deutsche Transportarbeiter Verband wandte sich aggressiv gegen diesen Streik: „Deshalb haben alle diejenigen, die an diesen Versammlungen der Syndikalisten sich beteiligt haben, ein Verbrechen an den Seeleuten begangen. (…) Wilde Streiks verwerfen wir grundsätzlich“. (…) „Und in der gegenwärtigen ernsten Zeit, wo es darauf ankommt, alle Kräfte der Arbeiter zusammenzufassen, da treiben die Syndikalisten ihre Zersplitterungsversuche in die Reihen der Arbeiter und berufen sich noch obendrein auf die Worte von Karl Marx, dass die Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann.“[2] Die Appelle der sozialdemokratischen Gewerkschaften für eine Einheit der Arbeiterbewegung waren nur noch Phrasen zur Kontrolle über die Regungen in der Arbeiterklasse, die im August 1914 von der SPD zugunsten der „Einheit für den Krieg“ verraten wurde.

Man kann der syndikalistischen Strömung in Deutschland in den Wochen vor dem Kriegsausbruch beileibe nicht den Vorwurf machen, den Klassenkampf beiseite gelegt zu haben. Im Gegenteil bildeten sie für kurze Zeit noch ein Sammelbecken kämpferischer Proletarier: „Da kamen Arbeiter, die das Wort Syndikalismus das erste Mal vernahmen und hier von heute auf morgen für ihre revolutionären Wünsche Befriedigung erhofften.“[3] Doch es stand vor allen Organisationen der Arbeiterklasse, auch der syndikalistischen Strömung, eine weitere Aufgabe. Nebst der Aufrechterhaltung des Klassenkampfes war es unabdingbar, den imperialistischen Charakter des sich abzeichnenden Krieges zu entlarven!

Was war die Haltung der syndikalistischen FVDG gegenüber dem Krieg? Am 1. August 1914 wandte sie sich in ihrem Hauptorgan Die Einigkeit klar gegen den aufkommenden Krieg, nicht als naive Pazifisten, sondern als Arbeiter, welche die Solidarität mit Arbeitern in anderen Ländern suchten: „Wer will den Krieg? Nicht das arbeitende Volk, sondern eine nichtsnutzige Militärkamarilla, die in allen europäischen Staaten nach kriegerischem Ruhm geizt. Wir Arbeiter wollen keinen Krieg! Wir verabscheuen ihn, er mordet die Kultur, schändet die Menschheit und vermehrt die Zahl der durch den bestehenden wirtschaftlichen Krieg Verkrüppelten ins Ungeheuerliche. Wir Arbeiter wollen den Frieden, den ganzen Frieden! Wir kennen keine Österreicher, Serben, Russen, Italiener, Franzosen usw. Arbeitsbruder ist unser Name! Den Arbeitern aller Länder reichen wir die Hände, um eine Untat zu verhindern, die einen Strom von Tränen aus den Augen der Mütter und Kinder erzeugen müsste. Barbaren und jeder Zivilisation feindliche Menschen mögen im Kriege eine hehre und heilige Äußerung erblicken. – Menschen mit einem fühlenden Herzen, Sozialisten, getragen von er Weltanschauung der Gerechtigkeit, Humanität und Menschenliebe, verachten den Krieg! Deshalb, Arbeiter und Genossen! Erhebt überall eure Stimme zum Protest gegen ein im Anzug befindliches Verbrechen an der Menschheit. Es kostet den Armen Gut und Blut, den Reichen aber bringt es Gewinn und den Vertretern des Militarismus Ruhm und Ehre. Nieder mit dem Krieg!“

Am 6. August erfolgte der Angriff deutscher Truppen auf Belgien. Franz Jung, ein revolutionärer syndikalistischer Sympathisant der FVDG und späteres Mitglied der KAPD, schildert seine ergreifenden Erlebnisse im kriegstaumelnden Berlin dieser Tage: „Zum mindesten stürzte eine Welt zusammen über die paar Dutzend Friedensdemonstranten, in die ich hineingeraten war. Soviel ich mich erinnere, war diese Demonstration von den Syndikalisten um Kater und Rocker aufgezogen worden. Ein Transparent, über zwei Stangen gespannt, wurde hochgehoben, eine rote Fahne entfaltet, und die Demonstration: „Nieder mit dem Krieg!“ begann sich in Reihen zu ordnen. Wir sind nicht weit gekommen.“[4]

Lassen wir eine andere revolutionäre Stimme der damaligen Zeit, die internationalistische Anarchistin Emma Goldman sprechen: „In Deutschland blieben Gustav Landauer, Erich Mühsam, Fritz Oerter, Fritz Kater, und viele andere Genossen bei Verstand. Selbstverständlich waren wir bloß eine Handvoll verglichen mit den kriegsberauschten Millionen, doch es gelang uns ein Manifest unseres Internationalen Büros in der ganzen Welt zu verbreiten und wir enthüllten nun zu Hause die wahre Natur des Militarismus mit gesteigerter Energie.“[5] Oerter und Kater waren erfahrene Hauptexponenten der FVDG. Die FVDG blieb während des ganzen Krieges standfest in ihrer Haltung gegen den Krieg. Diese ist unumstritten wohl die herausragendste Stärke der FVDG – aber kurioserweise das am wenigsten dokumentierte Kapitel ihrer Geschichte.

Die FVGD wurde bei Kriegsbeginn sofort verboten. Viele ihrer Mitglieder – sie zählte 1914 noch rund 6000 – wurden in Schutzhaft genommen oder zwangsrekrutiert und an die Front geschickt. In der Zeitschrift Der Pionier, einem zweiten Organ der FVDG, schrieb sie am 5. August 1914 im Leitartikel „Das internationale Proletariat und der drohende Weltkrieg“: „Jeder weiß es, der Krieg zwischen Serbien und Österreich ist nur der sichtbare Ausdruck für das chronische Kriegsfieber…“. Die FVDG beschrieb, wie es den Regierungen in Serbien, Österreich und Deutschland gelungen war, die Arbeiterklasse für „die Kriegsfurie“ zu gewinnen, und denunzierte dabei die SPD und die Lüge des angeblichen Verteidigungskrieges: „Deutschland wird nie der „angreifende“ Teil sein, diese Auffassung werden die Herren in der Regierung uns schon beibringen, und aus diesem Grunde werden die deutschen Sozialdemokraten, wie das ihre Presse und Redner schon in sichere Aussicht gestellt haben, wie ein Mann in den deutschen Heeren zu finden sein.“. Die Einigkeit Nr. 32 vom 8. August war die letzte Ausgabe, welche die Mitglieder noch erreichte.

Ein internationalistischer Antimilitarismus

Wir haben im einführenden Teil dieser Artikelserie über die syndikalistische Bewegung eine Unterscheidung zwischen Antimilitarismus und Internationalismus gemacht: „Der Internationalismus beruht auf dem Verständnis, dass der Kapitalismus, obwohl er ein Weltsystem ist, dennoch unfähig bleibt, über den nationalen Rahmen und die zunehmend frenetische Konkurrenz zwischen den Nationen hinauszugehen. Insofern erzeugt er eine Bewegung, die auf den internationalen Sturz der kapitalistischen Gesellschaft durch eine Arbeiterklasse abzielt, die ebenfalls international vereint ist. (…) Der Antimilitarismus dagegen ist nicht notwendigerweise internationalistisch, da er dazu neigt, nicht den Kapitalismus als solchen zum Feind zu erklären, sondern nur einen Aspekt des Kapitalismus.“[6] In welches Lager fügte sich die FVDG ein?

In der Presse der FVDG dieser Zeit stößt man wenig auf tiefschürfende oder ausgedehnte politische Analysen über die Hintergründe des Krieges oder über das Verhältnis zwischen den verschiedenen imperialistischen Mächten. Dieses Manko ergab sich aus dem gewerkschaftlichen Verständnis der FVDG. Sie verstand sich zu diesem Zeitpunkt vor allem als eine auf ökonomischem Gebiet kämpfende Organisation, obwohl sie in der Realität vielmehr ein Zusammenschluss von Gruppen war, die syndikalistische Ideen verteidigte, und keine Gewerkschaft. Die harten Auseinandersetzungen mit der SPD, die 1908 mit ihrem Ausschluss geendet hatten, erzeugten in ihren Reihen eine übertrieben pauschale Abneigung gegenüber der „Politik“ und damit den Verlust eines Erbes, das ihre Organisation in der Vergangenheit immer gegen die Trennung von Politik und Ökonomie verteidigte, welche von den großen sozialdemokratischen Gewerkschaften portiert wurde. Das Verständnis über die Dynamik der imperialistischen Spannungen war in den Reihen der FVDG nicht wirklich auf der Höhe der Zeit, sie wurde aber durch den Krieg unweigerlich gezwungen, zu einer höchst politischen Frage Stellung zu beziehen. 

Die Geschichte des Syndikalismus in Deutschland zeigt am Beispiel der FVDG auf, dass zu einer wirklich internationalistischen Haltung nicht alleine theoretische Analysen über den Imperialismus genügen. Auch ein gesunder proletarischer Instinkt, ein tiefes Solidaritätsgefühl mit der internationalen Arbeiterklasse, ist dazu unabdingbar – und genau dies bildete das Rückgrat der FVDG im Jahre 1914.

Die FVDG bezeichnete sich in ihren Schriften meist als „antimilitaristisch“, das Wort Internationalismus ist kaum zu finden. Doch um den Syndikalisten der FVDG gerecht zu werden, ist es absolut notwendig das wahre Wesen ihrer Oppositionsarbeit gegen den Krieg zu betrachten. Die Sichtweise der FVDG gegenüber dem Krieg war keine, die an den Landesgrenzen Halt machte oder wie der damals verbreitete Pazifismus Illusionen in die Möglichkeit eines friedlichen Kapitalismus hegte. Anders als die große Mehrheit der Pazifisten, welche sich mehrheitlich nach Kriegsausbruch flugs in den Reihen der Verteidigung der Nation gegen den angeblich noch grausameren ausländischen Militarismus befanden, warnte die FVDG am 8. August 1914 die Arbeiterklasse klar vor jeglicher Kooperation mit der nationalen Bourgeoisie: “Die Arbeiter dürfen daher auch jetzt nicht vertrauensselig auf die augenblickliche Humanität der Kapitalisten und Unternehmer bauen. Der augenblickliche Kriegsfuror darf das Bewusstsein der bestehenden Klassengegensätze zwischen Kapital und Arbeit nicht verwischen.“[7] 

Für die Genossen der FVDG ging es nicht darum, nur einen Aspekt des Kapitalismus, den Militarismus, zu bekämpfen, sondern sie stellten den Kampf gegen den Krieg in den allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse zur weltweiten Überwindung des Kapitalismus, so wie es Karl Liebknecht schon 1906 in der Schrift Militarismus und Antimilitarismus formuliert hatte. Liebknecht hatte 1915 im Artikel Antimilitarismus! berechtigterweise heroisch und radikal scheinende Formen des Antimilitarismus wie die Desertion kritisiert, da sie durch die Ausscheidung gerade der tüchtigsten Antimilitaristen aus den Armeen dieselben noch mehr in die Hände der Militaristen liefere und daher „alle bloß individuell geübten und individuell wirkenden Methoden grundsätzlich zu verwerfen sind“. In der internationalen syndikalistischen Bewegung gab es verschiedenste Auffassungen über den antimilitaristischen Kampf. Domela Nieuwenhuis, ein historischer Repräsentant der Generalstreiks–Idee, hatte 1901 in seiner Broschüre Der Militarismus Mittel vorgeschlagen, die eine eigenartige Mischung von Reformen und individueller Verweigerung waren. Anders die FVDG, sie teilte die Sorge Liebknechts, dass der gemeinsame Klassenkampf aller Arbeiter, und nicht die individuelle Aktion das alleinige Mittel gegen den Krieg ist.

Die Presse der FVDG wurde vor allem von der Geschäftskommission in Berlin, bestehend aus fünf Genossen um Fritz Kater, getragen und drückte, aufgrund des losen organisatorischen Zusammenhaltes der FVDG, stark deren eigene politische Positionen aus. Die internationalistische Haltung beschränkte sich innerhalb der FVDG aber nicht wie in der syndikalistischen CGT in Frankreich auf eine Minderheit der Organisation. Es kam angesichts der Kriegsfrage nicht zu Spaltungen. Es war vielmehr die Zerschlagung der Organisation und der Zwangseinzug an die Front, welche dazu führten, dass nur eine Minderheit noch permanente Aktivitäten aufrechterhalten konnte. Hauptsächlich in Berlin und in ca. 18 anderen Ortsgruppen waren syndikalistische Gruppen noch aktiv. Sie standen nach dem Verbot der Einigkeit im August 1914 durch das Mitteilungsblatt in Verbindung und ab dessen Unterdrückung im Juni 1915 durch das Organ Rundschreiben, welches im Mai 1917 ebenfalls verboten wurde. Durch die starke Repression gegen die internationalistischen Syndikalisten in Deutschland trugen ihre Publikationen ab Kriegsbeginn vielmehr den Charakter interner Bulletins, und nicht öffentlicher Zeitschriften: „Die Vorstände, resp. Vertrauensleute haben die benötigte Anzahl der Exemplare für ihre vorhandenen Mitglieder umgehend auszugeben, und das Blatt nur diesen zuzustellen.[8]

Die Genossen der FVDG hatten auch den Mut, sich dem Einschwenken der Mehrheit der syndikalistischen CGT in Frankreich zur Beteiligung am Krieg entgegenzustellen: „All diese Kriegstreiberei internationaler Sozialisten, Syndikalisten und Antimilitaristen kann nicht im entferntesten dazu beitragen, unsere Prinzipien zu erschüttern.“[9], schrieben sie zur Kapitulation der CGT–Mehrheit. Die Kriegsfrage war innerhalb der internationalen syndikalistischen Bewegung ein Prüfstein geworden. Sich der großen syndikalistischen Schwester, der CGT, entgegenzustellen, erforderte eine entschlossene Treue zur Arbeiterklasse, waren die CGT und ihre Theorien doch über Jahre wichtiger Orientierungspunkt bei der Hinwendung der FVDG zum Syndikalismus gewesen. Die Genossen der FVDG unterstützen während des Krieges die internationalistische Minderheit um Pierre Monatte, welche aus der CGT hervorging.

Weshalb blieb die FVDG internationalistisch?

Alle Gewerkschaften in Deutschland erlagen 1914 dem nationalistischen Kriegsfieber. Weshalb war die FVDG eine Ausnahme? Diese Frage lässt sich nicht alleine mit dem „Glück“, eine standhafte und internationalistische Geschäftskommission besessen zu haben, beantworten – obwohl dem so war. Genauso wenig lässt sich die Kapitulation der sozialdemokratischen Gewerkschaften gegenüber der Kriegsfrage mit dem „Pech“ einer verräterischen Gewerkschaftsführung erklären.

Die FVDG hatte sich auch kaum deshalb ein internationalistisches Rückgrat erworben, weil sie sich ab 1908 klar zum Syndikalismus hinbewegte. Das Beispiel der französischen CGT zeigt, dass der Syndikalismus in der damaligen Zeit an und für sich keine Garantie für den Internationalismus darstellte. Man kann generell sagen: Weder ein Bekenntnis zum  Marxismus noch eines zum Anarchismus oder zum Syndikalismus stellten an sich eine Garantie dar, internationalistisch zu sein.

Die FVDG verwarf die patriotische Lüge der herrschenden Klasse, eingeschlossen der Sozialdemokratie, eines reinen „Verteidigungskrieges“ (eine Falle in die Kropotkin tragischer Weise gestolpert war). Sie denunzierte in ihrer Presse die Logik, dass sich jede Nation als die Angegriffene darstellt, Deutschland gegen den dunklen russischen Zarismus, Frankreich gegen den preußischen Militarismus, usw.[10] Diese Klarheit konnte nur auf der Einsicht gedeihen, dass der Kapitalismus nicht mehr in fortschrittlichere oder rückständigere Nationen aufgeteilt werden konnte, sondern als Gesamtes zerstörerisch geworden war für die Menschheit. Eine internationalistische Haltung zeichnete sich zur Zeit des Ersten Weltkrieges vor allem durch die politische Denunziation des „Verteidigungskrieges“ aus. Nicht zufällig widmete Trotzki dieser Frage im Herbst 1914 eine ganze Broschüre.[11]

Die FVDG argumentierte oft auch mit menschlichen Prinzipien: „Der Sozialismus stellt menschliche über nationale Prinzipien“ (…) „Es ist (…) schwer jetzt auf der Seite der trauernden Menschheit zu stehen, doch wenn wir Sozialisten sein wollen, dann ist dies unser Platz.“[12] Die Frage der Solidarität und der menschlichen Verbindung mit anderen Arbeitern auf der ganzen Welt war damals eine Basis für eine internationalistisch Haltung. Der proletarisch formulierte Internationalismus der FVDG im Jahre 1914 aber, war damals ein Zeichen der Stärke der syndikalistischen Bewegung in Deutschland gegenüber der Gretchenfrage des Krieges.

Die fundamentalen Wurzeln des Internationalismus der FVDG liegen aber vor allem in ihrer Geschichte als langjährige Opposition gegen den schleichenden Reformismus innerhalb der SPD und der sozialdemokratischen Gewerkschaften. Ihre Abneigung gegen das Allerweltsmittel des Parlamentarismus der SPD spielte eine wesentliche Rolle. Sie verhinderte, gerade im Gegensatz zu den sozialdemokratischen Gewerkschaften, eine ideologische Einbindung in den kapitalistischen Staat.

Die Zerrissenheit der FVDG in der Zeit kurz vor dem Ausbruch des Krieges zwischen einem gewerkschaftlichen Verständnis, einer Abneigung gegen „die Politik“ (der SPD) und einer Realität als Propagandagruppen (welche wie schon oben beschrieben klare Analysen über den Imperialismus bremste) hatte offenbar nicht nur Schwächen zur Folge. Angesichts der unverblümten chauvinistischen Kriegspolitik der SPD und der anderen Gewerkschaften wurde in den Reihen der FVDG deutlich der alte Reflex ihres Widerstandes gegen die Entpolitisierung der Arbeiterkämpfe, den sie bis in die Massenstreikdebatte von 1904 hinein prägte, geweckt.

Auch wenn, wie im vorangegangenen Artikel beschrieben, der Widerstand der FVDG gegen den Reformismus eigenartige Schwächen in sich trug wie eine Abneigung gegen „die Politik“ – was 1914 zählte, war die Haltung gegenüber dem Krieg. Viel gewichtiger als ihre Schwächen war für die Arbeiterklasse in diesem Moment der internationalistische Beitrag der FVDG.

Entscheidend für eine internationalistische Standhaftigkeit war zudem die gesunde Reaktion, sich trotz schwierigster Bedingungen nicht in Deutschland zu verschanzen. Die FVDG suchte den Kontakt nicht nur mit Monattes internationalistischer CGT–Minderheit, sondern auch mit anderen Syndikalisten in Dänemark, Schweden, Spanien, Holland (Nationaal Arbeids Secretariaat) und Italien (Unione Sindacale Italiana), welche versuchten, sich dem Krieg entgegenzusetzen.

Ungenügende Zusammenarbeit mit anderen Internationalisten in Deutschland

Wie laut war die internationalistische Stimme der FVDG während des Kriegens innerhalb der Arbeiterklasse zu hören? Sie verwarf offen die perfiden Institutionen zur Integration in den Burgfrieden. Wie in ihrem internen Organ Rundschreiben formuliert, wandte sie sich konsequent gegen die Beteiligung an den Kriegsausschüssen[13]: „Gewiss nicht! Solche Funktionen sind nichts für die unserer Mitglieder oder Funktionäre (…) niemand kann das von ihnen verlangen“[14]. Doch dies richtete sich in den Jahren 1914–1917 fast ausschließlich an die eigenen Reihen. Mit einer realistischen Einschätzung über die augenblickliche Machtlosigkeit und die Unmöglichkeit, dem Krieg wirklich noch im Wege stehen zu können, aber vor allem mit einer berechtigten Angst vor der Zerschlagung der Organisation, wandte sich Fritz Kater im Namen der Geschäftskommission im Mitteilungsblatt vom 15. August 1914 an die Genossen der FVDG: „Unsere Ansichten über Militarismus und Krieg, wie wir sie seit Jahrzehnten vertreten und propagiert haben, für die wir bis ans Lebensende einstehen, passen nicht in eine Zeit überschwänglicher Kriegsbegeisterung, man verurteilt uns zum Schweigen. Das war vorauszusehen und daher war das Verbot für uns durchaus keine Überraschung. Wir haben uns damit in Ruhe abzufinden, ebenso auch alle übrigen Gewerkschaftsgenossen.“

Kater drückte einerseits die Hoffnung aus, die Aktivitäten wie vor dem Krieg aufrecht erhalten zu können (was aber durch die Repression unmöglich war), andererseits das minimale Ziel, die Organisation zu retten: „Die Geschäftskommission ist aber der Ansicht, pflichtvergessen zu handeln, wenn sie mit dem Verbot der Zeitungen nun auch die anderweitigen Aktivitäten einstellte. Das wird sie nicht tun. (…) Sie wird die Verbindung mit den einzelnen Organisationen aufrecht erhalten, und alles tun was nötig ist, um deren Zerfall zu verhindern.“

Die FVDG hat den Krieg tatsächlich überlebt. Dies aber nicht aufgrund einer besonders geschickten Überlebensstrategie oder eindringlichen Appellen, die Organisation nicht zu verlassen. Es war eindeutig ihre internationalistische Haltung, welche durch die Kriegszeit hindurch Anziehungspol für ihre Mitglieder blieb.

Als im September 1915 mit dem Zimmerwalder Manifest ein internationaler Aufruf mit großem Echo gegen den Krieg ertönte, wurde dies von der FVDG solidarisch begrüßt. Dies vor allem auch wegen ihrer Nähe zur internationalistischen Minderheit der CGT, welche in Zimmerwald präsent war. Doch die FVDG hegte gegen einen Großteil der Gruppierungen der Zimmerwalder Konferenz ein Misstrauen, weil diese noch allzu sehr mit der Tradition des Parlamentarismus verknüpft waren. Dieses Misstrauen war keinesfalls unberechtigt, denn sechs Anwesende in Zimmerwald, darunter Lenin, hatten dazu erklärt: „Das von der Konferenz angenommene Manifest stellt uns nicht ganz zufrieden. (…) Das Manifest enthält keine klare Charakteristik der Mittel für den Kampf gegen den Krieg.“[15]. Die FVDG verfügte auch nicht über die von Lenin angesprochene Klarheit über die Mittel für den Kampf gegen den Krieg. Ihr Misstrauen drückte vielmehr eine mangelnde Offenheit gegenüber anderen Internationalisten aus. Ihr Verhältnis gegenüber den anderen Internationalisten in Deutschland zeigt dies deutlich.

Weshalb gab es in Deutschland selbst keine Zusammenarbeit zwischen der internationalistischen Opposition des Spartakusbundes und den Syndikalisten der FVDG? Während einer langen Zeit hatten tiefe Gräben bestanden, die nicht überwunden werden konnten. Karl Liebknecht hatte 10 Jahre zuvor in der Massenstreikdebatte von 1904 die FVDG hart über den Leist der individualistischen Schwächen eines ihrer damaligen temporären Wortführers, Rafael Friedebergs, geschlagen. Soweit wir wissen, haben auch die Revolutionäre um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht den Kontakt zur FVDG während der ersten Kriegsjahre nicht gesucht, sicher aus einer Unterschätzung der internationalistischen Fähigkeiten der Syndikalisten.

Die FVDG selbst hatte gegenüber Karl Liebknecht, der Symbolfigur der Bewegung gegen den Krieg in Deutschland war, eine sehr schwankende Haltung, welche ein Zusammenrücken verhinderte. Die FVDG konnte Liebknecht einerseits seine Zustimmung zu den Kriegskrediten im August 1914, die dieser nicht aus Überzeugung, sondern lediglich aus falscher Fraktionsdisziplin (wie er danach selber kritisierte) erteilte, nie verzeihen. Andererseits verteidigte ihn die FVDG aber immer wieder in ihrer Presse, wenn Liebknecht Opfer der Repression wurde. Eigenartigerweise traute die FVDG es der revolutionären Opposition in der SPD nicht zu, sich vom Parlamentarismus zu lösen, einen Schritt, den sie selber auch erst durch die Trennung von der SPD 1908 vollständig gemacht hatte. Es existierte ein tiefes Misstrauen. Erst als dann Ende 1918 die revolutionäre Bewegung Deutschland voll erfasste, rief die FVDG ihre Mitglieder zeitweilig dazu auf, in Doppelmitgliedschaft auch dem Spartakusbund beizutreten.

Rückblickend suchten weder die FVDG noch der Spartakusbund in genügendem Maße den Kontakt auf der Basis ihrer gemeinsamen internationalistischen Haltung während des Krieges. Es war vielmehr die Bourgeoisie, welche die internationalistische Gemeinsamkeit der FVDG und der Spartakisten besser erkannte als diese beiden Organisationen selber: Die von der SPD–Führung kontrollierte Presse versuchte die Spartakisten oft als der „Kater–Tendenz“ nahe stehend zu verunglimpfen[16].

Wenn wir anhand der Geschichte der FVDG während des Ersten Weltkrieges für heute und für die Zukunft eine Lehre ziehen können, dann folgende: die Notwendigkeit, den Kontakt mit anderen Internationalisten zu suchen, auch wenn zu anderen Fragen Differenzen bestehen. Dies hat absolut nichts mit einer aus der Geschichte der geschlagenen Arbeiterbewegung der 20er und 30er Jahre bekannten „Einheitsfront“ zu tun (bei der aus einer Schwäche heraus sogar die Zusammenarbeit mit Organisationen des bürgerlichen Lagers gesucht wird) sondern damit, die wichtigste proletarische Gemeinsamkeit zu erkennen.

Mario 5.8.2011


[1] H.J. Bieber: Gewerkschaften in Krieg und Revolution, S. 88

[2] Siehe: Folkert Mohrhof, Der syndikalistische Streik auf der „Vaterland“ 1914

[3] Die Einigkeit, Hauptorgan der FVDG, 27.6.1914, Karl Roche: „Ein Gewerkschaftsführer als Gehilfe der Staatsanwaltschaft“

[4] Franz Jung, Der Weg nach unten, Nautilus, S.89

[5] Emma Goldman, Gelebtes Leben. Emma Goldman hatte sich in Februar 1915 mit anderen internationalistischen Anarchisten wie Berkman und Malatesta offen gegen die Befürwortung des Krieges durch die anarchistische Autoritätsfigur Kropotkin und anderer gewandt. Die FVDG begrüßte im Mitteilungsblatt vom 20. Februar 1915 diese Verteidigung des Internationalismus gegenüber Kropotkin durch revolutionäre Anarchisten.

[6] „Was ist revolutionärer Syndikalismus?“, Internationale Revue Nr. 46

[7] Die Einigkeit Nr. 32, 8. August 1914

[8] Mitteilungsblatt, 15. August 1914

[9] Mitteilungsblatt, 10. Oktober 1914, zitiert nach Wayne Thorpe, Keeping the faith: The German Syndicalists in the First World War. Diese Arbeit ist neben den Originaldokumenten der FVDG die einzige (und sehr wertvolle) Untersuchung über den deutschen Syndikalismus im Ersten Weltkrieg.

[10] Siehe u.a. Mitteilungsblatt November 1914 und Rundschreiben August 1916.

[11] Der Krieg und die Internationale

[12] Mitteilungsblatt, 21. November 1914

[13] Kriegsausschüsse wurden ab Februar 1915 zuerst in der metallverarbeitenden Industrie im Raum Berlin gegründet. Sie umfassten Vertreter von Unternehmerverbänden im Metallbereich und Vertreter der großen Gewerkschaften. Ihr Ziel war es, den zunehmenden Arbeitsplatzwechsel der Arbeiter in Fabriken, die höheren Gehälter boten, zu stoppen. Diese „unkontrollierte“ Fluktuation war in den Augen der Regierung und der Gewerkschaften schädlich für eine effiziente Kriegsproduktion. Aufgrund der langsam beginnenden Ausblutung der Gesellschaft durch die Massaker des Krieges war ein Arbeitskräftemangel entstanden. Diese Kriegsauschüsse basierten auf einem früheren Vorstoß zur Bildung von Kriegsarbeitsgemeinschaften, der schon im August 1914 vom sozialdemokratischen Gewerkschaftsführer Theodor Leipart ins Leben gerufen worden war, unter der heuchlerisch  arbeiterfreundlich scheinenden Begründung, „die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen“ – es ging aber in Wirklichkeit darum, die Gesellschaft besser auf die Kriegsproduktion auszurichten.

[14] Zitiert nach Thorpe: Keeping the faith, a.a.O.

[15] Erklärung von Lenin, Sinowjew, Radek, Nerman, Höglund, Winter auf der Konferenz von Zimmerwald.

[16] z.B. Vorwärts, 9. Januar 1917

Internationale Revue – 2012

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Internationale Revue 49

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Die Dekadenz des Kapitalismus (Teil VIII): Das Zeitalter der Katastrophen

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Während heute die Revolutionäre weit davon entfernt sind, einhellig die Analyse zu teilen, dass der Kapitalismus mit dem Ausbruch des I. Weltkriegs in seine Niedergangsphase eingetreten ist, war dies für jene, die damals auf diesen Krieg geantwortet und die sich an den folgenden revolutionären Erhebungen beteiligt hatten, nicht der Fall. Im Gegenteil, die Mehrheit der Marxisten teilte, wie in dieser Artikelreihe bereits gezeigt wurde, diese Auffassung. Auch war für sie das Verständnis der neuen historischen Periode unerlässlich für die Erneuerung des kommunistischen Programms und der Taktiken, die aus ihm hervorgingen.

Im vorhergehenden Artikel dieser Reihe sahen wir, dass Rosa Luxemburgs Analyse der fundamentalen Prozesse, die der imperialistischen Ausweitung zugrunde lagen, die Wiederkehr der Kalamitäten, die die vorkapitalistischen Regionen auf dem Globus heimsuchten, im Zentrum des Systems, im bürgerlichen Europa vorwegnahm. Und wie Luxemburg in ihrer Junius-Broschüre (Originaltitel: „Die Krise der Sozialdemokratie“), 1915 im Gefängnis verfasst, hervorhob, war der Ausbruch des imperialistischen Weltkrieges 1914 nicht nur wegen der Zerstörung und des Elends der Arbeiterklasse in beiden kriegführenden Lagern eine Katastrophe, sondern auch weil er durch den schlimmsten Akt des Verrats in der Geschichte der Arbeiterbewegung ermöglicht wurde: durch die Entscheidung der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien, angeblich Leuchttürme des in der marxistischen Weltanschauung geschulten Internationalismus, die Kriegsbemühungen ihrer herrschenden Klasse zu unterstützen und das gegenseitige Massaker des europäischen Proletariats zu sanktionieren, trotz aller wohlklingenden Deklarationen der Opposition gegen den Krieg, die auf zahllosen Treffen der Zweiten Internationale und ihrer Mitglieds-Parteien in den Jahren vor 1914 verabschiedet wurden.

Dies war der Tod der Internationale, die sich nun in ihre verschiedenen nationalen Parteien aufsplitterte, von denen sich große Segmente, die meisten von ihnen führende Körperschaften, ihren eigenen Bourgeoisien als Anwerbungsbüros zur Verfügung stellten: Diese wurden bekannt als „Sozialchauvinisten“ oder „Sozialpatrioten“, die auch die Mehrheit der Gewerkschaften in diese Richtung führten. In diesem fürchterlichen Debakel wälzte sich ein anderes wichtiges Segment, die „Zentristen“, in allen Arten von Konfusionen. Sie waren unfähig zum entscheidenden Bruch mit den Sozialpatrioten, verkündeten absurde Illusionen über die Möglichkeit eines Friedensabkommens und wendeten sich, wie im Fall des früheren „Papstes“ des Marxismus, Kautsky, vom Klassenkampf ab mit der Begründung, dass die Internationale lediglich ein Mittel des Friedens, nicht des Krieges sein könne. In diesen traumatisierenden Zeiten stand lediglich eine Minderheit fest zu den Prinzipien, die die gesamte Internationale am Vorabend des Krieges schriftlich angenommen hatte – vor allem die Weigerung, den Klassenkampf auszusetzen, um die Kriegsanstrengungen der eigenen Bourgeoisie nicht zu gefährden, und darüber hinaus der Wille, die vom Krieg verursachte soziale Krise als ein Mittel zur Beschleunigung des Untergangs des kapitalistischen Systems zu nutzen. Doch angesichts des hysterischen Nationalismus in der Anfangsphase des Krieges, der in Luxemburgs Broschüre beschriebenen „Pogromstimmung“ rangen selbst die besten Militanten der revolutionären Linken mit Zweifeln und Schwierigkeiten: Lenin glaubte zunächst, dass jene Ausgabe des Vorwärts, der SPD-Zeitung, die die Zustimmung der Partei zu den Kriegskrediten im Reichstag verkündete, eine Fälschung sei, die von der politischen Polizei ausgeheckt worden sei. Der Anti-Militarist Liebknecht stimmte im deutschen Parlament anfangs aus Parteidisziplin für die Kriegskredite, und der folgende Auszug aus einem Brief von Rosa Luxemburg zeigt, wie sehr sie davon überzeugt war, dass die linke Opposition innerhalb der Sozialdemokratie auf eine kleine Ansammlung versprengter Individuen reduziert worden sei:

„Ich möchte die schärfstmögliche Aktion gegen das Treiben der (Reichstags-)Abgeordneten unternehmen. Leider erhalte ich nur wenig Hilfe von meiner (Ansammlung) loser Persönlichkeiten (…) Karl (Liebknecht) ist nie erreichbar, da er wie eine Wolke am Himmel herumsaust; Franz (Mehring) hat für alles außerhalb literarischer Kampagnen nur wenig Sympathien übrig. Claras (Zetkin) Reaktion ist Hysterie und schwärzeste Verzweiflung. Doch trotz alledem beabsichtige ich, mal zu schauen, was erzielt werden kann.“ [1]

Unter den Anarchisten gab es ebenfalls Konfusionen und offenen Verrat. Der ehrwürdige Anarchist Kropotkin rief zur Verteidigung der französischen Zivilisation gegen den deutschen Militarismus auf. Jene, die seiner Linie folgten, wurden bekannt als Schützengräben-Anarchisten; besonders stark erwies sich der Lockvogel des Nationalismus im Falle der syndikalistischen CGT in Frankreich. Doch der Anarchismus war aufgrund seines heterogenen Charakters nicht auf dieselbe Art betroffen wie die „marxistischen Parteien“. Zahllose anarchistische Militante und Gruppen vertraten auch weiterhin internationalistische Positionen, wie sie es schon zuvor getan hatten.[2]

Imperialismus: Der Kapitalismus im Verfall

Es war offensichtlich, dass die Gruppen der früheren sozialdemokratischen Linken es mit der Aufgabe der Reorganisation und Umgruppierung zu tun hatten, um die grundlegende Arbeit der Propaganda und Agitation trotz nationalistischer Ekstase und staatlicher Repression fortzusetzen. Dafür war jedoch vor allem eine theoretische Neubewertung erforderlich, ein rigoroses Bemühen zu verstehen, wie der Krieg so viele lang währende Prämissen der Bewegung über den Haufen werfen konnte. Nicht zuletzt weil es notwendig war, die „sozialistische“ Hülle wegzureißen, in der die Verräter ihren Patriotismus verborgen hatten, indem sie Worte von Marx und Engels – sorgfältig ausgesucht und vor allem aus ihrem historischen Kontext gerissen – auswählten, um die Position der nationalen Verteidigung zu rechtfertigen – vor allem in Deutschland, wo es eine lange Tradition in der marxistischen Strömung gegeben hat, die die nationalen Bewegungen gegen die reaktionäre Bedrohung durch den russischen Zarismus unterstützt hatten.

Die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Untersuchung wurde von Lenin verkörpert, der zu Beginn des Krieges seine Zeit damit verbrachte, in aller Ruhe in der Züricher Bibliothek Hegel zu lesen. In einem Artikel, der kürzlich in The Commune veröffentlicht worden war, argumentiert Kevin Anderson vom Marxist-Humanist Comitee in den USA, dass Lenin durch seine Hegel-Studien zur Schlussfolgerung verleitet worden sei, die Mehrheit der Marxisten in der Zweiten Internationale, einschließlich seines Mentors Plechanow (und seiner selbst), habe nicht mit dem Vulgärmaterialismus gebrochen und ihre Ignoranz gegenüber Hegel habe bedeutet, dass sie nur wenig über die Dialektik der Geschichte begriffen hätten.[3] Und natürlich besteht eines der Grundprinzipien Hegels darin, dass das, was in einer Epoche rational war, in einer anderen Epoche durchaus irrational werden konnte. Zweifellos ist dies die Methode, die Lenin benutzte, um den Sozialchauvinisten – besonders Plechanow – zu antworten, die ihre Unterstützung des Krieges zu rechtfertigen suchten, indem sie sich auf die Schriften Marx‘ und Engels‘ bezogen:

„Die russischen Sozialchauvinisten (an ihrer Spitze Plechanow) berufen sich auf die Taktik von Marx im Kriege von 1870; die deutschen Sozialchauvinisten (vom Schlage der Lensch, David und Co.) berufen sich auf die Erklärungen von Engels im Jahre 1891, in denen er von der Pflicht der deutschen Sozialisten spricht, im Falle eines gleichzeitigen Krieges gegen Rußland und Frankreich das Vaterland zu verteidigen (…) Alle diese Berufungen sind eine empörende Fälschung der Auffassungen von Marx und Engels zugunsten der Bourgeoisie und der Opportunisten (…) Wer sich jetzt auf Marx’ Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx Worte „Die Arbeiter haben kein Vaterland” vergißt - diese Worte die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie beziehen, auf die Epoche der sozialistischen Revolution - der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche.“[4]

Hier lag der Schlüssel: Der Kapitalismus ist zu einem reaktionären System geworden, wie Marx es vorhergesagt hatte. Der Krieg war der Beweis dafür, und dies bedeutete eine völlige Neubewertung aller alten Taktiken der Bewegung, ein klares Verständnis der Charakteristiken des Kapitalismus in seiner Alterskrise und somit der neuen Bedingungen, die dem Klassenkampf bevorstanden. Unter den linken Fraktionen war diese grundlegende Analyse der Evolution des Kapitalismus allgemeingültig. Luxemburgs Junius-Broschüre griff auf der Grundlage einer gründlichen Untersuchung der Phänomene des Imperialismus in der Vorkriegsperiode Engels‘ Ankündigung auf, dass die Menschheit mit der Wahl zwischen Sozialismus und Barbarei konfrontiert werde, und erklärte, dass dies nicht mehr eine Aussicht auf die Zukunft sei, sondern unmittelbare Realität: Wie sie formulierte: „Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei“. Im gleichen Werk argumentierte Luxemburg, dass in einer Epoche des ungezügelten imperialistischen Krieges die alte Strategie der Unterstützung bestimmter Nationalbewegungen ihren ganzen fortschrittlichen Inhalt verloren habe: „In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen dienen nur als Täuschungsmittel, um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, dienstbar zu machen.“

Trotzki, der für Nashe Slowo schrieb, ging in dieselbe Richtung, indem er argumentierte, dass der Krieg ein Anzeichen dafür sei, dass der Nationalstaat selbst zu einer Barriere gegen einen weiteren menschlichen Fortschritt geworden sei: „Die Nation hat sich selbst überwunden – als Rahmen für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, als Basis des Klassenkampfes und insbesondere als Staatsform der Diktatur des Proletariats.“[5]

In seinem berühmten Werk Imperialismus – das höchste Stadium des Kapitalismus erkannte Lenin – wie Luxemburg -, dass der blutige Konflikt zwischen den Großmächten der Welt die Tatsache zum Ausdruck brachte, dass diese Mächte mittlerweile den gesamten Globus unter sich aufgeteilt hatten und dass seither der imperialistische Kuchen nur durch gewaltsames Begleichen alter Rechnungen unter den imperialistischen Ungeheuern neu aufgeteilt werden kann: „‘Das Charakteristische dieser Periode‘, folgert Supan, ‚ist also die Aufteilung Afrikas und Polynesiens.‘ Da es in Asien und Amerika keine unbesetzten Länder gibt, d.h. solche, die keinem Staate gehören, so muß Supans Schlußfolgerung dahingehend erweitert werden, daß das Charakteristische dieser Periode die endgültige Aufteilung der Erde ist, endgültig nicht in dem Sinne, daß eine Neuaufteilung unmöglich wäre – im Gegenteil, Neuaufteilungen sind möglich und unvermeidlich –, sondern in dem Sinne, daß die Kolonialpolitik der kapitalistischen Länder die Besitzergreifung unbesetzter Länder auf unserem Planeten beendet hat. Die Welt hat sich zum erstenmal als bereits aufgeteilt erwiesen, so daß in der Folge nur noch Neuaufteilungen in Frage kommen, d.h. der Übergang von einem ‚Besitzer‘ auf den anderen, nicht aber die Besitzergreifung herrenlosen Landes.“

Im selben Werk charakterisierte Lenin das „höchste Stadium“ des Kapitalismus als ein Stadium von „Parasitismus und Fäulnis“, als „sterbenden Kapitalismus“. Parasitismus, weil er – besonders im Fall Großbritanniens – eine Tendenz dafür erblickte, dass der produktive Beitrag der Industrienationen zum globalen Reichtum durch das wachsende Vertrauen auf das Finanzkapital und die Extraprofite, die aus den Kolonien gesaugt wurden, ersetzt wurde (eine Auffassung, die sicherlich kritisiert werden kann, die aber eine gewisse Eingebung enthielt, wie die heutige Blüte der Finanzspekulation und die fortschreitende De-Industrialisierung einiger der mächtigsten Nationen bezeugen können). Fäulnis (mit dem Lenin nicht eine absolute Stagnation des Wachstums meinte), weil die Tendenz des Kapitalismus, den freien Wettbewerb zugunsten von Monopolen zu beseitigen, die wachsende Notwendigkeit für die bürgerliche Gesellschaft bedeutete, ihren Platz für eine höhere Produktionsweise aufzugeben.

Lenins Imperialismus-Theorie leidet an einer Reihe von Schwächen. Seine Definition des Imperialismus ist eher eine Beschreibung einiger seiner äußeren Erscheinungsformen (die „fünf definierenden Charakteristiken“, die so oft von den Linksextremisten zitiert werden, um zu beweisen, dass diese oder jene Nation, dieser oder jener Block nicht imperialistisch sei) denn ein Versuch, zu den Wurzeln des Phänomens im Akkumulationsprozess vorzudringen, wie Luxemburg es getan hatte. Seine Vision eines fortgeschrittenen kapitalistischen Zentrums, das parasitär von den Extraprofiten aus den Kolonien lebt (und so einen Randbereich der Arbeiterklasse, die „Arbeiteraristokratie“, korrumpiert, damit dieser seine imperialistischen Projekte unterstützt), ließ genug Platz für das Eindringen der nationalistischen Ideologie in der Form einer Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien. Darüber hinaus hatte die Monopolphase (im Sinne gigantischer privater Konzerne) einem noch „höheren“ Ausdruck der kapitalistischen Fäulnis Platz gemacht: dem enormen Wachstum des Staatskapitalismus.

Hinsichtlich des letzten Punkts wurde der wichtigste Beitrag sicherlich von Bucharin geleistet, der einer der ersten war, die aufzeigten, dass in der Ära der „imperialistischen Staaten“ die Gesamtheit des sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens vom Staatsapparat aufgesaugt wird, vor allem zum Zweck des Krieges gegen die rivalisierenden Imperialisten:

„In völligem Gegensatz zum Staat in der Epoche des Industriekapitalismus zeichnet sich der imperialistische Staat durch ein außerordentliches Wachstum in der Komplexität seiner Funktionen und durch einen heftigen Einbruch im Wirtschaftsleben der Gesellschaft aus. Er offenbart eine Tendenz, sich die gesamte Produktionssphäre und die gesamte Sphäre der Warenzirkulation einzuverleiben. Zwischenformen wie gemischte Unternehmen werden durch reine Staatsregulierung ersetzt, denn auf diese Weise kann der Zentralisierungsprozess fortgesetzt werden. Sämtliche Mitglieder der herrschenden Klassen (oder – genauer – der herrschenden Klasse, denn der Finanzkapitalismus eliminiert allmählich die verschiedenen Untergruppen der herrschenden Klassen, indem er sie in einer einzigen finanzkapitalistischen Clique vereinigt) werden zu Aktionären oder Partnern in einem gigantischen Staatsunternehmen. Einst Bewahrer und Verteidiger der Ausbeutung, hat sich der Staat mittlerweile selbst in eine einzige, zentralisierende, ausbeutende Organisation verwandelt, die direkt mit dem Proletariat, dem Objekt der Ausbeutung, konfrontiert ist. Auf dieselbe Weise wie Marktpreise vom Staat bestimmt werden, weist Letzterer den Arbeitern die Rationen zu, die erforderlich sind, um die Arbeitskraft zu erhalten. In völliger Übereinstimmung mit den militärischen Behörden, deren Bedeutung und Macht stetig wachsen, erfüllt eine hierarchisch angeordnete Bürokratie die organisatorischen Funktionen. Die Volkswirtschaft wird vom Staat absorbiert, der auf militärische Weise konstruiert ist und eine enorme, disziplinierte Armee und Marine zur Verfügung hat. In ihrem Kampf werden die Arbeiter mit der Allmacht dieses monströsen Apparates konfrontiert, denn jeder Fortschritt ihrerseits richtet sich direkt gegen den Staat: Der wirtschaftliche und politische Kampf wird nicht mehr in zwei Kategorien zerfallen, und der Aufstand gegen die Ausbeutung wird eine direkte Revolte gegen die staatliche Organisation der Bourgeoisie bedeuten.“

Der totalitäre Staatskapitalismus und die Kriegswirtschaft waren zweifellos wichtige Kennzeichen des folgenden Jahrhunderts. Angesichts der Omnipräsenz dieses kapitalistischen Monsters zog Bucharin richtigerweise die Schlussfolgerung, dass jeder bedeutsame Arbeiterkampf seitdem keine andere Wahl hat, als mit dem Staat zusammenzustoßen, und dass der einzige Weg vorwärts für das Proletariat darin besteht, diesen gesamten Apparat „in die Luft zu jagen“ – den bürgerlichen Staat zu zerstören und ihn durch die eigenen Machtorgane zu ersetzen. Dies bedeutete die endgültige Abkehr von allen Spekulationen über eine friedliche Eroberung des existierenden Staates, die Marx und Engels selbst nach der Erfahrung mit der Pariser Kommune nicht völlig in Abrede gestellt hatten und die in wachsendem Maße zur orthodoxen Position der Zweiten Internationale geworden war. Pannekoek hatte 1912 zunächst diese Position aufgegriffen; als Bucharin sie wiederholte, beschuldigte Lenin ihn zunächst, in den Anarchismus abzugleiten; doch noch während er an seiner Antwort arbeitete und angetrieben von der Notwendigkeit, die sich entfaltende Situation in Russland zu begreifen, wurde Lenin erneut von der sich weiterentwickelnden Dialektik ergriffen und kam zu der Schlussfolgerung, dass Pannekoek und Bucharin Recht hatten – eine Schlussfolgerung, die in Staat und Revolution, verfasst am Vorabend des Oktober-Aufstandes, formuliert wurde.

In Bucharins Imperialismus und Weltwirtschaft (1917) gibt es auch den Versuch, den Drang zur imperialistischen Expansion aus den ökonomischen Widersprüchen zu erklären, die Marx hervorgehoben hat, als er auf den Druck hinwies, der durch den Fall der Profitrate ausgeübt wird, aber auch auf die Notwendigkeit einer konstanten Ausweitung des Marktes. Wie bei Luxemburg und Lenin ist es Bucharins Absicht nachzuweisen, dass, eben weil der Prozess der imperialistischen „Globalisierung“ eine vereinte Weltwirtschaft geschaffen hat, der Kapitalismus seine historische Mission erfüllt hatte und von nun an in den Niedergang abglitt. Dies stand völlig in Einklang mit der von Marx umrissenen Perspektive, als er schrieb, dass „Die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Herstellung des Weltmarktes, wenigstens seinen Umrissen nach, und einer auf seiner Basis ruhenden Produktion.“[6]

So bekräftigten wahrhaftige Marxisten - im Gegensatz zu den Sozialchauvinisten und den Zentristen, die auf den status quo ante bellum zurückgehen wollten und den Marxismus verfälschten, um die Unterstützung für das eine oder andere kriegführende Lager zu rechtfertigen - einmütig, dass es keinen progressiven Kapitalismus mehr gab und daher sein revolutionärer Sturz auf der historischen Tagesordnung stand.

Die Epoche der proletarischen Revolution

Die gleiche grundlegende Frage der historischen Periode stellte sich auch in Russland 1917, Schauplatz des Höhepunkts einer ansteigenden internationalen Welle des proletarischen Widerstands gegen den Krieg. Als die in den Sowjets organisierte russische Arbeiterklasse immer mehr dahinter kam, dass den Zaren loszuwerden keines ihrer wesentlichen Probleme gelöst hatte, agitierten die rechten und zentristische Fraktionen mit all ihrer Kraft gegen die Bolschewiki, die die proletarische Revolution und die sowjetische Gegenmacht forderten, um nicht nur mit den zaristischen Elementen, sondern auch mit der gesamten russischen Bourgeoisie abzurechnen, die den Februar als ihre legitime Revolution für sich beanspruchten. Sie wurden auf theoretischem Gebiet von den Menschewiki unterstützt, die Marx‘ Schriften ausquetschten, um aufzuzeigen, dass der Sozialismus nur auf der Basis eines vollständig entwickelten kapitalistischen Systems errichtet werden könne: Russland sei viel zu rückständig, es könne ganz offensichtlich nicht über das Stadium einer demokratischen, bürgerlichen Revolution hinausgehen, und die Bolschewiki seien nichts anderes als eine Bande von Abenteurern, die danach trachteten, einen historischen Bocksprung zu vollziehen. Die Antwort, die Lenin in den Aprilthesen gab, stand ebenfalls in Einklang mit seiner Lektüre Hegels, der stets die Notwendigkeit betont hatte, die geschichtliche Bewegung in ihrer Ganzheit zu betrachten; gleichzeitig reflektierten die Aprilthesen Lenins tiefes Bekenntnis zum Internationalismus. Es ist sicherlich richtig, dass die Bedingungen für die Revolution historisch heranreifen müssen, doch die Ankunft einer neuen historischen Epoche kann nicht auf der Grundlage der Untersuchung eines einzelnen Landes beurteilt werden. Der Kapitalismus war, wie die Imperialismus-Theorie zeigte, ein globales System, und daher reiften sein Niedergang und die Notwendigkeit seines Sturzes ebenfalls auf globaler Ebene heran: Der Ausbruch des imperialistischen Weltkriegs war ein hinreichender Beweis dafür. Es gab keine Russische Revolution in Isolation. Eine proletarische Erhebung in Russland konnte lediglich der erste Schritt zu einer internationalen Revolution sein, oder wie Lenin es bei seinem Paukenschlag in der Rede an die ArbeiterInnen und Soldaten, die zu seiner Begrüßung auf den Finnländischen Bahnhof in Petrograd nach seiner Rückkehr aus dem Exil gekommen waren, formulierte: „Liebe Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin glücklich, in eurer Person die siegreiche russische Revolution zu begrüßen, euch als die Avantgarde der proletarischen Weltarmee zu begrüßen… Die Stunde ist nicht fern, wo auf den Ruf unseres Genossen Karl Liebknecht die Völker die Waffen gegen ihre Ausbeuter, die Kapitalisten richten werden… Die russische Revolution, von euch vollbracht, hat eine neue Epoche eingeleitet. Es lebe die sozialistische Weltrevolution!“ [7]

Die Erkenntnis, dass der Kapitalismus die notwendigen historischen Bedingungen für die Ankunft des Sozialismus erfüllt hatte und gleichzeitig in eine historische Senilitätskrise eingetreten war, wurde – da beide Zustände lediglich zwei Seiten derselben Münze sind – in dem wohlbekannten  Satz aus der Plattform der Kommunistischen Internationale, auf ihrem Ersten Kongress im März 1919 entworfen, zusammengefasst: „Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats.“

Als die revolutionäre, internationalistische Linke auf dem Ersten Kongress der KI zusammenkam, befand sich der revolutionäre Aufruhr, ausgelöst durch den Roten Oktober, auf seinem Höhepunkt. Als der „Spartakus“-Aufstand im Januar in Berlin niedergeschlagen und Luxemburg sowie Liebknecht grausam ermordet wurden, reifte die Ungarische Revolution gerade erst heran; Europa und Teile der USA und Südamerikas wurden von Massenstreiks erfasst. Die revolutionäre Begeisterung damals fand ihren Ausdruck in den vom Kongress verabschiedeten Grundsatztexten. In Einklang mit Rosas Rede zum Gründungskongress der KPD wurde die Morgenröte der neuen Epoche in dem Sinn gedeutet, dass die alte Aufteilung zwischen Minimal- und Maximalprogramm nicht mehr gültig war; folglich hatte die Arbeit der Organisierung innerhalb des Kapitalismus durch Gewerkschaftsaktivitäten und durch die Teilnahme am Parlament, um für wesentliche Reformen zu kämpfen, ihren grundlegenden Daseinsgrund verloren. Die historische Krise des kapitalistischen Weltsystems, die sich nicht nur im imperialistischen Krieg ausdrückt, sondern auch durch das ökonomische und soziale Chaos, das sie in ihrem Kielwasser hinterlässt, bedeutete, dass der direkte Kampf um die Macht, organisiert in Sowjets, nun realistisch war und in der Tat dringend auf der Tagesordnung stand. Und dieses Aktionsprogramm war in allen Ländern gültig, einschließlich der Kolonien und Halb-Kolonien. Ferner konnte die Annahme dieses neuen Maximalprogramms nur auf dem Wege eines vollständigen Bruchs mit den Organisationen zustande kommen, die die Arbeiterklasse in der vorherigen Epoche „repräsentiert“, aber deren Interessen verraten hatten, sobald ihnen die historische Prüfung auferlegt wurde – die Nagelprobe des Krieges und der Revolution 1914-17. Die sozialdemokratischen Reformisten, die Gewerkschaftsbürokratie wurden nun als Diener des Kapitals definiert, nicht bloß als rechter Flügel der Arbeiterbewegung. Die Debatten auf dem Ersten Kongress zeigen, dass die frühe Kommunistische Internationale offen gegenüber den gewagtesten Schlussfolgerungen war, die aus der direkten Erfahrung der revolutionären Schlacht gewonnen wurden. Obwohl die Erfahrungen in Russland einen in gewisser Weise anderen Weg folgten, hörten die Bolschewiki aufmerksam den Berichten von Delegierten aus Deutschland, der Schweiz, Finnland, den USA, Großbritannien und anderswo zu, die argumentierten, dass die Gewerkschaften nicht mehr nur nutzlos waren, sondern zu einem direkten und konterrevolutionären Hindernis geworden waren – Zahnräder im Staatsapparat – und dass die ArbeiterInnen sich zunehmend außerhalb und gegen sie organisierten, in Gestalt von Räteorganisationen in den Fabriken und auf den Straßen. Und da sich der Klassenkampf eben genau auf die Arbeitsplätze und die Straßen fokussierte, erschienen diese lebendigen Zentren des Klassenkampfes und des Klassenbewusstseins in den offiziellen Dokumenten der KI in auffälligem Gegensatz zur leeren Hülle des Parlaments, einem Instrument, das nicht nur einfach irrelevant für die proletarische Revolution geworden war, sondern auch eine direkte Waffe der herrschenden Klasse sowohl in Russland 1917 als auch in Deutschland 1918 darstellte. Auch kam das Manifest der KI Luxemburgs Ansicht sehr nahe, dass nationale Kämpfe sich überlebt hatten und neu entstehende Nationen zu bloßen Spielfiguren der widerstreitenden imperialistischen Interessen wurden. An diesem Punkt schienen diese „extremen“ revolutionären Schlussfolgerungen der Mehrheit eine logische Folge der anbrechenden neuen Epoche zu sein.[8]

Die Debatten auf dem Dritten Kongress

Wenn sich die Geschichte beschleunigt, wie dies 1914 der Fall war, können in ein, zwei Jahren dramatische Veränderungen eintreten. Als die KI auf ihrem Dritten Kongress im Juni/Juli 1921 zusammenkam, hatte die Hoffnung auf eine unmittelbare Ausweitung der Revolution, die auf dem Ersten Kongress so groß war, die schlimmsten Rückschläge erlitten. Russland hatte drei Jahre eines erschöpfenden Bürgerkriegs durchlitten, und obgleich die roten Streitkräfte die Weißen militärisch besiegt hatten, war der politische Preis verheerend: die Dezimierung großer Teile der klassenbewusstesten Arbeiter, wachsende Bürokratisierung des „revolutionären“ Staates, die so weit ging, dass die Sowjets die tatsächliche Kontrolle über ihn verloren. Die Härten des „Kriegskommunismus“ und die zerstörerischen Exzesse des Roten Terrors hatten letztlich eine offene Revolte der Arbeiterklasse provoziert: Im März brachen in Petrograd Massenstreiks aus, denen der bewaffnete Aufstand der Matrosen und Arbeiter von Kronstadt folgte, die zur Wiedergeburt der Sowjets und zu einem Ende der Militarisierung der Arbeit und der repressiven Handlungen der Tscheka aufriefen. Doch die bolschewistische Führung, verkörpert durch den Staat, sah in diesen Bewegungen lediglich Ausdrücke der weißen Konterrevolution und unterdrückte sie erbarmungslos und blutig. All dies war ein Ausdruck der wachsenden Isolation der russischen Bastion. Niederlage folgte auf Niederlage: die ungarischen und bayrischen Räterepubliken, das Rote Clydeside, die italienischen Fabrikbesetzungen, der Aufstand an der Ruhr in Deutschland und viele andere Klassenbewegungen.

Im Bewusstsein ihrer wachsenden Isolation begannen die an der Macht in Russland festhaltende Partei und andere Parteien außerhalb, Zuflucht in verzweifelten Maßnahmen zu suchen, um die Revolution zu verbreiten, wie der Vorstoß der Roten Armee nach Polen und die Märzaktion im März 1921 in Deutschland – beides gescheiterte Versuche, das Tempo der Revolution ohne massenhafte Entwicklung des Klassenbewusstseins und der Organisation, die für eine wirkliche Ergreifung der Arbeitermacht benötigt wurden, zu forcieren. Mittlerweile gelang es dem kapitalistischen System, auch wenn es durch den Krieg ausgeblutet war und noch immer die Symptome einer tiefen Wirtschaftskrise aufwies, sich ökonomisch und gesellschaftlich zu stabilisieren, was zum Teil das Resultat der neuen Rolle war, die die USA als industrielles Kraftwerk und Gläubiger der Welt spielten.

Innerhalb der Kommunistischen Internationale hatte bereits der Zweite Kongress 1920 den Einfluss dieser vorherigen Niederlagen widergespiegelt. Dies wurde durch die Veröffentlichung von Lenins Text Der Linksradikalismus - eine Kinderkrankheit des Kommunismus symbolisiert, der auf dem Kongress verteilt wurde.[9] Statt sich der lebendigen Erfahrung des Weltproletariats zu öffnen, wurden die bolschewistischen Erfahrungen – bzw. eine besondere Version dessen – nun als ein Universalmodell präsentiert. Die Bolschewiki waren nach 1905 in der Duma in gewissen Maßen erfolgreich gewesen, folglich war die Taktik des „revolutionären Parlamentarismus“ überall gültig; die Gewerkschaften in Russland waren erst kürzlich gegründet worden und hatten noch nicht alle proletarischen Lebenszeichen verloren – folglich sollten die Kommunisten in allen Ländern alles Notwendige tun, um in den reaktionären Gewerkschaften zu bleiben und darum zu kämpfen, sie den korrupten Bürokraten zu entreißen. Zusammen mit der Festschreibung dieser Gewerkschafts- und Parlamentarismus-Taktiken, die in offenem Gegensatz zu den linkskommunistischen Strömungen vorgebracht wurden, die sie ablehnten, wurde dazu aufgerufen, die Kommunistischen Parteien zu Massenparteien auszubauen, größtenteils durch die Einverleibung solcher Institutionen wie die USPD in Deutschland und die Sozialistische Partei in Italien (PSI).

Das Jahr 1921 erlebte einen weiteren Beweis für das Abgleiten in den Opportunismus, für die Opferung von Prinzipien und langfristigen Zielen zugunsten kurzfristiger Erfolge und numerischen Wachstums. Statt mit einer Anprangerung der sozialdemokratischen Parteien als Agenten der Bourgeoisie haben wir es nun mit dem Trugschluss des an diese Parteien gerichteten „Offenen Briefes“ zu tun, dessen Zweck es war, „die Führer zum Kampf zu zwingen“ oder, nachdem dies gescheitert wäre, sie vor den Augen der Arbeiter unter ihren Mitgliedern zu entlarven. Kurz, die Annahme einer Politik der Manöver, mit der den Massen irgendwie ein Klassenbewusstsein untergejubelt werden sollte. Diesen Taktiken folgte kurz darauf die Verkündung der „Einheitsfront“ und des noch prinzipienloseren Slogans der „Arbeiterregierung“, eine Art parlamentarische Koalition zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Hinter all dieser Suche nach Einfluss um jeden Preis steckte das Bedürfnis des „Sowjet“-Staates, in einer feindlichen kapitalistischen Welt auszuharren, einen Modus vivendi mit dem Weltkapitalismus zu finden, auch wenn dies bedeutete, zur Praxis der Geheimdiplomatie zurückzukehren, die von der Sowjetmacht 1917 noch einhellig verurteilt worden war (1922 unterzeichnete der „Sowjet“-Staat ein Geheimabkommen mit Deutschland und versorgte es gar mit Waffen, die ein Jahr später benutzt wurden, um kommunistische Arbeiter niederzuschießen). All dies deutete eine beschleunigte Abkehr vom revolutionären Kampf und eine Hinwendung zur Einverleibung des kapitalistischen Status quo an – noch nicht endgültig, aber den Weg in die Degeneration anzeigend, die im Sieg der stalinistischen Konterrevolution ihren Höhepunkt finden sollte.

Dies bedeutete nicht, dass sämtliche Klarheit und sämtliche ernsthaften Diskussionen ein Ende gefunden hatten. Im Gegenteil, die Reaktion der „Linkskommunisten“ auf diesen opportunistischen Kurs bestand darin, ihre Argumente noch fester auf der Auffassung zu gründen, dass der Kapitalismus in eine neue Epoche eingetreten sei: So beginnt das KAPD-Programm von 1920 mit der Proklamation, dass der Kapitalismus seine historische Krise erlebe, was das Proletariat mit der Wahl zwischen Sozialismus oder Barbarei konfrontiere.[10] Im gleichen Jahr ergriff die italienische Linke das Wort; ihre Argumente gegen den Parlamentarismus gingen von der Prämisse aus, dass der Anbruch der revolutionären Epoche die alte Praxis des Parlamentarismus aufgehoben habe, eine Praxis, die noch in der vorherigen Epoche gültig gewesen war. Doch auch unter den „offiziellen“ Stimmen in der KI gab es echte Versuche, die Zeichen und Konsequenzen der neuen Epoche zu verstehen.

Der Bericht und die Thesen über die Weltlage, die von Trotzki auf dem Dritten Kongress im Juni/Juli 1921 abgeliefert wurden, boten eine sehr klare Analyse der Mechanismen, zu denen der marode Kapitalismus Zuflucht suchte, um sein Überleben in der neuen Epoche zu sichern – nicht zuletzt die Flucht in den Kredit und in fiktives Kapital. Nachdem er die ersten Anzeichen einer Nachkriegserholung analysiert hatte, stellte Trotzkis „Bericht zur Weltwirtschaftskrise und zu den Neuen Aufgaben der Kommunistischen Internationale“ folgende Frage:

„Wie lassen sich diese Tatsachen und der Boom erklären? An erster Stelle durch die wirtschaftlichen Ursachen: Nach dem Krieg wurden die internationalen Verbindungen wiederaufgenommen, wenn auch in einer äußerst verkürzten Form, und es gab eine universelle Nachfrage nach allen Arten von Gütern. Zweitens durch politisch-finanzielle Ursachen: Die europäischen Regierungen hatten eine tödliche Angst vor der Krise, die nach dem Krieg zu folgen drohte, und sie suchten Zuflucht in allen möglichen Maßnahmen, um den künstlichen, durch den Krieg geschaffenen Boom während der Zeit der Demobilisierung aufrechtzuerhalten. Die Regierungen fuhren fort, große Mengen an Papiergeld in den Kreislauf zu pumpen, emittierten neue Anleihen, regulierten Profite, Löhne und Brotpreise und subventionierten so den Verdienst der demobilisierten Arbeiter, indem sie aus den wichtigsten nationalen Mitteln schöpften und somit eine künstliche wirtschaftliche Wiederbelebung im Land schufen. So breitete sich in diesem Zeitraum das fiktive Kapital aus, besonders in jenen Ländern, in denen die Industrie weiterhin rückläufig war.“

Das ganze Leben des Kapitalismus seitdem hat diese Diagnose, dass das System sich nur über Wasser halten kann, indem es seine eigenen ökonomischen Gesetze vergewaltigt, nur bestätigt. Diese Texte strebten auch danach, das Verständnis zu vertiefen, dass der Kapitalismus ohne eine proletarische Revolution weitere und noch zerstörerischere Kriege auszulösen droht (selbst wenn ihre Schlussfolgerungen bezüglich eines drohenden Zusammenstoßes zwischen der alten Macht Großbritannien und der aufstrebenden Macht USA zwar nicht ohne Grundlage waren, letztlich aber völlig danebenlagen). Doch die wichtigste Klärung, die in den Thesen und anderen Dokumenten enthalten war, war die Schlussfolgerung, dass der Anbruch der neuen Epoche nicht bedeutete, dass Niedergang, offene Wirtschaftskrise und Revolution allesamt gleichzeitig stattfinden, eine Mehrdeutigkeit, die in der ursprünglichen Formulierung von 1919: „eine neue Epoche ist geboren“ ersichtlich ist, da sie in dem Sinne interpretiert werde konnte, dass der Kapitalismus gleichzeitig in eine „finale“ Wirtschaftskrise und in eine ununterbrochene Phase revolutionärer Konflikte eingetreten sei. Dieser Fortschritt im Verständnis wird vielleicht am klarsten in Trotzkis Text „Die Hauptlehren des Dritten Kongresses“, im Juni 1921 verfasst, ausgedrückt. Er begann wie folgt:

„Klassen sind in der Produktion verwurzelt. Klassen bleiben überlebensfähig, solange sie eine notwendige Rolle im Prozess der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit ausfüllen. Klassen verlieren den Boden unter ihren Füßen, wenn die für ihre Existenz notwendigen Bedingungen in Widerspruch zum Wachstum der Produktivkräfte treten, d.h. zur Weiterentwicklung der Wirtschaft. So ist die Lage, in der sich die Bourgeoisie derzeit befindet.

Aber dies bedeutet überhaupt nicht, dass eine Klasse, die ihre lebensspendenden Wurzeln verloren hat und parasitär geworden ist, exakt dadurch zum sofortigen Tod verurteilt ist. Während die Ökonomie die Grundlage für die Klassenherrschaft bildet, halten sich die entsprechenden Klassen durch die Mittel des Staates an der Macht – durch den Staatsapparat und seine Organe, nämlich Armee, Polizei, Parteien, Gerichte, Presse, etc. etc. Mit Hilfe dieser Organe, die im Verhältnis zum ökonomischen Fundament den ‚Überbau‘ darstellen, kann sich die herrschende Klasse noch Jahre und Jahrzehnte, nachdem sie zu einer direkten Bremse für die gesellschaftliche Weiterentwicklung geworden ist, an der Macht halten. Wenn solch eine Situation zu lange anhält, kann eine überlebte Klasse jene Länder und Völker, über die sie herrscht, mit sich herunterziehen…

Eine rein mechanische Konzeption der proletarischen Revolution – wonach sich Letztere aus der Tatsache ergibt, dass der Kapitalismus weiter verfällt – hatte gewissen Gruppen von Genossen dazu verleitet, Theorien herzuleiten, die ganz und gar falsch sind: die falsche Theorie einer initiierenden Minderheit, die durch ihren Heroismus ‚die Mauern der allgegenwärtigen Passivität‘ des Proletariats erschüttert. Die falsche Theorie der ununterbrochenen Offensiven, angeführt von der proletarischen Avantgarde, als ‚neue Methode‘ des Kampfes; die falsche Theorie der Teilkämpfe, die unter der Anwendung von Methoden der bewaffneten Erhebung geführt werden. Und so weiter und so fort. Der deutlichste Exponent dieser Tendenz ist die Wiener Zeitung Kommunismus. Es ist völlig selbstverständlich, dass taktische Theorien dieser Art nichts mit Marxismus zu tun haben.“

Somit schloss der Beginn des Niedergangs nicht wirtschaftliche Aufschwünge oder Rückzüge des Proletariats aus. Natürlich konnte niemand ermessen, wie entscheidend die Niederlagen von 1919-21 bereits gewesen waren, doch gab es ein brennendes Bedürfnis nach Klärung der Frage, was angesichts einer Epoche, nicht eines unmittelbaren Moments der Revolution zu tun ist. Ein anderer Text, die „Thesen über die Taktik“, die vom Kongress verabschiedet wurden, brachte völlig zu Recht die Notwendigkeit für die kommunistischen Parteien vor, an den Verteidigungskämpfen teilzunehmen, um das Selbstvertrauen und die Selbstbewusstwerdung der Arbeiterklasse zu stärken. Und dies war zusammen mit der Erkenntnis, dass Niedergang und Revolution keinesfalls synonym waren, eine notwendige Widerlegung der „Theorie der Offensive“, die zu einem erheblichen Teil als Rechtfertigung der halb-putschistischen Herangehensweise der März-Aktion gedient hatte. Diese Theorie – dass nämlich angesichts der Reife der objektiven Bedingungen die kommunistische Partei eine mehr oder weniger permanente, aufständische Offensive führen müsse, um die Massen zu Aktionen zu treiben – wurde hauptsächlich von der Linken innerhalb der KPD, von Bela Kun und anderen geteilt – und nicht, wie oft fälschlicherweise behauptet, von der eigentlichen Kommunistischen Linken, selbst wenn die KAPD und ihr Umfeld nicht immer klar in diesem Punkt waren.[11]

In diesem Zusammenhang waren die Interventionen der KAPD-Delegation auf dem Dritten Kongress äußerst konstruktiv. Der Etikettierung des „Sektierertums“ in den Thesen über die Taktik Lügen strafend, war das Verhalten der KAPD auf dem Kongress ein Musterbeispiel dafür, wie sich eine verantwortungsbewusste Minderheit in einer proletarischen Organisation verhalten sollte. Trotz der frustrierenden Redezeitbeschränkungen, trotz der Unterbrechungen und sarkastischen Zwischenrufe betrachtete sich die KAPD als integralen Bestandteil der Sitzungen, und ihre Delegierten erkannten bereitwillig Punkte der Übereinstimmung an, wo es welche gab; sie waren überhaupt nicht daran interessiert, Differenzen um der eigenen Sache willen hervorzuheben, was das Wesen eines sektiererischen Verhaltens ausmacht.[12] Beispielsweise stimmte eine Anzahl von KAPD-Delegierten in der Diskussion über die Weltlage in vielen Punkten mit Trotzkis Analyse überein, besonders mit der Bemerkung, dass der Kapitalismus sich mittlerweile ökonomisch wiederhergestellt und die Kontrolle auf gesellschaftlicher Ebene wiedererlang habe: So betonte Seeman die Fähigkeit der internationalen Bourgeoisie, ihre interimperialistischen Rivalitäten zeitweise hintanzustellen, um mit der proletarischen Gefahr besonders in Deutschland fertig zu werden.

Die Konsequenz daraus – besonders angesichts dessen, dass Trotzkis Bericht und die Thesen über die Weltlage zu einem großen Umfang als eine Widerrede gegen die Anhänger der „Theorie der Offensive“ verstanden wurde – war die, dass die KAPD weder eine Wiederstabilisierung des Kapitals ausschloss, noch behauptete, dass der Kampf jederzeit offensiv sein müsse. Und in der Tat fand diese Ansicht explizit ihren Ausdruck in einer Reihe von Interventionen.

Sachs formulierte es in seiner Antwort auf Trotzkis Präsentation über die weltwirtschaftliche Lage so: „Nun haben wir zwar gestern ausführlich gehört, wie Genosse Trotzki – und ich glaube, wir alle sind da mit ihm einig – sich den Zusammenhang der momentanen kleinen zyklischen Krisen und Aufschwungperioden mit diesen Problemen des Aufschwungs und Niedergangs des Kapitalismus, in großen Zeiträumen gerechnet, vorstellt. Gewiss werden wir wohl alle einverstanden sein, dass die große Kurve aufwärts gegangen ist und nunmehr unaufhaltsam abwärts geht und dass innerhalb dieser großen Kurve sowohl beim Aufwärtsgehen, als auch jetzt beim Abwärtsgehen Schwankungen vorhanden sind.“

Welche Zweideutigkeiten auch immer in ihrer Auffassung über die „Todeskrise“ geherrscht haben mögen, so hat die KAPD nicht behauptet, dass der Beginn der Dekadenz einen plötzlichen und endgültigen Zusammenbruch des kapitalistischen Wirtschaftslebens bedeute.

Gleichermaßen deutlich wies Hempel in seiner Intervention zu den Taktiken der Internationale den Vorwurf zurück, dass die „sektiererische“ KAPD defensive Kämpfe ablehne und die jederzeitige Offensive fordere: „Sodann wird die Frage der Teilaktionen behandelt. Wir sagen, wir lehnen keine Teilaktionen ab. Wir sagen, jegliche Aktion, jeglicher Kampf, denn das ist eine Aktion, muss ausgearbeitet werden, muss weitergetrieben werden. Man kann nicht sagen, wir lehnen jenen Kampf ab, und wir lehnen diesen Kampf ab. Der Kampf, der sich aus den wirtschaftlichen Nöten der Arbeiterschaft entspinnt, dieser Kampf muss mit allen Mitteln vorangetrieben werden. Und gerade in einem solchen Lande wie in Deutschland, ja, wie in England und all den Ländern der bürgerlichen Demokratie, die eine vierzig- bis fünfzigjährige bürgerliche Demokratie und ihre Wirkungen verspürt haben, muss die Arbeiterschaft erst an die Kämpfe gewöhnt werden. Die Parolen müssen diesen Teilaktionen entsprechen. Nehmen wir ein Beispiel: in einem Betriebe, in verschiedenen Betrieben bricht ein sogenannter Generalstreik aus, umfasst ein kleines Gebiet. Dort kann die Parole nicht lauten: Kampf um die Diktatur des Proletariats. Das wäre ein Unsinn. Die Parolen passen sich den Verhältnissen an, sie passen sich dem an, was man dort erreichen kann.“

Doch hinter vielen dieser Interventionen steckte das Beharren der KAPD, dass die KI nicht tief genug in ihrem Verständnis ging, dass eine neue Periode im Leben des Kapitalismus und somit im Klassenkampf eröffnet worden sei. Sachs zum Beispiel, der mit Trotzki in der Möglichkeit temporärer Aufschwünge übereinstimmte, argumentierte, „was in diesen Thesen nicht zum Ausdruck gekommen ist, was in ihnen keine plastische Formulierung gefunden hat, das ist eben der grundverschiedene Charakter dieser Niedergangsepoche gegenüber jener vergangenen Aufschwungsepoche des Kapitalismus im ganzen genommen“; und dass dies Konsequenzen für die Art und Weise haben werde, wie der Kapitalismus fortan überleben werde: „Das Kapital baut seine Gewalt durch den Abbau der Wirtschaft auf“,[13] eine kühne Vorwegnahme, wie der Kapitalismus als System im folgenden Jahrhundert überleben sollte. Hempel umriss in der Diskussion über die Taktiken die Folgen der neuen Epoche in Hinsicht auf die politischen Positionen, die Kommunisten vorlegen mussten, besonders in den taktischen gewerkschaftlichen und parlamentarischen Fragen. Im Gegensatz zu den Anarchisten, mit denen die KAPD oft in einen Topf geschmissen wurde, bestand Hempel darauf, dass der Gebrauch des Parlaments und der Gewerkschaften in der vorherigen Epoche richtig gewesen sei: „Das wird am deutlichsten ans Licht treten, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Aufgaben die alte Arbeiterbewegung hatte, sagen wir besser, die Arbeiterbewegung vor dem Zeitalter dieses Ausbruches der direkten Revolution. Sie hatte als Aufgaben: einerseits vermittels der politischen Organisationen der Arbeiterschaft, der Parteien, Delegierte in die Parlamente und Institutionen zu entsenden, die vom Bürgertum, von der Bürokratie zur Vertretung der Arbeiterschaft offen gelassen sind. Das war die eine Aufgabe. Das wurde ausgenutzt. Und es war zu der Zeit richtig. Die wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterschaft nun hatten die Aufgabe, für die Besserstellung der Arbeiterschaft im Kapitalismus zu sorgen, zum Kampf zu streben, und wenn das Kämpfen nicht mehr ging, zu verhandeln. (…) Das waren die Aufgaben der Arbeiterorganisationen vor dem Kriege. Als aber nun die Revolution kam, zeigten sich andere Aufgaben. Die Arbeiterorganisationen konnten sich nicht mehr darauf einstellen, für Lohnerhöhungen zu kämpfen und sich damit zu begnügen, sie konnten sich nicht mehr darauf als auf ihr Hauptziel einstellen, nur in den Parlamenten vertreten zu sein und Besserung für die Arbeiterschaft herauszuschinden“[14]; und weiter: „Wir erleben ständig immer wieder, dass alle diese Arbeiterorganisationen, die diesen Weg gehen, trotz aller revolutionären Reden in den entscheidenden Kämpfen versagen“.[15] Daher müsse die Arbeiterklasse neue Organisationen schaffen, die in der Lage seien, die Notwendigkeit der proletarischen Selbstorganisation und der direkten Konfrontation mit Staat und Kapital zum Ausdruck zu bringen; dies traf sowohl auf die Verteidigungskämpfe als auch auf die breiteren Massenkämpfe zu. An anderer Stelle definierte Bergmann die Gewerkschaften als Bestandteil des Staates, daher sei es illusorisch zu versuchen, sie zu erobern: „Wir stehen grundsätzlich auf dem Standpunkt, die alten konterrevolutionären Gewerkschaften aus dem Weg zu räumen. Nicht darum, weil wir Lust am Zerstören hätten, sondern weil wir sehen, dass diese Organe wirkliche Organe des kapitalistischen Staates zur Niederhaltung der Revolution im schlimmsten Sinne geworden sind.“[16] Auf dieselbe Art und Weise kritisierte Sachs sowohl den Rückschritt, der in der Vorstellung der Massenpartei bestand, als auch die Taktik des Offenen Briefes an die sozialdemokratischen Parteien – dies seien Rückentwicklungen entweder in Richtung überholter sozialdemokratischer Praktiken und Organisationsformen oder, schlimmer noch, in Richtung der sozialdemokratischen Parteien, die zum Feind übergelaufen waren.

***

Im Allgemeinen wird die Geschichte von den Siegern oder zumindest von jenen geschrieben, die als die Sieger erscheinen. In den Jahren nach dem Dritten Kongress blieben die offiziellen Kommunistischen Parteien große Organisationen, die sich auf die Loyalität von Millionen von Arbeitern verlassen konnten; die KAPD zersplitterte schnell in eine Reihe von Komponenten, von denen einige wenige die Klarheit aufrechterhielten, die von ihren Repräsentanten in Moskau 1921 zum Ausdruck gebracht worden war. Nun rückten lupenreine sektiererische Irrtümer in den Vordergrund, insbesondere die hastige Entscheidung der Essener Tendenz der KAPD um Gorter, die eine „Vierte Internationale“ (die KAI, Kommunistische Arbeiterinternationale) in die Welt setzte, als in einer Phase des Rückzugs der Revolution die Entwicklung einer internationalen Fraktion nötig war, um gegen die Degeneration der Dritten Internationale anzukämpfen. Dieses übereilte Abschreiben der Kommunistischen Internationale wurde konsequenterweise von einer Kehrtwende in der Frage des proletarischen Charakters der Oktoberrevolution begleitet, die zunehmend als bürgerlich abgelehnt wurde. Gleichermaßen sektiererisch war die Auffassung der Schröder-Strömung in der KAI, dass Lohnkämpfe in der Epoche der „Todeskrise“ opportunistisch seien; andere Strömungen begannen die Möglichkeit einer proletarischen Partei in Frage zu stellen, was zu dem führte, was später unter dem „Rätekommunismus“ bekannt wurde. Doch diese Manifestationen einer breiten Schwächung und Fragmentierung der revolutionären Avantgarde waren das Produkt der aufziehenden Niederlage und Konterrevolution; gleichzeitig war die Aufrechterhaltung der einflussreichen Massenorganisationen der KPs in diesem Zeitraum ebenfalls ein Produkt der bürgerlichen Konterrevolution, jedoch mit der fürchterlichen Eigentümlichkeit, dass diese Parteien neben den faschistischen und demokratischen Schlächtern die Vorhut dieser Konterrevolution bildeten. Auf der anderen Seite verschwanden die klaren Positionen der KAPD und der Italienischen Linken, Produkte der höchsten Momente der Revolution und fest verankert in der Theorie des kapitalistischen Niedergangs, nicht von der Bildfläche, größtenteils dank der geduldigen Arbeit kleiner und oftmals schrecklich isolierter Gruppen von Revolutionären. Als sich der Nebel der Konterrevolution lichtete und eine neue Generation von Revolutionären auf den Plan trat, gewannen diese Positionen wieder neues Leben und blieben so als fundamentale Errungenschaften erhalten, auf deren Grundlagen die nächste Partei der Revolutionäre gebildet werden muss.

Gerrard


[1] Brief an Konstantin Zetkin, Ende 1914, zitiert bei Peter Nettle, Rosa Luxemburg, OUP, 1969.

[2] Es wäre von Interesse zu erfahren, ob es möglicherweise zeitgenössische Versuche innerhalb der anarchistischen Bewegung gab, die historische Bedeutung des Krieges zu analysieren.

[3] „Lenin’s Encounter with Hegel after Eighty Years: A Critical Assessment”: https://thecommune.wordpress.com/ideas-encounter-with [68] hegel-after-eighty-years-a-critical-assessment/

[4] Lenin, Sozialismus und Krieg, 1915; https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1915/krieg/ [69]

[5] Nashe Slovo, 4. Februar 1916.

[6] Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, VI, „Aufteilung der Welt unter die Großmächten“, Gesammelte Werke, Band 22.

[7] „Zu einer Theorie des imperialistischen Staates“, 1915.

[8] Marx an Engels, 8. Oktober 1858, MEW Band 29 S. 360

[9] Zitat aus Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution, Band 1, Kap. 15, „Die Bolschewiki und Lenin“.

[10] Weitere Einzelheiten dieser Diskussionen auf dem Ersten Kongress siehe den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 39, „Die Theorie der Dekadenz im Zentrum des historischen Materialismus“, Teil 5 (https://de.internationalism.org/deka/39 [70]).

[11] Wir sollten anmerken, dass dieser Text nicht ohne Antworten bzw. Kritiken blieb, besonders von Gorter in seinem Offenen Brief an den Genossen Lenin.

[12] „Die aus dem Weltkriege geborene Weltwirtschaftskrise mit ihren ungeheuerlichen ökonomischen und sozialen Auswirkungen, deren Gesamtbild den niederschmetternden Eindruck eines einzigen Trümmerfeldes von kolossalem Ausmaß ergibt, besagt nichts anderes, als daß die Götterdämmerung der bürgerlich - kapitalistischen Weltordnung angebrochen ist. Nicht um eine der in periodischem Ablauf eintretenden, der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlichen Wirtschaftskrisen handelt es sich heute, es ist die Krise des Kapitalismus selbst, was unter krampfhaften Erschütterungen des gesamten sozialen Organismus, was unter dem furchtbarsten Zusammenprall der Klassengegensätze von noch nicht dagewesener Schärfe, was als Massenelend innerhalb der breitesten Volksschichten als das Menetekel der bürgerlichen Gesellschaft sich ankündigt. Immer deutlicher zeigt sich, daß der sich von Tag zu Tag noch verschärfende Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, daß der auch den bisher indifferenten Schichten des Proletariats immer klarer bewußt werdende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht gelöst werden kann. Der Kapitalismus hat sein vollständiges Fiasko erlebt, er hat im imperialistischen Raubkriege sich selbst historisch widerlegt, er hat ein Chaos geschaffen, dessen unerträgliche Fortdauer das internationale Proletariat vor die welthistorische Alternative stellt: Rückfall in die Barbarei oder Aufbau einer sozialistischen Welt.“

[13] Ein Beispiel: Der einleitende Abschnitt des KAPD-Programms, in der letzten Fußnote zitiert, könnte leicht als die Schilderung einer finalen und endgültigen Krise des Kapitalismus interpretiert werden; und hinsichtlich der Gefahr des Putschismus fallen sicherlich einige KAPD-Aktivitäten während der März-Aktion in diese Kategorie, wie zum Beispiel ihre unkritische Allianz mit der VKPD, der Gebrauch ihrer arbeitslosen Mitglieder, um zu versuchen, Arbeiter buchstäblich zum Generalstreik zu knüppeln und ihr zweideutiges Verhältnis zu den „unabhängigen“, von Max Hoelz angeführten bewaffneten Kräften und andere. Siehe auch die Intervention von Hempel auf dem Dritten Kongress (La Gauche Allemande, S. 41), der erkannte, dass die März-Aktion den Kapitalismus nicht stürzen konnte, aber auch darauf bestand, dass es notwendig gewesen sei, den Schlachtruf, die Regierung zu stürzen, anzustimmen – eine Position, der es an Konsequenz zu mangeln scheint, da es für die KAPD nicht darum ging, in Ermangelung einer proletarischen Diktatur eine Art hybride „Arbeiterregierung“ zu befürworten.

[14] Hempels Haltung gegenüber den Anarchisten und Syndikalisten war ebenfalls frei von sektiererischem Geist; er unterstrich das Erfordernis, mit den wahrhaft revolutionären Ausdrücken dieser Strömung zusammenzuarbeiten (s. La Gauche Allemande, S. 44 f.).

[15] Protokoll des III. Kongresses der Kommunistischen Internationale, Verlag der Kommunistischen Internationale, 1921, S. 97 f.

[16] Ebenda, S. 493

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [3]

Editorial: Massaker in Syrien, iranische Krise: Die Gefahr einer imperialistischen Katastrophe im Nahen und Mittleren Osten

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In Syrien kommt es jeden Tag zu neuen Massakern. Nun ist auch dieses Land im Sumpf der imperialistischen Kriege im Nahen Osten versunken. Nach Palästina, Irak, Afghanistan und Libyen ist nun Syrien an der Reihe. Leider wirft diese Entwicklung sofort eine sehr besorgniserregende Frage auf. Was wird in der Zukunft passieren? Der Nahe und Mittlere Osten stehen vor einem Flächenbrand, dessen Ausgang schwer vorherzusehen ist. Hinter Syrien zieht der Iran die Fäden. Der Iran ruft selbst die größten Ängste hervor und facht die imperialistischen Appetite an; alle großen imperialistischen Räuber sind fest entschlossen, ihre Interessen in der Region zu verteidigen. Auch hier befinden wir uns am Rande des Krieges, dessen dramatischen Konsequenzen völlig wahnsinnig und zerstörerisch für das kapitalistische System selbst wären.

 

Massive Zerstörungen und Krieg in Syrien. Wer ist dafür verantwortlich?

Aus der Sicht der internationalen Arbeiterbewegung wie für alle Ausgebeuteten der Erde kann die Antwort auf diese Frage nur folgende sein: Verantwortlich ist das Kapital, und nur dieses allein. Dies war schon bei den Massakern im Ersten und Zweiten Weltkrieg der Fall. Und auch bei all den endlosen Kriegen, die seitdem mehr Tote hinterlassen haben als die beiden Weltkriege zusammen. Vor mehr als 20 Jahren erklärte der damalige Präsident George Bush lange bevor sein Sohn ins Weiße Haus einzog, triumphierend, dass „die Welt nun eine neue Weltordnung“ erleben werde. Der Sowjetblock war sprichwörtlich zusammengebrochen. Die UdSSR befand sich in der Auflösung, und mit ihrem Verschwinden sollten gleichzeitig alle Kriege und Massaker verschwinden. Dank des siegreichen Kapitalismus und unter dem Schutz der USA würde jetzt Frieden auf der Welt einkehren. Natürlich handelte es sich nur um Lügen, die sofort von der Wirklichkeit bloßgestellt wurden. So löste zum Beispiel G. Bush eine kurze Zeit nach dieser zynischen und heuchlerischen Rede den ersten Irak-Krieg Anfang 1991 aus.

1982 hat die syrische Armee die Erhebung der Bevölkerung in der Stadt Hama blutig niedergeschlagen. Die Zahl der Opfer konnte nie zuverlässig ermittelt werden: man schätzt zwischen 10.000 und 40.000 Ermordete. [1] Niemand sprach seinerzeit davon, dort einzugreifen um der Bevölkerung zu helfen; niemand verlangte damals den Rücktritt von Hafez Al-Assad, dem Vater des gegenwärtigen syrischen Präsidenten. Der Gegensatz zur gegenwärtigen Lage ist nicht unerheblich. Der Grund liegt darin, dass 1982 die Weltlage noch beherrscht wurde durch die Rivalitäten zwischen den beiden großen imperialistischen Blöcken. Trotz des Sturzes des Schahs von Persien und seine Ersetzung durch das Regime der Ajatollahs Anfang 1979 und der russischen Invasion in Afghanistan ein Jahr später wurde damals die US-Vorherrschaft in der Region noch nicht durch die anderen imperialistischen Mächte herausgefordert und die USA waren damals noch in der Lage, eine relative Stabilität zu garantieren.

Seitdem hat sich die Lage geändert: Der Zusammenbruch der Blöcke und die Schwächung der „US-Führerschaft“ haben den imperialistischen Bestrebungen der Regionalmächte wie Iran, Türkei, Ägypten, Syrien, Israel usw. freien Lauf gelassen. Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise treibt die Bevölkerung in die Armut und verstärkt das Gefühl der Verzweiflung und der Revolte gegenüber den Machthabern.

Während heute kein Kontinent der Zuspitzung der inter-imperialistischen Spannungen ausweichen kann, bündeln sich die Gefahren im Nahen und Mittleren Osten mit am gefährlichsten. Im Mittelpunkt der Spannungen steht gegenwärtig Syrien, nachdem zuvor monatelang gegen Arbeitslosigkeit und Armut von allen Ausgebeuteten protestiert worden war. Daran beteiligten sich gemeinsam Drusen, Sunniten, Christen, Kurden, Männer, Frauen, Kinder, denn sie alle hoffen auf ein besseres Leben. Aber die Lage ist schnell umgeschlagen. Die Sozialproteste wurden schnell auf ein verhängnisvolles Terrain gedrängt, so dass die ursprünglichen Forderungen alle begraben und die Bewegung vereinnahmt wurde. In Syrien ist die Arbeiterklasse sehr schwach, die imperialistischen Appetite sind sehr stark; deshalb war in Anbetracht des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses und dem Niveau der Arbeiterkämpfe diese Perspektive nahezu unvermeidbar.

Innerhalb der syrischen Bourgeoisie haben sich alle wie Geier auf die revoltierende und verzweifelte Bevölkerung gestürzt. Für die herrschende Regierung und die Bachir Al-Assad unterstützende Armee geht es darum, die Macht mit allen Mitteln zu erhalten. Und die Opposition, deren verschiedene Flügel bereit sind sich gegenseitig umzubringen und die nur über die Notwendigkeit einig sind, Bachir Al-Assad zu stürzen, versucht die Macht an sich zu reißen. Vor kurzem gab es Versammlungen dieser Opposition in Paris und London. Niemand wollte die Zusammensetzung dieser Opposition näher aufschlüsseln. Wofür stehen der syrische Nationalrat oder das Nationale Koordinationskomitee oder die Freie syrische Armee? Welche Macht haben die Kurden, die Muslimbrüder oder die salafistischen Jihadisten in ihren Reihen? Es handelt sich um einen Haufen zusammengewürfelter bürgerlicher Cliquen, von denen jede mit den anderen rivalisiert. Einer der Gründe, weshalb das Regime Assads noch nicht gestürzt ist, besteht darin, dass Assad die Machtkämpfe innerhalb der syrischen Gesellschaft zu seinen Gunsten ausnutzen konnte. So reagieren die Christen ablehnend gegenüber dem Machtzuwachs der Islamisten und befürchten das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Kopten in Ägypten. Ein Teil der Kurden versucht mit dem Regime zu verhandeln. Die Regierung selbst wird noch teilweise von der religiösen Minderheit der Alawiten unterstützt, welcher die Präsidentenclique angehört.

Jedenfalls könnte der Nationalrat militärisch und politisch nicht wirklich bestehen, wenn er nicht von ausländischen Kräften unterstützt würde, wobei jeder auf seine eigenen Vorteile erpicht ist. Dazu gehören die Arabische Liga, Saudi-Arabien an führender Stelle, die Türkei, aber ebenso Frankreich, Großbritannien, Israel und die USA.

All diese imperialistischen Haie nehmen das unmenschliche Verhalten des Regimes als Vorwand zur Kriegsvorbereitung in Syrien. Die russische Medienstimme „Voice of Russia“, welche wiederum das öffentliche Fernsehen des Irans Press TV zitierte, brachte Informationen in Umlauf, denen zufolge die Türkei sich mit US-Hilfe anschickte, Syrien anzugreifen. Zu diesem Zweck habe die Türkei Truppen und Material an der syrischen Grenze zusammengezogen. Seitdem wurde diese Information von allen westlichen Medien aufgegriffen. In Syrien wurden in Russland produzierte Boden-Boden-Raketen in der Region von Kamechi und Deir ez-Zor entlang der irakischen Grenze installiert. Und das Regime Al-Assads wird selbst wiederum von ausländischen Mächten unterstützt, insbesondere von China, Russland und Iran.

Dieser Machtkampf zwischen den stärksten imperialistischen Geiern der Erde um Syrien wird ebenso in der Räuberversammlung namens UNO ausgetragen. In der UNO hatten Russland und China schon zweimal ihr Veto gegenüber Resolutionsprojekten gegen Syrien eingelegt. Das letzte Resolutionsprojekt unterstützte zum Beispiel den Vorschlag der Arabischen Liga, der die Absetzung Bachir Al-Assads vorsah. Nach tagelangen schmutzigen Verhandlungen ist die Heuchelei aller Beteiligten noch einmal offen zutage getreten. Der UN-Sicherheitsrat hat mit russischer und chinesischer Zustimmung am 21. März eine Erklärung verabschiedet, in welcher die Beendigung der Gewalt gefordert wird, weil ein berühmter Sondergesandter der UNO, Kofi Annan, im Land eintraf. Natürlich war diese Erklärung in keiner Weise bindend. Das bedeutet, nur diejenigen sind verpflichtet, die sich zu irgendetwas verpflichtet fühlen. All das ist ein schmutziges Manöver.

Wir stehen somit vor einer anderen Frage. Wie ist es möglich, dass bislang noch keine in diesem Konflikt involvierte ausländische imperialistische Macht direkt eingegriffen hat – natürlich zugunsten ihrer eigenen nationalen Interessen – wie zum Beispiel vor einigen Monaten in Libyen? Hauptsächlich weil die Flügel der syrischen Bourgeoisie, die sich gegenüber Bachir Al-Assad in Opposition befinden, dies offiziell nicht wollen. Sie wenden sich gegen eine massive militärische ausländische Intervention, und sie haben das lautstark verkündet. Jeder dieser Flügel hat sicherlich verständlicherweise Angst davor, in diesem Fall von der Machtbeteiligung ausgeschlossen zu werden. Aber dies schließt nicht aus, dass die Gefahr des totalen imperialistischen Krieges, die an den Grenzen Syriens lauert, gebannt werden kann. Der Krieg kann dort weiterhin Einzug halten, auch wenn der Schlüssel für die weitere Entwicklung der Lage woanders liegt.

Man muss sich die Frage stellen, warum dieses Land heute die imperialistischen Appetite so auf sich zieht. Die Antwort liegt woanders – im Osten Syriens – im Iran.

Der Iran im Zentrum der weltweiten Imperialistischen Spannungen

Am 7. Februar 2012 erklärte die New York Times: “Syrien war der Anfang des Krieges mit dem Iran.” Ein Krieg, der zwar noch nicht direkt ausgelöst wurde, der im Schatten des Konfliktes in Syrien weiter schwelt. Das Regime Bachir Al-Assads ist der Hauptverbündete Teherans in der Region, und Syrien ist für den Iran ein strategischer Dreh- und Angelpunkt. Die Allianz mit Syrien ermöglicht Teheran einen direkten Zugang zum strategisch wichtigen Mittelmeerraum und gegenüber Israel zu erlangen, mit der Möglichkeit einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit Israel. Aber diese Kriegsgefahr, die sich eher verdeckt entwickelt, hat ihre tieferliegenden Wurzeln in dem Machtkampf, der im Mittleren Osten stattfindet, wo erneut alle kriegerischen Spannungen, die in dem verfaulenden System stecken, aufbrechen.

Dieser Teil der Welt ist ein großes Drehkreuz an dem Berührungspunkt zwischen Ost und West. Europa und Asien stoßen in Istanbul aufeinander. Russland und Europa werden durch das Mittelmeer vom afrikanischen Kontinent und den Weltmeeren getrennt. Und während die Weltwirtschaft immer mehr erschüttert wird, wird das schwarze Gold zu einer herausragenden wirtschaftlichen und militärischen Waffe. Jeder muss versuchen, die Transportwege des Öls zu kontrollieren. Ohne Öl kämen alle Fabriken zum Stillstand, kein Jagdflugzeug könnte vom Boden abheben. Diese Tatsachen erklären, weshalb alle Imperialismen im Machtkampf in dieser Region mitmischen. Aber all diese Betrachtungen sind nicht die wichtigsten Faktoren, welche diese Region in den Krieg treiben.

Seit mehreren Jahren standen die USA, GB, Israel und Saudi-Arabien an der Spitze einer gegen den Iran gerichteten ideologischen Kampagne. Diese Kampagne ist in der jüngsten Zeit noch einmal verstärkt worden. Der jüngste Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) hat verlautbaren lassen, dass der Iran möglicherweise militärische Absichten hinter seinem Atomprogramm verbirgt. Und ein mit Atomwaffen bewaffneter Iran ist aus der Sicht vieler imperialistischer Länder der Region unerträglich. Der Aufstieg des Irans als eine Atommacht, die sich überall in der Region durchsetzen könnte, ist für all diese imperialistischen Haie undenkbar. Zudem bleibt der israelisch-palästinensische Konflikt weiterhin ein Schwelbrand. Der Iran ist militärisch völlig umzingelt. Die US-Armee verfügt über Stützpunkte entlang all der Grenzen Irans. Im Persischen Golf treiben sich so viele Kriegsschiffe aller Größenordnungen herum, dass man – wenn man sie aneinanderreiht – den Golf nahezu trockenen Fußes überqueren könnte. Der israelische Staat erklärt unaufhörlich, dass er den Iran nie in den Besitz der Atombombe kommen lassen würde; israelischen Quellen zufolge würde der Iran spätestens innerhalb eines Jahres zu einer Atommacht werden. Diese in der ganzen Welt verbreitete Aussage ist angsteinjagend, denn diese Konfrontation birgt viele Gefahren in sich. Der Iran ist nicht Irak und nicht Afghanistan. Es gibt mehr als 70 Millionen Einwohner mit einer „respektabel“ ausgerüsteten Armee.

Große katastrophale Auswirkungen

Auf wirtschaftlicher Ebene:

Aber der Einsatz von Atomwaffen durch den Iran ist nicht die einzige Gefahr und auch nicht das Wichtigste. In der jüngsten Zeit haben die politischen und religiösen Führer Irans behauptet, dass sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel reagieren würden, wenn ihr Land angegriffen würde. Tatsächlich verfügt der Iran über Waffen, deren Wirkung niemand richtig einschätzen kann. Wenn der Iran sich dazu entschließen würde, die Straße von Hormus zu blockieren, selbst wenn er dabei eigene Boote versenken müsste, würde der Schiffsverkehrt dort unterbrochen. Das hätte weltweit katastrophale Auswirkungen.

Ein beträchtlicher Anteil der Weltölförderung würde nicht mehr die Abnehmer erreichen. Die jetzt schon offen ausgebrochene Weltwirtschaftskrise würde dann noch einmal neue Ausmaße erreichen. Die Schäden wären in Anbetracht einer jetzt schon kranken Wirtschaft noch einmal beträchtlich.

Ökologisch

Die ökologischen Konsequenzen könnten unumkehrbar sein. Ein Angriff auf iranische Atomanlagen, die unter Tausenden Tonnen von Beton und Kubikmetern Erde geschützt liegen, würde einen taktischen Luftschlag mit gezielten Atomwaffeneinsätzen erforderlich machen. Dies ist jedenfalls die Meinung von Militärexperten aus allen imperialistischen Staaten. Wenn es dazu käme, was würde aus der gesamten Region des Mittleren Osten werden? Welche Auswirkungen könnte man auf die Bevölkerung und das Ökosystem weltweit erwarten? All das sind keine Überlegungen eines völlig verrückt gewordenen Wahnsinnigen. Das ist auch nicht irgendwie ein Szenario eines neuen Horrorfilms. Dieser Angriffsplan ist ein integraler Bestandteil der Strategie, welche der israelische Staat sich ausgedacht und geplant hat – unter Beteiligung der USA, die sich aber bislang noch zurückhaltend verhalten. Der israelische Generalstab plant jedenfalls im Falle eines Scheiterns eines klassischen israelischen Luftangriffs den Übergang zu solch einer höheren Stufe der Zerstörung. Der Wahnsinn breitet sich immer mehr aus in diesem niedergehenden System.

Humanitär

Seit der Auslösung der Kriege im Irak, Afghanistan, Libyen während der letzten Jahre hat ein immer größeres Chaos in diesen Ländern Einzug gehalten. Der Krieg hat sich festgefressen. Jeden Tag gibt es neue, immer mörderischere Anschläge. Die Bevölkerung kämpft jeden Tag verzweifelt um ihr Überleben. Die bürgerliche Presse bestätigt es: „Jeder ist Afghanistan überdrüssig. Dem Überdruss der Afghanen entspricht der Überdruss des Westens“ (Le Monde, 21.3.2012). Während die bürgerliche Presse von einem Überdruss hinsichtlich der endlosen Fortsetzung des Krieges in Afghanistan spricht, ist die Bevölkerung verbittert und entkräftet. Wie kann man im Krieg und dem ständigen kriegerischen Chaos überleben? Und falls es zu einem Krieg im Iran käme, wäre die menschliche Katastrophe noch unvorstellbarer. Die Bevölkerungsdichte, die eingesetzten Zerstörungsmittel lassen das Schlimmste befürchten. Und so lautet das Szenario – Krieg mit all seinen Zerstörungen im Iran, ein im Chaos versinkender Mittlerer Osten. Keiner der zivilen oder militärischen Staatsführer, die alle zu Massenmorden fähig sind, kann sagen, wo der Krieg im Iran aufhören würde. Was würde in der arabischen Bevölkerung der Region passieren? Wie würden die Schiiten reagieren? Diese Vorstellung ist einfach katastrophal für die Menschen.

Gespaltene bürgerliche Cliquen, imperialistische Bündnisse am Rande einer großen Krise

Auch nur an einen kleinen Teil der Folgen zu denken, jagt schon den Teilen der Herrschenden Angst ein, die noch ein wenig klarer sehen. Die kuwaitische Zeitung Al-Jarida ließ eine Information durchsickern, welche die israelischen Geheimdienste in Umlauf bringen wollten. Ihr letzter Chef, Meir Dagan, meinte nämlich, dass „die Perspektive eines Angriffs gegen den Iran die dümmste Idee sei, die er jemals gehört habe“. Diese Auffassung vertritt wohl auch ein anderer Flügel der Geheimdienste, der israelische Auslandsgeheimdienst – Shin Bet.

Es ist allseits bekannt, dass ein ganzer Teil des israelischen Generalstabs diesen Krieg nicht möchte. Aber ebenso bekannt ist, dass ein Teil der politischen Klasse Israels, die sich um Netanjahu schart, dessen Auslösung zu einem für Israel günstigen Zeitpunkt anstrebt. In Israel schwelt eine politische Krise in Anbetracht der einzuschlagenden Ausrichtung der imperialistischen Politik. Im Iran prallt der religiöse Führer Ali Chamenei ebenso wegen dieser Frage mit dem Präsidenten des Landes, Mahmud Ahmadinejad zusammen. Aber am spektakulärsten erscheint der Machtkampf zwischen den USA und Israel wegen dieser Frage. Gegenwärtig möchte die US-Administration keinen offenen Krieg mit dem Iran. Tatsächlich ist die Erfahrung der USA im Irak und in Afghanistan keine Ermunterung, und die Obama-Administration hat bislang immer heftigere Sanktionen befürwortet. Der Druck der USA auf Israel, dass das Land sich geduldig verhält, ist gewaltig. Aber die historische Schwächung der US-Führungsrolle ist eben auch bei seinem traditionellen Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten zu spüren. Denn Israel behauptet lautstark, es werde den Besitz von Atomwaffen in den Händen des Irans nicht zulassen, was immer seine ihm am stärksten verbündeten Alliierten auch meinen. Der Druck der USA auf Israel ist nicht mehr so wirkungsvoll; sogar Israel fordert jetzt die Autorität der USA offen heraus. Aus der Sicht einiger bürgerlicher Kommentatoren könnte es sich um erste Bruchstellen des Bündnisses zwischen den USA und Israel handeln, das bislang als unzerbrechlich galt.

Die Haupttriebkraft in der unmittelbaren Nachbarschaft ist die Türkei, die über die größte Zahl Soldaten im Nahen Osten verfügt (mehr als 600’000). Während das Land zuvor ein unzertrennlicher Verbündeter der USA und einer der seltenen Freunde Israels war, ist die türkische Bourgeoisie mit dem Aufstieg des Erdogan-Regimes danach bestrebt, ihre eigene Karte des „demokratischen“ und „gemäßigten“ Islamismus zu spielen. Sie versucht, die Erhebungen in Ägypten und Tunesien zu ihren Gunsten auszuschlachten. Und dies erklärt auch den Kurswechsel ihrer Beziehungen zu Syrien. Früher verbrachte Erdogan seine Ferien mit den Assads, aber von dem Zeitpunkt an, als der syrische Führer sich weigerte, den Forderungen Ankaras nachzugeben und mit der Opposition Verhandlungen aufzunehmen, zerbrach das Bündnis. Die Bemühungen der Türkei, ihr eigenes „Modell“ des „gemäßigten“ Islams zu exportieren, stehen in direktem Gegensatz zu den Bemühungen Saudi-Arabiens, seinen eigenen Einfluss in der Region mit Hilfe des erzkonservativen Wahabismus zu vergrößern.

Die Möglichkeit der Auslösung eines Krieges in Syrien und vielleicht später im Iran hat sich dermaßen zugespitzt, dass die Führer Chinas und Russlands immer stärker reagieren. Der Iran ist für China von großer Bedeutung, da China aus dem Iran 11% seiner Energieimporte erhält.[2] Seit dem industriellen Aufstieg Chinas ist das Land zu einem wichtigen Player in der Region geworden. Im letzten Dezember warnte China vor der Gefahr eines weltweiten Konfliktes um Syrien und Iran. In der Global Times[3] erklärte China: „Der Westen leidet unter einer Wirtschaftskrise, aber seine Bestrebungen des Umsturzes von nicht-westlichen Regierungen aufgrund von politischen und militärischen Interessen haben einen neuen Höhepunkt erreicht. China wie auch sein großer Nachbar Russland müssen wachsam bleiben und notwendige Gegenmaßnahmen ergreifen.“[4] Auch wenn eine direkte Konfrontation zwischen den imperialistischen Großmächten der Welt unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht denkbar erscheint, lassen solche Erklärungen den Ernst der Lage deutlich werden.

Der Kapitalismus treibt geradewegs auf den Abgrund zu

Der Mittlere Osten ist ein Pulverfass – einige sind bereit, dort das Feuer zu legen. Einige imperialistische Staaten sind bereit und planen kaltblütig den Einsatz von bestimmten Atomwaffen in einem möglichen Krieg gegen den Iran.

Die Militärmaschinerie ist gerüstet und hat sich strategisch auf dieses Szenario eingestellt. Da im dahinsiechenden Kapitalismus bei dessen Todeszuckungen das Schlimmste am wahrscheinlichsten ist, können wir solch einen Krieg nicht ausschließen. Jedenfalls treibt die Flucht nach vorn des Kapitalismus, der völlig senil und morsch geworden ist, die Irrationalität dieses Systems auf immer neue Höhen. Sollte es zu einem eskalierenden Konflikt in der Region kommen, wird der Zerstörungsdrang des Kapitalismus eine neue Stufe erreichen. Wenn der Kapitalismus, der durch die Geschichte verdammt ist, verschwindet, wird die Arbeiterklasse und die Menschheit ihm keine Träne nachweinen. Aber leider birgt der Zerstörungsdrang des Systems die Gefahr einer vollständigen Zerstörung der Menschheit in sich. Die Feststellung, dass der Kapitalismus dabei ist die ganze Zivilisation mit in den Abgrund zu reißen, darf uns nicht den Mut nehmen, nicht in Verzweiflung treiben oder in Passivität verfallen lassen. Wir schrieben zu Anfang des Jahres: „Die Wirtschaftskrise ist keine endlose Geschichte. Sie kündigt das Ende eines Systems und den Kampf für eine neue Gesellschaft an.“ Diese Behauptung stützt sich auf die Entwicklung des Klassenkampfes auf internationaler Ebene.

Dieser weltweite Kampf für eine andere Gesellschaft hat eben erst begonnen. Er verläuft sicher noch sehr langsam und mit großen Schwierigkeiten, aber er ist in Gang gesetzt worden. Diese in Gang gekommene Bewegung, deren beeindruckendster Ausdruck bislang die Bewegung der „Empörten“ letztes Jahr in Spanien war, erlaubt uns zu sagen, dass es potentiell die Mittel gibt, all diese kapitalistische Barbarei von diesem Planeten hinwegzufegen.

 Tino, 11. Mai.2012


[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Hama_massacre [71]

[2] https://iranprimer.usip.org/resource/iran-and-china [72]

[3] Zeitung zur internationalen Aktualität, die zur offiziellen “Volkszeitung” gehört.

[4] Bericht aus https://www.solidariteetprogres.org/Iran-La-Chine-ne-doit-pas-reculer-de... [73]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [36]

Geschichte der Arbeiterbewegung: Was sind Arbeiterräte? Teil 2: Das Wiederaufleben und die Krise der Arbeiterräte 1917

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Zweck dieser Artikelreihe ist es, auf eine Frage zu antworten, die von vielen Genossen (Lesern und Sympathisanten), vor allem von jungen, gestellt wird: Was sind Arbeiterräte? Im ersten Artikel dieser Serie[1] sahen wir, wie sie zum ersten Mal in der Geschichte in der Hitze der Revolution in Russland 1905 auftauchten und wie die Niederlage dieser Revolution zu ihrem Verschwinden führte. Im zweiten Teil wollen wir untersuchen, wie sie während der Februarrevolution 1917 wiedererschienen und wie sie sich unter der Vorherrschaft der alten menschewistischen und sozialrevolutionären Parteien, die die Arbeiterklasse verrieten, vom Willen und vom wachsenden Bewusstsein der Arbeitermassen entfernten und im Juli 1917 zu einem Anlaufpunkt für die Konterrevolution wurden.[2]

Warum verschwanden die Sowjets zwischen 1905 und 1917?

Oskar Anweiler wies in seinem Werk Die Rätebewegung in Russland 1905-1921[3] auf die zahllosen Versuche hin, die Sowjets im Anschluss an die Niederlage der Revolution im Dezember 1905 wiederzubeleben. So tauchte im Frühjahr 1906 in St. Petersburg ein Rat auf, der Delegierte zu den Fabriken entsandte, um auf die Erneuerung des Sowjets zu drängen. Ein Treffen von 300 Delegierten im Sommer 1906 verlief wegen der Schwierigkeiten, den Kampf wiederaufzunehmen, im Sande. Dieser Rat siechte aufgrund des Abflauens der Mobilisierung Stück für Stück dahin und verschwand im Frühjahr 1907 endgültig von der Bildfläche. Auch in Moskau, Karkow, Kiew, Poltawa, Jekaterinburg, Baku, Batum, Sostoum und Kronstadt tauchten 1906 mehr oder wenig flüchtig Arbeitslosenräte auf.

Einige Sowjets tauchten auch 1906-07 in einigen Industriestädten des Urals auf. Doch der ernsthafteste Versuch, einen Sowjet zu installieren, fand in Moskau statt. Im Juli brach ein Streik aus, der sich schnell auf zahllose Arbeiterkonzentrationen ausbreitete. Schnell wurden um die 150 Delegierte mandatiert, die sich versammelten, um ein Exekutivkomitee zu bilden und Appelle zur Ausweitung der Kämpfe und zur Bildung von Sowjets an die Arbeiter zu richten. Jedoch waren die Umstände nicht die gleichen wie 1905, und die Regierung, die das Echo wahrnahm, das von der Mobilisierung in Moskau ausgelöst wurde, übte eine gewaltsame Repression aus, die dem Streik und jedem neuen Sowjet ein Ende bereitete.

Bis 1917 verschwanden die Sowjets von der gesellschaftlichen Bühne. Dieses Verschwinden erstaunt viele Genossen, die sich fragen, wie es möglich war, dass dieselben Arbeiter, die mit so viel Begeisterung an den Sowjets von 1905 teilgenommen hatten, dieselben vergessen konnten. Wie kann man verstehen, dass die „Räte“-Form, die 1905 ihre ganze Wirkungskraft und ihre Stärke demonstriert hatte, ein Jahrzehnt lang wie durch Zauberhand verschwand?

Um diese Frage zu beantworten, kann man nicht von der Ansicht der bürgerlichen Demokratie ausgehen, einer Ansicht, die die Gesellschaft als eine Summe von „freien und souveränen“ Individuen betrachtet, die „frei“ seien, ebenso Arbeiterräte zu bilden wie an Wahlen teilzunehmen. Wenn dies der Fall wäre, ist es natürlich schwer zu verstehen, dass Millionen von Bürgern, die 1905 „beschlossen hatten“, Sowjets zu bilden, es anschließend vorzogen, diese Organisationsform viele Jahre lang links liegen zu lassen.

Solch eine Auffassung kann nicht begreifen, dass die Arbeiterklasse nicht eine Summe von „freien und selbstbestimmten“ Individuen ist, sondern eine Klasse, die sich selbst nur ausdrücken, handeln und organisieren kann, wenn sie sich durch ihre kollektive Aktion im Kampf bestätigt. Dieser Kampf ist nicht das Resultat „individueller Entscheidungen“, sondern vielmehr das Produkt einer ganzen Reihe von objektiven Faktoren (die erniedrigenden Existenzbedingungen und die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft) und subjektiven Faktoren (Empörung, Sorge um die Zukunft, die Erfahrungen aus dem Kampf und die Entwicklung des Klassenbewusstseins, das von der Intervention der Revolutionäre angeregt wird). Die Aktion und Organisation der Arbeiterklasse ist ein sozialer, kollektiver und historischer Prozess, der eine Veränderung im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zum Ausdruck bringt.

Darüber hinaus muss diese Dynamik des Klassenkampfes umgekehrt in den historischen Kontext gesetzt werden, der die Geburt der Sowjets ermöglichte. In der Epoche des kapitalistischen Aufstiegs – und besonders in seinem „Goldenen Zeitalter“ zwischen 1873 und 1914 – war das Proletariat in der Lage gewesen, große permanente Massenorganisationen (besonders die Gewerkschaften) zu bilden, deren Existenz eine der ersten Bedingungen war, um erfolgreiche Kämpfe zu unternehmen. In der historischen Epoche, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eröffnete, die Epoche der Dekadenz des Kapitalismus, die durch den Ersten Weltkrieg markiert wurde, wird die allgemeine Organisation der Arbeiterklasse in und durch den Kampf gebildet und verschwindet wieder, wenn Letzterer nicht imstande ist, bis zum Ende zu gehen, das heißt, bis zur revolutionären Auseinandersetzung, um den bürgerlichen Staat zu zerstören.

Unter solchen Bedingungen konnten die Errungenschaften der Kämpfe weder buchhalterisch zu einer Summe von gestaffelten Gewinnen, die Jahr für Jahr konsolidiert wird, addiert noch durch permanente Massenorganisationen erzielt werden. Sie wurden vielmehr durch „abstrakte“ Erträge konkretisiert (die Entwicklung von Bewusstsein, Bereicherung des historischen Programms angesichts der Lehren aus dem Kampf, Perspektiven für die Zukunft…), die in großen Momenten der Agitation errungen wurden, welche anschließend aus dem unmittelbaren Verständnis der breiten Massen verschwinden und sich auf eine kleine Welt von Minderheiten beschränken, was die Illusion erzeugt, sie hätten niemals existiert.

Februar 1917: das Auftauchen der Sowjets in der Hitze des Kampfes

Zwischen 1905 und 1917 wurden die Sowjets also auf nichts als eine „Idee“ reduziert, die den Denkprozess und auch den politischen Kampf einer Handvoll Militanter eine Richtung gab. Die pragmatische Methode, die nur dem Wichtigkeit verleiht, was man sehen und anfassen kann, lässt nicht den Gedanken zu, dass die Sowjets eine immense materielle Macht enthalten. Ein Jahrzehnt vor 1917 schrieb Trotzki: „Es unterliegt keinem Zweifel, dass der nächste, neue Ansturm der Revolution überall die Gründung von Arbeiterräten nach sich ziehen wird.“[4] Die großen Akteure der Februarrevolution waren im Kern die Sowjets.

Die revolutionären Minderheiten und insbesondere die Bolschewiki nach 1905 vertraten und propagierten die Idee, Sowjets zu errichten, um den Kampf voran zu bringen. Diese Minderheiten hielten die Idee der Arbeiterräte im kollektiven Gedächtnis der Arbeiterklasse am Leben. Aus diesem Grund gab es nach den Streiks, die im Februar ausbrachen und rasch ein größeres Ausmaß annahmen, zahllose Initiativen und Appelle, die zur Bildung von Sowjets aufriefen. Anweiler betonte, dass „im Februar 1917 (…) der Gedanke einer Neugründung des Arbeiterrates (entstand). Er wurde sowohl in den streikenden Fabriken als auch in Kreisen der bürgerlichen Intelligenz geboren. Augenzeugen berichten, dass in einigen Fabriken seit dem 24. Februar Vertrauensleute für einen ins Leben zu rufenden Sowjet gewählt wurden.“[5] Mit anderen Worten: die Idee der Sowjets, die sich lange Zeit auf einige Minderheiten beschränkt hatte, wurde von den kämpfenden Massen weitgehend übernommen.

Zweitens trug die bolschewistische Partei ganz wesentlich zum Aufstieg der Sowjets bei. Und sie tat dies, ohne sich auf ein vorgefasstes organisatorisches Schema zu stützen, das eine ganze Reihe von dazwischen geschalteten Organisationen, die schließlich zur Bildung von Sowjets führen würden, erfordert hätte, sondern durch einen ganz anders gearteten Beitrag in der harten politischen Auseinandersetzung, wie wir sehen werden.

Im Winter 1915, als die Streiks vor allem in Petrograd auszubrechen begannen, heckte die liberale Bourgeoisie einen Plan aus, um die Arbeiter in die Kriegsproduktion zu zwingen, und schlug vor, dass eine Arbeitergruppe aus den Fabriken in das Komitee der Kriegsindustrie gewählt werden sollte. Die Menschewiki traten ebenfalls dafür ein und versuchten, nachdem sie eine große Mehrheit erlangt hatten, die Arbeitergruppe zur Aufstellung von Forderungen zu benutzen. Sie schlugen, getreu der Gewerkschaften in anderen europäischen Ländern, faktisch vor, eine „Arbeiterorganisation“ zu benutzen, um die Kriegsanstrengungen umzusetzen.

Die Bolschewiki widersetzten sich im Oktober 1915 diesem Ansinnen mit den Worten Lenins: „Wir sind gegen die Beteiligung an den kriegsindustriellen Ausschüssen, die den imperialistischen reaktionären Krieg fördern.“[6] Die Bolschewiki riefen zur Wahl von Streikkomitees auf und das Petrograder Parteikomitee schlug vor: „Die Vertreter der Fabriken und Werkstätten, gewählt auf der Grundlage des proportionalen Vertretungssystems in allen Städten, sollen den gesamtrussischen Sowjet der Arbeiterdeputierten bilden…“[7]

Zunächst hatten die Menschewiki mit ihrer Wahlpolitik zugunsten der Arbeitergruppen die Situation im eisernen Griff. Die Streiks im Winter 1915 und die noch zahlreicheren Streiks in der zweiten Jahreshälfte 1916 blieben unter der Kontrolle der menschewistischen Arbeitergruppen, wobei da und dort Streikkomitees auftauchten. Erst im Februar begann die Saat zu sprießen.

Der erste Versuch, einen Sowjet einzurichten, fand während eines improvisierten Treffens statt, das am 27. Februar im Taurischen Palast abgehalten wurde. Die Teilnehmerschaft war nicht repräsentativ; es gab einige Elemente aus der menschewistischen Partei und der Arbeitergruppe mit einigen bolschewistischen Repräsentanten und anderen unabhängigen Elementen. In ihr entwickelte sich eine sehr bedeutsame Debatte, in der zwei völlig entgegengesetzte Optionen auf den Tisch gelegt wurden: Die Menschewiki verfochten die Idee, dass das Treffen sich selbst zum Provisorischen Sowjetkomitee ausrufen solle; der Bolschewik Schljapnikow „argumentierte dagegen, dass dies nicht in der Abwesenheiten der von den Arbeitern gewählten Repräsentanten getan werden könne. Er forderte ihre dringende Einberufung, und die Versammlung stimmte ihm zu. Es wurde beschlossen, die Sitzung zu beenden und Appelle an die Hauptkonzentrationen der Arbeiter und an die aufständischen Regimenter zu richten.“[8]

Der Vorschlag hatte dramatische Auswirkungen. In der Nacht des 27. Februar begann er sich in den Arbeiterbezirken, den Fabriken und Kasernen zu verbreiten. Arbeiter und Soldaten verfolgten den Verlauf der Ereignisse sehr genau. Am folgenden Tag fanden zahllose Versammlungen in den Fabriken und Kasernen statt, und eine nach der anderen übernahm diese Entscheidung: einen Sowjet aufzustellen und einen Delegierten zu wählen. Am Nachmittag war der Taurische Palast zum Bersten voll mit Arbeiter- und Soldatendelegierten. Suchanow schildert in seinen Memoiren[9] das Treffen, das den historischen Beschluss fällte, den Sowjet zu konstituieren: „Als die Sitzung eröffnet wurde, waren vielleicht 250 Deputierte anwesend, doch ergossen sich in endloser Folge neue Gruppen in den Raum.“[10] Er rief in Erinnerung, wie die Sitzung, als sie über die Tagesordnung abstimmte, immer wieder von Soldatendelegierten unterbrochen wurde, die Botschaften von den Versammlungen ihrer entsprechenden Regimenter weiterleiten wollten. Und einer von ihnen machte folgende Zusammenfassung: „Die Offiziere sind verschwunden. Wir wollen nicht mehr gegen das Volk dienen. Wir schließen uns mit unseren Arbeiterbrüdern zusammen, alle vereint, um die Sache des Volkes zu verteidigen. Wir werden unser Leben dieser Sache geben. Unsere allgemeine Versammlung bat uns, euch zu grüßen.“ Suchanow fügte hinzu: „Und mit einer Stimme voller Emotionen fügte der Deputierte unter donnerndem Applaus hinzu: Lang lebe die Revolution!“[11] Das Treffen, das ständig von der Ankunft neuer Delegierter unterbrochen wurde, die die Position jener, die sie repräsentierten, übermitteln wollten, setzte sich zunehmend mit schwierigen Fragen auseinander: Bildung von Milizen in den Fabriken, Schutz vor Plünderungen und den Aktionen der zaristischen Kräfte. Ein Delegierter schlug die Schaffung einer „literarischen Kommission“ vor, um einen an das ganze Land gerichteten Appell zu verfassen, der überall Gehör finden würde.[12] Die Ankunft eines Delegierten aus dem Semionowski-Regiment – berüchtigt für seine Loyalität zum Zaren und für seine repressive Rolle im Jahr 1905 – führte zu einer weiteren Unterbrechung. Der Delegierte verkündete: „Genossen und Brüder, ich überbringe euch die Grüße von allen Männern des Semionowski-Regiments. Bis auf den letzten Mann haben wir beschlossen, uns dem Volk anzuschließen.“ Dies löste „einen Sturm der Begeisterung aus, der die gesamte Versammlung erfasste.“ (Suchanow). Die Versammlung organisierte einen „Generalstab“ für den Aufstand, der alle strategischen Punkte in Petrograd besetzen ließ.

Die Sowjetversammlung fand nicht im luftleeren Raum statt. Die Massen waren mobilisiert. Suchanow wies auf die Atmosphäre hin, die in der Sitzung herrschte: „Die Menge war dicht gedrängt; Zehntausende von Menschen kamen zusammen, um die Revolution zu begrüßen. Die Palast-Räumlichkeiten konnten nicht all die Menschen aufnehmen, und vor den Türen kamen die Posten der Militärischen Kommission zusammen, um noch größere Menschenmengen zurückzuhalten.“[13]

März 1917: ein gigantisches Netz von Sowjets verbreitete sich über ganz Russland

Binnen 24 Stunden war der Sowjet Herr der Lage. Der Triumph der Petrograder Erhebung löste die Ausweitung der Revolution aufs ganze Land aus. „Das Netz der lokalen Arbeiter- und Soldatenräte in ganz Russland bildete das Rückgrat der Revolution.“[14] Wie konnte es zu solch einer gigantischen Ausweitung kommen, die in kurzer Zeit das ganze russische Territorium erfasste? Es gab Unterschiede zwischen den Sowjets von 1905 und jenen von 1917. 1905 brachen die Streiks im Januar aus, die aufeinanderfolgenden Streikwellen entwickelten sich ausnahmslos ohne jegliche Massenorganisation. Die Sowjets bildeten sich erst im Oktober. Im Gegensatz dazu wurden 1917 die Sowjets zu Beginn der Kämpfe gebildet. Die Appelle des Petrograder Sowjet am 28. Februar trafen auf offene Ohren. Die beeindruckende Geschwindigkeit, mit der sich die Sowjets gebildet hatten, war an sich schon ein Zeichen für den Gestaltungswillen, der große Schichten von Arbeitern und Soldaten ergriffen hatte.

Täglich wurden Versammlungen abgehalten, die sich nicht damit begnügten, Delegierte für den Sowjet zu wählen. Häufig geschah es, dass sie mit einer Generalversammlung einhergingen. Gleichzeitig bildeten sich Bezirkssowjets in den Arbeiterbezirken. Der Sowjet richtete einen solchen Appell an die Arbeiterklasse; noch am gleichen Tag übernahm der kämpferische Wyborger Bezirk, ein proletarischer Vorort von Petrograd, die Führung bei der Bildung eines Bezirkssowjets und rief zur Bildung solcher Sowjets im ganzen Land auf. Arbeiter aus vielen Arbeiterbezirken folgten in den nächsten Tagen diesem Beispiel.

Auf dieselbe Weise wurden auch Fabrik-räte gebildet. Zwar entstanden sie aus der Notwendigkeit von unmittelbaren Forderungen und der Organisierung der Arbeit, aber sie beschränkten sich nicht auf diese Aspekte und politisierten sich immer mehr. Anweiler erkannte: „In Petersburg gaben sich die Betriebsräte im Laufe der Zeit eine feste Organisation, die in gewisser Hinsicht eine Konkurrenz zum Arbeiterdeputiertenrat darstellte. Sie schlossen sich zu Rayonsräten zusammen, die ihre Vertreter in einen Zentralrat wählten, an dessen Spitze ein Vollzugsausschuss stand (…) Dadurch, dass sie den Arbeiter unmittelbar an seinem Arbeitspatz erfassten, wuchs ihre revolutionäre Rolle jedoch in demselben Maße, wie der Sowjet sich zu einer Dauereinrichtung verfestigte und den engen Kontakt mit den Massen einzubüßen begann.“[15]

So verbreiteten sich die Sowjets wie ein Flächenbrand. In Moskau „fanden in den Betrieben Deputiertenwahlen statt, und der Sowjet trat zu seiner ersten Sitzung zusammen, auf der ein dreißigköpfiges Exekutivkomitee gewählt wurde. Am Tage darauf formierte sich der Arbeiterrat endgültig: man legte die Vertretungsnormen fest, wählte Delegierte in den Petersburger Sowjet und begrüßte die Bildung der neuen Provisorischen Regierung.“[16] „Der Siegeszug der Revolution, die sich von Petersburg über ganz Russland fortpflanzte und in wenigen Tagen zum Zusammenbruch der zaristischen Regierungsgewalt und der alten Behörden führte, war begleitet von einer Welle revolutionärer Organisationstätigkeit aller Gesellschaftsschichten, die ihren stärksten Ausdruck in der Bildung von Sowjets in den Städten des ganzen Reiches, von Finnland bis zum Stillen Ozean, fand.“[17]

Auch wenn sich die Sowjets um lokale Angelegenheiten kümmerten, ging es ihnen hauptsächlich um allgemeine Probleme - den Weltkrieg, das Wirtschaftschaos, die Ausweitung der Revolution auf andere Länder -, und sie ergriffen Maßnahmen, um ihre Bemühungen zu konkretisieren. Es ist zu betonen, dass die Bemühungen, die Sowjets zu zentralisieren, von „unten“ kamen, und nicht von oben. Wie wir oben sahen, beschloss der Moskauer Sowjet, Delegierte nach Petersburg zu entsenden, womit er Letzteren ohne viel Aufheben als Zentrum der gesamten Bewegung anerkannte. Anweiler unterstrich: „Die Arbeiter- und Soldatenräte anderer Städte schickten ihre Delegationen nach Petersburg oder unterhielten ständige Beobachter im Sowjet.“[18] Ab Mitte März tauchten die ersten Initiativen für einen Regionalkongress der Sowjets auf. In Moskau fand vom 25. bis  zum 27. März eine Konferenz desselben Charakters statt; es nahmen 70 Arbeiterdeputierte und 38 Soldatendeputierte teil. Im Donez-Becken gab es eine Konferenz mit denselben Inhalten, an der 48 Sowjets teilnahmen. All diese Anstrengungen kulminierten in der Abhaltung des Ersten Allrussischen Sowjetkongresses, der vom 29. März bis zum 3. April stattfand und Delegierte von 480 Sowjets versammelte.

Der „Organisationsvirus“ sprang auf die Soldaten über, die des Krieges leid von den Schlachtfeldern flohen, meuterten, ihre Offiziere vertrieben und beschlossen, nach Hause zurückzukehren. Im Gegensatz zu 1905, als sie praktisch nicht existiert hatten, wucherten sie 1917 geradezu in den Regimentern, Waffenfabriken, Marinebasen und Arsenalen… Die Armee setzte sich aus einem Konglomerat von Gesellschaftsklassen zusammen, hauptsächlich Bauern, in dem die Arbeiter die Minderheit waren. Trotz dieser Heterogenität vereinte sich die Mehrheit der Sowjets ums Proletariat. Wie der bürgerliche Historiker und Ökonom Tugan-Baranowski bemerkte: „Nicht die Armee, sondern die Arbeiter haben den Aufstand begonnen. Nicht Generale, sondern Soldaten sind zur Reichsduma[19] marschiert. Die Soldaten haben die Arbeiter unterstützt, nicht in gehorsamer Ausführung der Befehle ihrer Offiziere, sondern, weil ... sie sich blutsverwandt fühlten mit den Arbeitern, als einer Klasse ebenso werktätiger Menschen wie sie selbst.“[20]

Die Sowjetorganisation gewann immer mehr an Boden und erlebte im Mai 1917 eine weitere Verbreitung, als die Bildung von Bauernsowjets die Massen auf dem Lande zu bewegen begann, die jahrhundertelang wie Lasttiere behandelt worden waren. Dies war ein weiterer fundamentaler Unterschied zu 1905, als es verhältnismäßig wenig, zumeist völlig unorganisierte Aufstände auf dem Lande gegeben hatte. Dass das gesamte Russland von einem gigantischen Netzwerk von Räten durchzogen war, ist eine historische Tatsache von enormer Bedeutung. Wie Trotzki anmerkte: „…in allen früheren Revolutionen kämpften auf den Barrikaden Arbeiter, Handwerksgehilfen, zum Teil auch Studenten, Soldaten gingen zu ihnen über, die Macht aber nahm dann die solide Bourgeoisie an sich, die, unter Wahrung aller Vorsicht, den Barrikadenkampf von den Fenstern aus verfolgt hatte.“[21], doch dies geschah diesmal nicht. Die Massen hörten auf, „für die anderen“ zu kämpfen, und kämpften mittels der Räte für sich selbst. Sie widmeten sich dem ganzen Geschäft des wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Lebens.

Die Arbeitermassen waren mobilisiert. Der Ausdruck dieser Mobilisierung waren die Sowjets und, um sie herum, ein großes Netzwerk von Sowjet-artigen Organisationen (Bezirkssowjets, Fabrikräte), ein Netzwerk, das sich selbst nährte und umgekehrt den Impuls zu einer beeindruckenden Anzahl von Versammlungen, Treffen, Debatten und kulturellen Aktivitäten gaben, die regelrecht explodierten… Arbeiter, Soldaten, Frauen und Jugendliche entwickelten eine fieberhafte Aktivität. Die Arbeit wurde niedergelegt, um die Fabrikversammlung, den Stadt- oder Bezirkssowjet, Aufmärsche, Treffen oder Demonstrationen aufzusuchen. Es ist bedeutsam, dass es nach dem Februarstreik bis auf einige wenige Ausnahmen praktisch keine Streiks gab. Im Gegensatz zu jener Sichtweise, die den Kampf allein auf Streikaktionen reduziert, bedeutete die Abwesenheit von Streiks nicht eine Demobilisierung der Arbeiter. Die Arbeiter befanden sich in einem permanenten Kampf, denn der Klassenkampf bildet, wie Engels sagte, eine Einheit aus dem wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Kampf. Und die Arbeitermassen waren im Begriff, diese drei Dimensionen ihrer Schlacht gleichzeitig anzunehmen. Mit Massenaktionen, Demonstrationen, Zusammenkünften, Debatten, mit der Zirkulation von Büchern und Zeitungen hatten die Arbeitermassen Russlands ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und in sich selbst einen unerschöpflichen Vorrat an Ideen, Initiativen und Erfahrungen entdeckt, die sie unermüdlich in kollektiven Foren einbrachten.

April 1917: der Kampf für „Alle Macht den Räten“

„Vom Sowjet wurden alle Post- und Telegraphenämter besetzt, das Radio, alle Petrograder Bahnhöfe, alle Druckereien, so daß man ohne seine Erlaubnis weder ein Telegramm abschicken, noch aus Petrograd verreisen, noch einen Aufruf drucken konnte.“ Dies waren die Worte eines Abgeordneten der Kadettenpartei[22] aus dessen Memoiren. Jedoch herrschte, wie Trotzki bemerkte, ein fürchterliches Paradoxon seit dem Februar: Die Mehrheit in den Sowjets (Menschewiki und Sozialrevolutionäre) überließ der Bourgeoisie die Macht, indem sie sie praktisch dazu zwang, die Provisorische Regierung zu bilden[23], der ein zaristischer Prinz vorstand und die sich aus reichen Industriellen, Kadetten und, um noch einen daraufzusetzen, aus dem „Sozialisten“ Kerenski[24] zusammensetzte. Die Provisorische Regierung verfolgte, hinter den Sowjets versteckt, ihre Kriegspolitik und zeigte wenig Interesse daran, irgendeine Lösung für die ernsten Probleme zu finden, vor denen die Arbeiter und Bauern standen. Dies führte dazu, dass die Sowjets wirkungslos wurden und verschwanden, wie man angesichts dieser Erklärungen führender Sozialrevolutionäre mutmaßen kann: „Die Sowjets wollten nicht die Konstituierende Versammlung ersetzen, in der sich die Abgeordneten ganz Russlands versammeln. Im Gegenteil, ihr Hauptaugenmerk richten die Sowjets darauf, das Land zur Konstituierenden Versammlung hinzuführen… Die Sowjets stellen keine Regierungsmacht neben der Konstituierenden Versammlung dar, und sie stehen auch nicht in einer Reihe mit der Provisorischen Regierung. Sie sind Berater des Volkes in seinem Kampf um seine Interessen… sie sind sich bewusst, dass sie nur einen Teil des Volkes  repräsentieren und nur das Vertrauen derjenigen Volksmassen genießen, für deren Interessen sie kämpfen.“[25]

Anfang März wurde sich jedoch ein Teil der Arbeiterklasse der Tatsache bewusst, dass die Sowjets dazu tendierten, zur Abschirmung und als Instrument der Politik der Bourgeoisie zu dienen. Es gab auch sehr anregende Debatten in einigen Sowjets, Fabrik- und Bezirkskomitees über die „Machtfrage“. Die bolschewistische Minderheit hinkte dem hinterher, hatte ihr Zentralkomitee[26] doch gerade eine Resolution angenommen, die die Provisorische Regierung trotz starker Opposition aus verschiedenen Teilen der Partei kritisch unterstützte.[27]

Die Debatte nahm im März an Schärfe zu. „Das Wyborger Komitee führte tausendköpfige Versammlungen von Arbeitern und Soldaten durch, die fast einstimmig Resolutionen über die Notwendigkeit der Machtergreifung durch den Sowjet annahmen (…)Die Resolution der Wyborger wurde in Anbetracht ihres Erfolges gedruckt und plakatiert. Das Petrograder Komitee aber belegte diese Resolution mit einem direkten Verbot“.[28]

Die Ankunft Lenins im April veränderte die Lage von Grund auf. Lenin, der mit Sorge aus seinem Schweizer Exil die wenigen Informationen über das beschämende Verhalten des Zentralkomitees der bolschewistischen Partei vernommen hatte, kam zu denselben Schlussfolgerungen wie das Wyborger Komitee. In seinen Aprilthesen drückte er es deutlich aus: „Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Rußland besteht in dem Übergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewußtseins und der mangelhaften Organisiertheit des Proletariats die Bourgeoisie an die Macht brachte, zur zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten der Bauernschaft legen muss.“[29] Viele Autoren sehen in dieser entscheidenden Intervention Lenins nicht einen Ausdruck für die Rolle der Avantgarde der revolutionären Partei und ihrer renommiertesten Mitglieder, sondern im Gegenteil einen Akt des Opportunismus. Ihnen zufolge ergriff Lenin die Gelegenheit, die Sowjets als eine Plattform zur Eroberung der „absoluten Macht“ zu nutzen; er habe sich seines „streng jakobinischen“ Gewandes entledigt und es gegen dasjenige eines anarchistischen Anhängers der „direkten Macht der Massen“ getauscht. Tatsächlich drückte sich ein altes Parteimitglied so aus: „Viele Jahre blieb der Platz Bakunins in der Russischen Revolution unbesetzt, jetzt ist er von Lenin besetzt worden.“[30] Diese Legende ist völlig falsch. Das Vertrauen, das Lenin in die Sowjets hatte, ging sehr weit zurück, zu den Lehren, die er aus der Revolution von 1905 zog. In einem Resolutionsentwurf, den er dem 4. Parteikongress 1906 vorschlug, sagte er, dass, „insofern die Räte Keime der revolutionären Macht darstellen, ihre Stärke und Bedeutung ganz und gar von der Macht und dem Erfolg des Aufstandes abhängt“, und er fügte hinzu: „Solche Einrichtungen sind unvermeidlich zum Untergang verurteilt, wenn sie sich nicht auf die revolutionäre Armee stützen und die Regierungsgewalten stürzen (d.h. in eine revolutionäre Regierung verwandeln).“[31] 1915 kehrte er zur gleichen Idee zurück: „Arbeiterdelegiertenräte und ähnliche Institutionen müssen betrachtet werden als Organe des Aufstandes, als Organe der revolutionären Gewalt. Diese Institutionen können nur von sicherem Nutzen sein im Zusammenhang mit der Entfaltung des politischen Massenstreiks und im Zusammenhang mit dem Aufstand, je nach dem Grad seiner Vorbereitung, seiner Entwicklung und seinem Fortschritt.“[32]

Juni–Juli 1917: die Krise der Sowjets

Lenin war sich darüber bewusst, dass die Auseinandersetzung erst begonnen hatte: „Nur durch den Kampf gegen diese blinde Vertrauensseligkeit (der ausschließlich mit geistigen Waffen, durch kameradschaftliche Überzeugung, durch Hinweis auf die Erfahrungen des Lebens geführt werden kann und darf) können wir uns von der grassierenden revolutionären Phrase befreien und wirklich sowohl das Bewusstsein des Proletariats als auch das Bewusstsein der Massen sowie ihre kühne, entschlossene Initiative überall im Lande (…) vorantreiben“.[33]

Dies wurde zurzeit des Ersten Kongresses der Allrussischen Sowjets auf bittere Weise bestätigt. Einberufen, um das Netzwerk der verschiedenen Arten von Sowjets, die sich übers Land verbreitet hatten, zu vereinen und zu zentralisieren, richteten sich seine Resolutionen nicht nur gegen die Sowjets, sondern führten zur Zerstörung der Sowjets. Im Juni und Juli trat ein ernstes politisches Problem auf: die Krise der Sowjets und ihre Entfremdung von den Massen.

Die allgemeine Lage zeichnete sich durch ein völliges Chaos aus: Anstieg der Arbeitslosigkeit, Stillstand des Transportwesens, Ernteausfälle auf dem Land und allgemeine Rationierung. Die Fahnenflucht in der Armee vervielfachte sich, ebenfalls die Versuche, sich mit dem Feind an der Front zu verbrüdern. Das imperialistische Lager der Entente (Frankreich, Großbritannien und später die USA) setzte die Provisorische Regierung unter Druck, damit diese eine allgemeine militärische Offensive gegen die Deutschen eröffnete. Die menschewistischen und sozialrevolutionären Delegierten, gern zu Diensten, verabschiedeten auf dem Sowjetkongress eine Resolution, die für die militärische Offensive eintrat, während eine wichtige Minderheit, nicht nur Bolschewiki, dagegen war. Um das Ganze noch zu krönen, lehnte der Kongress einen Vorschlag ab, den Arbeitstag auf acht Stunden zu begrenzen, und zeigte keinerlei Interesse an den Problemen auf dem Land. Einst die Stimme der Massen, wurde der Rätekongress nun zum Sprachrohr dessen, was man über alles gehasst hatte – der Fortsetzung des bürgerlichen Regimes und des imperialistischen Krieges.

Nach der Verbreitung der Kongressresolutionen – und insbesondere jener, die die militärische Offensive unterstützten – breitete sich tiefe Enttäuschung in den Massen aus. Sie sahen, dass ihre Organisation zwischen ihren Fingern zerrann, und sie begannen zu reagieren. Der Bezirkssowjet von Petrograd, der Sowjet der Nachbarstadt Kronstadt, viele Fabrikräte und etliche Regimentskomitees schlugen für den 10. Juni eine Großdemonstration vor, deren Ziel es sein sollte, Druck auf den Kongress auszuüben, so dass er seine Politik änderte und sich in Richtung Machtübernahme bewegte, indem er die kapitalistischen Minister aus seinen Reihen ausschloss.

Die Antwort des Kongresses bestand darin, die Demonstrationen unter dem Vorwand der „Gefahr eines monarchistischen Komplotts“ zeitweilig zu verbieten. Es wurden Delegierte des Kongresses mobilisiert, die sich vor die Fabriken und den Regimentern  begeben sollten, um die Arbeiter und Soldaten „eines Besseren zu belehren“. Die Aussage eines menschewistischen Delegierten war vielsagend: „Die Mehrheit des Kongresses, über 500 seiner Mitglieder, hatte die ganze Nacht kein Auge geschlossen, in Zehnergruppen zerschlagen besuchte sie die Petrograder Fabriken und Truppenteile mit der Aufforderung, von der Demonstration abzusehen. Der Kongress besitzt in einem großen Teil der Fabriken und Werkstätten und auch bei gewissen Teilen der Garnison keine Autorität ... Die Kongressmitglieder wurden durchaus nicht immer freundlich, mitunter sogar feindselig empfangen und nicht selten im bösen verabschiedet.“[34]

Die Führung der Bourgeoisie hatte die Notwendigkeit verstanden, ihre wichtigste Karte zu schützen – die Beschlagnahme der Räte -, um sie gegen den ersten ernsthaften Versuch der Massen zu benutzen, sie vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Dies tat sie mit ihrem angeborenen Machiavellismus, indem sie die Bolschewiki als Objekt ihrer Kraftprobe benutzte und eine wilde Kampagne gegen sie entfachte. Auf dem Kosakenkongress, der zur gleichen Zeit wie der Sowjetkongress stattfand, verkündete Miljukow, dass „die Bolschewiki die schlimmsten Feinde der Revolution waren (…) Es ist Zeit, diesen Herren den Gnadenstoß zu geben.“[35] Der Kosakenkongress beschloss, „die bedrohten Sowjets zu unterstützen. Wir Kosaken werden niemals mit den Sowjets streiten“.[36] Wie Trotzki betonte, waren „die Reaktionäre (…) bereit, gegen die Bolschewiki sogar mit dem Sowjet zusammenzugehen, um ihn später um so sicherer erdrosseln zu können“[37]. Der Menschewik Liber zeigte deutlich das Ziel, als er dem Sowjetkongress erklärte: „Wollt ihr die Masse bekommen, die zu den Bolschewiki geht, dann brecht mit dem Bolschewismus.“

Die gewaltsame bürgerliche Gegenoffensive gegen die Massen geschah in einer Situation, wo sie insgesamt politisch noch zu schwach waren. Die Bolschewiki begriffen dies und schlugen die Absage der Demonstration am 10. Juni vor, was von einigen Regimentern und den kämpferischsten Fabrikbelegschaften nur widerwillig hingenommen wurde.

Als diese Nachricht den Sowjetkongress erreichte, schlug ein Delegierter vor, dass für den 18. Juni eine „wirkliche“ Sowjetdemonstration einberufen werden solle. Miljukow analysierte diese Initiative so: „Im Anschluss an einige Reden mit einem liberalen Tonfall, denen es gelang, eine bewaffnete Demonstration am 10. Juni zu verhindern (…) hatte der sozialistische Minister das Gefühl, dass sie bei ihrer Annäherung an uns zu weit gegangen seien, dass der Boden unter ihren Füßen wegbrach. Aufgeschreckt wendeten sie sich abrupt den Bolschewiki zu.“[38]

Dies war ein bitterer Rückschlag für den bürgerlich beherrschten Sowjetkongress. Arbeiter und Soldaten beteiligten sich massenhaft an der Demonstration am 18. Juni und schwenkten Transparente, auf denen zu „Alle Macht den Sowjets“, zur Entlassung der kapitalistischen Minister, zum Ende des Krieges aufgerufen und an die internationale Solidarität appelliert wurde. Auf den Demonstrationen wurden die Orientierungen der Bolschewiki aufgegriffen und das Gegenteil dessen gefordert, was der Kongress wollte.

Die Situation verschärfte sich. Von ihren Alliierten in der Entente unter Druck gesetzt, sah sich die russische Bourgeoisie in einer Sackgasse. Die famose militärische Offensive endete im Fiasko, die Arbeiter und Soldaten wollten einen radikalen Wechsel in der Sowjetpolitik. Doch die Situation in den Provinzen und auf dem Land war nicht so klar; hier blieb die große Mehrheit trotz einer gewissen Radikalisierung den Sozialrevolutionären und der Provisorischen Regierung noch treu.

Es wurde für die Bourgeoisie Zeit, den Massen in Petrograd einen Hinterhalt zu legen, um eine vorzeitige Konfrontation zu provozieren, die es ihr erlauben würde, zu einem plötzlichen Schlag gegen die Avantgarde der Bewegung auszuholen und so der Konterrevolution Tür und Tor zu öffnen.

Die Kräfte der Bourgeoisie reorganisierten sich. Es wurden „Offizierssowjets“ gebildet, deren Aufgabe es war, Elitekräfte zu organisieren, um die Revolution militärisch auszulöschen. Ermutigt von den westlichen Demokratien, erhoben die zaristischen Schwarzhundertschaften ihr Haupt. Nach Lenins Worten funktionierte die alte Duma als ein konterrevolutionäres Büro, dem die führenden sozialverräterischen Sowjet-Führer keine Hindernisse in den Weg stellten.

Eine Reihe subtiler Provokationen wurde in Gang gesetzt, um die Arbeiter von Petrograd in die Falle einer vorzeitigen Erhebung zu locken. Zuerst zog die Kadettenpartei ihre Minister aus der Provisorischen Regierung zurück, so dass Letztere sich nur noch aus „Sozialisten“ zusammensetzte. Dies war sozusagen eine Einladung an die Arbeiter, die unmittelbare Machtübernahme zu fordern und sich in den Aufstand zu stürzen. Die Entente stellte daraufhin der Provisorischen Regierung ein veritables Ultimatum: die Wahl zwischen den Sowjets und einer konstitutionellen Regierung. Letztlich war die gewaltsamste Provokation die Drohung, die kämpferischsten Regimenter aus der Hauptstadt abzuziehen und an die Front zu schicken.

Eine große Anzahl von Arbeitern und Soldaten in Petrograd erlag der Versuchung. Von zahllosen Bezirks-, Fabrik- und Regimentssowjets wurde zu einer bewaffneten Demonstration am 4. Juli aufgerufen. In ihrem Schlachtruf forderten sie, dass die Sowjets die Macht an sich reißen. Diese Initiative zeigte, dass die Arbeiter verstanden hatten, dass es kein anderes Resultat geben kann als die Revolution. Doch gleichzeitig forderten sie, dass die Macht von den Sowjets, so wie sich diese damals präsentierten, ergriffen werden soll, d.h. mit der Mehrheit in den Händen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, denen es darum ging, die Sowjets der Bourgeoisie unterzuordnen. Die anschließend zelebrierte Szene, als ein Arbeiter sich an ein menschewistisches Mitglied des Sowjets wandte („Warum übernehmt ihr nicht die Macht ein für allemal?“) steht für die fortbestehenden Illusionen innerhalb der Arbeiterklasse. Dies war, als würde man den Wolf in eine Schafsherde einladen! Die Bolschewiki warnten vor dieser Falle. Sie taten dies nicht aus Selbstgefälligkeit, vom hohen Sockel herab, den Massen aufzählend, in welchen Punkten sie falsch lagen. Sie stellten sich selbst an die Spitze der Demonstration, Schulter an Schulter mit den Arbeitern und Soldaten, um all ihre Kräfte beizusteuern, damit die Antwort massiv war, aber nicht auf eine entscheidende Konfrontation hinauslief, was von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre.[39] Die Demonstration nahm ein geordnetes Ende und setzte keinen revolutionären Angriff in Gang. So wurde ein Massaker vermieden, was sich in der nahen Zukunft für die Massen auszahlen sollte. Doch die Bourgeoisie konnte nicht zum Rückzug blasen; sie musste ihre Offensive fortsetzen. Die Provisorische Regierung, die nun völlig aus „Arbeiter“-Ministern bestand, löste daraufhin eine brutale Repression aus, die sich besonders gegen die Bolschewiki richtete. Die Partei wurde für illegal erklärt, zahllose Mitglieder wurden eingesperrt, ihre gesamte Presse wurde verboten, und Lenin musste in den Untergrund gehen.

Durch kraftraubende, aufopfernde Bemühungen trug die bolschewistische Partei entscheidend dazu bei, dass eine Niederlage der Massen und ihre Zerstreuung, die durch ihre Desorganisation drohte, vermieden wurden. Der Petrograder Sowjet, der im Gegensatz dazu das gewählte Exekutivkomitee auf dem jüngsten Sowjetkongress unterstützte, erwies sich als ein Abgrund der Niederträchtigkeit, als er die brutale Repression und Reaktion befürwortete.

Wie konnte die Bourgeoisie die Sowjets auf Abwege bringen?

Die Organisation der Massen in den Arbeiterräten ab Februar 1917 schuf die Gelegenheit, ihre Stärken, Organisation und ihr Bewusstsein für den finalen Angriff gegen die bürgerliche Macht zu entwickeln. Die folgende Periode, die so genannte Periode der Doppelherrschaft von Proletariat und Bourgeoisie, bildete eine kritische Ebene für die beiden antagonistischen Klassen, die entweder für die eine oder für die andere zum politischen und militärischen Triumph über die gegnerische Klasse führen konnte.

Während dieser Zeitspanne bildete der Bewusstseinsgrad in den Massen, der, verglichen mit der Notwendigkeit einer proletarischen Revolution, immer noch schwach war, die Bresche, durch die die Bourgeoisie hineinzustoßen versuchte, um dem entstehenden revolutionären Prozess ein Ende zu bereiten. Dafür benutzte sie eine Waffe, die so gefährlich wie schädlich war - die Sabotage durch bürgerliche Kräfte, die sich hinter einer „radikalen“ Arbeitermaske versteckten. Dieses Trojanische Pferd der Konterrevolution wurde damals in  Russland von den menschewistischen und sozialrevolutionären „sozialistischen“ Parteien gebildet.

Anfangs hegten viele Arbeiter noch Illusionen in die Provisorische Regierung und betrachteten sie als ein Produkt der Sowjets, während in der Realität sie ihr schlimmster Feind war. Was die Menschewiki und Sozialrevolutionäre angeht, so genossen sie ein gewisses Vertrauen in den großen Massen der Arbeiter, die sie mit ihren radikalen Reden, mit ihrer revolutionären Phraseologie in die Irre geführt hatten, ein Vertrauen, das es ihnen erlaubte, die große Mehrheit der Sowjets politisch zu dominieren. Aus dieser Position der Stärke heraus strebten sie danach, diese Organe ihres revolutionären Inhalts zu entleeren, um sie in die Dienste der Bourgeoisie zu stellen. Wenn sie bei diesem Versuch scheiterten, dann weil die permanent mobilisierten Massen durch ihre eigenen Erfahrungen und mit der Unterstützung durch die bolschewistische Partei in der Lage waren, die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre zu demaskieren, was so weit ging, dass Letztere dazu verleitet wurden, die Orientierung der Provisorischen Regierung in solch fundamentalen Fragen wie den Krieg und die Lebensbedingungen anzunehmen.

Im nächsten Artikel werden wir sehen, wie die Sowjets ab Ende August 1917 in die Lage versetzt wurden, sich selbst zu erholen und zu einem wirklichen Sprungbrett für die Machtübernahme zu werden, was schließlich im Triumph der Oktoberrevolution kulminierte.

C.Mir, 8. März 2010

[1] Siehe Internationale Revue Nr. 48

[2] Wir haben mittlerweile eine Menge Material und viel mehr Details darüber, wie sich die Russische Revolution entwickelte, und auch über die entscheidende Rolle, die die Bolschewistische Partei dabei spielte. Insbesondere Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution, Zehn Tage, die die Welt erschütterten von John Reed, unsere Broschüren über die Russische Revolution wie auch zahllose Artikel in unserer Internationalen Revue.

[3] Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905–1921, Leiden E.J. Brill, 1958. Obwohl er sehr antibolschewistisch ist, bleibt der Autor den Fakten treu und erkennt objektiv den Beitrag der Bolschewiki an, was sich abhebt von den sektiererischen und dogmatischen Urteilen, die immer wieder zum Besten gegeben werden.

[4] Zitiert bei Anweiler, s.o., S. 110.

[5] Ebenda, S. 127.

[6] Ebenda, S. 122.

[7] Ebenda, S. 123.

[8] Gérard Walter, Overview of the Russian Revolution, eigene Übersetzung.

[9] 1922 in sieben Bänden veröffentlicht, vermitteln sie die Perspektive eines unabhängigen Sozialisten, eines Mitarbeiters Gorkis und von Martows menschewistischen Internationalisten. Auch wenn er mit den Bolschewiki nicht einer Meinung war, unterstützte er die Oktoberrevolution. Dieses und die folgenden Zitate sind aus einer Zusammenfassung seiner in Spanisch veröffentlichten Memoires entnommen und übersetzt.

[10] Laut Anweiler gab es um die 1.000 Delegierte am Ende der Sitzung und bis zu 3.000 auf der nächsten Sitzung.

[11] Suchanow, a.a.O, eigene Übersetzung

[12] Diese Kommission schlug die ständige Ausgabe einer Sowjetzeitung vor: Iswestja (Die Nachrichten), die seither regelmäßig erschien.

[13] Suchanow, a.a.O., eigene Übersetzung

[14] Anweiler, a.a.O., S. 144

[15] Ebenda, S. 155 f.

[16] Ebenda, S. 140

[17] Ebenda, S. 139

[18] Ebenda, S. 151

[19] Abgeordnetenkammer

[20] zit. bei Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Band 1, Kap. Wer leitete den Februaraufstand?

[21] a.a.O. Kap. Das Paradoxon der Februarrevolution

[22]  Konstitutionell-Demokratische Partei (KD) des Großbürgertums, 1905 eilig gegründet. Ihr Führer war Miljukow, die graue Eminenz der russischen Bourgeoisie damals.

[23] Trotzki schildert, wie gelähmt die Bourgeoisie war und wie die menschewistischen Oberhäupter ihren Einfluss in den Sowjets nutzten, um für sich selbst bedingungslose Macht zu reservieren, wobei Miljukow „nicht seine Befriedigung und angenehme Überraschung verhehlte“ (Memoiren von Suchanow, einem Menschewiken, der die Geschehnisse in der Provisorischen Regierung unmittelbar miterlebte).

[24] Dieser Rechtsanwalt, der vor der Revolution sehr beliebt war in den Arbeiterbezirken, endete als offizieller Kopf der Provisorischen Regierung und führte schließlich etliche Versuche aus, um den Arbeitern den Gnadenstoß zu geben. Seine Absichten wurden in den Memoiren des britischen Botschafters zu jener Zeit enthüllt: „Kerenski zwang mich, Geduld zu haben, und versicherte mir, dass die Sowjets letztendlich eines natürlichen Todes sterben würden. Sie würden bald ihre Funktionen an die demokratischen Organe einer autonomen Verwaltung abgeben.“

[25] Zitiert bei Anweiler, s.o., S. 177.

[26] Zusammengesetzt aus Stalin, Kamenew und Molotow. Lenin war im Schweizer Exil und hatte praktisch keine Möglichkeiten, die Partei zu kontaktieren.

[27] Auf dem Treffen des Petrograder Parteikomitees am 5. März wurde der von Schljapnikow vorgestellte Resolutionsentwurf abgelehnt. Es hießt in ihm: „Die Aufgabe des Augenblicks ist die Bildung einer provisorischen revolutionären Regierung, die aus der Vereinigung der örtlichen Räte der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten erwächst. Als Vorbereitung der vollen Eroberung der Zentralgewalt ist es unerlässlich: a) die Macht der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte zu befestigen…“ (zitiert von Anweiler, s.o., S. 183f.)

[28] Trotzki, s.o., Kap. 15.

[29] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/04/april.htm [74]. Wir können hier nicht den Inhalt dieser Thesen diskutieren, auch wenn sie äußerst interessant sind. Siehe die Internationale Revue Nr. 19, „Die Aprilthesen - Leitlinien der proletarischen Revolution“.

[30] Zitiert bei Trotzki, s.o., Kap. 15.

[31] Zitiert bei Anweiler, s.o., S. 100.

[32] Ebenda, S. 104.

[33] Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, Lenin Werke Band 24 S. 47 f.

[34] Zitiert bei Trotzki, s.o., Kap. 22.

[35] Dass das Haupt der Bourgeoisie in Russland im Namen der Revolution sprechen konnte, zeigt den ganzen Zynismus auf, der für diese Klasse so typisch ist.

[36] Diese Regimenter zeichneten sich durch ihren Gehorsam gegenüber dem Zaren und der etablierten Ordnung aus. Sie waren die letzten, die zur Revolution überliefen.

[37] Trotzki, a.a.O., Kap. 22

[38] Alle Zitate sind Auszüge aus Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution.

[39] Siehe unseren Artikel „Die Juli-Tage: Die Partei ist eine lebenswichtige Notwendigkeit“, Internationale Revue Nr. 20. Wir verweisen unsere Leser auf diesen Artikel für eine detailliertere Analyse dieses Ereignisses.

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [36]

Geschichte der Arbeiterbewegung: Was sind Arbeiterräte? Teil 3: Die Revolution von 1917 (Juli bis Oktober)

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Von der Erneuerung der Arbeiterräte zur Machtergreifung

In der Serie „Was sind Arbeiterräte?“ wollen wir auf die gestellte Frage antworten, indem wir die historische Erfahrung des Proletariats analysieren. Es geht nicht darum, die Räte als das unfehlbare Vorbild darzustellen, das es einfach zu kopieren gelte. Vielmehr wollen wir die Schwächen und die Stärken verstehen, so dass kommende Generationen mit diesem Wissen gerüstet weiter fahren können.

Im ersten Artikel sahen wir, wie die Arbeiterräte erstmals in der Revolution von 1905 in Russland auftauchten[1]. Im zweiten Artikel sahen wir, wie sie das Herzstück der Februarrevolution waren, und wie sie im Juni-Juli 1917 in eine tiefe Krise gerieten, bis sie von der bürgerlichen Konterrevolution in Geiselhaft genommen wurden[2].

Im dritten Artikel werden wir sehen, wie sie von den Massen der Arbeiter und Soldaten zurück erobert wurden, die dann so die Macht im Oktober 1917 übernehmen konnten.

Nach der Niederlage des Julis plant die Bourgeoisie die Zerstörung der Räte

Der Prozess einer Entwicklung ist niemals linear, weder in der Natur noch in der menschlichen Gesellschaft, er ist vielmehr ein Weg voller Wiedersprüche, Konvulsionen, dramatischer Rückschläge und Fortschritte. Diese Analyse kann auf den Kampf des Proletariats angewendet werden, einer Klasse die per Definition vom Eigentum an den Produktionsmitteln ausgeschlossen ist und keine ökonomische Macht besitzt. Der Kampf des Proletariats ist der von Wiedersprüchen, Konvulsionen, von scheinbaren Verlusten an für dauerhaft gehaltenen Errungenschaften, mit langen Phasen der Apathie und Entmutigung.

Nach der Februarrevolution schienen die Arbeiter und Soldaten von einem Sieg zum anderen zu springen, der Bolschewismus nahm an Einfluss zu. Die Massen, besonders in der Gegend von Petrograd, bewegten sich in Richtung Revolution. Es war wie eine reifende Frucht.

Im Juli gab es Momente der Zauderns, die typisch für den proletarischen Kampf sind. „Unmittelbar hatten eine Niederlage die Arbeiter und Soldaten Petrograds erlitten, die bei ihrem Vordringen einerseits auf das Unklare und Widerspruchsvolle ihres eigenen Zieles, andererseits auf die Rückständigkeit der Provinz und der Front gestoßen waren.“[3]

Die Bourgeoisie nutzte die Gelegenheit, um eine Offensive zu starten: Die Bolschewiki wurden als deutsche Agenten[4] gebrandmarkt und massenhaft verhaftet. Paramilitärische Banden wurden organisiert, die die Bolschewiki auf der Straße physisch angriffen, den Boykott ihrer Versammlungen organisierten, ihre Lokale und Druckereien zerstörten. Die gefürchteten zaristischen Schwarzhunderter, die monarchistischen Zirkel, die offiziellen Vereine gewannen wieder die Oberhand. Die Bourgeoisie, mit dem Rückhalt der französischen und englischen Diplomatie, versuchte die Räte zu zerstören und eine brutale Diktatur zu installieren[5].

Die Revolution erreichte einen Punkt, an dem eine Niederlage sehr wahrscheinlich schien: “Vielen schien es, die Revolution habe sich erschöpft. In Wirklichkeit hatte sich nur die Februarrevolution bis zur Neige erschöpft. Diese innere Krise des Massenbewusstseins in Verbindung mit Repression und Verleumdung führte zur Verwirrung und Rückzügen, manchmal panischer Art. Die Gegner wurden kühner. In den Massen selbst kam alles Rückständige, Träge, mit den Erschütterungen und Entbehrungen Unzufriedene nach oben.“[6]

Die Bolschewiki inspirieren die Antwort der Massen

Wie auch immer, in dieser schwierigen Zeit bewiesen die Bolschewiki, dass sie ein proletarischer Fels in der Brandung waren. Verfolgt, verleumdet, erschüttert durch die heftigen Debatten innerhalb der Organisation und durch Austritte vieler Mitglieder, wurden sie nicht schwach und verfielen nicht dem Chaos. Sie konzentrierten ihre Kräfte, um die Lehren aus den Niederlagen zu ziehen, ganz besonders die wesentliche Lehre: Weshalb waren die Räte zu Geiseln der Bourgeoisie geworden? Bis hin zur Gefahr ihres Verschwindens?

Von Februar bis Juli gab es eine Doppelmacht. Die Sowjets (Räte) waren auf der einen Seite, auf der anderen war der bürgerliche Staat, welcher noch nicht zerstört worden war und immer noch genug Reserven hatte, um sich ganz zu erholen. Die Ereignisse im Juli zerstörten das unmögliche Gleichgewicht, das zwischen den Sowjets und der Staatsmacht existierte. „(…) der Generalstab und die Kommandospitzen der Armee haben mit der mehr oder weniger bewussten Hilfe Kerenskis, den sogar die angesehensten Sozialrevolutionäre jetzt einen Cavaignac[7] nennen, die tatsächliche Staatsmacht ergriffen und sind dazu übergegangen, gegen revolutionäre Truppenteile an der Front mit Waffengewalt vorzugehen, revolutionäre Truppen und Arbeiter in Petrograd und Moskau zu entwaffnen, in Nishni-Nowgorod niederzuschlagen und zu unterdrücken, die Bolschwiki zu verhaften und ihre Zeitungen nicht nur ohne Gerichtsverfahren, sondern auch ohne Regierungsverfügung mundtot zu machen. (….) der wahre Inhalt der Politik der Militärdiktatur, die heute herrscht und von den Kadetten und Monarchisten unterstützt wird, (besteht) darin (…), die Auseinanderjagung der Sowjets vorzubereiten“[8]. 

Lenin wies auch nach, wie die Menschewiki und Sozialrevolutionäre „die Sache der Revolution endgültig verraten, sie den Konterrevolutionären ausgeliefert und sich und ihre Parteien sowie die Sowjets zum Feigenblatt der Konterrevolution gemacht“ haben[9].

Unter solchen Umständen waren „alle Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung der russischen Revolution (…) endgültig verschwunden. Die objektive Lage ist so: entweder voller Sieg der Militärdiktatur oder Sieg des bewaffneten Aufstandes mit einer machtvollen Erhebung der Massen (…) Die Losung „Alle Macht den Räten“ war die Losung der friedlichen Entwicklung der Revolution, die möglich war im April, im Mai und im Juni, bis zum 5.-9. Juli“[10].

In seinem Buch „Die Rätebewegung in Russland 1905-1921“ griff Anweiler[11] auf diese Analyse zurück, um zu beweisen versuchen, dass „Damit (…) zum erstenmal in  kaum verhüllter Form das Ziel der alleinigen Machteroberung durch die Bolschewiki proklamiert (war), das bisher immer hinter der Losung „Alle Macht den Räten“ verborgen blieb.“[12]

Hier tritt nun die oft wiederholte Anklage zu Tage, dass „Lenin sich der Sowjets taktisch bedient“ habe, um die absolute Macht zu erringen. Wenn man aber genauer den Artikel betrachtet, den Lenin in der Folge dieser Ereignisse schrieb, sieht man, dass seine Sorge eine gänzlich andere war, als die, welche Anweiler Lenin zuschreibt: „Er versuchte, die Räte aus der Krise, in welcher sie sich befanden, herauszuholen, er wollte sie vom falschen Pfad abbringen, der zu ihrer Auflösung geführt hätte.“

Im Artikel Zu den Losungen äußerte sich Lenin unmissverständlich: “Eben das revolutionäre Proletariat muss, nach der Erfahrung vom Juli 1917, die Staatsmacht selbständig in seine Hände nehmen – anders ist der Sieg der Revolution nicht möglich. Die Macht in den Händen des Proletariats, das von der armen Bauernschaft oder den Halbproletariern unterstützt wird, dies ist der einzige Ausweg (…) Sowjets können und müssen in dieser neuen Revolution in Erscheinung treten, aber nicht die jetzigen Sowjets, nicht Organe des Paktierens mit der Bourgeoisie, sondern Organe des revolutionären Kampfes gegen die Bourgeoisie. Dass wir auch dann für den Aufbau des ganzen Staates nach dem Typ der Sowjets eintreten werden, das stimmt. Das ist nicht eine Frage der Sowjets schlechthin, sondern eine Frage des Kampfes gegen die gegenwärtige Konterrevolution und gegen den Verrat der gegenwärtigen Sowjets.“[13] Er behauptet: „Ein neuer Zyklus fängt an, einer, der die alten Klassen, Räte, Parteien nicht miteinschließt. Aber im Feuer des Kampfes verjüngte Klassen, Parteien und Räte, welche im Prozess des Kampfes geschult, gehärtet und  umgestaltet werden.“ Und weiter präzisierte er: „Es beginnt ein neuer Zyklus, in den nicht die alten Klassen, nicht die alten Parteien und nicht die alten Sowjets eintreten, sondern die im Feuer des Kampfes erneuerten, durch den Verlauf des Kampfes gestählten, geschulten und umgeformten.“[14]

Diese Schriften Lenins waren Teil einer stürmischen Debatte innerhalb der bolschewistischen Partei, einer Debatte, welche sich am Sechsten Parteikongress zuspitzte. Er fand vom 26. Juli bis zum 3. August unter absoluter Geheimhaltung statt - ohne Lenin und Trotzki, die von der Polizei am meisten gesucht wurden. An diesem Kongress wurden drei Positionen vertreten: Die erste, die unter dem Eindruck der Juli-Niederlage und dem Abdriften der Sowjets stand, trat offen dafür ein, „sie aufzugeben“ (Stalin, Molotow, Sokolnikow); die zweite Position unterstütze vehement die alte Position „Alle Macht den Räten“; und die dritte vertrat, dass man sich auf die „Basis“-Organisationen stützen soll (Fabrikräte, Territorialräte, Quartierräte), um so die kollektive Macht der Arbeiter wiederherzustellen.

Mitte Juli beginnen sich die Massen wieder zu erholen

Diese dritte Position sollte den Nagel auf den Kopf treffen. Ab Mitte Juli begannen die „Basis-Sowjets“ für eine Erneuerung der Sowjets zu kämpfen.

Im zweiten Artikel dieser Serie sahen wir, wie die Massen mit verschiedenartigen Sowjetorganisationen sich als großes Netzwerk rund um die Sowjets gruppierten. Dies drückte ihre Einheit und Stärke aus.[15] Die Spitze der Sowjets – die Sowjets in den Städten – standen nicht einer passiven großen Masse vor; im Gegenteil es gab ein intensives kollektives Leben, das sich in Tausenden von Versammlungen konkretisierte, die von Fabrikräten, Bezirks-Sowjets, überregionalen Versammlungen, Konferenzen, formellen und informellen Versammlungen einberufen wurden ... In seinen Memoiren gibt uns Suchanow[16] einen Einblick in die Stimmung, die an den Konferenzen der Petrograder Fabrikräten herrschte. „Am 30. Mai fand in den Weißen Hallen eine Konferenz von Werkstatt- und Fabrikkomitees aus der Hauptstadt und Umgebung statt. Diese Konferenzen wurden von der „Basis“ aus organisiert. Die Planung wurde in den Fabriken ausgearbeitet ohne irgendwelche Teilnahme der offiziellen Organe, die für Arbeitsfragen zuständig waren, nicht einmal die Organe der Sowjets beteiligten sich daran. (...) Die Konferenz war wirklich repräsentativ: Arbeiter, die direkt von ihren Arbeitsplätzen kamen, beteiligten sich in großer Zahl an diesen Arbeiten. Während zwei Tagen diskutierte man in diesem Arbeiterparlament über die Krise und den Zusammenbruch des Landes.“[17]

Selbst in den schlimmsten Augenblicken, welche den Julitagen folgten, konnten die Massen ihre Organisationen aufrechterhalten, die weniger von der Krise betroffen waren, als die „großen Sowjetorgane“: der Petrograder Sowjet, der Kongress der Sowjets und sein Exekutivkomitee, das ZEK (Zentrale Exekutivkomitee).

Zwei zusammengehörende Gründe erklären diesen Unterschied: Erstens kann man festhalten, dass die Sowjetorganisationen „von unten“ direkt aufgrund des Druckes den die Massen ausübten, einberufen wurden. Sie waren sich der Probleme und Gefahren bewusst und diese Versammlungen dauerten demnach nur ein paar Stunden. Die Situation der Sowjetorganisationen „von oben“ unterschied sich beträchtlich davon: „Im gleichen Maße jedoch, in dem die Arbeit des Sowjets gut zu funktionieren begann, verlor er zu einem beträchtlichen Teil den unmittelbaren Kontakt mit den Massen. Die Plenarsitzungen, die in den ersten Wochen fast täglich stattgefunden hatten, wurden seltener und von den Deputierten oft nur schwach besucht. Die Sowjetexekutive verselbständigte sich zusehends, auch wenn sie nach wie vor einer gewissen Kontrolle durch die Deputierten unterstand, die das Recht hatten, sie abzulösen.“[18]

Zweitens konzentrierten sich Menschewiki und Sozialrevolutionäre in den Kernen der großen bürokratischen Sowjetorgane. Suchanow beschreibt die Stimmung im Petrograder Sowjet, die von Intrigen und Manipulationen beherrscht war: Das Präsidium des Sowjets, der in seinem Ursprung ein Organ des inneren Verfahrensablaufs war, tendierte dazu die Funktionen des Exekutivkomitees einzunehmen und es zu ersetzen. Unter anderem verstärkt es sich mit einer wenig versteckten sogenannten „Kammer der Sterne“. Dort findet man die Mitglieder des Präsidiums wieder und eine Art Kamarilla, die aus devoten Freunden von Tschcheidse und Zereteli zusammengesetzt ist. Letzterer ist ein Verantwortlicher der diktatorischen Verhaltensweisen innerhalb der Sowjets, mit aller Ehr- und Würdelosigkeit, die das mit sich bringt.

Die Bolschewiki hingegen betrieben eine aktive und tägliche Intervention in die Basisorgane der Sowjets. Ihre Gegenwart war sehr dynamisch, sie waren oft die Ersten, die den Versammlungen Debatten oder die Annahme von Resolutionen vorschlugen, die es den Massen ermöglichten, dadurch ihren Willen und ihre Fortschritte auszudrücken.

Am 15. Juli fand eine Demonstration von Arbeitern aus den großen Betrieben von Petersburg statt, die sich vor dem Gebäude des Sowjets zusammenfanden. Die Verleumdungen gegen die Bolschewiki wurden angeprangert und die Freilassung der Gefangenen gefordert. Am 20. Juli forderte die Betriebsversammlung der Rüstungsarbeiter von Sestroretsk die Auszahlung der Löhne, welche aufgrund ihrer Teilnahme an den „Julitagen“ zurückgehalten wurden. Sie verwendeten das Geld, welches sie erstritten hatten, für die Presse gegen den Krieg. Trotzki erzählt, wie am 24. Juli, „eine Versammlung der Arbeiter aus 27 Betrieben des Bezirks Peterhof eine Resolution verabschiedete, die gegen die verantwortungslose Regierung und seine konterrevolutionäre Politik protestierte.“[19]

Trotzki unterstreicht auch, dass am 21. Juli Soldatendelegationen von der Front in Petrograd ankamen. Sie waren erschöpft von den durchgemachten Entbehrungen und der Repression, welche die Offiziere gegen die bekanntesten von ihnen entfesselt hatten. Sie richteten sich an das Exekutivkomitee des Sowjets, das ihnen keinerlei Beachtung schenkte. Mehrere bolschewistische Militante rieten ihnen darauf, mit den Betrieben, den Regimentern der Soldaten und Matrosen Kontakt aufzunehmen. Der Empfang war total anders: Sie wurden wie Brüder aufgenommen, ernährt und beherbergt. „An einer Konferenz die niemand von oben einberufen hatte, weil sie von unten entstanden war, beteiligten sich Delegierte aus 29 Regimentern, 90 Betrieben, Matrosen von Kronstadt und Garnisonen aus der Vorstadt.

Im Mittelpunkt der Konferenz standen die Delegierten die von den Schützengräben kamen, es waren auch einige junge Offiziere darunter. Die Arbeiter von Petrograd hörten gespannt zu und versuchten kein Wort zu verpassen von dem, was die Delegierten sagten. Diese erzählten, wie die Offensive und ihre Konsequenzen die Revolution auffraßen. Dunkle Soldatengestalten, die keineswegs Agitatoren waren, beschrieben mit einfachen Worten, den grauen Alltag an der Front. Diese Einzelheiten waren sehr aufwühlend, weil es klar das wiederaufkommen der am Meisten verhassten Züge des alten Regimes aufzeigte“, beschreibt Trotzki und fügt anschließend hinzu: „Auch wenn bei den Delegierten von der Front die Sozialrevolutionäre in der Mehrheit waren, wurde eine scharfe bolschewistische Resolution angenommen. Es gab nicht mehr als vier Enthaltungen. Die angenommene Resolution blieb nicht folgenlos: Einmal getrennt, erzählten die Delegierten die Wahrheit, wie sie von den versöhnlerischen Führern zurückgestoßen wurden und wie sie von den Arbeitern empfangen wurden“[20].

Der Sowjet von Kronstadt – einer der Vorposten der Revolution – ließ sich auch vernehmen. „Am 20. Juli verlangte eine Versammlung am Ankerplatz, dass die Sowjets wieder an die Macht gesetzt werden, dass die Kosaken, die Polizisten und die Feldwebel der Stadt an die Front geschickt werden. Sie fordern weiter die Abschaffung der Todesstrafe, die Zulassung von Delegierten aus Kronstadt zu Tsarskoié-Sélo um zu überprüfen, ob Nikolaus II in seiner Haft auch wirklich genügend streng überwacht wird, die Ausweisung der „Todesschwadronen“, die Konfiszierung der bürgerlichen Presse etc.“[21] In Moskau hatten die Fabrikräte gemeinsam mit den Regimentskomitees entschieden, Sitzungen abzuhalten und Ende Juli eine Konferenz der Fabrikräte abzuhalten, bei der Delegierte der Soldaten eingeladen waren; dort wurde eine Resolution angenommen, welche die Regierung anprangerte und die Forderung „neuer Sowjets um die Regierung zu ersetzen“ aufstellte. Nach den Wahlen am 1. August, hatten sechs der zehn Stadtteilräte in Moskau eine bolschewistische Mehrheit. Gegenüber der von der Regierung bestimmten Preiserhöhungen und der Schließung von Betrieben, die von den Unternehmern beschlossen wurden, begannen Streiks und Demonstrationen sich rasch zu vermehren. Daran nahmen auch Sektoren der Arbeiterklasse teil, die bisher als „rückständig“ galten (Papier, Gerberei, Kautschuk,  Hausmeister etc.).

Aus der Arbeitersektion des Sowjets von Petrograd rapportiert Suchanow eine wichtige Begebenheit: „Die Arbeitersektion des Sowjets gründete ein Präsidium, welches sie vorher nicht besaß. Dieses Präsidium war aus Bolschewiken zusammengesetzt.“[22]

Im August fand in Moskau eine nationale Konferenz statt, deren Ziel es war, wie Suchanow es anprangerte: „die Sowjets zu zwingen, vor dem Willen der restlichen Bevölkerung zurückzuweichen, die nichts als die ‚nationale Einheit‘ wolle (…) die Regierung zu befreien von allen Arten von Arbeiter- und Bauernorganisationen, von Zimmerwaldern, halb deutschen, halb jüdischen und anderen Verbrechergruppen“.

Die Arbeiter nahmen die Gefahr wahr, und zahlreiche Versammlungen stimmten für Anträge, die den Generalstreik vorschlugen. Der Moskauer Sowjet verwarf diese Anträge mit 364 gegen 304 Stimmen, aber die Stadtteilsowjets protestierten gegen diese Entscheidung: „die Betriebe verlangten unverzüglich Neuwahlen für den Sowjet von Moskau, der sich nicht nur von den Massen entfernt hatte, sondern in einer schwerwiegenden Gegnerschaft zu ihnen stand. Im Sowjet des Kreises von Zamoskvorietchie (Vorort von Moskau, südlich der Moskwa), forderte er in Übereinstimmung mit den Fabrikkomitees, dass die Abgeordneten, welche gegen die Richtung „des Willens der Arbeiterklasse“ marschierten, ersetzt werden und dies mit einem Stimmenverhältnis von 175 gegen 4, mit 19 Enthaltungen!“[23] Mehr als 400‘000 Arbeiter traten in den Streik, der sich auf andere Städte wie Kiew, Kostrava und Tsatarin ausweitete.

Die Mobilisierung und Selbstorganisation der Massen verhindert den Militärstreich von Kornilow

Was wir hier aufzählen, ist nur eine kleine Anzahl von wichtigen Ereignissen, ist die Spitze des Eisbergs, die den breiten Prozess des Wendepunkts aufzeigen, gegenüber den Verhaltensweisen von Februar bis Juni. Das Verhalten war noch von vielen Illusionen und einer gewissen Passivität geprägt, da die Mobilisierungen entweder auf den Arbeitsplatz, die Stadtteilen oder auf die Stadt beschränkt blieben:

– Die gemeinsamen Versammlungen der Arbeiter und Soldaten, offen auch für Bauerndelegierte, vermehrten sich ständig. Die Konferenzen der Stadtteilsowjets und Betriebe luden zu ihrer Arbeit auch Soldaten und Matrosen ein;

– das wachsende Vertrauen zu den Bolschewiki: Im Juli wurden sich noch verleumdet, jetzt wuchs die Empörung gegenüber ihrer Verfolgung, dies förderte die immer weiter um sich greifende Glaubwürdigkeit ihrer Analysen und Losungen;

– die Häufung der Forderungen, welche neue Sowjets und die Machtübernahme wollten. Die Bourgeoisie merkte, dass ihr Erfolg vom Juli sich in Rauch auflösen könnte. Die Niederlage an der nationalen Moskauer-Konferenz, war ein schwerer Schlag. Die englischen und französischen Botschaften drängten darauf, „entscheidende“ Maßnahmen zu treffen. In diesem Zusammenhang taucht der „Plan“ des Militärstreichs des General Kornilow auf.[24] Suchanow unterstreicht: „Miljukow, Rodzianko und Kornilow, sie verstanden! Noch erstaunt, bereiteten diese Helden der Revolution in aller Eile, aber geheim ihre Aktion vor. Um einen Stimmungswechsel in der Öffentlichkeit herbeizuführen, verleumdeten sie einen Betrieb, der den Bolschewiki nahe stand.“[25]

Wir können an dieser Stelle nicht auf alle Einzelheiten der Operation eingehen.[26] Das Wichtige ist, dass die gewaltige Mobilisierung der Arbeiter- und Soldatenmasse dazu führte, die Militärmaschine zu paralysieren. Was hervorsticht, ist, dass diese Reaktion auf den Militärstreich, eine organisatorische Anstrengung verlangte, welche die Sowjets erneuerte und diese in die Lage versetzte, die Machteroberung in Angriff zu nehmen.

In der Nacht vom 27. August schlägt der Petrograder Sowjet die Bildung eines Militärischen Revolutionskomitees vor, das die Hauptstadt verteidigen sollte. Die bolschewistische Minderheit akzeptierte den Vorschlag, aber fügte hinzu, dass ein solches Organ „sich auf den Massen der Arbeiter und Soldaten abstützen muss“.[27] Im Laufe der folgenden Session machten die Bolschewiki einen neuen Vorschlag, der nur mit großem Vorbehalt von der menschewistischen Mehrheit akzeptiert wurde: „das Verteilen der Waffen in den Fabriken und den Arbeiterstadtteilen“[28]. Kurz danach führte dies dazu, dass „in den Arbeiterstadtteilen, gemäß der Arbeiterpresse, ‚sich beeindruckende Warteschlangen bildeten, von Männern, die der Roten Garde angehören wollten.’ Kurse wurden gegeben, wie man mit einem Gewehr umgeht und schießt. Man ließ erfahrene Soldaten kommen, die das Ganze überwachen sollten. Ab dem 29. formierten sich in fast allen Stadtteilen Kompanien (druschiny). Die Rote Garde erklärte sich bereit, unverzüglich 40‘000 bewaffnete Männer bereitzustellen (...) Die riesigen Putilow-Werke werden das Zentrum des Widerstands des Bezirks Peterhof. In aller Eile werden Kampfverbände gegründet. Es wird Tag und Nacht gearbeitet: Neue Kanonen werden gebaut, um proletarische Artilleriedivisionen zu bilden.“[29]

In Petrograd, „fanden sich die Bezirkssowjets enger zusammen und beschlossen: die Beratung der Bezirke in Permanenz zu erklären; eigene Vertreter dem vom Exekutivkomitee gebildeten Stab anzugliedern; eine Arbeitermiliz zu schaffen; die Regierungskommissare unter Kontrolle der Bezirkssowjets zu stellen; fliegende Abteilungen zu organisieren zwecks Festnahme konterrevolutionärer Agitatoren“[30] Diese Maßnahmen bedeuteten „nicht nur Aneignung von bedeutenden Funktionen der Regierung, sondern auch von Funktionen des Petrogrades Sowjets (…) Das Eintreten der Petrograder Bezirke in die Arena des Kampfes veränderte jäh dessen Richtung und Schwung. Wieder bewies die Erfahrung die unerschöpfliche Lebensfähigkeit der Sowjetorganisation: von oben durch die Leitung der Versöhnler paralysiert, erwachte sie im kritischen Moment unter dem Vorstoß der Massen von unten zu neuem Leben.“[31]

Diese Verallgemeinerung der Selbstorganisation der Massen breitete sich über das ganze Land aus. Trotzki zitiert den Fall von Helsingfors, wo „eine Generalversammlung sämtlicher Sowjetorganisationen ein Revolutionskomitee (schuf), das in das Generalgouvernement, die Kommandantur, Konterspionage und in andere wichtige Institutionen seine Kommissare entsandte. Von nun an hatte kein Befehl ohne deren Unterschrift Gültigkeit. Telegraph und Telephon werden unter Kontrolle gestellt“[32], und es geschah etwas Bedeutsames: „Am nächsten Tage erscheinen im Komitee gemeine Kosaken mit der Erklärung, das gesamte Regiment sei gegen Kornilow. Kosakenvertreter werden zum erstenmal in den Sowjet eingeführt.“[33]

September 1917: die Gesamterneuerung der Sowjets

Die Niederschlagung des Kornilow-Putsches zog eine drastische Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen nach sich: Die provisorische Regierung von Kerensky spielte dabei gar keine Rolle. Die Massen übernahmen das Steuerrad bei diesen Ereignissen, indem sie ihre kollektiven Organe verstärkten und wiederbelebten. Ihre Antwort auf Kornilow war „der Anfang einer radikalen Umwälzung der ganzen Dynamik, eine Rache für die Juli-Tage. Der Sowjet war wieder geboren!“[34].

Die Zeitung der Kadetten-Partei[35] Retsch lag nicht falsch, als sie feststellte: „Auf den Straßen sind bereits Massen von bewaffneten Arbeitern, die den friedlichen Einwohnern einen Schrecken einjagen. Im Sowjet verlangten die Bolschewiki energisch die Freilassung ihrer verhafteten Genossen. Alle sind überzeugt, dass die Bolschewiki, wenn die Bewegung des Generals Kornilow beendet sein wird, obwohl in der Minderheit im Sowjet ihre ganze Energie darauf verwenden werden, den Sowjet zu zwingen, mindestens teilweise den Weg ihres Programms zu beschreiten.“

Retsch irrte sich jedoch in einer Hinsicht: Es waren nicht die Bolschewiki, die den Sowjet zwangen, ihr Programm umzusetzen, sondern es waren die Massen die die Sowjets zwangen, das bolschewistische Programm anzunehmen.

Die Arbeiter hatten enormes Vertrauen in sich selbst gewonnen und wollten dies in der vollständigen Erneuerung der Sowjets umsetzen. In einer Stadt nach der anderen, in einem Sowjet nach dem anderen wurden in einem atemberaubenden Prozess die alten sozialverräterischen Mehrheiten beseitigt, und Sowjets mit Mehrheiten von bolschewistischen und anderen revolutionären Delegierten (linken Sozialrevolutionären, internationalistischen Menschewiki, Anarchisten) wurden nach Debatten und massenhaften Wahlen neu bestellt.

Suchanow beschreibt den Geisteszustand der Arbeiter und Soldaten wie folgt: „Getrieben vom Klasseninstinkt und in gewisser Weise durch das Klassenbewusstsein; unter dem organisierten Einfluss der Bolschewiki; kriegsmüde und der durch den Krieg verursachten Leiden überdrüssig; enttäuscht von der Sinnlosigkeit der Revolution, die ihnen bis jetzt noch nichts gebracht hatte; verärgert über die Herrschenden und die Regierung, die sehr wohl bequem lebten; vom Wunsch beseelt, endlich die errungene Macht zu gebrauchen; drängten sie danach, in die Entscheidungsschlacht zu stürzen“[36].

Die Episoden dieser Rückeroberung und Erneuerung der Sowjets sind lang: „In der Nacht zum 1. September nahm der Sowjet, noch immer unter Vorsitz Tschcheidses, eine Abstimmung über die Macht der Arbeiter und Bauern vor. Die einfachen Mitglieder der Versöhnlerfraktionen unterstützten fast ausnahmslos die bolschewistische Resolution. Der konkurrierende Antrag Zeretelis bekam etwa fünfzehn Stimmen. Das Versöhnlerpräsidium traute seinen Augen nicht. Rechts verlangte man namentliche Abstimmung, die sich bis 3 Uhr nachts hinzog. Um nicht offen gegen ihre Partei stimmen zu müssen, entfernten sich viele Delegierte. Und doch erhielt die Resolution der Bolschewiki trotz allen Druckmitteln bei der endgültigen Abstimmung zweihundertundneunundsiebzig Stimmen gegen einhundertundfünfzehn. Dies war eine bedeutsame Tatsache. Es war der Anfang vom Ende. Das betäubte Präsidium legte seine Vollmachten nieder.“[37] 

Am 2. September nahm eine Konferenz aller Sowjets in Finnland eine Resolution zugunsten der Machtübergabe an die Sowjets mit 700 Stimmen gegen 13 bei 6 Enthaltungen an. Die regionale Konferenz der Sowjets in Sibirien nahm eine ähnliche Resolution an. Der Moskauer Sowjet tat dasselbe am 5. September während einer dramatischen Sitzung, in der eine Misstrauensmotion gegen die provisorische Regierung und gegen den zentralen Vollzugsausschuss angenommen wurde. „Am 8. wird im Kiewer Sowjet der Arbeiterdeputierten mit einhundertunddreißig Stimmen gegen sechsundsechzig eine bolschewistische Resolution angenommen, obwohl die offizielle bolschewistische Fraktion nur fünfundneunzig Mitglieder zählt.“[38] Zum ersten Mal wählte der Sowjet der Bauerndeputierten der Petrograder Provinz einen bolschewistischen Delegierten.

Der Höhepunkt in diesem Prozess war die geschichtsträchtige Sitzung des Petrograder Sowjets vom 9. September. Unzählige Versammlungen in Fabriken, Stadtvierteln und Regimentern hatten sie vorbereitet. Ungefähr 1000 Delegierte nahmen an der Sitzung teil, an der das Präsidium vorschlug, die Abstimmung vom 31. August zu widerrufen. Die Abstimmung zog einen  Schlussstrich unter die Politik der Sozialverräter: 519 Stimmen gegen den Widerruf und für die Machtübernahme durch die Sowjets, 414 für das Präsidium bei 67 Enthaltungen.

Ein oberflächlicher Blick auf die Ereignisse könnte dazu verleiten anzunehmen, dass die Erneuerung der Sowjets einfach eine Änderung der Mehrheiten von den Sozialverrätern zu den Bolschewiki bedeutete.

Es ist wahr – und wir werden darauf ausführlicher im folgenden Artikel dieser Serie eingehen –, dass die Arbeiterklasse und dementsprechend auch ihre Parteien noch stark von der parlamentarischen Sichtweise geprägt waren, derzufolge die Klasse „Vertreter, die in ihrem Namen handeln“, wählt; aber es ist wichtig zu verstehen, dass dies nicht der vorherrschende Aspekt bei der Erneuerung der Sowjets war, sondern:

1.         Die Erneuerung war das Resultat eines gewaltigen Netzes von Versammlungen der Sowjets an der Basis (Fabrikräte, Stadtviertels-Räte, Regimentskomitees, gemeinsame Versammlungen). Nach dem Kornilowputsch verbreiteten sich diese Strukturen tausendfach. Jede Sitzung des Sowjets fasste eine Riesenmenge von Vorbereitungssitzungen zusammen und gab ihnen einen beschlussfassenden Ausdruck.

2.         Diese Selbstorganisierung der Massen wurde bewusst und aktiv durch die erneuerten Sowjets vorangetrieben. Während sich die früheren Sowjets verselbständigt und kaum Massenversammlungen abgehalten hatten, trafen sich die neuen täglich zu offenen Sitzungen. Während die früheren die Fabrik- und Stadtteilversammlungen fürchteten und ihnen sogar die Kompetenzen streitig machten, riefen die neuen ständig dazu auf, solche Versammlungen abzuhalten. Bei jeder bedeutenden Debatte, jeder wichtigen Entscheidung rief der Sowjet zu Versammlungen „der Basis“ auf, damit sie Stellung beziehe. Im Hinblick auf die 4. Koalition der provisorischen Regierung (am 25. September) breitete sich, „abgesehen von der Resolution des Petersburger Sowjets, der sich weigerte, die neue Koalition zu unterstützen, eine Welle von Meetings in den beiden Hauptstädten und in der Provinz aus. Hundertausende von Arbeitern und Soldaten protestierten gegen die Bildung einer neuen bürgerlichen Regierung und nahmen einen entschlossenen Kampf gegen sie auf, indem sie gleichzeitig die Macht für die Sowjets forderten.“[39]

3.         Regionale Kongresse der Sowjets werden, wie durch ein Lauffeuer verbreitet, ab Mitte September in allen Teilen Russlands abgehalten. „In diesen Wochen fanden im ganzen Lande zahlreiche regionale Rätekongresse statt, deren Zusammensetzung und Verlauf das politische Stimmungsbild der Massen widerspiegelte. Bezeichnend für die rasche Bolschewisierung und die zunehmende Spaltung der Sowjets war der Verlauf des Gebietskongresses der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte in Moskau in den ersten Oktobertagen. Während zu Beginn der Beratungen die von den Sozialrevolutionären eingebrachte Resolution, die sich gegen die Machtübergabe in die Hände der Sowjets aussprach, 159 Stimmen gegen 132 auf sich vereinigte, gelang es drei Tage später der bolschewistischen Fraktion bei einer anderen Abstimmung, 116 Stimmen gegen 97 für sich zu gewinnen. [...] Auf einer Reihe weiterer Rätekongresse wurden ebenfalls bolschewistische Resolutionen angenommen, die die Machtübernahme durch den Allrussischen Sowjetkongress und die Absetzung der Provisorischen Regierung verlangten: In Ekaterinburg versammelten sich am 13. Oktober 120 Delegierte von 56 Räten des Ural, unter ihnen 86 Bolschewiki [...] In Saratov lehnte der Gebietskongress des Wolgagebiets eine menschewistisch-sozialrevolutionäre Resolution ab und nahm stattdessen eine bolschewistische an“[40].

Aber dabei sind zwei grundsätzliche Aspekte zu beachten.

Der erste ist die Tatsache, dass die Mehrheiten für die bolschewistischen Resolutionen weit mehr bedeuteten als eine Stimmabgabe für eine Partei. Die bolschewistische Partei war die einzige, die klar nicht nur für eine Machtübernahme eintrat, sondern auch konkret vorschlug, wie dies zu geschehen habe: ein bewusst vorbereiteter Aufstand, der die Provisorische Regierung beseitigen und die Staatsmacht stürzen sollte. Während die Sozialverräter-Parteien ankündigten, dass sie die Sowjets zwingen wollten, Harakiri zu machen, während andere revolutionäre Parteien unrealistische oder vage Vorschläge vortrugen, war nur für die Bolschewiki klar, „dass der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten nur als Organ des Aufstands, nur als Organ der revolutionären Macht real ist. Außerhalb dieser Aufgabe sind die Sowjets ein bloßes Spielzeug, das unvermeidlich zur Apathie, Gleichgültigkeit und Enttäuschung der Massen führt, denen die endlose Wiederholung von Resolutionen und Protesten mit vollem Recht zuwider geworden ist.“[41]

Es war somit natürlich, dass die Arbeitermassen Vertrauen in die Bolschewiki hatten, nicht um ihnen einen Blankoscheck auszustellen, sondern weil sie sie als Werkzeug ihres eigenen Kampfes sahen, der sich seinem Höhepunkt näherte: dem Aufstand und der Machtergreifung.

„Das Lager der Bourgeoisie war mit gutem Grund höchst beunruhigt. Die Krise spitzte sich zu. Die Bewegung der Massen kochte über; die Aufregung in den Arbeitervierteln von Petrograd war offensichtlich. Man hörte nur noch die Bolschewiki. Vor dem berühmten Cirque Moderne, wo Trotski, Volodarski und Lunatscharski sprachen, sah man endlose Warteschlangen, und das riesige Gebäude war nicht in der Lage, die Massen aufzunehmen. Die Agitatoren riefen dazu auf, von den Worten zu den Taten überzugehen, und versprachen die Machtübernahme durch den Sowjet für die nahe Zukunft.“[42] So nahm Suchanow, der immerhin ein Gegner der Bolschewiki war, die Atmosphäre Mitte Oktober wahr.

Der zweite Aspekt ist, dass die Ereignisse, die sich im September und Oktober überstürzen, einen wichtigen Geistesumschwung in den Massen ausdrücken. Wie wir im vorangehenden Artikel dieser Reihe gesehen haben, war die Losung „Alle Macht den Räten“, die im März schüchtern vorgetragen, im April von Lenin theoretisch untermauert, in den Demonstrationen vom Juni und Juli massenhaft verkündet wurde, bis jetzt eher ein Wunsch als ein bewusst übernommenes Aktionsprogramm.

Ein Grund für das Scheitern der Juli-Bewegung war, dass die Mehrheit forderte, dass der Sowjet die Provisorische Regierung „zwingen“ soll, „sozialistische Minister“ zu ernennen.

Diese Aufteilung zwischen Sowjet und Regierung drückte ein klares Unverständnis der Aufgabe der proletarischen Revolution aus, die nicht darin besteht, „ihre Regierung zu wählen“ und folglich die Struktur des alten Staates beizubehalten, sondern vielmehr den Staatsapparat zu zerstören und die Macht direkt auszuüben. Im Bewusstsein der Massen bahnte sich ein viel konkreteres und genaueres Verständnis der Losung „Alle Macht den Räten“ seinen Weg, auch wenn, wie wir in einem weiteren Artikel sehen werden, viele Probleme völlig neu und die Konfusionen beträchtlich waren.

Trotzki zeigt wie die Sozialverräter, die jede Kontrolle über den Petrograder Sowjet verloren hatten, alle verfügbaren Mittel in ihrer letzten Bastion konzentrierten, im Zentral-Exekutivkomitee: „Das Zentral-Exekutivkomitee beraubte rechtzeitig den Petrograder Sowjet der beiden von ihm geschaffenen Zeitungen, sämtlicher Verwaltungsabteilungen, aller finanziellen und technischen Mittel, einschließlich der Schreibmaschinen und Tintenfässer. Die zahlreichen Automobile, die während den Februartagen dem Sowjet zur Verfügung gestellt worden waren, wurden bis auf das letzte dem Versöhnlerolymp überwiesen. Die neuen Leiter besaßen keine Kasse, keine Zeitungen, keinen Kanzleiapparat, keine Verkehrsmittel, keine Bleistifte. Nichts außer nackten Wänden und – dem flammenden Vertrauen der Arbeiter und Soldaten. Dies erwies sich als völlig ausreichend.“[43]

Das militärische Revolutionskomitee – Räteorgan für den Aufstand

Anfang Oktober ging eine Flut von Resolutionen verschiedenster Sowjets durchs ganze Land, welche die Einberufung eines Sowjetkongresses verlangten, den die Sozialverräter ständig hinausschoben. Die Sowjets wollten ihrer Macht eine Form geben.

Diese Orientierung war eine Antwort nicht nur auf die russische Situation, sondern auch auf die internationale Lage. In Russland breiteten sich die Bauernrevolten in fast allen Gebieten aus, Landbesetzungen wurden zu einem allgemeinen Phänomen; in den Kasernen desertierten die Soldaten, und sie kehrten kriegsmüde in ihre Dörfer zurück, da der Staat keine Lösung zu bieten hatte; in den Fabriken standen die Arbeiter zum Teil der Sabotage der Produktion durch Unternehmer und höhere Kader gegenüber; die ganze Gesellschaft stand vor der Gefahr einer Hungersnot aufgrund mangelnder Versorgung und ständig steigender Lebensmittelpreise. Auch an der internationalen Front nahmen die Desertionen zu, die Befehlsverweigerungen der Truppen, die Verbrüderungen von Soldaten über die Kampffronten hinweg; eine Streikwelle fegte über Deutschland, ein Generalstreik brach im August 1917 in Spanien aus. Das russische Proletariat musste die Macht nicht bloß als Antwort auf die unlösbaren Probleme im Land ergreifen, sondern auch und vor allem, um eine Bresche zu öffnen, durch die sich die Weltrevolution gegen die schrecklichen Leiden des schon drei Jahre dauernden Krieges Bahn brechen könnte.

Die Bourgeoisie setzte ihre Waffen gegen den revolutionären Ansturm ein. Im September versuchte sie, eine demokratische Konferenz abzuhalten, welche wie schon diejenige von Moskau scheiterte. Die Sozialverräter ihrerseits schoben den Sowjetkongress möglichst hinaus mit dem Ziel, die Sowjets des ganzen Landes verstreut und unorganisiert zu belassen und ihre Vereinigung in der Machtübernahme zu verhindern.

Aber die gefürchtetste Waffe und diejenige, die je länger je mehr in Stellung gebracht wurde, war der Versuch, die Verteidigung Petrograds aufzugeben, damit die deutsche Armee die fortgeschrittenste Bastion der Revolution niederwerfe. Kornilow, der „Patriot“, hatte diesen Schlag schon im August vorgemacht, als er das revolutionäre Riga[44] aufgab und der Invasion der deutschen Truppen überließ, die blutig die „Ordnung wiederherstellten“. Die Bourgeoisie erklärt die nationale Verteidigung zwar zu ihrem obersten Ziel, ist aber angesichts der drohenden Machtübernahme durch ihren Klassenfeind ohne weiteres bereit, sich mit ihren schlimmsten imperialistischen Rivalen zu verbünden.

Um diese Frage der Verteidigung Petrograds kreisten die Diskussionen des Sowjets, die schließlich zur Gründung des militärischen Revolutionskomitees führten, das aus Delegierten zusammengesetzt war, die vom Petrograder Sowjet, von der Soldatensektion dieses Sowjets, dem Sowjet der Delegierten der Baltischen Flotte, der Roten Garde, dem regionalen Komitee der Sowjets von Finnland, der Konferenz der Fabrikräte, der Eisenbahngewerkschaft und der militärischen Organisation der bolschewistischen Partei gewählt waren. An die Spitze dieses Komitees wurde Lasimir gestellt, ein junges und kämpferisches Mitglied der SR-Linken. Die Ziele dieses Komitees bestanden ebenso in der Verteidigung Petrograds wie auch in der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes - „diese zwei bisher einander ausschließenden Aufgaben hatten sich jetzt tatsächlich einander genähert: nachdem er in seine Hände die Macht genommen, wird der Sowjet auch die militärische Verteidigung Petrograds auf sich nehmen müssen“[45].

Am nächsten Tag wurde eine Ständige Konferenz der ganzen Garnison von Petrograd und Umgebung einberufen. Mit diesen beiden Organen gab sich das Proletariat die Mittel für den Aufstand – notwendige und unverzichtbare Mittel für die Machtergreifung.

In einem früheren Artikel der Internationalen Revue haben wir gezeigt, wie – entgegen der bürgerlichen Legendenbildung, die den Oktober als einen „bolschewistischen Staatsstreich“ darstellt – der Aufstand ein Werk der Sowjets und konkreter desjenigen von Petrograd war[46]. Das Militärische Revolutionskomitee (MRK) und die Ständige Konferenz der Garnisonen waren die Organe, die Schritt für Schritt und minutiös die militärische Niederlage der Provisorischen Regierung vorbereiteten, die das letzte Bollwerk des bürgerlichen Staates war. Das MRK verpflichtete das Hauptquartier der Armee, ihm jeden Befehl oder Entscheid, so bedeutungslos er sein möge, zur Genehmigung zu unterbreiten, was die Armee total lähmte. Am 22. Oktober akzeptierte das letzte widerspenstige Regiment – dasjenige der Peter-und-Paul-Festung – nach einer dramatischen Sitzung, sich dem MRK zu unterstellen. Am 23. Oktober, einem bewegenden Tag, machten sich Tausende von Arbeiter- und Soldatenversammlungen daran, definitiv die Macht zu übernehmen. Das Schachmatt wurde am 25. Oktober durch den Aufstand vollzogen, der das Hauptquartier und den Sitz der Provisorischen Regierung besetzte, die letzten loyal gebliebenen Bataillone besiegte, Minister und Generäle festnahm, die Kommunikationszentren besetzte und so die Bedingungen schaffte, damit am nächsten Tag der gesamtrussische Sowjetkongress die Machtübernahme abschließen konnte[47].

Im folgenden Artikel dieser Serie werden wir die gewaltigen Probleme betrachten, vor denen die Sowjets nach der Machtübernahme standen.

C.Mir 6. Juni 2010

[1]  Internationale Revue Nr. 48

[2]  Vgl. Artikel in der vorliegenden Revue

[3] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Massen unter den Schlägen

[4] Vgl. dazu die Widerlegung dieser These durch Trotzki im Kapitel Ein Monat der großen Verleumdung in seiner Geschichte der Russischen Revolution

[5] General Knox, der Chef der englischen Botschaft, sagte: „Ich bin an der Kerenski-Regierung desinteressiert, sie ist zu schwach; man braucht die Militärdiktatur, man braucht die Kosaken, dieses Volk braucht die Knute! Diktatur – das ist’s, was not tut.“ So drückte es der Vertreter der Regierung der ältesten Demokratie aus, zitiert nach Trotzki.

[6] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Massen unter den Schlägen

[7] Cavaignac: französischer General (1802-1957) und Schlächter während der Niederschlagung des Aufstand der Pariser Arbeiter 1848

[8] Lenin, Die politische Lage (Vier Thesen), 10. (23.) Juli 1917, Lenin Werke Bd. 25 S. 174

[9] A.a.O.

[10] A.a.O.

[11] Vgl. Angaben dazu im vorangehenden Artikel dieser Serie.

[12] A.a.O., Taktische Experimente, S. 213

[13] Lenin, Zu den Losungen, Mitte Juli 1917, Lenin Werke Bd. 25 S. 187f.

[14] A.a.O.

[15] Vgl. den vorangehenden Artikel dieser Serie, Untertitel „März 1917: ein gigantisches Netz von Sowjets verbreitete sich über ganz Russland“, in der vorliegenden Internationalen Revue

[16] Suchanow war internationalistischer Menschewik, d.h. Mitglied einer Linksabspaltung des Menschewismus, in der auch Martow tätig war. Er publizierte seine Memoiren in sieben Bänden. Eine gekürzte Fassung ist auf Französisch unter dem Titel La révolution russe erschienen, aus welcher unsere selbst ins Deutsche übersetzten Zitate stammen (Editions Stock, 1965; auch die Titel aus dieser Version sind von uns auf Deutsch übersetzt worden).

[17] Suchanow, Die Russische Revolution; Der Triumph der Reaktion; Um die Koalition, S. 210

[18] Anweiler: Die Rätebewegung in Russland 1905-1921, Kap. Der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat,  S. 133

[19] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Massen unter den Schlägen

[20] ebenda

[21] ebenda

[22] Suchanow, Die Russische Revolution; Konterrevolution und Zerfall der Demokratie; Nach dem Juli: zweite und dritte Koalition, S. 306

[23] Suchanow, a.a.O., Die Schande von Moskau, S. 310

[24] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Kerenski und Kornilow

[25] Kornilow: Ein ziemlich unfähiges Militärkader, das sich durch ständige Niederlagen an der Front auszeichnete und das dann die bürgerlichen Parteien nach den Julitagen beweihräucherten und als „Vaterlandshelden“ betrachteten.

[26] Suchanow, Die Bourgeoisie geeint in Aktion, S. 312

[27] Vgl. dazu: Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, insbesondere die Kapitel Die Konterrevolution erhebt das Haupt, Kerenski und Kornilow, Kornilows Verschwörung und Kornilows Aufstand.

[28] Suchanow, a.a.O. S. 317

[29] ebenda

[30] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Bourgeoisie misst ihre Kräfte mit der Demokratie

[31] Bezirkssowjet und Stadtteilsowjet bezeichnen in den verschiedenen Übersetzungen, die diesem Artikel zugrunde liegen, (soweit ersichtlich) dasselbe.

[32] ebenda

[33] ebenda, Hervorhebung von uns

[34] ebenda

[35] ebenda

[36] Suchanow, Die geeinte Bourgeoisie in Aktion, S. 314 (der frz. Ausgabe)

[37] Kadetten-Partei: verfassungsmäßige demokratische Partei, damals die wichtigste bürgerliche Partei

[38] Suchanow, Die Auflösung der Demokratie nach der Kornilow-Erhebung, S. 330 (der frz. Ausgabe)

[39] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 1. Halbband, Kapitel Die Brandung

[40] A.a.O.

[41] Suchanow, Die Vorbereitung der Artillerie, S. 351

[42] Anweiler, a.a.O., Kapitel Bolschewismus und Räte 1917, S. 228 f.

[43] Lenin, Thesen zum Referat in der Konferenz der Petersburger Organisation, Über die Losung „Alle Macht den Sowjets“, 8. Oktober 1917 (Lenin Werke Bd. 26 S. 128)

[44] Suchanow, Die Vorbereitung der Artillerie, S. 364

[45] Geschichte der Russischen Revolution, a.a.O.

[46] Hauptstadt Lettlands, das damals zum Russischen Reich gehörte.

[47] Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Zweiter Teil, 2. Halbband, Kapitel Das militärische Revolutionskomite

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [36]

Geschichte der Arbeiterbewegung: Was sind Arbeiterräte? Teil 4: 1917-21: Die Arbeiterräte versuchen die Macht zu übernehmen

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In den vorangehenden Artikeln haben wir das Auftauchen der Arbeiterräte in Russland (auf Russisch Sowjets) während der Revolution von 1905, ihr Verschwinden und dann ihr Wiederauftauchen in der Revolution von 1917 und ihre Krise und Wiedereroberung durch die Arbeiter, die sie 1917 an die Macht brachten, betrachtet[1]. In diesem Artikel geht es um den Versuch der Arbeiterräte, die Macht in ihre eigenen Hände zu nehmen, einen gewichtigen Moment in der Geschichte der Menschheit: „denn es ist das erste Mal , dass nicht die Minderheit, nicht allein die Reichen und Gebildeten, sondern die wirklichen Massen, die ungeheure Mehrheit der Werktätigen selbst ein neues Leben aufbauen, aus eigener Erfahrung über die schwierigsten Fragen sozialistischer Organisationen entscheiden“[2].

Oktober 1917 – April 1918: Der Aufstieg der Arbeiterräte

Animiert von einem außerordentlichen Enthusiasmus widmeten sich die Arbeitermassen der Aufgabe, das, was sie schon vor der Revolution begonnen hatten, zu sichern und weiterzuführen. In seiner Beschreibung der Atmosphäre dieser ersten Monate hebt der Anarchist Paul Avrich hervor, wie „ein Grad an Freiheit und ein Gefühl der Macht, das in der Geschichte (der Arbeiterklasse in Russland) einzigartig war, existierte“[3].

Die Funktionsweise der Arbeiterräte unterschied sich radikal von derjenigen des bürgerlichen Staates, wo die Exekutive – die Regierung – die Macht fast komplett besitzt, während die Legislative – das Parlament – und die Judikative, die theoretisch einen Gegenpol bilden sollten, ihr in der Realität fast ganz untergeordnet sind. Diese drei Staatsgewalten sind aber vor allem von der großen Mehrheit der Bevölkerung getrennt, deren Rolle darauf begrenzt ist, regelmäßig ihre Wahlzettel in die Urnen zu werfen[4]. Die Macht der Arbeiterräte stützte sich, verglichen damit, auf zwei gänzlich neue Ansätze:

–          die aktive und massive Beteiligung der Arbeiter;

–          es waren sie – das heißt die Arbeitemassen – die debattierten, entschieden und ausführten.

Lenin sagte auf dem 2. Kongress der Sowjets: „Die Macht zeigt sich aus der Sicht der Bourgeoisie, wenn die Massen blind zum Schlachthof gehen (…) Die Bourgeoisie anerkennt eine Regierung nur dann als stark, wenn sie in der Lage ist, mit der ganzen Potenz des Regierungsmechanismus die Massen dorthin zu werfen, wo es ihr beliebt. Unser Begriff von Macht ist ein anderer. Nach unserer Meinung ist eine Regierung stark an Bewusstsein der Massen. Sie ist stark, wenn die Massen alles wissen, über alles urteilen und alles bewusst akzeptieren.“[5]
Seit sie die Macht ergriffen hatten, trafen die Arbeiterräte auf ein Hindernis: die Konstituierende Versammlung, welche exakt die Negation ihrer Zielsetzungen repräsentierte und nur eine Rückkehr in die Vergangenheit darstellte: die Delegierung der Macht und ihre Ausführung an eine Kaste bürokratischer Politiker.

Gegenüber dem Zarismus hatte die russische Arbeiterbewegung die Konstituierende Versammlung als einen Schritt vorwärts zu einer bürgerlichen Republik betrachtet, aber die Revolution von 1917 hatte diese alte Losung überholt. Das Gewicht der Vergangenheit manifestierte sich im Einfluss, den die Konstituierende Versammlung weiter hatte, auch nach der Proklamierung der Rätemacht, und dies nicht nur in den breiten Massen der Arbeiter, sondern auch bei vielen Militanten der bolschewistischen Partei, die glaubten, die Konstituierende Versammlung lasse sich mit der Macht der Arbeiterräte verbinden.

„Es war einer der größten und folgenreichsten Fehler der bürgerlich sozialistischen Koalitionsregierung, dass sie vorwiegend aus juristischen Erwägungen die Wahl und die Eröffnung der Nationalversammlung immer wieder verschob“[6]. Die Regierungen, die sich zwischen Februar und Oktober 1917 abwechselten, schoben diese immer wieder vor sich her und widersprachen damit dem, was sie als ihr Ziel verkündet hatten. Die Bolschewiki – jedoch auch nicht ohne Meinungsverschiedenheiten in ihren Reihen – unterstützten sie grundsätzlich im vollem Bewusstsein, dass dies in einem Widerspruch zur Losung „Alle Macht den Räten!“ stand.

So entstand ein Paradox: Drei Wochen nach der Machtübernahme durch die Sowjets erfüllten diese ihre Versprechen durch einen Aufruf zur Wahl der Konstituierenden Versammlung. Die Wahl ergab eine Mehrheit für die rechten Sozialrevolutionäre (299 Sitze), weitab gefolgt von den Bolschewiki (168), dann von den linken Sozialrevolutionären (39) und von anderen weniger gewichtigeren Gruppen.

Wie war es möglich, dass das Wahlresultat die Verlierer des Oktobers als Sieger hervorgehen ließ?

Die Konstituierende Versammlung war natürlich vollkommen funktionslos. Sie diskreditierte sich selber. Sie fällte hochtrabende Entscheide, die wirkungslos blieben, ihre Versammlungen waren nichts mehr als langweiliges Geschwätz. Die bolschewistische Agitation, gestützt von Anarchisten und linken Sozialrevolutionären, beleuchtetet klar das Dilemma: Arbeiterräte oder Konstituierende Versammlung, und trug so zur Klärung des Bewusstsein bei. Nach verschiedenen Metamorphosen wurde die Konstituierende Versammlung unter der Aufsicht der Matrosen im Januar 1918 stillschweigend aufgelöst.

Die Macht ging vollends in die Hände der Arbeiterräte über, indem die Arbeitermassen ihre politische Präsenz entwickelten. In den ersten Monaten der Revolution und mindestens bis zum Sommer 1918 lebte die permanente Selbsttätigkeit der Masen, wie sie schon im Februar 1917 sichtbar gewesen war, nicht nur weiter, sondern sie stärkte und verbreitete sich noch. Die Arbeiter, die Frauen, die Jugend lebten in einer Dynamik der Vollversammlungen, Fabrik- und Quartierräte, lokaler Räte, Konferenzen, Treffen, usw. „Die erste Phase des Regimes der Sowjets war die einer fast unbegrenzten Autonomie seiner lokalen Institutionen. Angeregt durch ein intensives und immer zahlreicheres Leben, waren die Basis-Sowjets auf ihre Autorität eingeschossen“[7]. Die lokalen Arbeiterräte diskutierten vornehmlich über Angelegenheiten, die ganz Russland betrafen, und auch über die internationale Situation, vor allem über die Entwicklung der revolutionären Bewegungen[8].

Der Rat der Volkskommissare, gebildet durch den 2. Kongress, stellte keine eigenständige Regierung dar, das heißt nicht eine selbstherrliche Macht, die alles in den Fingern hat, sie war im Gegenteil ein Animator und Motor der Aktion der Massen. Anweiler zufolge sah die von Lenin geleitete Agitationskampagne folgendermaßen aus: „Am 18. November rief Lenin die Werktätigen auf, „alle Regierungsangelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen: eure Sowjets sind von nun an die allmächtigen und allein entscheidenden Regierungsorgane.“[9] Dies war nicht einfach Rhetorik. Der Rat der Volkskommissare verfügte nicht wie die bürgerlichen Regierungen über einen riesigen Stab von Beratern, Karrierefunktionäre, Bodyguards, Mitarbeitern, usw. Victor Serge[10] berichtet, dass dieses Organ nur einen Sekretär und zwei Mitarbeiter hatte. Seine Sitzungen erarbeiteten alle Fragen mit den Arbeiterdelegationen, den Mitgliedern des Exekutivkomitees der Räte oder den Räten von Petersburg oder Moskau. „Die geheimen Beratungen der Ministerstäbe“ waren abgeschafft.

1918 wurden vier Allrussische Rätekongresse abgehalten: der dritte im Januar, der vierte im März, der fünfte im Juli und der sechste im November. Dies zeigt die Lebendigkeit und den Weitblick, die den Arbeiterräten zugrunde lagen. Diese Allrussischen Rätekongresse, die eine enorme Mobilisierungsanstrengung erforderten – das Transportwesen war lahmgelegt und der Bürgerkrieg behinderte die Anreise der Delegierten enorm – drückten eine große Einheit der Sowjets aus und konkretisierten ihre Entscheide.

Die Kongresse waren von lebendigsten Debatten geprägt, an denen nicht nur die Bolschewiki teilnahmen, sondern auch die internationalistischen Menschewiki, die linken Sozialrevolutionäre, die Anarchisten, usw. Die Bolschewiki trugen dort sogar ihre eigenen Meinungsverschiedenheiten aus. Die Atmosphäre war ein kritischer Geist, den Victor Serge so beschrieb: „Um ehrlich zu bleiben, muss die Revolution stets auf der Hut sein vor ihren eigenen Missbräuchen, ihren eigenen Exzessen, ihren eigenen Verbrechen und ihren eigenen reaktionären Neigungen. Sie hat ein vitales Interesse an Kritik, Opposition und Zivilcourage derer, die das formulieren.“[11]

Auf dem dritten und vierten Kongress entbrannte eine stürmische Debatte über die Unterzeichnung des Friedensabkommens mit Deutschland von Brest-Litowsk[12]. Es ging dabei um zwei Fragen: Wie kann die Macht der Räte aufrechterhalten werden, während man auf die internationale Revolution wartet? Wie kann die Rätemacht in Russland zu dieser internationalen Revolution einen wirklichen Beitrag leisten? Der vierte Kongress wurde Schauplatz einer heftigen Auseinandersetzung zwischen den Bolschewiki und den linken Sozialrevolutionären. Der sechste Kongress konzentrierte sich auf die Revolution in Deutschland und beschloss Maßnahmen zu deren Unterstützung, unter anderem die Entsendung von mit enormen Mengen von Weizen beladenen Güterzügen, Ausdruck größter Solidarität und Selbstlosigkeit der russischen Arbeiterklasse, welche selbst unter Rationierungen litt: lediglich 50 Gramm Brot täglich!

Die Aktivität der Massen erstreckte sich über alle Aspekte des sozialen Lebens. Wir können hier keine detaillierte Analyse davon machen. Erwähnt sei hier aber die Bildung von Gerichten in den Arbeiterquartieren, welche die Form von Vollversammlungen hatten und in denen die Delikte besprochen wurden; die Urteile, die da gefällt wurden, zielten auf die Änderung des Verhaltens der Delinquenten ab, und nicht auf pure Bestrafung oder Rache. „Die Ehefrau von Lenin erzählte, dass Arbeiter und Arbeiterinnen öffentlich das Wort ergriffen und dabei sehr heftig debattierten. Der „Anwalt“ habe sich in seiner Verlegenheit regelrecht den Schweiß von der Stirn wischen müssen, wonach der Angeklagte mit Tränen im Gesicht versprochen habe, seinen Sohn nicht mehr zu schlagen. In Wahrheit war es weniger ein Gericht, als vielmehr eine öffentliche Versammlung, die eine Kontrolle über das Verhalten der Bürger ausübte. Unter unseren Augen nahm die proletarische Ethik Gestalt an.“[13]

Von April bis Dezember 1918: Krise und Niedergang der Rätemacht

Dieser ganze Elan ging jedoch zurück und beeinträchtigte die Räte, die sich von der großen Mehrheit der Arbeiter zu entfernen begannen. Schon im Mai 1918 entstanden innerhalb der Arbeiterklasse in Moskau und St. Petersburg wachsende Kritiken an der Politik der Räte dieser zwei Städte. Wie schon im Juli-September 1917 gab es eine Reihe von Versuchen der Wiederbelebung der Sowjets[14]. In diesen zwei Städten wurden unabhängige Konferenzen abgehalten, auch wenn diese auf der Basis von ökonomischen Forderungen einberufen wurden, die sich als primäres Ziel die Erneuerung der Räteorgane setzten. Die Menschewiki hatten dort die Mehrheit. Dies führte die Bolschewiki dazu, diese Konferenzen abzulehnen und sie als konterrevolutionär zu bezeichnen. Die Gewerkschaften wurden mobilisiert, um sie aufzulösen und sie verschwanden schnell.

Diese Maßnahme trug zur Untergrabung der Existenz der Räte bei. Im dritten Artikel dieser Serie haben wie aufgezeigt, wie die Räte sich nicht im luftleeren Raum bewegten, sondern dass sie Ausdruck einer großen proletarischen Bewegung waren, die aus unzähligen Räteorganen, Fabrikkomitees, Quartierkomitees, Massenversammlungen usw. bestand. Ab Mitte 1918 begannen diese Organismen sich langsam zurückzubilden und verschwanden immer mehr. Die Fabrikkomitees (auf die wir noch zurückkommen werden) verschwanden als erste, dann die Quartierräte, die ab Sommer 1918 in eine Agonie verfielen, welche bis zu ihrem kompletten Verschwinden Ende 1919 anhielt.

Die zwei lebenswichtigen Bestandteile der Räte sind das massenhafte Fundament von Basis-Räteorganen als Lebensquelle und ihre permanente Erneuerung. Das Verschwinden des ersten Bestandteils war von der wachsenden Ausschaltung des zweiten begleitet. Die Räte tendierten zu gleichbleibender Ausstrahlung und entwickelten sich Schritt für Schritt in Richtung einer starren Bürokratie.

Die bolschewistische Partei nahm an diesem Prozess unfreiwillig teil. Um die gegenrevolutionäre Agitation der Menschewiki und Anderer in den Räten zu bekämpfen, griffen sie auf administrative Ausschlussmaßnahmen zurück, was eine bleierne Atmosphäre der Passivität, ein Absterben der Debatte und eine zunehmende Unterordnung unter das Diktat der Partei hervorrief.[15]

Diese repressive Herangehensweise war zu Beginn nur punktuell, wurde aber in den ersten Monaten des Jahres 1919 Alltag, als die Zentralorgane der Partei offiziell die Räte dazu aufriefen, sich den lokalen Komitees der Partei zu unterstellen und andere Parteien auszuschließen.

Der Mangel an Leben und Debatte, die Bürokratisierung, die Unterstellung unter die Partei usw. wurden immer gewichtiger. Auf dem 7. Kongress gestand Kamenev ein: „Die Plenarversammlungen als politische Organisationen siechen oft dahin, die Leute beschäftigen sich mit rein technischen Arbeiten (…) Die allgemeinen Versammlungen finden selten statt, und wenn sich die Deputierten zusammenfinden, dann nur, um einen Bericht entgegenzunehmen, eine Rede anzuhören usw.“[16] Dieser Kongress vom Dezember 1919 hatte als Hauptthema die Erneuerung der Sowjets, und es gab nicht nur von Seiten der Bolschewiki – die dort das letzte Mal ihre internen Differenzen offen ausdiskutierten – Redebeiträge, sondern auch von den internationalistischen Menschewiki, deren Führer Martow eine aktive Rolle spielte.

Es gab Anstrengungen, die Beschlüsse des Kongresses in die Realität umzusetzen. Im Januar 1920 wurden in einer absolut offenen Atmosphäre Wahlen zur Erneuerung der abgehalten. „Martow anerkannte zu Beginn des Jahres 1920, dass außer in St. Petersburg, wo Wahlen „à la Sinowjew“ abgehalten wurden, die Rückkehr zu demokratischeren Methoden Platz hatte und die Wahlen oft zugunsten von Kandidaten seiner eigenen Partei ausfielen.“[17]

Zahlreiche Räte erwachten wieder, und die bolschewistische Partei versuchte, ihre Irrtümer der bürokratischen Kontrolle, an der sie immer mehr teilgenommen hatte, zu korrigieren. „Die Regierung kündigte ihre Absicht an, einige Vorrechte, die sie sich angemaßt hatte, zurückzunehmen und in ihrem Gesetz das Exekutivkomitee [der Sowjet, vom Kongress gewählt] wieder einzuführen, welches – laut der Verfassung von 1918 – die Aktivitäten der Volkskommissare zu überwachen hatte.“[18]

Doch diese Hoffnungen verflüchtigten sich bald. Die Verschärfung des Bürgerkrieges durch die Offensive des Generals Wrangel und die polnische Invasion, die Zuspitzung der Hungersnot, das wirtschaftliche Chaos, die Bauernaufstände fegten diese Bemühungen weg. „Der Verfall der Wirtschaft, die Demoralisierung der Bevölkerung, die Isolation einer zunehmend ruinierten und ausgebluteten Nation ließen die ganzen Bedingungen zur Erneuerung der Räte verschwinden.“[19]

Der Aufstand von Kronstadt im März 1921 mit der Forderung nach einer kompletten Erneuerung der Räte, die wirklich die Macht ausüben sollten, war das letzte Röcheln der Agonie; seine Niederschlagung durch die bolschewistische Partei signalisierte das definitive Ende der Sowjets als Organe der Arbeiterklasse.[20]

Der Bürgerkrieg und die Bildung der Roten Armee

Weshalb gerieten die Arbeiterräte in eine Dynamik, der sie, verglichen mit dem September 1917, nicht mehr entrinnen konnten? Auch wenn der Mangel an Sauerstoff und Unterstützung, den nur die Entfaltung der internationalen Revolution hätte kompensieren können, der grundlegende Faktor war, so müssen wir auch die anderen, „internen“ Faktoren untersuchen. Diese lassen sich in zwei Hauptpunkten zusammenfassen, die stark miteinander verbunden sind: der Bürgerkrieg und die Hungersnot einerseits und das ökonomische Chaos andererseits.

Beginnen wir mit dem Bürgerkrieg.[21] Es war ein von den mächtigsten imperialistischen Staaten organisierter Krieg: England, Frankreich, USA, Japan usw., welche ihre Truppen zu einer zusammengewürfelten bewaffneten Massenarmee, den so genannten „Weißen“ formierten, um die abgesetzte russische Bourgeoise zu unterstützen. Dieser Krieg blutete das Land bis 1921 aus, forderte mehr als 6 Millionen Tote und verbreitete ungeheure Zerstörung. Die Weißen wüteten mit sadistischen Repressalien und einer ungeheuerlichen Barbarei. „Der weiße Terror war wesentlicher Grund (des Zerbrechens der Rätemacht), die Siege der Konterrevolution waren meist nicht nur von Massakern an Kommunisten begleitet, sondern auch von Ausrottungen der aktiven Mitglieder der Räte und ihrer Auflösung.“[22]

Dies ist der erste Grund der Schwächung des Rätesystems. Die Weiße Armee unterdrückte die Sowjets und ermordete ihre Mitglieder wahllos.

Aber es kamen zu den Massakern noch komplexere Gründe hinzu. Als Antwort auf den Krieg fällte der Rat der Volkskommissare zwei wichtige Entscheidungen: die Bildung der Roten Armee und den Aufbau der Tscheka, ein Organ, das zur Aufdeckung konterrevolutionärer Verschwörungen dienen sollte. Es war das erste Mal, dass dieser Rat eine Entscheidung fällte ohne vorherige Debatte mit den Arbeiterräten oder wenigstens mit dem Exekutivkomitee der Arbeiterräte.

Der Aufbau eines Organs wie der Tscheka war nach der Revolution unvermeidlich. Konterrevolutionäre Machenschaften hielten an, vor allem von Seiten der rechten Sozialrevolutionäre, der Menschewiki, der Kadettenpartei, aber auch von Monarchisten, Kosaken, unterstützt von englischen und französischen Agenten. Der Aufbau der Roten Armee war, sobald der Bürgerkrieg ausbrach, ebenfalls eine Notwendigkeit.

Diese zwei Strukturen – die Tscheka und die Rote Armee – waren nicht einfach zwei Instrumente, derer man sich sorglos bedienen konnte. Es sind staatliche Organe, und als solche sind sie vom Gesichtspunkt der Arbeiterklasse aus zweischneidige Waffen; die Arbeiterklasse ist gezwungen, sich ihrer zu bedienen, solange das Proletariat sich nicht auf Weltebene durchgesetzt hat, doch ihr Gebrauch birgt große Gefahren, weil sie die Tendenz haben, sich gegenüber der Macht der Arbeiterklasse zu verselbständigen.

Aus welchem Grund wurde eine Armee aufgebaut, auch wenn die Arbeiterklasse über ein militärisches Räteorgan verfügte, das den Aufstand geleitet hatte: das Militärische Revolutionskomitee?[23]

Während des Septembers 1917 zerfiel die russische Armee immer mehr. Nach der Ausrufung des Friedens begannen sich die Soldatenräte schnell aufzulösen. Einziger Wunsch vieler Soldaten war der Wunsch nach Rückkehr in ihre Dörfer. So widersprüchlich es auch scheinen mag, die Soldatenräte – aber in geringerem Ausmaß auch die der Matrosen –, welche sich nach der Machtübernahme der Sowjets überall ausgebreitet hatten, trugen nun wesentlich zur Auflösung der Armee bei, um eine chaotische Flucht von Wehrpflichtigen und allfällige Soldatenbanden, die mit ihren Waffen die Bevölkerung terrorisieren könnten, zu verhindern. Anfang Januar 1918 war die Armee aufgelöst. Russland war der deutschen Armee ausgeliefert. Der Friede von Brest-Litowsk bedeutete einen Waffenstillstand, der es erlaubte, eine Armee zum Schutz der Revolution aufzubauen.

Am Anfang war die Rote Armee eine Freiwilligenarmee. Die Jugend der Mittelklasse und die Bauern drückten sich davor, es waren die Arbeiter aus den Fabriken und den großen Städten, welche zu Beginn diese Reihen füllten. Resultat war eine richtiggehende Ausblutung der Arbeiterklasse, die ihre engagiertesten Menschen in einem blutigen und grausamen Krieg verlor. „Wir wissen, dass durch den Krieg die besten Arbeiter massenweise aus den Städten abgezogen wurden, und manchmal entsteht daher ein Zustand, dass es in dieser oder jener Gouvernements- oder Kreisstadt schwerfällt, einen Sowjet zu bilden und die Grundlagen für seine regelmäßige Arbeit zu schaffen.“[24]

Hier also sehen wir den zweiten Hauptgrund für die Krise der Arbeiterräte: die entschlossensten Arbeiter wurden durch die Rote Armee absorbiert. Um ein Bild davon zu erhalten: im April 1918 mobilisierte Petrograd 25‘000 Freiwillige, die große Mehrheit davon politisch aktive Arbeiter; Moskau 15‘000; im ganzen Land waren es 106‘000 Freiwillige.

Der dritte Grund war nichts anderes als die Rote Armee selbst, welche die Räte als ein Hindernis betrachtete. Sie versuchte sich deren Kontrolle zu entziehen und verlangte von der Zentralregierung, die Sowjets davon abzuhalten, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen. Die Rote Armee wies auch Unterstützungsangebote der bewaffneten Einheiten der Räte (Rote Garden, Partisanen) ab. Der Rat der Volksdeputierten unterwarf sich allen Bedürfnissen der Roten Armee.

Weshalb wendet sich ein Organ, das zur Verteidigung der Räte gegründet wurde, gegen sie? Die Armee ist ein staatliches Organ, dessen Existenz und Funktionsweise notwendigerweise soziale Folgen haben. Vor allem, wenn es eine blinde Disziplin gibt, sich eine Hierarchie breitmacht und ein Offizierskorps entsteht, das lediglich die Autorität der Regierung anerkennt. Um solche Tendenzen zu vermeiden, wurde ein Netzwerk von politischen Beratern aus vertrauenswürdigen Arbeitern zusammen gestellt, dessen Ziel die Kontrolle der Offiziere war. Leider mit geringem Erfolg, wenn nicht sogar kontraproduktiv, denn dieses Netzwerk wurde selbst zu einer zusätzlichen bürokratischen Struktur.

Die Rote Armee entzog sich nicht nur immer mehr der Kontrolle durch die Arbeiterräte, sie führte ihre Methoden der Militarisierung in der gesamten Gesellschaft ein. In seinem Buch Das ABC des Kommunismus spricht Preobraschenski sogar von der militärischen Diktatur des Proletariates!

Die Bedingungen des Krieges und die blinde Unterordnung unter die Bedürfnisse der Roten Armee führten die Regierung im Sommer 1918 dazu, ein Militärisches Revolutionskomitee auf die Beine zu stellen, das nichts mehr zu tun hatte mit demjenigen, das die Oktoberrevolution angeführt hatte. Das zeigte schon sein erster Beschluss: die Gründung von lokalen Militärischen Komitees, welchen sich die Arbeiterräte unterzuordnen hatten. „Ein Entscheid des Rates der Volkskommissare verpflichtete die Arbeiterräte, sich den Anordnungen dieser Komitees bedingungslos zu fügen.“[25]

Die rote Armee wie die Tscheka hörten nach und nach auf, das zu sein, was sie am Anfang sein wollten, nämlich Waffen zur Verteidigung der Rätemacht. Sie lösten sich von dieser Aufgabe, verselbständigten sich, um sich letztlich gegen sie zu wenden. Während die Tscheka in einer ersten Phase ihre Aktivitäten vor den lokalen Sowjets rechtfertigen musste und versuchte, eine gemeinsame Arbeit aufzubauen, so wurden bald die schnellen Methoden der Tscheka auf die ganze sowjetische Gesellschaft übertragen. «Am 28. August 1918 erteilte das Hauptquartier der Tscheka den lokalen Kommissionen die Weisung, sich nicht der Autorität der Sowjets zu unterstellen. Es sollten umgekehrt diese Kommissionen den Sowjets den Willen aufzwingen können. Dies gelang ihnen den auch ohne Mühe in den vielen von militärischen Operationen betroffenen Gegenden.»[26]

Die Tscheka zernagte die Macht der Sowjets so weit, dass im November 1918 eine Umfrage erwies, dass 96 Sowjets die Auflösung der Tscheka forderten, 119 forderten die Unterstellung unter die legalen Sowjets und nur 19 stimmten dem Tun der Tscheka zu. Diese Umfrage war absolut wirkungslos, denn die Tscheka häufte weitere Macht an. „ ‚Alle Macht den Räten‘ hat aufgehört das Prinzip zu sein, auf dem das Regime fußt, wie es ein Mitglied des Volkskommissariats des Innern sagte, es ist durch die Losung: ‚Alle Macht der Tscheka‘ ersetzt worden“.

Hungersnot und wirtschaftliches Chaos

Der Weltkrieg hinterließ ein schreckliches Erbe. Der produktive Apparat der meisten europäischen Länder war ausgeblutet, der Verkehr von Konsumgütern oder Lebensmitteln war schwer angeschlagen, wenn nicht lahmgelegt. «Der Verbrauch von Lebensmitteln hatte um 30-50% abgenommen. Die Lage der Alliierten war dank der Unterstützung der USA etwas besser. Der Winter 1917-1918, der in Frankreich und England durch die Rationierung von Lebensmitteln und Brennstoffen gezeichnet war, war sehr hart“.

Russland litt ganz besonders unter dieser Situation. Der Oktoberrevolution gelang es nicht, dies aufzuheben, und zwar umso weniger, als sie einem provozierten Chaos gegenüberstand: einer Sabotage nicht nur der Unternehmer, welche die Politik der verbrannten Erde einer Übergabe der Produktionsmittel an das Proletariat bevorzugten, sondern auch von Technikern, Betriebsleitern und teilweise von spezialisierten Arbeitern, die der Macht der Sowjets feindselig gegenüber standen. Die Sowjets prallten auf eine massive Streikbewegung der Beamten, von Telegraphenarbeitern und Eisenbahnern, die von Gewerkschaften unter Führung der Menschewiki manipuliert waren. Diese Streiks wurden über einen gewerkschaftlichen Keilriemen initiiert und geführt durch eine „Schattenregierung mit M. Prokopowitsch an der Spitze, der offiziell die Nachfolge des ‚abgetretenen‘ Kerenski übernommen hatte. Dieser geheime Minister lenkte die Streiks der Beamten mittels eines Streikkomitees. Die großen Firmen der Industrie, des Handels und des Bankensektors, so die Agrarbank von Tula, die Moskauer Volksbank, das Kaukasische Kreditinstitut bezahlten den Beamten weiterhin ihr Gehalt. Das alte Gesamtrussische Exekutivkomitee (Menschewiki und Sozialrevolutionäre) setzte seine Guthaben, die eigentlich der Arbeiterklasse gehörten, zum gleichen Zweck ein.“[27]

Diese Sabotage gesellte sich zum ökonomischen Chaos, das sich durch den Bürgerkrieg verschlimmerte. Wie sollte man die Hungersnot in den Dörfern bekämpfen? Wie sollte man auch nur ein Minimum an Versorgung garantieren?

Hier konkretisierte sich auf katastrophale Weise ein Phänomen, welches das Jahr 1918 charakterisieren sollte: Die gesellschaftliche Koalition, die 1917 die bürgerliche Regierung gestürzt hatte, hatte sich aufgelöst. Die Macht der Sowjets war eine Koalition, auf der Basis der Gleichheit, unter den Sowjets der Arbeiter, Bauern und Soldaten. Die Soldatenräte hatten sich bis Ende 1917 bis auf wenige Ausnahmen aufgelöst. Das führte dazu, dass die Sowjetmacht praktisch ohne Armee dastand. Aber was machten die Bauernräte, die den Schlüssel zur Lösung der Versorgung der Städte in den Händen hielten?

Das Dekret des 2. Sowjetkongresses über die Aufteilung des Ackerlandes wurde im größten Durcheinander umgesetzt, was eine Unzahl von Missbräuchen förderte. Obwohl nun viele arme Bauern Zugang zu einer Parzelle hatten, waren oft die großen und mittleren Bauern die Gewinner, da sie ihren Reichtum vergrößern konnten, was sich auch darin ausdrückte, dass sie fast generell die Bauernräte beherrschten. Der Privateigentümern eigene Egoismus wurde beflügelt. „Die Bauern, die für ihren Weizen im Austausch Rubel erhielten, konnten damit nur mit großen Schwierigkeiten eine begrenzte Zahl von Manufakturprodukten erstehen, vorherrschend war der Tausch von Lebensmitteln gegen Industrieprodukte. Ein Morast von kleinen Spekulanten entstand zwischen den Bauern und den Städten.“[28] Die Bauern verkauften ihre Produktion den Spekulanten, die diese an sich rissen und die Not vergrößerten, indem sie die Preise hochtrieben.

Im Juni 1918 setzte die Sowjetregierung ‚Komitees der Dorfarmut‘ ein, um diese Situation zu bekämpfen. Das Ziel war, die Bauernräte den Arbeiterräten näherzubringen und den Klassenkampf in die Dörfer zu tragen, aber auch Brigaden zu bilden, um Weizen und andere Lebensmittel zu erhalten und so die schreckliche Hungersnot in den Städten zu lindern.

Diese Komitees widmeten sich „zusammen mit bewaffneten Abteilungen [der Aufgabe], bei reichen Bauern Getreide zu beschlagnahmen, Vieh und Geräte zu requirieren und unter den Landarmen zu verteilen und sogar den Boden neu aufzuteilen“[29].  Die Bilanz dieser Erfahrung war im Allgemeinen negativ. Es gelang weder die genügende Versorgung der hungrigen Städte noch die Erneuerung der Bauernräte. Das Resultat war, dass 1919 die Bolschewiki ihre Politik änderten, um die mittlere Bauernschaft für sich zu gewinnen, und sie zerschlugen mit Gewalt die ‚Komitees der Dorfarmut‘.

Die moderne kapitalistische Produktion macht die Versorgung der Konsumenten mit landwirtschaftlichen Produkten von einem komplexen Transportsystem abhängig, welches hoch technologisiert ist und seinerseits von anderen Industrien abhängt. Auf dieser Grundlage scheiterte die Versorgung der hungernden Bevölkerung am Zusammenbruch des industriellen Produktionsapparats in Folge des Krieges und anschließend der ökonomische Sabotage der Kapitalisten sowie des Bürgerkriegs ab April 1918.

Die Fabrikräte hätten eine bestimmende Rolle einnehmen können, wie wir es im vorhergehenden Artikel dieser Serie sehen konnten. Sie spielten eine sehr wichtige Rolle in Sinne einer Avantgarde im sowjetischen System. Sie hätten auch die Sabotage der Kapitalisten verhindern und somit den Mangel und die Lähmung bekämpfen können.

Sie versuchten sich zu koordinieren und ein zentrales Kontrollorgan zu schaffen, um die Produktion zu koordinieren und die Sabotage und die Lahmlegung der Transporte zu bekämpfen[30]. Aber die Politik der Bolschewiki sprach sich dagegen aus, sie konzentrierten die Leitung der Fabriken in einem Organ, das aus Beamten bestand, die von der Exekutive abhängig waren. In jener ersten Zeit wurde die Akkordarbeit eingeführt, die durch die Militarisierung der Arbeit gesteigert wurde und 1920/21 das höchste Niveau erreichte. Das stärkte die Gewerkschaften. Dieses Beamtenorgan war ein vehementer Gegner der Fabrikräte und führte eine intensive Kampagne gegen sie, die schließlich die Auflösung der Fabrikräte Ende 1918 nach sich zog.[31]

Die Maßnahmen der Bolschewiki versuchten, die Tendenz gewisser Betriebsräte besonders in der Provinz zu bekämpfen, sich als neue Besitzer zu sehen und als autonome Einheiten zu agieren. Diese Tendenz hatte zum Teil ihren Ursprung „in der Schwierigkeit, einen regelmäßigen Kreislauf von Verteilung und Austausch aufzubauen, was zur Isolierung von zahlreichen Fabriken und Produktionsstätten führte. Sie erschienen eher als „anarchistische Komunen“, die auf sich selbst beschränkt waren.“[32]

Tendenz zum Zerfall der russischen Arbeiterklasse

Es ist offensichtlich, dass diese Tendenzen die Spaltung der Arbeiterklasse in Russland vorantrieb. Aber es handelte sich nicht um generelle Tendenzen, sie hätten auch bekämpft werden können. Mit Debatten in den Betriebsräten, in denen die globale Sicht durchaus vorhanden war. Die gewählte Methode, sich auf die Gewerkschaften zu stützen, führte dazu, dass die Pfeiler der proletarischen Macht angegriffen wurden, was schon zu Beginn ein politisches Problem war, das aber durch den Enthusiasmus der Sowjets in den ersten Monaten überdeckt wurde: „Die Schwächung der russischen Arbeiterklasse, ein Verlust des Elans und der Substanz, die zu einer fast totalen Deklassierung und in gewisser Weise zu deren vorübergehenden Verschwinden führen sollte.“[33]

Im April 1918 verschwanden 265 der 799 Industriebetriebe in Petrograd. Die Hälfte der Arbeiter dieser Stadt hatte keine Arbeit; die Bevölkerung zählte 1,5 Millionen Leute, während sie vorher 2,5 Millionen betrug. Moskau verlor etwa eine halbe Million Bewohner in dieser Zeit.

Die Arbeiterklasse litt unter dem Hunger und unter den schrecklichsten Krankheiten. Jacques Sadoul, Beobachter auf der Seite der Bolschewiki beschreibt die Situation im Frühling 1918 in Moskau: „In den Vororten gibt es eine schreckliche Not, Epidemien wie Typhus, Pocken, Kinderkrankheiten. Die Säuglinge sterben in Massen. Die Leute, denen man begegnet, sind abgemagert und in erbärmlichem Zustand. In den Arbeiterquartieren begegnet man nur zu häufig armen bleichen Müttern, die traurig den Sarg aus versilbertem Holz tragen, der wie eine Wiege aussieht, und darin liegt der leblose Körper des Kindes, das ein bisschen Brot oder Milch am Leben hätten halten können.“[34]

Viele Arbeiter fliehen aufs Land, um dort Landwirtschaft unter prekären Bedingungen zu betreiben. Der schreckliche Druck des Hungers, der Krankheiten, der Rationierungen und der langen Warteschlangen zwingen die Arbeiter, den ganzen Tag dem Überlebenskampf zu opfern. Wie es ein Arbeiter aus Petrograd bezeugt: „Hier steht eine Menge von Arbeitern, die zurückgewiesen wurden. Auch wenn wir zu den Besten gehören, man hört kein Wort in der Politik; niemand spricht von Revolution, über den deutschen Imperialismus oder alle anderen aktuellen Probleme. Für all diese Leute, die sich kaum auf den Beinen halten können, scheinen all diese Fragen furchtbar weit weg.“[35]

Der Prozess der Krise der Arbeiterklasse in Russland ist so alarmierend, dass Lenin im Oktober 1921 die NÖP[36] mit den Worten rechtfertigte: „Die Kapitalisten werden aus unserer Politik Vorteile ziehen und werden ein Industrieproletariat schaffen, das bei uns durch den Krieg und die furchtbare Verwüstung und Zerrüttung deklassiert, d.h. aus seinem Klassengeleise geworfen ist und aufgehört hat, als Proletariat zu existieren.“[37]

Wir haben eine Reihe von allgemeinen Umständen aufgezeigt, zu denen unvermeidbare Fehler hinzu kamen und die vereint die Sowjets schwächten, bis sie schließlich als Organe der Arbeiter verschwanden. Im nächsten Artikel dieser Serie werden wir die politischen Probleme, welche die Verschlechterung dieser Situation verstärkten, aufzeigen.

C.Mir, 1. September 2010



[1] Siehe nebst dieser Internationalen Revue den ersten Artikel in der Internationalen Revue Nr. 48

[2] Lenin, Brief an die amerikanischen Arbeiter, 20. August 1918, Werke Band 28, Seite 59

[3] Zitiert nach Marcel Liebman, Le Léninisme sous Lénine, Band 2, Seite 190. Dieses sehr lesenswerte und gut dokumentierte Buch ist von einem Autor, der sich nicht zur kommunistischen Bewegung zählt.

[4] Es gab ein Phase, als der Kapitalismus noch ein progressives System war, während der das Parlament ein Ort war, wo sich die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie vereinten oder aufeinanderprallen, um die Gesellschaft zu regieren. Das Proletariat konnte sich dort beteiligen, um zu versuchen, die Politik der Bourgeoisie auf eine Art zu beeinflussen, welche die Verteidigung seiner Interessen unterstützte, auch wenn diese Politik die große Gefahr der Mystifizierung enthielt. Doch auch in dieser Epoche waren die drei Staatsgewalten von der großen Mehrheit der Bevölkerung getrennt.

[5] Zitat nach Victor Serge, einem anarchistischen Militanten der sich den Bolschewiki anschloss, in  L’An I de la Révolution Russe, Seite 84, Kapitel 3: «Les grands décrets»

[6] Oskar Anweiler, Die Rätebewegung in Russland 1905-1921, Kapitel 5: Die Errichtung der Sowjetdiktatur, Abschnitt: Konstituierende Versammlung oder Räterepublik?, Seite 260 

[7]  Marcel Liebman, a.a.O., Seite 31

[8]  Die Verfolgung der Situation in Deutschland und Neuigkeiten von Streiks und Meutereien bildeten den Hauptteil ihrer Diskussionen.

[9]  Oskar Anweiler, a.a.O., Seite 274

[10]  Victor Serge, a.a.O., Seite 99, Kapitel 3: „L`initiative des masses“

[11]  Marcel Liebman, a.a.O., Seite 94

[12]  Dieser Vertrag wurde zwischen der Sowjetregierung und dem deutschen Staat im März 1918 unterzeichnet. Zum Preis harter Zugeständnisse erlaubte er der Sowjetregierung einen Waffenstillstand als Atempause und demonstrierte der internationalen Arbeiterklasse den Willen, den Krieg zu beenden. Siehe dazu unsere Artikel: „Oktober 1917 : Anfang der proletarischen Revolution (Teil 2)“ in Internationale Revue Nr. 6, und: „Le communisme n’est pas un bel idéal «(8e partie) : La compréhension de la défaite de la Révolution russe«, Revue Internationale Nr. 99, 1999.

[13]  Marcel Liebman, ebenda, Seite 176

[14]  Siehe den 3. Artikel dieser Serie (in der vorliegenden Revue), Kapitel: „September 1917: Die totale Erneuerung der Sowjets“

[15]  Man muss anfügen, dass diese Maßnahmen nicht durch Einschränkungen der Pressefreiheit begleitet waren. Im oben zitierten Buch unterstreicht Victor Serge, dass „die Diktatur des Proletariats lange mit dem Verbot der feindlichen Presse zögerte. (…) Erst im Juli 1918 waren die letzten Organe der Bourgeoisie und der Kleinbourgeoisie verboten. Die legale Presse der Menschewiki verschwand erst 1919; die der regierungsfeindlich gesinnten Anarchisten und Maximalisten erschien bis 1920; die der linken Sozialrevolutionäre noch länger.“ (Fußnote Seite 109, Kapitel: „Réalisme prolétarien et rhétorique révolutionnaire“)

[16] Oskar Anweiler, a.a.O., Seite 297

[17] Marcel Liebman, a.a.O., Seite 35. Sinowjew, ein Bolschewiki, hatte große Qualitäten und war engagierter Animator der Kommunistischen Internationale, war aber auch bekannt wegen seiner Schlauheit und Manövrierfähigkeit.

[18] ebenda

[19] ebenda

[20] Wir können in diesem Artikel nicht auf die Details von Kronstadt und auf die Lehren eingehen, die daraus gezogen werden müssen. Siehe dazu: Internationale Revue Nr. 28, „Kronstadt verstehen“

[21] Für diejenigen, die sich ein Bild des Bürgerkriegs von 1918 machen wollen, empfehlen wir die Lektüre des zitierten Buches von Victor Serge.

[22] Marcel Liebman, ebenda, Seite 32

[23] Siehe dazu in dieser Internationalen Revue im 3. Teil dieser Serie, Abschnitt „Das Militärische Revolutionskomitee, Organ der Räte für den Aufstand“

[24] Rede von Kamenew, zit. bei Oskar Anweiler, a.a.O., Seite 297

[25] Marcel Liebman, a.a.O., Seite 33

[26] A.a.O. S. 32

[27] A.a.O. S. 164

[28] Victor Serge, a.a.O., S. 162, Kap. V “Das Problem im Januar 1918”

[29] Victor Serge, a.a.O., S. 99, Kap. III, “Die Sabotage”

[30] A.a.O., S. 227, Kap. VI, „Das Problem“

[31] A.a.O., Victor Serge beschreibt, dass eine Politik der Gewerkschaften darin bestand, Handelsgenossenschaften zu gründen, die sich der Lebensmittelspekulation zum Profit der Genossenschafter widmeten.

[32] Anweiler, a.a.O., S. 299

[33] Oskar Anweiler berichtet: „Einige Wochen nach dem Oktoberumsturz versuchten die in mehreren Städten bestehenden örtlichen Zentralräte der Fabrikkomitees eine eigene nationale Organisation zu errichten, die ihre faktische wirtschaftliche Diktatur sichern sollte.“ A.a.O. S. 277

[34] A.a.O., Anweiler berichtet: „Die Gewerkschaften verhinderten die Einberufung eines allrussischen Betriebsrätekongresses und erreichten stattdessen, dass ihnen die Betriebsräte als unterste Organisationen eingegliedert wurden.“ S. 277 („Betriebsrat“ und „Fabrikrat“ werden in diesem Artikel als Synonyme verwendet.)

[35] Marcel Liebman, a.a.O. S. 189

[36] Ebenda, S. 23

[37] Ebenda, S. 24

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [36]

Internationale Revue 50

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Dekadenz des Kapitalismus, Teil IX: Die Komintern und der Virus des „Luxemburgismus“ (1924)

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Der vorherige Artikel dieser Reihe zeigte auf, wie die Hoffnungen auf einen unmittelbar bevorstehenden revolutionären Sieg, die von den proletarischen Erhebungen 1917-19 geweckt worden waren, nur zwei Jahre später einem nüchterneren Denkprozess unter den Revolutionären bezüglich des allgegenwärtigen Verlaufs der historischen Krise des Kapitalismus gewichen waren. Auf dem Dritten Kongress der Kommunistischen Internationalen war ein Schlüsselthema in der Debatte folgende Frage: Das kapitalistische System ist zweifellos in eine Epoche des Niedergangs eingetreten, doch was geschieht, wenn das Proletariat nicht sofort mit dem Sturz dieses Systems auf die neue Epoche antwortet? Und worin besteht die Aufgabe der kommunistischen Organisationen, wenn sich der Klassenkampf und das subjektive proletarische Verständnis seiner Lage auf dem Rückzug befinden, obwohl die objektiven historischen Bedingungen für die Revolution immer noch vorhanden sind?

Die Beschleunigung der Geschichte, die zu unterschiedlichen und oftmals sich scharf widersprechenden Antworten der revolutionären Organisationen führte, setzte sich in den folgenden Jahren fort, da die Degeneration der Revolution in Russland, ihre wachsende Isolation den Weg zu einer beispiellosen Form der Konterrevolutionäre öffnete. Das Jahr 1921 war ein schicksalhafter Wendepunkt: Angesichts der breiten Unzufriedenheit unter dem Petrograder und Kronstädter Proletariat wie auch einer Welle von Bauernrevolten unternahmen die Bolschewiki den katastrophalen Schritt, zur massiven Repression gegen die Arbeiterklasse zu greifen, während sie gleichzeitig innerparteiliche Fraktionen verbannten. Die Neue Ökonomische Politik, die unmittelbar nach dem Kronstädter Aufstand eingeführt wurde, machte zwar gegenüber einigen ökonomischen Forderungen dieser Fraktionen Zugeständnisse, jedoch nicht auf politischer Ebene: Es sollte keine Lockerung der Vorherrschaft der Staatspartei über die Sowjets geben. Und schon ein Jahr später begann Lenin darüber zu klagen, dass sich der Staat selbst der Kontrolle der proletarischen Partei entzog und sie in eine Richtung drängte, die sie nicht überschauen konnte. Im gleichen Jahr, also zu einer Zeit, als sich Deutschland noch in einem Zustand der sozialen Gärung befand, besiegelte der „Sowjet“-Staat in Rapallo einen Geheimvertrag mit dem deutschen Imperialismus: Dies war ein deutliches Anzeichen dafür, dass der russische Staat im Begriff war, seine nationalen Interessen über die Bedürfnisse des internationalen Klassenkampfes zu stellen. 1923 gab es in Russland immer mehr Arbeiterstreiks; es kam zur Bildung illegaler kommunistischer Gruppierungen wie Miasnikows Arbeitergruppe, aber auch zu einer „legalen“ Linksopposition innerhalb der Partei, die nicht nur alte Dissidenten wie Ossinski um sich sammelte, sondern auch Trotzki selbst.

Lenin starb im Januar 1924, und im Dezember desselben Jahres stimmte Stalin (noch) zaghaft den Schlachtruf „Sozialismus in einem Land“ an. Ab 1925/26 wurde Letzterer zur offiziellen Politik der russischen Partei. Die neue Linie symbolisierte einen entscheidenden Bruch mit dem Internationalismus.

Bolschewisierung versus „Luxemburgismus“

Eigentliche alle Kommunisten, die zusammenkamen, um die neue Internationale 1919 zu gründen, waren sich einig, dass der Kapitalismus sich als ein  System im historischen Niedergang erwiesen hat, auch wenn sie unterschiedlicher Meinung über die politischen Implikationen der neuen Periode und über die Mittel waren, die es bedurfte, um den revolutionären Kampf zu entwickeln – zum Beispiel ob bürgerliche Parlamente als eine „Tribüne“ für die revolutionäre Propaganda benutzt oder zugunsten der Aktion auf den Straßen und an den Arbeitsplätzen boykottiert werden sollten. Hinsichtlich der theoretischen Untermauerungen der neuen Epoche gab es wenig Zeit für eine nachhaltige Debatte. Die einzige wirklich kohärente Analyse einer „Wirtschaftslehre der Dekadenz“ lieferte Rosa Luxemburg unmittelbar vor Ausbruch des Weltkrieges. Wie wir gesehen haben[1], provozierte ihre Theorie des kapitalistischen Zusammenbruchs viel Kritik sowohl seitens der Reformisten als auch von den Revolutionären, doch die Kritik war größtenteils negativ – es gab nur wenig Hinweise auf einen alternativen Rahmen zum Verständnis der fundamentalen Widersprüche, die den Kapitalismus in die Epoche des Verfalls zwangen. Jedenfalls wurden die Meinungsverschiedenheiten über diesen Punkt zu Recht nicht als fundamental betrachtet. Es ging im Wesentlichen darum zu akzeptieren, dass das System eine Stufe erreicht hat, auf der die Revolution sowohl möglich als auch notwendig wurde.

1924 fand in der Kommunistischen Internationalen jedoch eine Wiederbelebung der Kontroverse über Luxemburgs ökonomischer Analyse statt. Luxemburgs Ansichten übten einen beträchtlichen Einfluss auf die kommunistische Bewegung in Deutschland aus, sowohl in der offiziellen KPD als auch in der linkskommunistischen KAPD. Doch nun wurde angesichts des wachsenden Drucks, die kommunistischen Parteien außerhalb Russlands fester an die Bedürfnisse des russischen Staates zu binden, ein Prozess der „Bolschewisierung“ in der gesamten Komintern in Gang gesetzt, mit dem Ziel, unerwünschte Divergenzen in Theorie und Taktik auszumerzen. In einem bestimmten Moment in der Bolschewisierungskampagne wurde die Fortdauer des „Luxemburgismus“ in der deutschen Partei als die Urquelle einer Vielzahl von Abweichungen identifiziert – insbesondere der „Irrtümer“ in der nationalen und kolonialen Frage und einer spontaneistischen Herangehensweise an die Rolle der Partei. Auf der abstrakten, „theoretischen“ Ebene führte dieser Kurs gegen den Luxemburgismus zu Bucharins Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals (1924).

Wir begegneten Bucharin zuletzt als ein Sprecher der Linken der bolschewistischen Partei während des Krieges – seine nahezu prophetische Analyse des Staatskapitalismus und seine Anerkennung der Notwendigkeit, zur Forderung von Marx nach einer Zerstörung des kapitalistischen Staates zurückzukehren, katapultierte ihn in die erste Reihe der internationalen Bewegung; mit seiner Ablehnung des Schlachtrufs der „nationalen Selbstbestimmung“  stand er auch Luxemburg nahe, sehr zum Ärger Lenins. In Russland 1918 war er ein führendes Mitglied der linkskommunistischen Gruppe gewesen, die gegen den Vertrag von Brest-Litowsk und, noch bedeutsamer, gegen die frühe Bürokratisierung des Sowjetstaates opponierte. Doch sobald die Kontroverse über den Friedensvertrag eingeschlafen war, wurden Bucharins kritische Fertigkeiten von seiner Bewunderung für die Methoden des Kriegskommunismus abgelöst, den er als authentische Übergangsform zum Kommunismus zu theoretisieren begann.[2] Jener Mann, der den leviathanischen Staat kritisiert hatte, welcher vom Imperialismus geschaffen wurde, erblickte nun keine Probleme im „proletarischen Staat“, der während der Übergangsperiode immer allmächtiger werden sollte. In der Gewerkschaftsdebatte 1921 stellte sich Bucharin auf die Seite Trotzkis und rief zur direkten Unterordnung der Gewerkschaften unter diesen Staatsapparat auf. Doch mit der Einführung der NÖP änderte Bucharin seine Position erneut. Er ging zu den Methoden des äußersten Zwangs, die im Kriegskommunismus favorisiert wurden, insbesondere gegenüber der Bauernschaft, auf Distanz und begann nun, anstelle der direkten Staatsdekrete die NÖP mit ihrer Mischung aus Staats- und Privateigentum und der Abhängigkeit von den Märkten als das „normale“ Modell für den Übergang zum Kommunismus zu betrachten. Doch diese Übergangsphase wurde – wie in der Periode, als er mit dem Kriegskommunismus geliebäugelt hatte – von Bucharin immer mehr in nationale Begriffe gefasst, im Gegensatz zu seiner Sichtweise während des Krieges, als er auf die globale Interdependenz der Weltwirtschaft hingewiesen hatte. Tatsächlich kann Bucharin in gewisser Weise als „Urheber“ der Thesen des Sozialismus in einem Land angesehen werden, die Stalin schließlich aufgriff und letztlich benutzte, um Bucharin, zunächst politisch, dann physisch, loszuwerden.[3]

Bucharins Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals war klar als eine theoretische Rechtfertigung zur Entlarvung der „Schwächen“ der KPD in der nationalen, kolonialen und Bauernfrage beabsichtigt – dies war die kühne Behauptung am Ende des Werks, obgleich bar jeder Verknüpfung in den Argumenten zwischen dem Angriff gegen Luxemburgs Wirtschaftslehre und ihren angeblichen politischen Konsequenzen. Bucharins Generalangriff gegen Luxemburg in der theoretischen Frage der kapitalistischen Akkumulation wurde jedoch von einigen Revolutionären aufgegriffen, auch wenn sie im Wesentlichen nichts mit den dubiosen politischen Zielen des Dokuments zu tun hatten.

Wir denken, dass dies aus vielerlei Gründen ein Fehler war. Das politische Ziel des Texts von Bucharin kann weder von seinem aggressiven Tonfall noch von seinem theoretischen Inhalt getrennt werden.

Der Tonfall des Textes deutet darauf hin, dass es sein Ziel war, Luxemburg fertigzumachen, sie zu diskreditieren. Wie Rosdolsky hervorhebt: „Der heutige Leser der Bucharinschen Abhandlung fühlt sich unangenehm betroffen von dem heftigen und zuweilen auch frivolen Ton seiner Polemik gegen Rosa Luxemburg, die wenige Jahre früher faschistischen Mördern zum Opfer gefallen war. Indes war dieser Ton vor allem dem Umstand zuzuschreiben, dass Bucharins Schrift nicht so sehr durch wissenschaftliche als durch politische Interessen diktiert war. Es galt, den damals noch sehr starken Einfluss des ‚Luxemburgismus‘ in den führenden Kreisen der Kommunistischen Partei Deutschlands zu brechen, und zu diesem Zwecke schien jedes Mittel gut genug.“[4] Man watet durch Seiten voller Sarkasmus und herablassender Nebenbemerkungen, ehe ganz zum Schluss des Buches Bucharin widerwillig eingesteht, dass Rosa einen exzellenten historischen Überblick über die Art und Weise verschafft hat, wie sich der Kapitalismus zu den anderen Gesellschaftssystemen verhalten hat, die seine Umgebung bildeten. Es gibt keinen ernsthaften Versuch, sich mit den wirklichen Fragen zu befassen, denen sich Rosa Luxemburg in ihrem Werk gewidmet hatte – die Preisgabe der Perspektive des Zusammenbruchs des Kapitalismus durch die Revisionisten und die Notwendigkeit, die dem kapitalistischen Akkumulationsprozess innewohnende Tendenz zum Zusammenbruch zu begreifen. Im Gegenteil, Bucharins Argumente erwecken den Eindruck, dass er auf alles einschlug, was ihm in die Hände kam, auch wenn es bedeutete, Luxemburgs Thesen gründlich zu verzerren.

Zum Beispiel heißt es bezüglich des Vorwurfs, dass Luxemburgs Theorie den Imperialismus harmonisch und im friedlichen Austausch von Äquivalenten mit der vor-kapitalistischen Welt leben lässt, bei Bucharin: „Beide Seiten sind äußerst zufrieden. Satte Wölfe, unversehrte Schafe“.[5] Wir hatten gerade erwähnt, dass sich Bucharin bemüßigt fühlte, anderswo zuzugeben, dass eine Hauptstärke ihres Buches darin besteht, die Art und Weise, wie der Kapitalismus das nicht-kapitalistische Milieu integrierte, aufzuzeichnen und zu brandmarken – die Ausplünderung, Ausbeutung und Zerstörung dieser Welt. Das ist das ganze Gegenteil eines harmonischen Miteinanders von Schafen und Wölfen. Die Schafe werden entweder gefressen oder sie werden durch ihr eigenes Wirtschaftswachstum selbst kapitalistische Wölfe, und ihre Konkurrenz verringert die Nahrungsmittelversorgung weiter…

Gleichermaßen krude ist das Argument, dass in Luxemburgs Definition des Imperialismus nur Kämpfe um ausgesucht nicht-kapitalistische Märkte als imperialistische Konflikte zählen und dass „ein Kampf um bereits kapitalistisch gewordene Gebiete kein Imperialismus sei, was zum Himmel schreit“.[6] In Wirklichkeit ist Luxemburgs Argument: „Der Imperialismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus“[7] darauf ausgerichtet, eine ganze Ära, den allgemeinen Kontext zu schildern, in dem imperialistische Konflikte stattfinden. Die Rückkehr imperialistischer Konflikte ins Zentrum des Systems, die Verlagerung zu offenen militärischen Rivalitäten zwischen den entwickelten kapitalistischen Mächten wurde bereits in Die Akkumulation… registriert und in der Junius-Broschüre ausführlich dargelegt.

Zum Thema Imperialismus haben wir noch Bucharins Argument, dass dem Kapitalismus eine glänzende Zukunft bevorstehe, da es genug Gebiete mit nicht-kapitalistischer Produktion in der Welt gebe. „Dass der Imperialismus Katastrophe bedeutet ist eine Tatsache. Da wir in die Periode des Zusammenbruchs des Kapitalismus eingetreten sind, nicht minder. Tatsache ist aber auch, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Erde zu „dritten Personen“ gehört. (…) Ebensowenig aber unterliegt es einem Zweifel, dass nicht die industriellen und landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, sondern die Bauern die Hauptmasse der heute lebenden Bevölkerung der Erde darstellen. (…) Würde die Theorie Rosa Luxemburgs auch nur annähernd stimmen, wäre es um die Sache der Revolution wahrlich schlecht bestellt“.[8]

Paul Frölich (einer der „Luxemburgisten“ in der KPD, die nach dem Ausschluss der späteren KAPD-Mitglieder in der Partei verblieben) antwortete darauf sehr gut in seiner Luxemburg-Biographie, die zuerst 1939 veröffentlicht wurde:

„Verschiedene Kritiker, und besonders Bucharin, glaubten, einen wirksamen Trumpf gegen Rosa Luxemburg auszuspielen, indem sie auf die gewaltigen Möglichkeiten der kapitalistischen Ausbreitung in den nicht-kapitalistischen Raum hinwiesen. Die Schöpferin der Akkumulationstheorie hat diesem Argument bereits die Spitze abgebrochen durch die wiederholte Betonung, der Kapitalismus müsse in Todeszuckungen geraten, längst bevor die ihm immanente Tendenz auf Erweiterung des Marktes auf die objektive Schranke gestoßen sei (…) Die Expansionsmöglichkeit ist kein geographischer Bereich: nicht die Zahl der Quadratmeilen entscheidet, auch kein demographischer Begriff: nicht das Zahlenverhältnis von kapitalistischer und nichtkapitalistischer Bevölkerung zeigt die Reife des Prozesses an. Es handelt sich um ein sozialökonomisches Problem, bei dem ein Komplex von widersprechenden Interessen, Kräften und Erscheinungen in Rechnung gesetzt werden muss…“[9].

Kurz, Bucharin hat schlicht und einfach die Geographie und Demographie mit der realen Kapazität der verbleibenden nicht-kapitalistischen Systeme verwechselt, Tauschwert zu generieren und so einen wirksamen Markt für die kapitalistische Produktion zu bilden.

Kapitalistische Widersprüche

Wenn wir nun Bucharins Behandlung der zentralen Frage in Luxemburgs Theorie betrachten, das von Marx‘ Reproduktionsschemata gestellte Problem, dann stellen wir erneut fest, dass Bucharins Vorgehensweise völlig losgelöst von seiner politischen Perspektive ist. In einer zweiteiligen Kritik, die 1982 (Internationale Revue, Nr. 30, engl., franz., span. Ausgabe, „Über den Kapitalismus hinausgehen: Abschaffung des Lohnsystems“) veröffentlicht worden war, wird völlig richtig argumentiert, dass Bucharins Kritik an Luxemburg tiefe Divergenzen bezüglich des eigentlichen Inhalts des Kommunismus enthüllt.

Zentral für Luxemburgs Theorie ist das Argument, dass Marx‘ Schemata der erweiterten Reproduktion im Kapital, Band 2, die der Einfachheit halber von einer Gesellschaft ausgingen, die ausschließlich aus Arbeitern und Kapitalisten zusammengesetzt war, eben als abstrakte Schemata wahrgenommen werden sollten, und nicht als eine Demonstration der realen Möglichkeiten einer harmonischen kapitalistischen Akkumulation in einem geschlossenen System. In der Realität ist der Kapitalismus ständig dazu getrieben worden, über die Grenzen seiner eigenen Gesellschaftsverhältnisse hinauszugehen. Für Luxemburg stellt sich laut Marx‘ Argumentation in anderen Teilen des Kapital das Problem der Realisierung dem Kapital in seiner Gesamtheit, auch wenn für individuelle ArbeiterInnen und Kapitalisten andere ArbeiterInnen und Kapitalisten zweifellos einen perfekten Markt für ihren gesamten Mehrwert darstellen können. Bucharin stimmt zweifellos zu, dass es einen Bedarf an einer ständigen Quelle zusätzlicher Nachfrage geben muss, damit eine erweiterte Reproduktion stattfinden kann. Doch er besteht darauf, dass diese zusätzliche Nachfrage von den ArbeiterInnen geschaffen wird; vielleicht nicht von den ArbeiterInnen, die das variable Kapital absorbieren, das vom Kapitalisten zu Beginn des Akkumulationszyklus‘ bereitgestellt wurde, dafür aber von zusätzlichen ArbeiterInnen: „Die Einstellung zusätzlicher Arbeiter erzeugt eine zusätzliche Nachfrage, die gerade jenen Teil des Mehrwerts realisiert, der akkumuliert werden soll, nämlich denjenigen Teil, der sich notwendigerweise in funktionierendes, zusätzliches, variables Kapital zu verwandeln hat“.[10] Worauf unser Artikel antwortet: „Wendet man Bucharins Analyse auf die Realität an, kommt man zu folgendem Problem: Was kann die Kapitalisten dazu bewegen, keine Arbeiter zu entlassen, wenn das Geschäft keinen Absatz findet? Ganz einfach: man stelle einen ‚zusätzlichen Arbeiter‘ ein! Auf diese Idee muss man erst einmal kommen. Das Problem ist nur, dass ein Kapitalist, der diesem Ratschlag folgt, ganz schnell bankrottgehen würde.“[11]

Diese Argumentation hat ein ähnliches Niveau wie Otto Bauers Antwort auf Luxemburg, die sie in ihrer Antikritik in Stücke zerreißt: Für Bauer bildet das Bevölkerungswachstum einfach die neuen Märkte, die für die Akkumulation benötigt werden. Der Kapitalismus würde sicherlich heute aufblühen, wenn das Bevölkerungswachstum das Problem der Mehrwertrealisierung löste. Doch wie merkwürdig, nicht nur das Bevölkerungswachstum war in den letzten Jahrzehnten ein konstanter Faktor, auch die Krise ist in schwindelerregende Höhen „gewachsen“. Wie Frölich unterstrich, ist das Problem der Mehrwertrealisierung keine Frage der Demographie, sondern der solventen Nachfrage, der Nachfrage, die auch zahlungsfähig ist. Und da die Nachfrage der Arbeiterhaushalte nicht mehr absorbieren kann als das ursprüngliche variable Kapital, das vom Kapitalisten verauslagt wird, erweist sich die Einstellung neuer ArbeiterInnen als eine Nicht-Lösung, sobald man den Kapitalismus in seiner Gesamtheit betrachtet.

Es gibt jedoch noch eine andere Seite in Bucharins Argument, da er auch behauptet, dass die Kapitalisten selbst den zusätzlichen Markt bilden, der für die weitere Akkumulation benötigt wird, weil sie in die Produktionsmittel investieren. „Käufer der zusätzlichen Produktionsmittel sind die Kapitalisten selbst, Käufer der zusätzlichen Konsumtionsmittel die zusätzlichen Arbeiter, die von den Kapitalisten, die die Arbeitskraft dieser zusätzlichen Arbeiter kaufen, Geld erhalten“[12] Dieser Argumentationsstrang wird am meisten von jenen favorisiert, die wie Bauer behaupten, Luxemburg habe etwas zu einem Problem gemacht, das keines sei: Die Produktion und der Verkauf zusätzlicher Produktionsmittel lösten das Akkumulationsproblem. Luxemburg hat den Kern dieses Arguments bereits in ihrer Kritik an Tugan-Baranowskis Bemühungen kritisiert, der beweisen wollte, dass der Kapitalismus keinen unüberwindbaren Grenzen im Akkumulationsprozess gegenübersteht: „Außerdem findet, wie wir gesehn haben (Buch II, Abschn. III), eine beständige Zirkulation statt zwischen konstantem Kapital und konstantem Kapital (auch abgesehn von der beschleunigten Akkumulation), die insofern zunächst unabhängig ist von der individuellen Konsumtion, als sie nie in dieselbe eingeht, die aber doch durch sie definitiv begrenzt ist, indem die Produktion von konstantem Kapital nie seiner selbst willen stattfindet, sondern nur, weil mehr davon gebraucht wird in den Produktionssphären, deren Produkte in die individuelle Konsumtion eingehn.“[13] Für Luxemburg würde eine wörtliche Auslegung der Reproduktionsschemata wie Tugan-Baranowskis „nicht eine Kapitalakkumulation, sondern eine wachsende Produktion von Produktionsmitteln ohne jeden Zweck“[14] bewirken.

Bucharin war sich bewusst, dass die Produktion von Produktionsgütern in der Tat keine Lösung des Problems ist, weil er den „zusätzlichen Arbeiter“ ins Spiel bringt, der die wachsenden Warenmengen, die von den zusätzlichen Produktionsmitteln hergestellt werden, aufkaufen soll. Ja, er tadelte Tugan-Baranowski dafür, dass er nicht begriffen habe, dass „der gesamte Produktionsapparat der Gesellschaft, im Grunde genommen, nichts anders als ein Apparat zur Produktion menschlicher Konsumtionsmittel“ sei.[15] Doch er brachte dieses Argument lediglich vor, um Luxemburg zu beschuldigen, Tugan-Baranowski mit Marx zu verwechseln. Und am Ende antwortete er auf Luxemburg wie so viele andere vor ihm, indem er Marx auf irreführende Weise zitierte, was erneut zu implizieren schien, dass der Kapitalismus völlig zufrieden gestellt werden könnte, indem er seine Expansion auf die Grundlage einer endlosen Produktion von Konsumgütern stellt: „Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen, in dieser Form sprach die klassische Ökonomie den historischen Beruf der Bourgeoisperiode aus.“[16] Dies sind sicherlich Marx‘ Worte, doch Bucharins Bezugnahme auf sie ist irreführend: Marx‘ Sprache ist hier eher polemisch als exakt: Das Kapital stützt sich in der Tat auf die Akkumulation um ihrer selbst willen, d.h. auf die Akkumulation von Reichtum in ihrer historisch dominierenden Wertform; aber es kann dies nicht durch die bloße Produktion um ihrer selbst erreichen. Dies deshalb, weil es nur Waren produziert, und eine Ware realisiert keinen Profit für den Kapitalisten, wenn sie nicht verkauft wird. Er produziert nicht um seiner selbst willen, nur um die Lager zu füllen oder das, was er produziert, ins Wasser zu schmeißen (selbst wenn dies nicht selten das unerwartete Resultat seiner Unfähigkeit ist, einen Markt für seine Güter zu schaffen).

Bucharins staatskapitalistische Lösungen

Bucharins Biograph Stephen Cohen, der die oben kritisierten Kommentare Bucharins über Tugan-Baranowski zitierte, bemerkt einen weiteren grundlegenden Widerspruch in Bucharins Vorgehensweise.

„Auf den ersten Blick scheint seine unflexible Vorgehensweise gegen Tugan-Baranowskis Argument kurios zu sein. Bucharin selbst hat nach all dem des Öfteren die regulierende Kraft staatskapitalistischer Systeme betont, später sogar eine Theorie entwickelt, wonach sich unter dem ‚reinen‘ Staatskapitalismus (ohne freiem Markt) die Produktion krisenfrei weiterentwickelt, während der Konsum hinterherhinkt.“[17]

Cohen legte seine Finger in die offene Wunde von Bucharins Analyse. Er bezog sich dabei auf die folgende Passage in Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals: „Stellen wir uns einmal drei gesellschaftlich-ökonomische Formationen vor: die kollektiv-kapitalistische Gesellschaftsordnung (Staatskapitalismus), bei der die kapitalistische Klasse zu einem einzigen Trust vereinigt ist, und wir es mit einer organisierten, aber gleichzeitig vom Standpunkt der Klassen antagonistischen Wirtschaft zu tun haben; ferner die „klassische“ kapitalistische Gesellschaft, die Marx analysiert, endlich die sozialistische Gesellschaft. Verfolgen wir nun: 1. die Art des Vorgangs der erweiterten Reproduktion, also die Momente, die eine „Akkumulation“ ermöglichen. (Wir versehen das Wort Akkumulation mit Anführungszeichen, da die Bezeichnung Akkumulation ihrem Wesen nach nur kapitalistische Verhältnisse voraussetzt); 2. wie, wo und wann Krisen entstehen können.

1. Der Staatskapitalismus. Ist hier eine Akkumulation möglich? Natürlich. Es wächst das konstante Kapital, da die Konsumtion der Kapitalisten wächst. Es entstehen dauernd neue Produktionszweige, die neuen Bedürfnissen entsprechen. Es wächst die Konsumtion der Arbeiter, mögen ihr auch bestimmte Schranken gesetzt sein. Ungeachtet dieser „Unterkonsumtion“ der Massen entsteht keine Krise, da die gegenseitige Nachfrage aller Produktionszweige, wie auch die Konsumentennachfrage, sowohl der Kapitalisten als auch der Arbeiter, von vorneherein gegeben sind. (Statt einer „Anarchie der Produktion“ – ein vom Standpunkt des Kapitals rationeller Plan). Hat man sich bei den Produktionsmitteln „verrechnet“, so wandert der Überfluss auf Lager, in der folgenden Produktionsperiode aber wird eine entsprechende Korrektur vorgenommen. Hat man sich dagegen in Konsumtionsmitteln für Arbeiter „verrechnet“, so wird dieses Plus durch eine Verteilung unter die Arbeiter „verfüttert“ oder aber die entsprechende Portion des Produkts wird vernichtet. Auch im Falle eines Rechenfehlers in der Produktion von „Luxusgegenständen“ ist der Ausweg klar. Somit kann hier keinerlei Krise der Überproduktion entstehen. Der Gang der Produktion vollzieht sich im Allgemeinen glatt. Den Ansporn für die Produktion und den Produktionsplan bildet die Konsumtion der Kapitalisten. Daher besteht hier keinerlei besonders schnelle Entwicklung der Produktion (geringe Zahl von Kapitalisten).“[18]

Wie Cohen machte auch Frölich auf diese Passage und Kommentare aufmerksam.

„Aber seine (Bucharins) eigene ‚Lösung‘ wurde zur indirekten Bestätigung ihrer entscheidenden Thesen.“ Und diese Lösung ist „überraschend. Wir haben hier einen ‚Kapitalismus‘, der nicht Wirtschaftsanarchie, sondern Planwirtschaft ist, in dem es keine Konkurrenz, sondern einen allgemeinen Welttrust gibt und in dem die Kapitalisten sich nicht um die Realisierung ihres Mehrwerts zu kümmern brauchen, weil sie unverkäufliche Produkte einfach verfüttern.“[19]

Unser Artikel äußerte sich ähnlich ablehnend über die Idee, das Mehrprodukt wegzuwerfen: „Bucharin behauptet, das Problem theoretisch zu lösen, indem er es eliminiert. Das Problem der kapitalistischen Überproduktionskrisen ist die Schwierigkeit, das zu verkaufen, was produziert wird. Bucharin erzählt uns nun: Alles, was getan werden müsse, sei, ‚es umsonst zu verschleudern‘! Wenn der Kapitalismus in der Lage ist, seine Produkte gratis zu verteilen, würde er in der Tat keine größere Krise erleiden – da sein Hauptwiderspruch somit gelöst wäre. Doch solch ein Kapitalismus kann nur in der Einbildung Bucharins existieren, dem die Argumente ausgegangen sind. Die ‚kostenlose‘ Verteilung der Produktion, das heißt die Organisation der Gesellschaft in solch einer Weise, dass die Menschen direkt für sich produzieren, ist in der Tat der einzige Ausweg der Menschheit. Doch diese ‚Lösung‘ besteht  nicht in einer organisierten Form des Kapitalismus, sondern im Kommunismus.“[20]

Als er sich in den folgenden Kapiteln der „klassischen“ kapitalistischen Gesellschaft zuwendet, geht Bucharin davon aus, dass Überproduktionskrisen durchaus stattfinden können – doch seien sie lediglich Resultat zeitweiliger Disproportionalitäten zwischen den Produktionsabteilungen (eine Auffassung, die zuvor von den „klassischen“ Nationalökonomen zum Ausdruck gebracht und von Marx kritisiert wurde, wie wir in dem Artikel „Die tödlichen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft“ in der Internationalen Revue Nr. 46 aufgezeigt hatten). Schließlich widmete sich Bucharin in ein paar dürftigen Zeilen dem Sozialismus als solchen und trug das naheliegende Argument vor, dass eine Gesellschaft, die nur zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse produziert, keine Überproduktionskrise kennt. Doch was Bucharin vor allem zu interessieren schien, war der völlig durchplante Kapitalismus, wo der Staat alle Probleme der Disproportionalität oder der Fehlkalkulation aus dem Weg räumt. Mit anderen Worten: die Art von Gesellschaft, wie sie in der UdSSR Mitte der 1920er Jahre herrschte und die er bereits als Sozialismus dargestellt hatte… Allerdings war Bucharins Science-Fiction-Staatskapitalismus ein Welttrust, ein globaler Koloss ohne vorkapitalistische Überbleibsel und ohne Konflikte zwischen nationalen Kapitalien. Doch seine Vision eines Sozialismus in der UdSSR war eine ähnlich albtraumhafte Utopie, im Grunde ein in sich geschlossenes Kartell ohne innere Konkurrenz und mit einer fügsamen Bauernschaft, die teilweise und temporär außerhalb seiner ökonomischen Zuständigkeit steht.

So zieht der Artikel in der Internationalen Revue, Nr. 29, (engl., franz., span. Ausgabe) korrekterweise die Schlussfolgerung, dass Bucharins Attacke gegen Rosa Luxemburgs Wirtschaftstheorie zwei fundamental entgegengesetzte Sichtweisen des Sozialismus enthüllt. Für Luxemburg rührt der wesentliche Widerspruch in der kapitalistischen Akkumulation aus dem Widerspruch zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert, ein Widerspruch, der der Ware innewohnt – und vor allem der Ware Arbeitskraft, die das einmalige Charakteristikum hat, in der Lage zu sein, einen zusätzlichen Wert zu erzeugen, was die Quelle des kapitalistischen Profits ist, aber auch die Quelle seines Problems, ausreichend Märkte zu finden, um seinen Profit zu realisieren. Folglicherweise können dieser Widerspruch und all die Erschütterungen, die aus ihm resultieren, nur durch die Abschaffung der Lohnarbeit und der Warenproduktion überwunden werden – die wesentlichen Vorbedingungen der kommunistischen Produktionsweise.

Bucharin kritisiert dagegen Luxemburg, weil sie alles zu einfach sehe und „einen Widerspruch herausgreift“, wo es doch in Wahrheit viele gebe: der Widerspruch zwischen Produktionszweigen, zwischen Industrie und Landwirtschaft, die Anarchie des Marktes und die Konkurrenz.[21] All dies trifft zu, doch Bucharins staatskapitalistische Lösung zeigt, dass es für ihn ein fundamentales Problem mit dem Kapitalismus gibt: sein Mangel an Planung. Sobald der Staat die Aufgabe und Verteilung übernimmt, hätten wir eine krisenfreie Akkumulation.

Welchen Irrtümern über den Übergang zum Kommunismus die Arbeiterbewegung vor der Russischen Revolution auch immer aufgesessen war, ihre klarsten Elemente hatten stets argumentiert, dass der Kommunismus/Sozialismus nur auf Weltebene geschaffen werden kann, da jedes Land, jede kapitalistische Nation unvermeidlich vom Weltmarkt beherrscht wird; und dass die Befreiung der Produktivkräfte, die von der proletarischen Revolution in Gang gesetzt wird, nur dann wirksam werden kann, wenn die Tyrannei des globalen Kapitals in allen Hauptzentren gestürzt worden ist. Im Gegensatz dazu postuliert die stalinistische Vision des Sozialismus in einem Land die Akkumulation in einem geschlossenen System – etwas, das für den klassischen Kapitalismus unmöglich gewesen war und für ein staatlich vollkommen reguliertes System nicht mehr möglich war, auch wenn die schiere Größe (und der riesige landwirtschaftliche Sektor) Russlands eine autarke Entwicklungsphase zeitweilig möglich machte. Doch wenn, wie Luxemburg behauptete, der Kapitalismus als Weltordnung in den Schranken eines geschlossenen Systems nicht operieren kann, so war dies noch weniger der Fall für die einzelnen nationalen Kapitalien, und die stalinistische Autarkie in den 1930er Jahren war – gegründet auf dem fieberhaften Ausbau einer Kriegswirtschaft – in ihrem Kern eine Vorbereitung für seine unvermeidliche militärisch-imperialistische Expansion, die schließlich im imperialistischen Holocaust und den folgenden Eroberungen verwirklicht wurde.

Zwischen 1924, als Bucharin sein Buch schrieb, und 1929, dem Jahr des großen Crash, erlebte der Kapitalismus eine Phase der relativen Stabilität und in einigen Gebieten – vor allem in den USA – eines spektakulären Wachstums. Doch dies war lediglich die Ruhe vor dem Sturm der größten Wirtschaftskrise, die der Kapitalismus jemals erlebt hatte. Im nächsten Artikel dieser Serie werden wir einige Versuche der Revolutionäre betrachten, die Ursprünge und Folgen dieser Krise und vor allem ihre Bedeutung als Ausdruck des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise zu verstehen.

Gerrard


[1] „Rosa Luxemburg und die Grenzen der kapitalistischen Expansion“, Internationale Revue, Nr. 48.

[2] Siehe „1920: Bucharin und die Übergangsperiode“, Internationale Revue, Nr. 96 (engl., franz., span. Ausgabe).

[3] In seiner Biographie Bukharin and the Bolshevik Revolution, London 1974, datierte Stephen Cohen Bucharins ursprüngliche Version der Theorie auf das Jahr 1922 zurück. Siehe S. 147f.

[4] Roman Rosdolsky, Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘, Bd. 2, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1968, S. 529 (Fußnote). Wie wir in einem früheren Artikel („Rosa Luxemburg und die Grenzen der kapitalistischen Expansion“, Internationale Revue, Nr. 48) angemerkt hatten, hatte Rosdolsky seine eigene Kritik an Luxemburg, aber er blendete die von ihr formulierten Probleme nicht aus. Bezüglich Bucharins Behandlung der Reproduktionsschemata argumentiert er, dass Bucharin genauso wie Luxemburg mathematische Fehler unterlaufen seien; ja, Bucharin sehe in Marx‘ Formulierung des Problems der erweiterten Reproduktion die faktische Lösung: „Bucharin vergaß völlig, dass die erweiterte Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals nicht nur zum Wachstum von c und v, sondern auch von ἀ, d.h. zum Wachstum der individuellen Konsumtion der Kapitalisten führen muss. Dennoch blieb dieser elementare Fehler fast zwei Jahrzehnte lang unbeachtet, und Bucharin galt allgemein als der autoritativste Verteidiger der Marx-‚Orthodoxie‘ gegen Rosa Luxemburgs Angriffe ‚auf jenen Teil der Marxschen Analyse, worin uns der unvergleichliche Meister das vollkommenste Produkt seines Genius überliefert hatte‘ (Bucharin, Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals)… - Dessenungeachtet ist Bucharins allgemeine Gleichgewichtsformel sehr nützlich, obwohl auch er (wie die meisten Kritiker Rosa Luxemburgs) die bloße Formulierung des Problems für dessen Lösung versieht.“ (Zur Entstehungsgeschichte…, S. 529)

[5] Der Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals, Verlag für Literatur und Politik, Wien, Berlin,  S. 103.

[6] ebenda, S. 108.

[7] Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 31, „Schutzzoll und Akkumulation“, Dietz-Verlag Berlin 1975, S. 391.

[8] Bucharin, s.o., S. 116-117.

[9] Paul Frölich, Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat, Dietz-Verlag Berlin, 1990, S. 210.

[10] Bucharin, s.o., S. 20.

[11] Internationale Revue, Nr. 29, engl., franz., span. Ausgabe, 1982

[12] Bucharin, s.o., S. 31.

[13] Kapital, Bd. III, Kap. 18, S. 289, zitiert bei Luxemburg, ob. cit., Kap. 25, S. 295f.

[14] Luxemburg, s.o., S. 285.

[15] Bucharin, s.o., S. 62.

[16] Marx, Kapital, Bd. 1, zitiert nach Bucharin, S. 34.

[17] Cohen, S. 174. Cohen verwendet den Begriff „auf den ersten Blick“, weil er anschließend argumentiert, dass das, was Bucharin dabei vorschwebte, weniger die alte Kontroverse mit Tugan war, sondern vielmehr die neue Kontroverse in der russischen Partei, zwischen den „Über-Industrialisierern“ (anfangs mit Preobraschenskij und der Linksopposition, später mit Stalin), die dazu neigten, sich auf die Zwangsakkumulation der Produktionsmittel im staatlichen Sektor zu konzentrieren, und seiner eigenen Ansicht, die – in Anbetracht seiner Ablehnung der Bewertung der Wichtigkeit nicht-kapitalistischer Nachfrage durch Rosa Luxemburg – ironischerweise weiterhin die Notwendigkeit betont, die Expansion der Staatsindustrie auf die allmähliche Weiterentwicklung des bäuerlichen Marktes zu stützen, statt auf, wie die Über-Industrialisierer schockierenderweise behaupten, eine direkte Ausbeutung der Bauern und auf die Ausplünderung ihres Reichtums.

[18] Bucharin, s.o., S. 80-81.

[19] Paul Frölich, s.o., S. 209.

[20] Internationale Revue, Nr. 29. engl., franz., span. Ausgabe, 1982

[21] Es ist bemerkenswert, dass auch Henryk Grossmann Bucharin darin kritisierte, dass er vage über Widersprüche spreche, ohne die wesentlichen zu lokalisieren, die zum Zusammenbruch des Systems führen. Siehe Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Archiv Sozialistischer Literatur 8, Verlag Neue Kritik Frankfurt, S. 44-48.

Editorial: Der Europäische Gipfel vom Juni 2012 : Hinter den Illusionen, ein neuer Schritt in die Katastrophe

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Am Morgen des 29. Juni 2012 ergriff im Handumdrehen eine wohlige Euphorie die Politiker und Führer der Euro-Zone. Die bürgerlichen Medien und Ökonomen zogen mit. Der jüngste Europäische Gipfel war anscheinend daran, historische Endscheide zu fällen. Solche Entscheide wurden in den letzten Jahren zuhauf gefällt, doch alle sind im Sand verlaufen. Aber gemäß zahlreichen Kommentatoren soll diese Zeit nun vorüber sein. Die herrschende Klasse der Euro-Zone, für einmal anscheinend einig und solidarisch, soll die notwendigen Maßnahmen beschlossen haben, um aus dem Tunnel der Krise herauszukommen. Man fühlt sich wie Alice im Wunderland. Bei genauerer Betrachtung aber tauchen nach Auflösung des morgendlichen Nebels die wahren Fragen auf: Was ist genau der Inhalt dieses Gipfels? Was ist seine wirkliche Bedeutung? Kann er wirklich eine dauerhafte Lösung der Krise für die Euro-Zone oder gar für die Weltwirtschaft bringen?

Der letzte europäische Gipfel: Entscheidungen als Täuschungsmanöver

Der europäische Gipfel vom 29. Juni 2012 wurde als „historisch“ präsentiert, als eine Wende bezüglich der Methoden, wie die Herrschenden die Euro-Krise in den Griff bekommen wollen. Einerseits auf der Ebene der Form, denn dieser Gipfel war zum ersten Mal - laut den Kommentatoren - nicht geprägt durch alleinige Entscheidungen von „Merkozy“, dem Tandem Merkel-Sarkozy (in Wirklichkeit dominierte immer die Meinung Merkels über Sarkozy)[1], sondern mit Einbezug zweier anderer wichtiger Länder der Euro-Zone, Spaniens und Italiens, und Entscheiden, die auch vom neuen französischen Präsidenten François Hollande gestützt wurden. Darüber hinaus sollte dieser Gipfel auch einen neuen Aspekt in die Wirtschaftspolitik und das Budget der Euro-Zone einbringen: Nach Jahren der alleinigen und immer härteren Sparpolitik durch die den Euro bestimmenden Instanzen habe man nun eine Kritik daran ernst genommen (die vor allem von linken Ökonomen und Politikern formuliert wird), derzufolge ohne Wiederankurbelung der wirtschaftlichen Aktivitäten die überschuldeten Staaten nicht in der Lage seien, ihre finanziellen Reserven für die Bezahlung ihrer Schulden zu bilden.

Aus diesem Grund hat der „Präsident der Linken“ François Hollande, der zu einem „Pakt für den Aufschwung und die Beschäftigung“ aufrief, die Bühne genutzt - wie ein Theaterschauspieler stolz auf seine Leistungen und Ergebnisse. Er wurde in seinem Höhenflug von zwei rechten Politikern begleitet, Monti, dem italienischen Regierungschef, und dem spanischen Pendant Rajoy. Auch sie frohlockten, dass sich ihre Politik bezahlt mache und ihre Länder entlaste. Die Wirklichkeit ist aber etwas gravierender als der Triumpf, dem sich diese Herren hingaben. Aber die gute Laune wollten sie sich nicht verderben lassen:  „Man kann hoffen, dass der Beginn des Endes des Verlassens des Tunnelausgangs der Krise der Eurozone sichtbar wird!“ Diese gewundene Erklärung stammt vom italienischen Regierungschef!

Bevor wir diesen beinahe strahlenden Schleier lüften, lohnt es sich, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Erinnern wir uns: In den vergangenen 6 Monaten ist die Euro-Zone zwei Mal mit dem drohenden Bankrott ihrer Banken konfrontiert gewesen. Das erste Mal führte zur so genannten LTRO (Long Term Refinancing Operation): Die Europäische Zentralbank EZB musste ihnen ca. 1000 Milliarden Euro zustecken. Tatsächlich waren ihnen damals schon 500 Milliarden zugeflossen. Einige Monate später baten dieselben Banken erneut um Hilfe! Erinnern wir uns hier einer kleinen eigenartigen Geschichte, die zeigt, wie es um die Finanzen Europas steht. Zu Beginn des Jahres 2012 explodierten die Staatsschulden. Die Finanzmärkte ließen die Zinsen, zu denen sie bereit waren, den Staaten Geld zur Verfügung zu stellen, ansteigen. Einige Länder wie Spanien durften kaum mehr neue Kredite auf den Finanzmärkten aufnehmen. Denn das war viel zu teuer. Unterdessen gaben die spanischen Banken den Geist auf. Was tun? Was tun in Italien, Portugal und anderswo? Eine geniale Idee kursierte nun in den großen Köpfen der EZB: Wir geben den Banken gewaltige Darlehen, die sie dann wiederum zur Finanzierung der Staatschulden ihres eigenen Landes und der „reale“ Wirtschaft in Form von Investitions- oder Konsumkrediten verwenden können. Das hat im Herbst 2011 stattgefunden. Die EZB öffnete den Geldhahn wie beim Freibier für alle. Nun sehen wir das Resultat: Anfang Juni das allgemeine große Erwachen mit einer kaputten Leber. Die Banken haben der „realen“ Wirtschaft keine Kredite gegeben. Sie haben das erhaltene Geld zur Seite gelegt und es der EZB selber wieder mit etwas Zinsen ausgeliehen. Was haben sie der EZB im Gegenzug gegeben? Die Staatsobligationen, die sie mit dem Geld eben dieser Zentralbank selber gekauft hatten. Ein Taschenspielertrick, der schnell in seiner Lächerlichkeit durchschaut ist!

Im Juni 2012 schrien die „Wirtschafts-Wunderheiler“ erneut laut auf: Unsere Patienten sind am sterben! Es brauche sofortige und radikale Maßnahmen von Seiten der Krankenhäuser der gesamten Euro-Zone. Ende Juni, zum Zeitpunkt des Europäischen Gipfels, schien nach einer Verhandlungsnacht eine „historische“ Übereinkunft getroffen. So sahen die Beschlüsse aus:

-  Die finanziellen Stabilisierungsfonds (EFSF und ESM[2]) sollen direkt den Banken finanziell aushelfen können – nach Einholung des Einverständnisses der EZB – und Staatsanleihetitel aufkaufen dürfen, um den Zinssatz, zu dem die Staaten noch Geld borgen können, in Schach zu halten;

-  Europa vertraut der EZB die Überwachung des Bankensystems der Euro-Zone an;

-  eine Ausweitung der Regelung der Defizitkontrolle der Staaten in dieser Zone wird angenommen;

-  und schlussendlich, zur großen Zufriedenheit der linken Ökonomen und Politiker, wird ein Plan über 100 Milliarden Euro zur Wiederbelebung präsentiert.

Während einiger Tage wurde darüber fleißig diskutiert. Die Euro-Zone habe großartige Entscheide gefällt. Wenn Deutschland es geschafft hat, ihre „Goldene Regel“ gegenüber der öffentlichen Verschuldung aufrecht zu erhalten (sie schreibt den Staaten vor, in ihrem Gesetz die Eliminierung der Budgetdefizite zu verankern), so hat Deutschland andererseits akzeptiert, in die Richtung der Zusammenführung und Monetarisierung dieser Schulden zu gehen, das heißt, sie durch das Drucken von neuem Geld zu beseitigen.  

Wie immer bei solchen Abkommen versteckt sich die Wirklichkeit hinter dem Zeitplan und in der Art und Weise, wie sie umgesetzt werden. Seit diesem schönen Morgen des 29. Juni sticht eines ins Auge. Eine entscheidende Frage scheint übergangen worden zu sein – die der finanziellen Mittel und ihrer Quellen. Alle gingen davon aus, dass am Ende Deutschland bezahlen würde, denn es habe ja schließlich die Mittel dazu! Und während des Monats Juli – welche Überraschung – wurde alles schon wieder in Frage gestellt. Mit juristischen Manövern wurde die Umsetzung des Abkommens auf frühestens September verschoben. Es gibt tatsächlich ein Problem. Am 16. Juli wurde die Situation für Deutschland unerträglich. Man bürdete ihm alle versteckten Garantien und Kreditverpflichtungen auf. Das Geradestehen Deutschlands für seine gestrandeten Nachbarn türmte sich auf 1500 Milliarden Euro auf. Das Bruttoinnlandprodukt Deutschlands beträgt 2650 Milliarden Euro, und dies vor Berücksichtigung des Rückgangs der Aktivitäten, der vor wenigen Monaten eingesetzt hat. Es geht also um eine gigantische Summe, um mehr als die Hälfte des BIP. Die letzten Zahlen über die Schulden in der Euro-Zone betragen um die 8000 Milliarden Euro, von denen ein großer Teil so genannt „toxische“ Aktiva sind (Schuldversprechen, die nie eingelöst werden). Es ist nicht schwer zu verstehen, dass Deutschland ein derartiges Niveau der Verschuldung nicht tragen kann. Deutschland ist angesichts dieser Schuldenmauer nicht einmal in der Lage, auf die Dauer gegenüber den Finanzmärkten die Glaubwürdigkeit seiner Versprechen zu wahren. Die Realität hat es gezeigt. Sie drückt sich in dem Paradox aus, dessen Geheimnis in der Ökonomie der Verzweiflung liegt. Deutschland platziert seine kurz- und mittelfristigen Schulden mit Negativzinsen. Die Käufer dieser Schulden akzeptieren, einen nur lächerlichen Zins zu erhalten und wegen der Entwertung des Geldes durch die steigende Inflation einen Teil des Kapitals zu verlieren. Die Staatsschuld Deutschlands scheint ein Zufluchtsort zu sein, die allen Erschütterungen widersteht, doch gleichzeitig sind die Preise der von den Käufern abgeschlossenen Versicherungen, die diese Schuldtitel absichern sollen, auf das Niveau von Griechenland angestiegen! Schlussendlich bleibt dieser Zufluchtsort sehr ausgesetzt! Die Märkte wissen genau, dass Deutschland selbst zahlungsunfähig wird, wenn es weiterhin die Schulden der Euro-Zone finanziert. Und aus diesem Grund versucht sich jeder dieser Gläubiger für den Fall des brutalen Absturzes abzusichern.

Es bleibt also nur noch die Möglichkeit der letzten Waffe: der Aufruf an die Europäische Zentralbank, dasselbe zu tun wie Großbritannien, Japan oder die USA: „Druckt neue Banknoten, ohne auf den Wert zu achten, den man dagegen eintauscht.“ Die Zentralbanken können sich problemlos in „faule“ Banken verwandeln. das ist nicht das Problem. Das Problem besteht darin, zu verhindern, dass heute alles zum Stillstand kommt! Wir werden sehen was morgen, im nächsten Monat oder nächstes Jahr passiert. Das ist der Fortschritt des letzten Europäischen Gipfels, das Wunder des Föderalismus und seiner Regierung. Doch die EZB hört auf diesem Ohr nichts. Diese Zentralbank hat sicher nicht dieselbe Autonomie wie andere Zentralbanken auf der Welt. Sie ist mit den anderen Zentralbanken der Länder, welche die Euro-Zone bilden, verknüpft. Doch liegt das Problem wirklich dort? Wenn die EZB gleich handeln könnte wie die Zentralbanken von Großbritannien oder den USA, wäre dann die Zahlungsunfähigkeit des Bankensystems der Euro-Zone gelöst? Was geschieht im selben Moment auf dem Niveau der Weltwirtschaft, z.B. in den USA?

Die Zentralbanken sind geschwächter denn je

Während sich über der amerikanischen Wirtschaft schwere Gewitterwolken zusammenziehen, stellt sich die Frage: Weshalb haben die USA nicht schon einen dritten Rettungsplan der Monetarisierung ihrer Schulden zur Überwindung ihres Engpasses auf die Beine gestellt? Zur Erinnerung: Der Chef der amerikanischen Zentralbank Ben Bernanke trägt den Übernamen „Mister Helikopter“. Es gab in den USA in den letzten 4 Jahren schon zwei Programme zur massiven Erhöhung der Geldmenge, das sogenannte „Quantitative Easing“. Bernanke schien unablässig über die USA zu fliegen und alles, was ihm im Weg stand, mit einer abgeworfenen Geldschwemme wegzuspülen. Eine Flutwelle der Liquidität, an der sich jeder bis zum Rausch betrinken sollte! Aber leider geht diese Rechnung so nicht auf. Seit einigen Monaten ist eine erneute Erhöhung der Geldmenge in den USA notwendig. Doch sie lässt auf sich warten. Denn ein „Quantitative Easing Nummer 3“ ist unabdingbar und lebensnotwendig, aber unmöglich zugleich so wie in Europa eine Vergemeinschaftung und allgemeine Monetarisierung der Schuld der Euro-Zone. Der Kapitalismus ist in eine Sackgasse eingeschwenkt! Selbst die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt kann nicht aus dem Nichts Geld bis ins Unendliche auf den Markt werfen. Jede Schuld muss finanziert werden, früher oder später. Die amerikanische Zentralbank hat wie alle anderen Zentralbanken zwei Quellen der Finanzierung, die miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Die erste Quelle besteht aus Sparguthaben, aus Geld, das im Inland oder im Ausland verfügbar ist, sei es zu einem vernünftigen Zins, sei es durch steuerliche Massnahmen. Die zweite Quelle ist das Drucken von neuem Geld auf der Basis von Schuldscheinen. Dies vor allem durch den Verkauf von sogenannten Staatsanleihen. Der Wert dieser Schuldtitel ist in letzter Instanz durch die Entwicklung der Finanzmärkte bestimmt. Ein gebrauchtes Fahrzeug ist zu verkaufen – den Preis hat der Verkäufer auf die Windschutzscheibe geschrieben. Die potentiellen Käufer untersuchen den Zustand des Fahrzeugs. Es werden Preisangebote gemacht, und der Verkäufer wählt zweifellos das Beste. Wenn der Zustand des Fahrzeugs sehr schlecht ist, sind die Kaufangebote lächerlich niedrig, und das Fahrzeug bleibt auf der Straße stehen und verrottet. Dieses kleine Beispiel veranschaulicht die Gefahr einer erneuten Erhöhung der Geldmenge in den USA und anderswo. Seit vier Jahren wurden Milliarden von Dollars in die amerikanische Wirtschaft gepumpt, ohne den Effekt irgendeiner dauerhaften Erholung. Noch schlimmer: Die wirtschaftliche Depression hat sich unter der Oberfläche ausgebreitet. Hier liegt der Kern des Problems. Die Bewertung der realen Staatsverschuldung hängt ab vom Zustand der Wirtschaft des Landes – wie der Wert des Fahrzeugs in unserem Beispiel an seinem Zustand gemessen wird. Wenn eine Zentralbank (sei es in den USA, in Japan oder in der Eurozone) Geldnoten druck, um Obligationen oder andere Anerkennungen von Schulden zu kaufen, die nie zurückbezahlt werden können (weil die Schuldner zahlungsunfähig geworden sind), tut sie nichts anderes, als den Markt mit Papierscheinen zu überschwemmen, die keinem realen Wert entsprechen, da ihnen kein tatsächliches Sparvermögen, kein neu produzierter Reichtum gegenüber steht. Mit anderen Worten handeln sie als Falschmünzer.

Kurs auf eine allgemeine Rezession

Eine solche Aussage erschein oft als etwas übertrieben und waghalsig! Die Zeitschrift Global Europe Anticipation schreibt im Januar 2012: „Um einen Dollar Wachstum mehr zu erzeugen, muss die USA jetzt rund 8 Dollar leihen. Oder umgekehrt, wenn man will, jeder geliehene Dollar erzeugt nicht mehr als 0,12 Dollar Wachstum. Dies zeigt die Absurdität der langfristigen politischen Maßnahmen der FED und des US-Haushaltes in den letzten Jahren. Es ist wie ein Krieg, in dem man immer mehr Soldaten töten muss, um immer weniger Terrain zu erobern.“ Die Verhältnisse sind zweifellos nicht in allen Ländern der Erde dieselben. Doch die allgemeine Tendenz ist überall gleich. Gerade deshalb sind die 100 Milliarden Euro, die der Gipfel vom 29. Juni zur Finanzierung des Wachstums vorsah, nicht viel mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein. Der vom Kapitalismus produzierte Reichtum wird in immer größerem Masse zerstört. Die realisierten Profite sind verglichen mit dem Anwachsen der Schuldenmauer lächerlich. Eine beliebte Filmkomödie trägt den Titel Es gibt keinen Piloten mehr im Flugzeug. Was die Weltwirtschaft angeht, müsste man hinzufügen: Es gibt auch keinen Motor mehr. Das Flugzeug und seine Passagiere sind so auf verlorenem Posten.

Dieser desaströsen Dynamik der höchst entwickelten Länder halten einige Stimmen, um die Tiefe der Krise kleinzureden, die Beispiele von China und der „Schwellenländer“ entgegen. Noch vor wenigen Monaten wurde China als die zukünftige Lokomotive der Weltwirtschaft verkauft, zusammen mit Indien und Brasilien, welche in dieselbe Richtung gehen würden. Doch wie sieht die Realität aus? Diese „Motoren“ haben zu stottern begonnen. China bezifferte am Freitag, den 13. Juli offiziell seine Wachstumsrate auf 7,6%, was seit dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise die tiefste Wachstumsrate Chinas ist. Die Zeit der zweistelligen Wachstumsraten ist vorüber. Und auch bei 7% interessieren sie nicht einmal mehr die Spezialisten. Jeder weiss, dass sie falsch sind. Die gewarnten Leute wenden sich lieber anderen Zahlen zu, die sie für glaubwürdiger halten. Am selben Tag wurde in einem auf die Ökonomie spezialisierten Radio (BFM) gesagt: „Wenn man die Entwicklung des Stromverbrauchs betrachtet, kann man daraus ableiten, dass das chinesische Wachstum in Wirklichkeit zwischen 2-3% liegt. Also die Hälfte der offiziellen Zahlen.“ Zu Beginn dieses Sommers wurden alle Wachstumszahlen gesenkt. Sie verringern sich überall. Der Motor dreht sich kaum mehr und droht stillzustehen. Das Flugzeug droht abzustürzen und mit ihm die Weltwirtschaft.

Der Kapitalismus steht vor großen Erschütterungen

Durch die weltweiten Rezession und die finanzielle Situation der Banken und Staatskassen spitzen sich die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse zu. Eine Wiederbelebung mittels der klassischen keynesianischen Politik (welche die Verschuldung des Staates beinhaltet) kann, wie dies deutlich geworden ist, nicht mehr greifen. Im Rahmen dieser Rezession kann sich das von den Staaten eingezogene Geld nur noch verringern, und trotz genereller Sparmaßnahmen können die öffentlichen Schulden nur noch explodieren wie in Griechenland und jetzt in Spanien. Die Frage, welche der herrschenden Klasse im Nacken sitzt ist: „Soll das leichtfertige Risiko einer erneuten Schuldenerhöhung eingegangen werden?“ In immer größerem Umfang fließt das Geld nicht mehr in die Produktion, in Investitionen oder in den Konsum. Dies ist nicht mehr rentabel. Doch die Zinsen und Rückzahlungsfristen für Schulden bleiben weiter. Es ist für das Kapital notwendig, neues Geld zu drucken, zumindest als Attrappe, um die generelle Zahlungsunfähigkeit hinauszuschieben. Bernanke, der Chef der amerikanischen Zentralbank, und sein Pendant Mario Draghi in der Euro-Zone sind wie alle ihre Berufskollegen auf dieser Erde Geiseln des Schiefstands der kapitalistischen Ökonomie. Entweder tun sie nichts, und dann werden sich Tiefschläge und Zahlungsunfähigkeiten überschlagen. Oder sie pumpen erneut massiv Geld in Umlauf, und dann wird der Wert des Geldes immer fragiler. Eines aber ist sicher, auch wenn die herrschende Klasse diese Gefahren sieht, so ist sie darüber hoffnungslos uneinig. Sie kann nur noch in absoluten Notsituationen und in letzter Minute mit immer unwirksameren Maßnahmen handeln. Die Krise, die wir seit 2008 erleben, ist noch nicht zu Ende.

Tino, 30.7.2012


[1] Man muss festhalten, dass seit dem Zeitpunkt, als dieser Artikel geschrieben worden ist, die französische Regierung zu einer engeren Zusammenarbeit mit der deutschen Bundeskanzlerin zurückgefunden hat. Vielleicht muss man bald von „Merkhollande“ sprechen. Auf jeden Fall haben der neue Präsident Hollande und die Führung der Sozialistischen Partei im September 2012 die Werbetrommel gerührt, um die Parlamentarier ihrer Mehrheit dazu zu bringen, für den Stabilitätspakt (die „Goldene Regel“) zu stimmen, den der Präsidentschaftskandidat Hollande zuvor noch versprochen hatte, neu zu verhandeln. Wie ein altes gaullistisches Schlachtross, Charles Pasqua, mit dem ihm eigenen Zynismus zu sagen pflegte: „Die Wahlversprechen verpflichten nur diejenigen, die dran glauben.“  

[2] Europäische Finanz-Stabilitäts-Fonds und Europäische Stabilitäts-Mechanismen

Geschichte der Arbeiterbewegung: Syndikalismus in Deutschland, Teil 4

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Die syndikalistische Bewegung in der Deutschen Revolution 1918/19  

Der vorangehende Artikel hat einen Blick auf die Bemühungen der revolutionären syndikalistischen Strömung geworfen, auch in Deutschland eine internationalistische Position gegen den Weltkrieg von 1914-18 zu verteidigen. Die Freie Vereinigung Deutscher Gewerkschaften (FVDG) überlebte den Krieg mit nur einigen Hundert Mitgliedern in der Illegalität und war wie andere Revolutionäre durch die Bedingungen der brutalen Repression während des Krieges meist zum Schweigen verdammt. Ende 1918 überstürzten sich die Ereignisse in Deutschland. Der Funke der Russischen Revolution vom Oktober 1917 war mit dem Ausbruch der Kämpfe vom November 1918 endlich auch auf das Proletariat in Deutschland übergesprungen.

Die Reorganisierung der FVDG 1918

In der ersten Novemberwoche 1918 zwang der Aufstand der Matrosen in Kiel den deutschen Militarismus in die Knie. Am 11. November unterzeichnete Deutschland den Waffenstillstand. „Die kaiserliche Regierung wurde gestürzt, nicht mit parlamentarisch-gesetzlichen Mitteln, sondern mit Hilfe der direkten Aktion, nicht mit dem Stimmzettel, sondern durch Waffengewalt durch streikende Arbeiter und meuternde Soldaten. Ohne auf den Auftrag weiser Führer zu warten, bildeten sich spontan allerorten Arbeiter- und Soldatenräte, die sofort daran gingen, die alten Gewalten beiseite zu schieben. Alle Machte den Arbeiter- und Soldatenräten! Das wurde jetzt Parole.“[1]

Mit dem Ausbruch der revolutionären Welle begann für die syndikalistische Bewegung in Deutschland eine turbulente Epoche, mit einem rasanten Zulauf an Mitgliedern. Sie wuchs von den Tagen der Novemberrevolution 1918 bis Mitte 1919 auf ca. 60.000 Mitglieder an und zählte Ende 1919 über 111.000 Mitglieder. Die breite politische Radikalisierung der Arbeiterklasse gegen Ende des Krieges trieb viele Arbeiter, die sich von den großen sozialdemokratischen Gewerkschaften wegen deren offen chauvinistischen Politik gelöst hatten, in die Arme der syndikalistischen Bewegung. Sie war unbestreitbar ein Sammelbecken aufrechter und kämpferischer Arbeiter und gerade deshalb auch sehr heterogen.         

Mit der Herausgabe der neuen Zeitschrift Der Syndikalist am 14. Dezember 1918 meldete sich die FVDG wieder zu Wort: „Unsere Presse wurde in den ersten Augusttagen verboten, führende Genossen in ‚Schutzhaft‘ gesteckt, den Vereinen und Agitatoren jede öffentliche Tätigkeit unmöglich gemacht. Und dennoch: die Kampfmittel des Syndikalismus werden heute in allen Ecken des Deutschen Reiches angewandt, instinktiv fühlt die Masse, dass die Zeit des Wünschens und Forderns vorbei, dass die Zeit des Nehmens begonnen hat.“[2] Am 26./27. Dezember organisierte Fritz Kater in Berlin eine Konferenz, auf der 43 Lokalgewerkschaften der FVDG anwesend waren und die ihre eigentliche Reorganisation nach der Illegalität in der Kriegszeit darstellte.

Den größten Mitgliederzulauf zur FVDG verzeichnete die Industrie- und Bergbauregion des Ruhrgebiets. Der Einfluss der Syndikalisten war besonders stark im Arbeiter- und Soldatenrat in Mühlheim und zwang die sozialdemokratischen Gewerkschaften am 13. Dezember 1918 zum Austritt aus dem Rat, weil dieser ihnen die Interessenvertretung der Arbeiter klar versagt hatte und sie stattdessen selbst in die Hand nahm. Ausgehend von den Zechen der Hamborner Region kam es von November 1918 bis Februar 1919 zu massiven Streiks der Bergarbeiter, die von der syndikalistischen Bewegung angeführt wurden.[3]           

Arbeiterräte oder Gewerkschaften?

Schon die Frage des Krieges von 1914 hatte die syndikalistische Strömung vor eine historische Prüfung gestellt: eine internationalistische Haltung gegen den Krieg zu vertreten oder sich wie die große Mehrheit der Gewerkschaften hinter die Kriegsziele der herrschenden Klasse zu stellen. Sie bestand sie mit Bravour. Der Ausbruch der Revolution 1918 brachte nun die Herausforderung einer anderen Art mit sich: Wie soll sich die Arbeiterklasse organisieren, um die Bourgeoisie zu entmachten und zur Revolution zu schreiten?

Waren die Arbeiterräte nun eine Alternative zur alten gewerkschaftlichen Organisationsform, die damit obsolet wurde? Oder waren Räte und Gewerkschaften eine organische Einheit?

Die Jahre seit der Formierung ihrer Bewegung - ab 1892 zunächst als „Lokalisten“ und schließlich nach ihrer formellen Gründung 1901 als FVDG - waren nicht von direkten revolutionären Erhebungen geprägt. Die Frage, ob die gewerkschaftliche Form überholt war, hatte sich historisch noch nicht konkret gestellt. Die FVDG formte ihre Tradition vornehmlich aus Kämpfen um ökonomische Forderungen, aus denen auch die Gewerkschaftsbewegung als Ganzes historisch hervorgegangen war. Zwar hatten die ersten Massenstreiks in anderen Ländern in den 1890er Jahren der alten, permanent bestehenden gewerkschaftlichen Organisationsform, in embryonaler Form und auch nur sehr punktuell eine organisatorische Alternative entgegengehalten. Die Massenstreiks überschritten mit ihrer Spontaneität, ihrer rasanten Ausbreitung und der Aufnahme von politischen Forderungen die Schemata und den Charakter der von oben organisierten, streng ökonomischen Kampfweise der Gewerkschaften. 

Doch im Gegensatz zu Russland, wo schon 1905 die ersten Arbeiterräte entstanden, blieb in Deutschland der Rätegedanke bis 1918 noch abstrakt, da die Situation dazu noch nicht reif war. Dies änderte sich im November 1918 schlagartig. Auch in Deutschland hatte das Proletariat nun Arbeiterräte hervorgebracht – als Ausdruck der revolutionären Situation,  die mittlerweile auch in Deutschland eingetreten war.

Die FVDG verstand sich bezüglich ihrer Organisationsform während des kurzen, aber begeisternden „Rätewinters“ 1918/19 in Deutschland zweifellos als Gewerkschaft. Als Gewerkschaft, die in ihren Augen mit voller Berechtigung gerade in dieser Form wieder auf die Bühne tritt. Andererseits reagierte die FVDG mit offener Begeisterung auf das Novum der Arbeiterräte.

Das revolutionäre Herz der Mehrheit der FVDG-Mitglieder schlug für die Arbeiterräte, und so forderte Der Syndikalist Nr. 2 vom 21. Dezember 1918 klar und deutlich: „Alle Macht den revolutionären Arbeiter- und Soldatenräten!“. Der theoretische Verstand, zumindest in ihrer Presse, hinkte der proletarischen Intuition oft hinterher. Als wäre trotz des Auftauchens der Arbeiterräte nicht viel Neues auf dem Planeten geschehen, schrieb Der Syndikalist, Nr. 4, die FVDG sei die einzige Arbeiterorganisation, „deren Vertreter und Organe nicht umzulernen brauchten“ – ein Ausdruck, der den stolzen Geist der Reorganisierungs-Konferenz der FVDG vom Dezember 1918 zusammenfasste und in der syndikalistischen Strömung in Deutschland zum geflügelten Wort wurde. Es zeigte, dass sie sich als reine Gewerkschaft genügte. Doch für die Arbeiterbewegung war eine Zeit angebrochen, in der es sehr viel umzulernen galt, gerade bezüglich ihrer Organisationsformen.

Die FVDG neigte dazu, bei der Erklärung der beschämenden Politik der großen Gewerkschaften, den Krieg zu unterstützen und sich gegen die Arbeiterräte zu wenden, sich mit einer Erklärung zufrieden zu geben, die lediglich die halbe Wahrheit traf, die andere Hälfte aber ausblendete. Demnach sei allein die „sozialdemokratische Erziehung“ das Problem. Wohl wegen der eigenen internationalistischen Standhaftigkeit während der Kriegsjahre wurde die Frage übersehen, ob die gewerkschaftliche Form den Anforderungen des Kampfes gegen den Krieg und für die Revolution noch ausreicht.

Zweifellos waren die FVDG und ihre Nachfolgeorganisation FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschlands) revolutionäre Organisationen mit gewerkschaftlicher Vergangenheit. Bestätigte aber gerade die „Ausnahme“ der FVDG nicht die Regel, wonach Gewerkschaften historisch ausgedient haben? Für die Mehrheit der Syndikalisten war der Stolz auf ihre Standhaftigkeit zwischen 1914-18 Grund genug, sich am alten gewerkschaftlichen Zopf festzuklammern. Sie schreckten davor zurück zu realisieren, dass gerade ihre Organisation von den  Eigenschaften lebte, die auch die Arbeiterräte prägten: die Spontaneität, der Drang nach Ausdehnung und der revolutionäre Geist - was weit über die Tradition der Gewerkschaft hinausging.                     

In den Publikationen der FVDG aus dem Jahr 1919 sind kaum Ansätze erkennbar, den grundlegenden Widerspruch zwischen der gewerkschaftlichen Tradition und den Arbeiterräten als Instrumente der Revolution zu thematisieren. Im Gegenteil, sie betrachteten die „revolutionären Gewerkschaften“ als Basis der Rätebewegung. „Revolutionäre Gewerkschaften haben die Expropriateure zu expropriieren (…) Arbeiter- oder Betriebsräte müssen die sozialistische Leitung der Produktion übernehmen. Die Macht den Arbeiterräten, die Arbeitsmittel und die erzeugten Güter der Allgemeinheit. Das ist das Ziel der Arbeiterrevolution: Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung ist der Weg dahin.“[4]

Doch war die revolutionäre Rätebewegung in Deutschland tatsächlich durch die Gewerkschaftsbewegung  entstanden? „Es waren Arbeiter, die sich zu ‚Fabrikkomitees‘ zusammengeschlossen hatten, die wirkten, wie die Fabrikkomitees der Petersburger Großbetriebe im Jahre 1905, ohne deren Tätigkeit gekannt zu haben. Der politische Kampf im Juli 1916 konnte nicht mit Hilfe der Parteien und Gewerkschaften geführt werden. Die Führer dieser Organisationen waren Gegner eines solchen Kampfes; sie haben auch nach dem Kampf dazu beigetragen, die Leiter dieses politischen Streiks der Militärbehörde ans Messer zu liefern. Diese ‚Fabrikkomitees‘, die Bezeichnung ist nicht ganz zutreffend, kann man als Vorboten der heutigen revolutionären Arbeiterräte in Deutschland bezeichnen. (…) Diese Kämpfe wurden nicht getragen und geführt von den bestehenden Partei- und Gewerkschaftsorganisationen. Hier zeigten sich die Ansätze einer dritten Organisation, die der Arbeiterräte.“[5] So beschreibt Richard Müller, Mitglied der Revolutionären Obleute den „Weg dahin“.           

Mit ihrer Weigerung, die gewerkschaftliche Organisationsform zu hinterfragen, standen die Syndikalisten der FVDG nicht allein. Es war damals für die Arbeiterklasse noch nicht möglich, umfassend und in voller Klarheit alle Schlussfolgerungen, die die neu angebrochene „Periode der Kriege und Revolutionen“ beinhaltete, zu ziehen. Auch Richard Müller machte später, als die Arbeiterräte entmachtet waren, wieder einen Schritt zurück und schrieb: „Haben wir aber die Notwendigkeit des täglichen Kleinkampfes erkannt – und niemand kann das bestreiten – dann müssen wir auch die Notwendigkeit der Erhaltung derjenigen Organisationen anerkennen, die diesen Kampf zu führen hat, und das sind die Gewerkschaften. (…) Haben wir nun die Notwendigkeit der bestehenden Gewerkschaften erkannt (…) so müssen wir weiter prüfen, ob die Gewerkschaften innerhalb des Rätesystems einen Platz finden können. Diese Frage ist für Zeit des Aufbaues des Rätesystems unbedingt mit Ja zu beantworten.“[6]

Die sozialdemokratischen Gewerkschaften hatten gegenüber den breiten Arbeitermassen ihr Gesicht verloren und es wuchsen unterschwellig mehr und mehr Zweifel, ob solche Organisationen überhaupt noch die Interessen der Arbeiterklasse vertreten können. In der Logik der FVDG löste sich das Dilemma des historischen Niedergangs der alten gewerkschaftlichen Form in der Perspektive einer „revolutionären“ Gewerkschaft auf.

In der damals angebrochenen Epoche der Dekadenz des Kapitalismus und damit der Unmöglichkeit eines Kampfes um Reformen, in der der Staatskapitalismus permanente Massenorganisationen der Arbeiterklasse entweder in den Staat einbinden (wie generell mit den sozialdemokratischen Organisationen geschehen - aber auch mit syndikalistischen Gewerkschaften wie der CGT in Frankreich) oder zerschlagen muss (schlussendlich das Schicksal der syndikalistischen FAUD!), tauchte die Frage, ob die proletarische Revolution auch andere Organisationsformen erfordert, gerade erst auf. Mit der heutigen Erfahrung wissen wir, dass man neue Inhalte nicht in alte Formen wie Gewerkschaften gießen kann. Die Revolution ist nicht nur eine Sache des Inhalts, sondern auch der Form. Was der theoretische Kopf der FAUD Rudolf Rocker im Dezember 1919 sehr treffend als Herangehensweise gegen die falschen Visionen eines „revolutionären Staates“ formulierte - „Man komme uns nicht mit der Phrase vom revolutionären Staate. Der Staat ist immer reaktionär, und wer dies nicht begreift, hat die Tiefe des revolutionären Prinzips nicht erkannt. Jedes Instrument ist seiner Form nach dem Zweck angepasst, dem es dienen muss; dasselbe ist der Fall mit Institutionen. Die Zange des Hufschmied eignet sich nicht zum Zähne ziehen, mit der Zange des Zahnarztes kann man keine Hufeisen formen (…)“ [7] -, genau das hat die syndikalistische Bewegung leider verpasst, in der Frage der Organisationsform konsequent anzuwenden.

Gegen die Falle der „Betriebsräte“

Um den Geist des Rätesystems politisch zu kastrieren, begannen die Sozialdemokratie und ihre Gewerkschaften im Dienste der gesamten Bourgeoisie den Rätegedanken und das Prinzip der Autonomie der Arbeiterklasse   geschickt von innen her auszuhöhlen. Dies war nur dadurch möglich geworden, dass die Arbeiterräte, die aus den Kämpfen des November 1918 entstanden waren, ihre Kraft und Dynamik mit dem ersten Rückfluten der Revolution verloren hatten. Der 1. Rätekongress vom 16.-20. Dezember 1918 hatte sich unter dem raffinierten Einfluss der SPD und aufgrund der noch vorhandenen Illusionen der Arbeiterklasse in die Demokratie selbst entmachtet, indem er Wahlen zu einer Nationalversammlung vorschlug.

Im Frühjahr 1919 wurde nach der Streikwelle an der Ruhr auf Initiative der SPD-Regierung die Installierung so genannter. „Betriebsräte“ in den Fabriken vorgeschlagen - de facto Vertretungen der Belegschaft, die nun dieselbe Funktion der Verhandlung und Kollaboration mit dem Kapital garantieren sollten, wie es traditionell der Rolle der Gewerkschaften entsprach. Unter Federführung der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre Gustav Bauer und Alexander Schlicke wurde nur knapp ein Jahr später im Februar 1920 das Betriebsrätegesetz verbindlich in die bürgerliche Verfassung des deutschen Staates aufgenommen.

Der Arbeiterklasse sollte vorgegaukelt werden, ihr kämpferischer Rätegeist hätte in dieser Form der direkten Vertretung der Arbeiterinteressen seine Vollendung gefunden. „Die Betriebsräte sind zur Regelung aller das Arbeits- und Angestelltenverhältnis betreffenden Fragen heranzuziehen. Ihnen liegt es ob, den Fortgang und die Steigerung der Produktion im Betrieb zu sichern und für die Beseitigung aller eintretenden Hemmungen Sorge zu tragen (…) Die Bezirksräte regeln und überwachen gemeinsam mit den Direktionen die Arbeitsleistung im Bezirk, ebenso die Verteilung der Rohmaterialien.“[8] Nach der blutigen Repression gegen die Arbeiterklasse sollte die Integration in den demokratischen Staat die Gegenrevolution vollends besiegeln. Mit diesen Ausschüssen, die noch direkter als die Gewerkschaften vor Ort agieren, sollte die Zusammenarbeit mit dem Kapital komplettiert werden.

Die Presse der FVDG wandte sich im Frühjahr 1919 mutig und unmissverständlich gegen das Täuschungsmanöver durch die Betriebsräte: „Kapital und Staat lassen nur Arbeiterausschüsse zu, die jetzt Betriebsräte genannt werden. Der Betriebsrat hat nicht Arbeiterinteressen allein zu vertreten, sondern Betriebsinteressen. Und da die Betriebe Eigentum des Privat- oder Staatskapitals sind, müssen sich die Arbeiterinteressen den Interessen der Ausbeuter unterordnen. Daraus ergibt sich, dass der Betriebsrat für die Ausbeutung der Arbeiter eintreten und sie zum ruhigen Fortarbeiten als Lohnsklaven anhalten muss (…) Die syndikalistischen Kampfmittel sind mit den Aufgaben des Betriebsrates unverträglich.“[9]

Diese Haltung wurde in den Reihen der Syndikalisten weitgehend geteilt, weil einerseits die Betriebsräte unübersehbar ein verlängerter Arm der Sozialdemokratie waren und andererseits der Kampfgeist der  syndikalistischen Bewegung in Deutschland noch ungebrochen war. Die Illusion, etwas erreicht zu haben und mit den Betriebsräten „einen greifbaren Schritt weiter“ gekommen zu sein, stieß 1919 noch auf wenig Gegenliebe bei den entschlossensten Teilen des Proletariats – die Arbeiterklasse war noch nicht geschlagen[10].

Es verwundert deshalb nicht, dass später, nach dem unübersehbaren Rückgang der revolutionären Bewegung ab 1921, die syndikalistische FAUD jahrelang von einer heftigen Debatte über die Beteiligung an den Betriebsrats-Wahlen beherrscht war. Eine Minderheit nahm die Haltung ein, es müsse nun durch die gesetzlich verankerten Betriebsräte eine „Verbindung mit den Arbeitermassen hergestellt werden, um in günstigen Situationen Massenkämpfe auszulösen“.[11] Als Organisation lehnte die FVDG die Fahrt aufs „tote Gleis der Betriebsräte (ab), um die revolutionäre Räteidee unschädlich zu machen“, wie es der Syndikalist August Beil formulierte. Zumindest bis zum November 1922, als der 14. Kongress die FAUD in der allgemeinen Hilflosigkeit nach der Niederlage der Revolution diese Haltung aufweichte und den Mitgliedern das Recht einräumte, an Betriebsratswahlen teilzunehmen. Nach dem Krieg 1945 war in den Überresten der syndikalistischen Strömung das Engagement für die Betriebsratswahlen in Deutschland fast ausnahmslos akzeptiert.

Die Dynamik der Revolution bringt Syndikalisten und Spartakusbund näher

Wie in Russland im Oktober 1917 hatte der Aufstand der Arbeiterklasse in Deutschland zunächst eine Dynamik des Zusammenschlusses der Arbeiterklasse erzeugt. Ein wichtiger, unter den Revolutionären allgemein anerkannter und internationalistischer Orientierungspunkt der syndikalistischen Bewegung in Deutschland war bis Ende 1919 zweifellos die Solidarität mit dem Kampf der Arbeiterklasse in Russland. Die Russische Revolution besaß 1918/19 angesichts des Ausbruchs revolutionärer Erhebungen in anderen Ländern noch eine Perspektive und war noch nicht der inneren Degeneration erlegen. Die FVDG verteidigte ihre Klassenbrüder in Russland gegen die Lügen der SPD und sozialdemokratischen Gewerkschaften, denen „kein Mittel zu schmutzig, keine Waffe zu gemein gewesen ist, um die russische Revolution zu verleumden, das Sowjetrussland mit seinen Arbeiter- und Soldatenräten zu verunglimpfen“[12]. Trotz vieler Vorbehalte gegenüber den Auffassungen der Bolschewiki - die nicht alle unbegründet waren – solidarisierten sich die Syndikalisten mit der Russischen Revolution. Sie nahmen nicht dieselbe Haltung ein wie später Teile der rätekommunistischen Strömung, die den Oktober 1917 als bürgerliche Revolution bezeichneten. Selbst Rudolf Rocker, ab Herbst 1919 prägender Kopf in der FVDG und vehementer Kritiker der Bolschewiki, rief ein Jahr nach der Novemberrevolution in seiner berühmten Rede über die Prinzipienerklärung der FAUD im Dezember 1919 zur Solidarität mit der Russischen Revolution auf: „Wir stehen einmütig auf der Seite Sowjetrusslands in seiner heldenmütigen Verteidigung gegen die Mächte der Alliierten und der Gegenrevolutionäre, nicht weil wir Bolschewisten sind, sondern weil wir Revolutionäre sind.“

Obwohl die Syndikalisten in Deutschland ihre traditionellen Vorbehalte gegenüber dem Marxismus hatten, da dieser vor allem die politische Macht erobern wolle, was sie auch im Spartakusbund zu erkennen glaubten, traten sie unmissverständlich für ein gemeinsames Vorgehen mit allen anderen revolutionären Organisationen ein: „Der Syndikalismus hält deshalb die Zweiteilung der Arbeiterbewegung für zwecklos, er will die Konzentration der Kräfte. Vorläufig aber empfehlen wir unseren Mitgliedern, allerorten mit den am weitesten linksstehenden Gruppen der Arbeiterbewegung: den Unabhängigen, dem Spartakusbund, in wirtschaftlichen und politischen Fragen gemeinsam zu handeln. Wir warnen aber vor einer Beteiligung am Wahlrummel zur Nationalversammlung.“[13]

Die Novemberrevolution 1918 war nicht das Machwerk einzelner politischer oder betrieblicher Organisation wie der Spartakisten oder der Revolutionären Obleute, auch wenn diese in den Novembertagen die klarste Haltung einnahmen und am aktivsten waren. Sie war eine Erhebung der gesamten Arbeiterklasse und drückte für eine kurze Zeit ihre potenzielle Klasseneinheit aus. Ausdruck davon war das verbreitete Phänomen der Doppelmitgliedschaft in der FVDG und im Spartakusbund. „In Wuppertal engagierten sich die Aktivisten der ‚Freien Vereinigung‘ zunächst in der KPD. Eine von der Polizei angefertigte Liste über Wuppertaler Kommunisten im April 1919 weist alle später führenden FAUD-Mitglieder auf (…)“[14] In Mühlheim gab der Arbeiterrat ab 1. Dezember 1918 die Zeitung Die Freiheit, Organ für die Interessen des gesamten werktätigen Volkes. Publikations-Organ der Arbeiter- und Soldatenräte heraus, die von Syndikalisten und Mitgliedern des Spartakusbundes gemeinsam redigiert wurde.         

Anfang 1919 äußerte sich innerhalb der syndikalistischen Bewegung ein ausgeprägter Wunsch nach Vereinigung mit anderen Organisationen der Arbeiterklasse. „Noch sind sie sich ja nicht einig, noch sind sie gespalten, noch sind sie nicht alle recht denkende und ehrlich wollende Sozialisten, noch verbindet sie nicht einheitlich und untrennbar das proletarische Zauberband: Solidarität. Noch scheiden sie sich in Rechtssozialisten, Linkssozialisten, Spartakisten und sonst was. Mit dem groben Unfug der politischen Partikularei muss die Arbeiterklasse nun endlich aufräumen.“[15] Diese Haltung der offenen Arme spiegelte aber auch stark den Zustand der politischen Heterogenität und der Konfusionen in der rasant angewachsenen FVDG wider. Ihr innerer Zusammenhalt basierte weniger auf einer fundierten programmatischen Klärung oder einer formulierten Abgrenzung gegenüber anderen proletarischen Organisationen, sondern vielmehr auf dem Band der Arbeitersolidarität.

Seit der Repression gegen Liebknecht und Luxemburg während des Krieges war die Solidarität der Syndikalisten gerade gegenüber dem Spartakusbund angewachsen und lebte bis zum Herbst 1919 weiter. Sie gründete aber nicht auf einer gemeinsamen Geschichte mit den Spartakisten. Im Gegenteil, noch bis zur Zimmerwalder Konferenz 1915 hatte vielmehr das gegenseitige Misstrauen dominiert. Wesentlicher Grund für die Annäherung waren politische Klärungsprozesse, die die gesamte Arbeiterklasse und ihre revolutionären Organisationen in der Novemberrevolution erfassten: die Ablehnung der bürgerlichen Demokratie und des Parlamentarismus. Die syndikalistische Bewegung in Deutschland hatte den Parlamentarismus schon lange abgelehnt und betrachtete diese Position als ihre ureigene Tradition. Im Spartakusbund, der sich mit großer Klarheit gegen Illusionen in die Demokratie aussprach, sah die FVDG eine Organisation, die in Deutschland ihrem eigenen Weg am nächsten stand.

Rudolf Rocker jedoch, der im Dezember 1919 die politische Prägung der syndikalistischen Bewegung in Deutschland  übernehmen sollte, waren von Beginn weg „die Aufforderungen an die Genossen im Lande, den linken Flügel der sozialistischen Bewegung, die Unabhängigen und die Spartakisten, zu unterstützen und das Eintreten des Blattes für eine ‚Proletarische Diktatur‘(…) nicht nach dem Herzen.“[16] Rocker, ein syndikalistischer Anarchist, der stark von den Ideen Kropotkins geprägt war, trat der FVDG im März 1919 bei, nachdem er aus der Kriegs-Internierungshaft in England zurückgekehrt war.

Trotz der unterschiedlichen Auffassungen zwischen Rocker und der in den ersten Monaten der Revolution 1918/19 die FVDG prägenden Tendenz um Fritz Kater, Carl Windhoff und Karl Roche über den Spartakusbund wäre es falsch, in dieser Zeit von Richtungskämpfen innerhalb der FVDG zu sprechen, so wie sie später, ab 1920, innerhalb der FAUD als Symptom der Niederlagen der Deutschen Revolution entbrannten. Es existierte keine bedeutende Tendenz bei den Syndikalisten, welche sich a priori von der KPD abgrenzen wollte. Vielmehr war die Suche nach einer Aktionseinheit mit den Spartakisten Ausdruck der Dynamik der vereinigenden Kämpfe der Arbeiterklasse und Produkt des „Drucks von der Basis“ beider Strömungen in jenen Wochen und Monaten, in denen die Revolution in greifbarer Nähe zu sein schien. Erst die schmerzliche Niederlage des überstürzten Januaraufstandes 1919 in Berlin mit der anschließenden Niederschlagung der Streikwelle im April im Ruhrgebiet, die von den Syndikalisten, der KPD und der USPD gemeinsam getragen wurde, und die daraufhin um sich greifende Enttäuschung führten zu gegenseitigen und emotionalen Schuldzuweisungen, denen es auf beiden Seiten an Reife mangelte. 

Die „informelle Allianz“ mit den Spartakisten bzw. der KPD sollte also schon im Sommer 1919 wieder zerbrechen. Auslöser war weniger die FVDG, sondern vielmehr der aggressive Kurs, den die KPD gegen die Syndikalisten einzuschlagen begann.

Das „provisorische Programm“ der Syndikalisten vom Frühling 1919

Im Frühjahr 1919 veröffentlichte die FVDG eine von Roche entworfene Broschüre mit dem Titel Was wollen die Syndikalisten? Sie sollte bis zum Dezember 1919 als Programm und  Orientierungspunkt ihrer Organisation dienen. Die syndikalistische Bewegung ist wegen der verschiedenen Ideen, die in ihren Reihen nebeneinander existierten, schwerlich an einem einzigen Text zu beurteilen. Dennoch ist dieses Programm vom Frühling 1919 ein Meilenstein und stellt in verschiedenen Punkten eine der reifsten Positionen der syndikalistischen Bewegung in Deutschland dar. Trotz der Traumata der eigenen Geschichte mit der Sozialdemokratie und der daraus resultierenden permanenten Dämonisierung der „Politik“[17] schlussfolgerte es: „Die Arbeiterklasse muss sich zum Herrn der Wirtschaft und der Politik machen“[18].

Die Stärke der Positionen, die dieses Programm der FVDG ab Frühjahr 1919 vertrat, liegt woanders: in ihrer Haltung gegenüber dem bürgerlichen Staat, der Demokratie und dem Parlamentarismus. Es bezog sich ausdrücklich auf Friedrich Engels‘ Beschreibung des Staates als Produkt der Spaltung der Gesellschaft in Klassen. Der Staat ist das „Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe“, das „Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnlichen Gegensätzen gespalten hat (…)“, und daher nicht „eine der Gesellschaft von Außen aufgezwungene Macht“ oder ein rein willkürlich geschaffenes Instrument der herrschenden Klasse.[19] Die FVDG rief konsequent zur Zerschlagung des bürgerlichen Staates auf.

Die FVDG legte mit dieser Haltung in einer Zeit, in der die Sozialdemokratie unbestreitbar die hinterlistigste Waffe der Konterrevolution war, den Finger auf die richtigen Wunden. Gegen die Schmierenkomödie der SPD im Zusammenhang mit der Unterwerfung der Arbeiterräte und deren Eingliederung in die bürgerliche Nationalversammlung mahnte ihr Programm: „Der sozialdemokratische ‚Sozialismus‘ allerdings braucht einen Staat. Und dazu einen, der noch ganz andere Mittel gegen die Arbeiterklasse anwenden müsste als der kapitalistische (…). Er wird die Frucht einer halben proletarischen Revolution sein und das Opfer einer ganzen proletarischen Revolution werden. Weil wir den Charakter des Staates erkannt haben und wissen, dass die politische Herrschaft der besitzenden Klassen in ihrer ökonomischen Macht wurzelt, so ringen wir nicht um die Eroberung des Staates, sondern um seine Beseitigung.“

Karl Roche versuchte im Programm der FVDG auch grundlegende Lehren aus den Ereignissen der November- und Dezembertage 1918 zu formulieren, die weit über die den Syndikalisten fälschlich unterstellte rebellische oder individualistisch motivierte Ablehnung des Staates hinausgingen und die klar das System der bürgerlichen Demokratie in seinem Kern entlarvten. „Demokratie ist nicht Gleichheit, sondern demagogische Anwendung einer vorgespiegelten Gleichheit (…) Die Besitzenden haben, soweit sie gegen die Arbeiter zusammengehen müssen, immer gleiche Interessen (…) Die Arbeiter haben nur gleiche Interessen mit sich selbst, keine mit der Bourgeoisie. Da wird Demokratie Generalunsinn. (…) Demokratie ist eines der gefährlichen Schlagworte im Munde der Demagogie, die mit der Indolenz und Unwissenheit der Lohnarbeiterschaft rechnen. (…) Die modernen Demokratien in der Schweiz, in Frankreich, in Amerika sind demokratisch-kapitalistische Heuchelei in der widerlichsten Form.“ Diese klaren Worte zur Falle der Demokratie sind heute aktueller denn je.  

Man könnte sich an dieser Stelle dazu hinreißen lassen, mit den Erkenntnissen von heute auf die vielen Mängel im Programm der FVDG aus dem Frühjahr 1919 hinzuweisen oder sich kritisch auf die darin vertretenen und sicher klassisch syndikalistischen Ideen des „vollkommenen Selbstbestimmungsrechts“ und auf ihren Föderalismus zu stürzen. Doch der Text erschien just zu der Zeit, als die KPD nach einer Reihe von Niederlagen der Arbeiterklasse in Deutschland ab Mitte 1919 ihre einst klare Haltung gegen den Parlamentarismus und gegen eine Mitarbeit in den sozialdemokratischen Gewerkschaften zu ändern begann mit dem taktischen Argument, dass ansonsten die Gefahr drohe, „sich von den Massen zu isolieren“, und politisch damit eine dramatische Regression hinter ihre Gründungpositionen vom Januar 1919 erlebte.

Das von Roche verfasste Programm blieb in der Ablehnung des Parlamentarismus standhaft. „Es gilt vom Parlamentarismus, was bei der Sozialdemokratie gilt: will die Arbeiterklasse den Sozialismus erkämpfen, dann muss sie die Bourgeoisie als Klasse beseitigen. Sie darf ihr dann nicht ein Herrschaftsrecht einräumen, darf nicht mit ihr zusammen wählen und mit ihr verhandeln. Arbeiterräte sind die Parlamente der Arbeiterklasse (…) Nicht bürgerliche Parlamente, sondern proletarische Diktatur werden den Sozialismus durchführen.“

Einige Monate später, im Dezember 1919, sollte die Prinzipienerklärung der FAUD andere Schwerpunkte legen.  Karl Roche, der die FVDG in der ersten Zeit nach dem Krieg programmatisch entscheidend geprägt hatte, trat im Dezember 1919 zum Unionismus der AAU über.

Der Bruch mit der KPD                             

In den Tagen der Novemberrevolution lassen sich zwischen den Revolutionären der syndikalistischen FVDG und des Spartakusbundes viele Gemeinsamkeiten feststellen: der Bezug auf die Erhebung der Arbeiterklasse in Russland 1917, die Forderung: „Alle Macht den Arbeiterräten“, die Ablehnung der Demokratie und des Parlamentarismus sowie eine klare Haltung gegenüber der Sozialdemokratie und ihren Gewerkschaften. Wie kam es im Sommer 1919 zwischen diesen beiden Strömungen, die zuvor so viel geteilt hatten, zum Bruch?

Es gibt verschiedene Faktoren, an denen eine Revolution scheitern kann, wie zum Beispiel die Schwäche der Arbeiterklasse und ihre Illusionen oder die Isolierung einer Revolution. 1918/19 war es aber vor allem die Erfahrung der deutschen Bourgeoisie, der es mittels der Sozialdemokratie gelang, die Bewegung zu sabotieren, demokratische Illusionen zu schüren, ihre klarsten Revolutionäre und Tausende engagierter Proletarier zu ermorden und die Arbeiterklasse in die Falle isolierter und vorzeitiger Aufstände wie im Januar 1919 zu locken.

Die Polemiken zwischen der KPD und den Syndikalisten nach der Niederschlagung der Aprilstreiks 1919 im Ruhrgebiet zeigen den beiderseitigen Versuch, das Scheitern der Revolution bei den Anderen zu suchen. Roche hatte sich schon im April, in seinem Schlusswort zum Programm der FVDG, zu der Warnung hinreißen lassen, dass „(…) nicht Spartakisten die Arbeiterklasse zerklüften dürfen“, und sie dabei – völlig konfus - in einen Topf mit den „Rechtssozialisten“ geworfen. Ab dem Sommer 1919 wurde es in der FVDG üblich, von „den drei sozialdemokratischen Parteien“ zu sprechen, womit SPD, USPD und KPD gemeint waren – eine polemische Attacke, die die Frustration über die Niederlagen der Klassenkämpfe ausdrückte und keinen Unterschied mehr zwischen konterrevolutionären und proletarischen Organisationen machte.          

Die KPD veröffentlichte im August ein Pamphlet über die Syndikalisten, das ebenso unglücklich argumentierte. Sie sah die Präsenz von Syndikalisten in ihren Reihen nun als Gefahr für die Revolution: „Die eingefleischten Syndikalisten müssen endlich einsehen, dass sie die grundlegenden Dinge nicht mit uns gemeinsam haben. Wir dürfen es uns nicht mehr gefallen lassen, dass unsere Partei den Tummelplatz für Leute abgibt, die dort alle möglichen der Partei fremden Ideen propagieren.[20]

Die Kritik der KPD an den Syndikalisten zielte auf drei Punkte ab: die Auffassungen über den Staat und die Wirtschaftsorganisation nach der Revolution, die Taktik und die Organisationsform – also die klassischen Debatten mit der syndikalistischen Strömung. Auch wenn die KPD mit ihrer Schlussfolgerung richtig lag („In der Revolution geht die Bedeutung der Gewerkschaften für den Klassenkampf immer mehr zurück. Die Arbeiterräte und die politischen Parteien werden zu den ausschließlichen Trägern und Leitern der Kämpfe“), so deckte die Polemik gegen die Syndikalisten vor allem die Schwächen der KPD unter der Führung von Levi auf: die Fixierung auf die Eroberung des Staates: „Wir meinen, dass wir den Staat nach der Revolution unbedingt gebrauchen werden. Die Revolution bedeutet zunächst gerade die Machtergreifung im Staate“; der Irrglaube, dass der Zwang innerhalb der Arbeiterklasse die Revolution vollenden könne: „Sagen wir mit der Bibel und mit dem Russen: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wer nicht arbeitet, soll nur bekommen, was die Fleißigen entbehren können.“; das Liebäugeln mit der Wiederaufnahme der parlamentarischen Tätigkeit: „Unsere Einstellung zum Parlamentarismus zeigt, dass für uns die taktische Frage ganz anders gestellt ist als für die Syndikalisten (…) Sowie das ganze Leben des Volkes etwas Lebendiges, etwas Wechselndes ist, ein Prozess, der beständig neue Formen annimmt, so muss auch unsere ganze Taktik sich ständig den neuen Bedingungen anpassen.“; und schließlich die Tendenz, die permanente innerorganisatorische Debatte gerade über politische Grundsatzfragen nicht als etwas Positives zu betrachten: „Dagegen müssen wir Maßregeln ergreifen, gegen die Personen, die uns das Parteileben planmäßig schwer machen. Die Partei ist eine geschlossene Kampfgemeinschaft und kein Diskutierklub. Wir können uns nicht ständig über die Organisationsformen und dergleichen auseinandersetzen.“

Die KPD versuchte so jene Syndikalisten, die auch KPD-Mitglieder waren, loszuwerden. Im Juni 1919 hatte sie in ihrem Aufruf An die Syndikalisten in der KPD! diese zwar als „von ehrlich revolutionärem Streben erfüllt“ dargestellt. Jedoch bezeichnete die KPD den Kampfgeist der Syndikalisten als tendenziell putschistische Gefahr und stellte ihnen das Ultimatum, sich in einer straff zentralisierten Partei zu organisieren, andernfalls: „Die Kommunistische Partei Deutschlands kann Mitglieder, die mit ihrer Propaganda durch Wort, Schrift und Aktion gegen diese Grundsätze verstoßen, nicht in ihren Reihen dulden. Sie ist gezwungen, sie auszuschließen.“ Angesichts der beginnenden Unklarheiten und der Verwässerung der Positionen des Gründungskongresses der KPD war dieses sektiererische Ultimatum gegen die Syndikalisten Ausdruck der Hilflosigkeit angesichts des Rückflusses der revolutionären Welle auch in Deutschland. Es beraubte die KPD des lebendigen Kontakts mit den kämpferischen Teilen des Proletariates. Der Schlagabtausch zwischen der KPD und den Syndikalisten im Sommer 1919 zeigt auch auf, dass eine Stimmung der Niederlage bei gleichzeitiger Neigung zu größtem Aktionismus eine ungünstige Kombination für die politische Klärung darstellt.

Ein kurzer gemeinsamer Weg mit den Unionen

Die Stimmung im Sommer 1919 war in Deutschland einerseits von großer Ernüchterung angesichts der Niederlagen, andererseits von einer Radikalisierung in Teilen der Arbeiterklasse gekennzeichnet. Es kam zu massenhaften Austritten aus den sozialdemokratischen Gewerkschaften und einem Massenzulauf zur FVDG, deren Mitgliederzahl sich verdoppelte. Unter dem Einfluss linksradikaler Tendenzen innerhalb der Hamburger KPD und unterstützt durch die aktive Agitation der amerikanischen International Workers of the World (IWW) mit den ihr nahestehenden Kreisen um Karl Dannenberg aus Braunschweig, entstand im Ruhrgebiet die Allgemeine Arbeiter Union Essen und die Allgemeine Bergarbeiter Union. 

Neben den Syndikalisten begann sich also, ebenfalls mit großer Resonanz, eine zweite Strömung gegen die traditionellen Gewerkschaften zu entwickeln. Im Gegensatz zur syndikalistischen FVDG versuchten die Unionen das Prinzip der gewerkschaftlichen Berufsorganisationen hinter sich zu lassen und die Arbeiterklasse ganzer Betriebe in „Kampforganisationen“ zusammenzufassen. Ihrer Ansicht nach waren es nun die Betriebe, nicht mehr die Berufe, die der Arbeiterklasse gesellschaftliche Macht verleihen - wenn sie sich entsprechend organisiert. Damit suchten die Unionen eine größere Einheit; sie betrachteten die Gewerkschaften als historisch veraltete Form der Arbeiterorganisation. Man kann sagen, dass die Unionen in gewisser Weise eine Antwort der Arbeiterklasse auf die Frage nach einer neuen Organisationsform waren – genau jener Frage, der die syndikalistische Strömung in Deutschland – bis heute[21] - auszuweichen versucht.

Was die Unionen, die selbst keine Räte, keine Gewerkschaften, aber auch keine Parteien darstellten, tatsächlich für einen Charakter hatten, kann hier nicht befriedigend beantwortet werden. Dazu ist ein spezifischer Text notwendig.  

Es ist oft schwierig, die syndikalistische und unionistische Strömung in dieser ersten Phase genau auseinanderzuhalten. In beiden Strömungen existierten Vorbehalte gegenüber den politischen Parteien, auch wenn die Unionen der KPD im Jahr 1919 noch viel näher standen. Beide Strömungen waren der direkte Ausdruck der kämpferischsten Teile der Arbeiterklasse in Deutschland, richteten sich gegen die Sozialdemokratie und propagierten zumindest bis Ende 1919 gemeinsam das Rätesystem.

In einer ersten Phase bis zum Winter 1919/20 gliederte sich die unionistische Strömung im Ruhrgebiet auf einer sog. Verschmelzungs-Konferenz, die am 15./16. September 1919 in Düsseldorf stattfand, in den Rahmen der stärkeren syndikalistischen Bewegung ein. Die Unionisten nahmen auch an der Gründung der Freien Arbeiter Union (FAU) für Rheinland-Westfahlen teil. Diese Konferenz war ein erster Schritt zur Gründung der FAUD, die drei Monate später stattfand. Die FAU Rheinland-Westfahlen drückte inhaltlich einen Kompromiss zwischen dem Syndikalismus und Unionismus aus. Die verabschiedeten Richtlinien sprachen davon, dass „der wirtschaftliche und politische Kampf mit Erfolg und Nachdruck von den Arbeitern geführt werden soll.“ Und: „Als wirtschaftliche Organisation duldet die Freie Arbeiter Union keinerlei Parteipolitik in ihren Versammlungen, stellt es aber jedem Mitglied frei, sich den linksstehenden Parteien anzuschließen und dort zu betätigen, sofern der einzelne dies als notwendig betrachtet.“[22] Noch vor der Gründung der FAUD im Dezember schieden die Allgemeine Arbeiter Union Essen und die Allgemeine Bergarbeiter Union zu großen Teilen wieder aus der Allianz mit den Syndikalisten aus.                

Die Gründung der FAUD und ihre Prinzipienerklärung

Das rapide numerische Anwachsen der FVDG im Verlaufe des Sommer/Herbstes 1919 und die Ausbreitung der syndikalistischen Bewegung in Thüringen, Sachsen, Schlesien, Süddeutschland sowie an der Nord- und Ostseeküste verlangte nach einer nationalen Zusammenfassung der Bewegung. Der 12. Kongress der FVDG am 27.-30. Dezember in Berlin wurde zum Gründungskongress der  FAUD, an dem 109 Delegierte teilnahmen.

Dieser Kongress wird oft als „Wende“ des deutschen Syndikalismus zum Anarcho-Syndikalismus oder als Beginn der Ära von Rudolf Rocker beschrieben – eine Etikettierung, die vor allem von kategorischen Gegnern des Syndikalismus als „Schritt ins Negative“ bezeichnet wird. Meist wird die Gründung der FAUD plakativ als die Zelebrierung des Föderalismus, als Abschied von der Politik, Ablehnung der Diktatur des Proletariats und Hinwendung zum Pazifismus   bezeichnet. Diese Einschätzung wird der FAUD vom Dezember 1919 aber nicht gerecht. „Deutschland ist das Dorado der politischen Schlagworte. Man spricht ein Wort aus, berauscht sich an dem Klang, ohne sich über den Sinn desselben Rechenschaft zu geben“, kommentierte Rocker (den wir auch im Folgenden zitieren) in seiner Rede zur  Prinzipienerklärung diese Vorwürfe gegen die Syndikalisten.

Ohne Zweifel waren die Ideen des auch im Krieg internationalistischen Anarchisten Rocker, der die neue Prinzipienerklärung verfasste,  innerhalb der FAUD allein durch seine physische Präsenz spürbar. Aber die Gründung der FAUD spiegelte zuallererst die Popularität der syndikalistischen Ideen innerhalb der Arbeiterklasse in Deutschland wider und war Zeichen einer deutlichen Auslotung der Positionen gegenüber der KPD und dem entstehenden Unionismus. Die starken Positionen, die die FVDG schon seit Kriegsende innerhalb der Arbeiterklasse verbreitet hatte - die ausdrückliche Solidarität mit der Russischen Revolution, die explizite Ablehnung jeder Form von parlamentarischer Betätigung und der bürgerlichen Demokratie und die Zurückweisung aller „willkürlich gezogenen politischen und nationalen Grenzen“ - wurden in der Prinzipienerklärung vom Dezember 1919 erneut bestätigt. Die FAUD befand sich damit auf dem Boden revolutionärer Positionen.

Im Vergleich zum Programm der FVDG vom Frühjahr 1919 äußerte sich der Kongress aber kritischer und distanzierter zur Perspektive der Arbeiterräte. Die Anzeichen der Entmachtung der Arbeiterräte in Russland war für den Kongress ein Zeichen der latenten Gefahr „politischer Parteien“ und ein Beweis dafür, dass die gewerkschaftliche Organisationsform resistenter sei und den Rätegedanken am besten zum Ausdruck bringe[23]. Die Entmachtung der Arbeiterräte in Russland war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich Realität und die Bolschewiki trugen tragischerweise dazu bei. Was die FAUD aber in ihrer Analyse übersah, war schlicht die internationale Isolierung der Russischen Revolution, die unweigerlich zur Ausblutung der Arbeiterklasse führen musste.               

„Man bekämpft uns Syndikalisten hauptsächlich deshalb, weil wir ausgesprochene Föderalisten sind. Föderalismus, sagt man uns, sind die Zersplitterer der Arbeiterbewegungen“, so Rocker. Die Aversion der FAUD gegen den Zentralismus und ihr Bekenntnis zum Föderalismus gründeten nicht auf einer Vision der Zersplitterung des Klassenkampfes. Die Realität und das Leben der syndikalistischen Bewegung nach dem Krieg hatte genug Drang nach Koordination und Einheit des Kampfes bewiesen. Die übertriebene Zurückweisung der Zentralisierung hatte ihre Wurzeln im Trauma der Kapitulation der Sozialdemokratie: „Die Zentrale von oben hat befohlen, die Massen gehorchten. Dann kam der Krieg, Partei und Gewerkschaften standen vor vollendeten Tatsachen: Wir müssen den Krieg unterstützen, um das Vaterland zu retten. Nun wurde die Verteidigung des Vaterlandes zur sozialistischen Pflicht, und dieselben Massen, die eine Woche vorher gegen den Krieg protestiert hatten, waren nun für den Krieg, aber auf Befehl ihrer Zentrale. Das zeigt Ihnen die moralischen Folgen des Zentralisationssystems. Zentralisation heißt: das Herausschneiden des Gewissens aus dem Hirn des Menschen, nichts anderes. Es heißt das Gefühl der Selbständigkeit töten.“ Für viele Genossen der FAUD war der Zentralismus in seinem Kern eine von der Bourgeoisie übernommene Methode der „Organisation der Gesellschaft von oben nach unten, um die Interessen der herrschenden Klasse aufrecht zu erhalten“. Wir sind mit der FAUD von 1919 absolut einverstanden, dass eine proletarische Revolution allein vom politischen Leben und der Initiative der Arbeiterklasse getragen wird. Der Kampf der Arbeiterklasse muss gemeinsam geführt werden und bringt immer wieder selbst und spontan eine Dynamik des Zusammengehens hervor, und durch die Ernennung von jederzeit abwählbaren Delegierten eine Zentralisierung. Das „Dorado der politischen Schlagworte“ hatte die Mehrheit der Syndikalisten der FAUD im Dezember 1919 dazu verführt, sich selbst immer wieder das Schlagwort des Föderalismus aufzusetzen, eine Etikette, die nicht wirklich den in ihren Reihen existierenden Drang nach der Gründung der FAUD als eine ihren Kampf zusammenführende Organisation repräsentierte.

Hat der Gründungskongress der FAUD tatsächlich Abschied von der Idee der „Diktatur des Proletariats“ genommen?  „Wenn unter der Diktatur des Proletariats nichts anderes verstanden wird als Ergreifung der Staatsmaschine durch eine Partei, wenn man darunter nur die Etablierung eines neuen Staates versteht, dann sind die Syndikalisten geschworene Gegner einer solchen Diktatur. Wenn aber darunter verstanden werden soll, dass das Proletariat den besitzenden Klassen diktieren will, ihre Privilegien aufzugeben, also nicht mehr Diktatur von oben nach unten, sondern Auswirkung der Revolution von unten nach oben, dann sind die Syndikalisten Anhänger und Vertreter der Diktatur des Proletariats.“[24] Absolut richtig! Die kritischen Gedanken über die Diktatur des Proletariates, die zur damaligen Zeit mit der dramatischen Situation in Russland gleichgesetzt wurde, waren eine allzu berechtigte Reflexion angesichts der drohenden Gefahr der inneren Degeneration der Russischen Revolution. Im Dezember 1919 war eine Bilanz der Russischen Revolution noch nicht möglich. Dennoch deuteten Rockers Ausführungen die schon spürbaren Widersprüche an und waren der Beginn einer jahrelangen Debatte in der Arbeiterbewegung über die Gründe des Scheiterns der weltrevolutionären Welle nach dem Krieg. Diese Zweifel tauchten nicht zufällig in einer Organisation wie der FAUD auf, die mit dem Leben der Arbeiterklasse stehen und fallen sollte.

Auch die gängige Einstufung des FAUD-Gründungskongresses als „Schritt in den Pazifismus“, der die Entschlossenheit der Arbeiterklasse untergrabe, entspricht nicht der Wirklichkeit. Ähnlich wie die Diskussion um die Diktatur des Proletariats war die Debatte über die Gewalt im Klassenkampf vielmehr Signal eines realen Problems, mit dem die Arbeiterklasse international konfrontiert war. Mit welchen Mitteln gelingt es, die stockende revolutionäre Welle am Leben zu erhalten und die Isolierung der Arbeiterklasse in Russland zu durchbrechen? Es war für die Arbeiter in Russland, aber auch in Deutschland unumgänglich, sich mit der Waffe in der Hand gegen die gewaltsamen Angriffe der herrschenden Klasse zu verteidigen. Doch eine Ausbreitung der Revolution mit militärischen Mitteln oder gar ein „revolutionärer Krieg“ waren unmöglich, wenn nicht absurd. Gerade in Deutschland versuchte die Bourgeoisie, das Proletariat mit Hinterlist und permanent militärisch zu provozieren. „Das Wesentliche der Revolution besteht nicht in der Gewaltanwendung, sondern in der Umwälzung der wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen. Die Gewalt an und für sich ist durchaus nicht revolutionär, sondern reaktionär in höchstem Grade (…) Revolutionen sind Folgen einer großen geistigen Umwälzung in den Anschauungen der Menschen; sie können nicht willkürlich durch Waffengewalt gemacht werden (…) Aber auch ich erkenne die Gewalt als Verteidigungsmittel, wenn die Verhältnisse selber uns jedes andere Mittel versagen“, argumentierte Rocker gegen Krohn, einen Anhänger der KPD. Die tragischen Ereignisse von Kronstadt 1921 haben bestätigt, dass eine kritische Haltung gegenüber den falschen Hoffnungen, dass Waffen die Revolution retten könnten, nichts mit Pazifismus zu tun hat. Auch nach ihrem Gründungskongress hatte die FAUD keine pazifistische Haltung eingenommen. Ein Großteil der Roten Ruhr-Armee, die sich gegen den Kapp-Putsch im Frühling 1920 zur Wehr setzte, wurde von syndikalistischen Arbeitern gestellt.

Wir haben in diesem Artikel neben kritischen Anmerkungen bewusst auch die Stärken der syndikalistischen Positionen in Deutschland in der Zeit von 1918/19 hervorgehoben. In einem nächsten Beitrag werden wir die Jahre nach 1920 bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 und der Zerschlagung der FAUD betrachten.

Mario 16.6.2012                



[1] Der Syndikalist Nr. 1: „Was wollen die Syndikalisten? Der Syndikalismus lebt!“ 14. Dezember.1918

[2] ebenda

[3] Siehe dazu: Ulrich Klan, Dieter Nelles, Es lebt noch eine Flamme, Trotzdem Verlag

[4] Karl Roche in Der Syndikalist Nr. 13, „Syndikalismus und Revolution“, 29. März 1919

[5] Richard Müller, 1918: Räte in Deutschland, S. 3

[6] Richard Müller, Hie Gewerkschaft, hie Betriebsorganisation! 1919

[7] Rede Rockers zur Erläuterung der Prinzipienerklärung der FAUD.

[8] Protokoll der Ersten Generalversammlung des Deutschen Eisenbahnerverbandes in Jena vom 25. bis 31. Mai 1919, Seite 244 f.

[9] Der Syndikalist Nr. 36, 1919, „Betriebsräte und Syndikalismus“

[10] Weit größer als die Illusionen über Betriebsräte als „Verhandlungspartner“ mit dem Kapital, waren - auch in den Reihen der Syndikalisten insbesondere in Essen im Ruhrgebiet – die Illusionen über die Möglichkeit sofortiger „Sozialisierungen“ resp. Verstaatlichungen der Betriebe und Zechen. Eine Schwäche innerhalb der gesamten Arbeiterklasse in Deutschland, die vor allem eine Ungeduld ausdrückte. Die Ebert-Regierung bildete dazu schon am 4. Dezember 1918 eine reichsweite Sozialisierungskommission, der neben Vertretern des Kapitals renommierte Sozialdemokraten wie Kautsky und Hilferding angehörten. Dies mit dem erklärten Ziel, durch Verstaatlichungen die Produktion aufrechtzuerhalten.  

[11] Siehe v.a. die Debatte auf dem 15. Kongress der FAUD 1925

[12] Der Syndikalist Nr. 2, „Verschandelung der Revolution“, 21. Dezember 1918

[13] Der Syndikalist Nr. 1: „Was wollen die Syndikalisten? Der Syndikalismus lebt!“ 14. Dezember.1918

[14] Ulrich Klan, Dieter Nelles, Es lebt noch eine Flamme, Trotzdem Verlag, S. 70

[15] Karl Roche in Der Syndikalist Nr. 13, „Syndikalismus und Revolution“, 29. März 1919

[16] Rudolf Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, Suhrkamp, S. 287

[17]  Als existiere niemals die Möglichkeit revolutionärer Parteien der Arbeiterklasse, schrieb Roche: „Parteipolitik ist die bürgerliche Methode, den Schacher um das den Arbeitern gestohlene Arbeitsprodukt zu betreiben (…) Politische Parteien und bürgerliche Parlamente hängen ineinander, sind beide dem proletarischen Klassenkampf hindernd und wirken verwirrend“. Und wie verhielt es sich mit dem Kampfgefährten Spartakus, der eine politische Partei war?

[18] Was wollen die Syndikalisten? Programm, Ziele und Wege der „Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften“, März 1919

[19] Diese Analyse vertritt grundsätzlich die Ansicht, dass es keinen „proletarischen Staat“ nach der Revolution geben kann, da der Staat immer Ausdruck einer noch bestehenden Teilung der Gesellschaft in Klassen ist und einen konservativen Charakter einnimmt.

[20] Syndikalismus und Kommunismus, F. Brandt, KPD-Spartakusbund, August 1919

[21] In der Realität spielen viele Sektionen der FAU in Deutschland, wie sie heute existieren, seit Jahrzehnten vielmehr die Rolle politischer Gruppen als Gewerkschaften, welche sich zu vielen politischen Fragen äußern und sich keineswegs auf den „wirtschaftlichen Kampf“ beschränken – was wir, abgesehen davon, ob wir gleicher Meinung sind oder nicht, nur positiv finden.    

[22] Der Syndikalist, Nr. 42, 1919

[23] Trotz des Misstrauens gegen die existierenden politischen Parteien stellte Rocker klar, dass „der Kampf nicht nur ein wirtschaftlicher,  sondern auch ein politischer sein müsse. Dasselbe sagen wir auch. Wir verwerfen nur die parlamentarische Betätigung, keineswegs aber den politischen Kampf im allgemeinen  (…) Auch der Generalstreik ist ein politisches Mittel und desgleichen die antimilitaristische Propaganda der Syndikalisten usw.“ Eine theoretische Ablehnung des politischen Kampfes dominierte die FAUD zu diesem Zeitpunkt nicht, obwohl ihre Organisationsform klar auf den wirtschaftlichen Kampf zugeschnitten war.      

[24] Rocker in Der Syndikalist, Nr. 2, 1920

Geschichte der Arbeiterbewegung: Was sind Arbeiterräte? Teil 5

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1917-1921: Die Sowjets vor der Frage des Staates

Im vorangehenden Artikel dieser Serie (Internationale Revue Nr. 49) haben wir gesehen, wie in Russland die Räte zwar 1917 die Macht ergriffen, aber diese Macht zunehmend verloren, bis sie eine bloße Fassade waren, die künstlich aufrechterhalten wurde, um die kapitalistische Konterrevolution, die sich siegreich durchgesetzt hatte, zu verschleiern. Das Ziel dieses Artikels ist es, die Gründe für diesen Prozess zu begreifen, um daraus die Lehren für zukünftige revolutionäre Versuche zu ziehen.

Das Wesen des aus der Revolution hervorgehenden Staates

Marx und Engels analysierten die Pariser Kommune von 1871 und zogen einige Lehren zur Frage des Staates, die wir hier kurz wie folgt zusammenfassen können: 1. Das Proletariat muss den bürgerlichen Staat komplett zerstören. 2. Unmittelbar nach der Revolution formiert sich der Staat aufs Neue, und zwar aus zwei Gründen: a) Die Bourgeoisie ist noch nicht gänzlich besiegt und ihrer Grundlage beraubt; b) in der Übergangsgesellschaft gibt es immer noch nichtausbeutende Klassen (Kleinbürgertum, Bauern, städtisches Subproletariat …), deren Interessen sich nicht mit denen des Proletariats decken.

Dieser Artikel hat nicht das Ziel, das Wesen dieses neuen Staates zu analysieren[1], aber um das hier behandelte Thema zu beleuchten, müssen wir nachweisen, dass der neue Staat zwar nicht identisch ist mit seinen Vorläufern in der Geschichte, aber trotzdem Charakterzüge trägt, die ein Hindernis für die Entfaltung der Revolution darstellen; genau aus diesem Grund bemerkte bereits Engels und unterstrich Lenin in Staat und Revolution, dass das Proletariat schon am ersten Tag der Revolution mit einem Prozess des Absterbenlassens des neuen Staates beginnen muss.

Nach der Machtübernahme in Russland war das erste Hindernis, auf das die Sowjets stießen, der neu auferstandene Staat. Dieser ist „trotz seiner scheinbar großen materiellen Macht, (…) tausendmal verletzlicher gegenüber dem Feind als die anderen Arbeiterorganisationen. In der Tat verdankt der Staat seine größte materielle Macht objektiven Faktoren, die vollständig den Interessen der ausbeutenden Klassen  entsprechen, die aber umgekehrt überhaupt nicht zwingend etwas mit der revolutionären Rolle des Proletariats zu tun haben“[2], „Die schreckliche Gefahr einer Rückkehr zum Kapitalismus drohte im Wesentlichen im verstaatlichten Bereich. Dies umso mehr, als der Kapitalismus hier in seiner unpersönlichen – man  könnte sagen: vergeistigten – Form daher kommt. Die Verstaatlichung kann so während langer Zeit dazu dienen, einen dem Sozialismus diametral entgegen gesetzten Prozess zu verschleiern“[3].

Im vorangehenden Artikel haben wir die Umstände beschrieben, welche die Schwächung der Sowjets begünstigten: der Bürgerkrieg, die Hungersnot, das allgemeine Chaos der gesamten Wirtschaft, die Erschöpfung und die voranschreitende Auflösung der Arbeiterklasse, usw. Die „stille Verschwörung“ des Sowjetstaates, die ebenfalls zur Schwächung der Sowjets beitrug, operierte auf drei Achsen: 1. das wachsende Gewicht, das die klassischen Institutionen des Staates gewannen: die Armee, die Tscheka (die politische Polizei) und die Gewerkschaften; 2. der „klassenübergreifende Charakter“ der Sowjets und die beschleunigte Bürokratisierung, die daraus resultierte; 3. die zunehmende Integration der bolschewistischen Partei in den Staat. Wir haben den ersten Punkt im vorangehenden Artikel behandelt, der vorliegende Artikel ist den beiden anderen Faktoren gewidmet.

Die fatale Verstärkung des Staates

Der Sowjetstaat schloss zwar die Bourgeoisie aus, er war aber nicht der Staat ausschließlich des Proletariats. Er schloss nichtausbeutende gesellschaftliche Klassen wie die Bauernschaft, das Kleinbürgertum, verschiedene Mittelschickten ein. Diese Klassen neigten dazu, ihre eigennützigen Interessen zu wahren, und stellten der Bewegung zum Kommunismus unweigerlich Hindernisse in den Weg. Dieser unvermeidliche „klassenübergreifende Charakter“ drängte den neuen Staat in eine Rolle, welche die Arbeiteropposition[4] 1921 brandmarkte: „die sowjetische Politik zielt in verschiedene Richtungen, und ihre Stellung zur Klasse ist verzerrt“, und er war der Nährboden, auf dem sich die Verwaltungsbürokratie errichtete.

Kurz nach dem Oktober begannen ehemalige zaristische Beamte mit der Besetzung von Stellen in den sowjetischen Institutionen, insbesondere wenn es darum ging, improvisierte Entscheide angesichts drängender Probleme zu fällen. Als man beispielsweise im Februar 1918 vor der Unmöglichkeit stand, die Bevölkerung mit den lebensnotwendigsten Gütern zu versorgen, musste das Volkskommissariat auf die Hilfe von Kommissionen zurückgreifen, welche die alte Provisorische Regierung ins Leben gerufen hatte. Ihre Mitglieder nahmen den Auftrag an unter der Bedingung, dass sie von keinem Bolschewiki abhängig sein würden, was die Partei umgekehrt ebenfalls akzeptierte. Ähnlich lief es mit der Neuorganisierung des Bildungswesens 1918-19, als man auf ehemalige zaristische Beamte zurückgreifen musste, die dann allmählich das vorgeschlagene Bildungsprogramm abzuändern begannen.

Darüber hinaus verwandelten sich die besten proletarischen Kämpfer je länger je mehr in Bürokraten, die weit entfernt von den Massen agierten. Die Sachzwänge des Krieges nahmen zahlreiche Arbeiterkader in Beschlag für Aufgaben als politische Kommissare, Inspektoren oder militärische Führer. Die fähigsten Arbeiter wurden Kader in der wirtschaftlichen Verwaltung. Die vormaligen Reichsbürokraten und die Neulinge mit proletarischer Herkunft bildeten zusammen eine bürokratische Schicht, die sich mit dem Staat identifizierte. Aber dieses Organ hat seine eigene Logik, und seinen Sirenengesängen gelang es, selbst so erfahrene Revolutionäre wie Lenin und Trotzki zu verführen.

Die ehemaligen Beamten, die der bürgerlichen Elite entstammten, waren Träger dieser Ideologie, und sie drangen in die sowjetische Festung durch das Tor ein, das ihren der neue Staat öffnete: „Tausende von denen, die durch Gewohnheit und Tradition mehr oder weniger eng an die Klasse der enteigneten Bourgeoisie gebunden waren, erhielten die Gelegenheit, in das ‚revolutionäre Bollwerk‘ einzudringen – durch die Hintertür – und ihre Rolle als Kommandeure über den Arbeitsprozesses im ‚Arbeiterstaat‘ fortzusetzen (…) Viele wurden (von oben) bald auf führende Posten der Wirtschaft versetzt. Sie verschmolzen mit der neuen politisch-administrativen ‚Elite‘, für welche die Partei selber den Kern stellte, indem die ‚aufgeklärteren‘ und technisch geschulten Teile der ‚enteigneten Klasse‘ schon bald gehobene Stellen in den Produktionsverhältnissen übernehmen konnten.“[5] Der sowjetische Historiker Kritsmann charakterisierte diese Leute so: „die Repräsentanten der alten Intelligentsia legten eine herablassende und feindliche Haltung gegenüber der Öffentlichkeit an den Tag“[6].

Aber die Hauptgefahr ging von der staatlichen Maschinerie selbst aus, mit ihrer wachsenden, aber kaum wahrzunehmenden Trägheit. Eine Folge davon war, dass selbst die treusten Beamten dazu neigten, sich von den Massen zu entfernen, ihnen zu misstrauen, speditive Methoden zu übernehmen, Entscheide ohne Anhörung zu fällen in Angelegenheiten, die Tausende von Leuten betrafen, als handle es sich um bloße Verwaltungsfragen, mit Dekreten zu regieren. „Die Partei ging von der Arbeit der Zerstörung zu derjenigen der Verwaltung über und entdeckte dabei die Tugenden von Ruhe und Ordnung und Unterordnung unter die rechtmäßige Gewalt der revolutionären Macht.“[7]

Die bürokratische Logik des Staates passte vollkommen zur Bourgeoisie, die als ausbeuterische Klasse gewohnt ist, die Ausübung der Macht an eine spezialisierte Abteilung von Berufspolitikern und Beamten zu delegieren. Für das Proletariat aber ist es verheerend, immer den Spezialisten zu vertrauen; es muss aus seinen Fehlern lernen und selber Entscheidungen treffen, um diese in die Praxis umzusetzen, wenn es beginnen will, auch sich in diesem Prozess zu verändern. Die Logik der proletarischen Macht liegt nicht in der Delegation der Macht, sondern in der direkten Ausübung derselben.

Die Revolution wurde im April 1918 mit einem Dilemma konfrontiert. Die Weltrevolution hatte sich noch nicht ausgedehnt, und die imperialistische Invasion drohte die Sowjetbastion zu überfallen. Das gesamte Land verfiel in Chaos, "die Verwaltungs- und Wirtschaftsorganisation löst sich in einem alarmierenden Grad auf. Die Gefahr für die Revolution kam nicht vom organisierten Widerstand, sondern vom Zusammenbruch jeder Autorität. Der Appel in Staat und Revolution, 'den Staatsapparat zu vernichten', schien nun nicht mehr aktuell zu sein, dieser Teil des revolutionären Programms war über alle Erwartungen hinaus erfüllt worden."[8]

Der Sowjetstaat war mit drastischen Entscheidungen, die er zu treffen hatte, konfrontiert: schnellstmöglich die Rote Armee aufbauen, den Transport organisieren, die Produktion erhöhen, den Nahrungsbedarf der hungernden Städte garantieren, das soziale Leben organisieren. All dies musste gegen die totale Sabotage der Unternehmer und Manager erledigt werden, was zu einer breiten Beschlagnahme der Industrieproduktion, der Banken, Geschäfte usw. führte. Dies stellt die sowjetische Macht vor eine zusätzliche Herausforderung. Eine erhitzte Debatte in der Partei und den Sowjets entfaltete sich. Jeder war für den militärischen und wirtschaftlichen Widerstand, bis die proletarische Revolution in anderen Ländern, hauptsächlich aber in Deutschland ausbrechen würde. Die Unstimmigkeit entstand jedoch in der Frage der Organisierung des Widerstandes: Sollte der Staatsapparat gestärkt, oder sollten die Organisation und die Fähigkeiten der Arbeitermassen verbessert werden? Lenin führte diejenigen an, die die erste Lösung verteidigten, während einige Tendenzen der Linken der bolschewistischen Partei die zweite verteidigten.

In seiner Broschüre Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht argumentiert Lenin, dass "die Hauptaufgabe, die vor der Revolution stand (....) die war, die heruntergekommene Wirtschaft wieder aufzubauen, die Wiedererrichtung einer Arbeiterdisziplin und die Erhöhung der Produktivität, Sicherung der strengen Buchhaltung und die Kontrolle über die Produktion und den Vertrieb, die Abschaffung der Korruption und der Verschwendung und – vielleicht vor allem – der Kampf gegen die allgegenwärtige kleinbürgerliche Mentalität. Er schrak nicht vor dem zurück, was er selber bürgerliche Methoden nannte, einschließlich den Einsatz von bürgerlichen technischen Spezialisten (…) den Rückgriff auf Stücklohn; die Anwendung des ‚Taylor-Systems‘ (…) Er rief folglich zur ‚Ein-Mann-Verwaltung‘ auf."[9]

Warum kam Lenin zu dieser Auffassung? Der erste Grund war die Unerfahrenheit: Die Sowjetmacht war mit riesigen und dringenden Aufgaben belastet, ohne aus früher gemachten Erfahrungen schöpfen zu können; und ohne solche war es nicht möglich, die theoretischen Reflexionen weiter zu treiben. Der zweite Grund war die verzweifelte und untragbare Situation, die wir beschreiben haben. Aber wir müssen auch in Betracht ziehen, dass Lenin ein Opfer der staatlichen und bürokratischen Logik wurde und allmählich als ihr Sprecher auftrat. Diese Logik brachte ihn dazu, den alten Technikern, Verwaltern und Beamten Vertrauen zu schenken, die im Kapitalismus erzogen worden waren, und darüber hinaus den Gewerkschaften, die verantwortlich dafür waren, Arbeiter zu disziplinieren, unabhängige Initiativen und Arbeiter-Demonstrationen zu ersticken, die kapitalistischen Arbeitsteilung und die enge korporatistische Mentalität durchzusetzen, die ihrem Wesen entspricht.

Die Oppositionellen brandmarkten die Idee, dass "die Art der Staatskontrolle der Unternehmen bürokratisch zentralisiert werden muss, in der Regel durch unterschiedliche Kommissare, die Entmachtung der unabhängigen Sowjets und die Verwerfung in der Praxis des Kommune-Staats, der von unten regiert wird. (....) Die Einführung der Arbeitsdisziplin im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der kapitalistischen Führung in der Produktion kann die Produktivität der Arbeit nicht wesentlich vergrößern, aber wird die Klassenautonomie, die Aktivität und den Grad der Organisation des Proletariats schmälern".[10]

Die Arbeiteropposition beklagte, dass "in Anbetracht des katastrophalen Zustandes unserer Wirtschaft, die sich noch auf das kapitalistische System verlässt (Bezahlung von Löhnen, verschiedene Ansätze, Arbeiterkategorien usw.), die Eliten unserer Partei den schöpferischen Fähigkeiten der Arbeiter misstrauen und die Lösung des wirtschaftlichen Chaos in der Erbschaft der alten Kapitalisten, Unternehmer und Techniker suchen, deren schöpferische Fähigkeit in Wirtschaftsangelegenheiten durch die Routine verdorben wird, durch Gewohnheit und Methoden und Management der kapitalistischen Produktionsweise"[11].

Weit davon entfernt abzusterben, wuchs die Staatsmacht in erschreckender Weise: "Ein 'weißer' Professor, der im Herbst 1919 von Moskau nach Omsk kam, berichtete, dass an der Spitze vieler Zentralen und Glavki ehemalige Arbeitgeber, Beamte und Betriebsleiter sitzen. Der unvorbereitete Besucher der Zentren, der persönlich die ehemalige Geschäftswelt kannte, wäre überrascht, die ehemaligen Eigentümer von großen Lederfabriken zu sehen, die im Glavkozh sitzen, große Fabrikanten in den Textilorganisationen usw."[12] Im März 1919, während der Debatte des Petrograder Sowjets, gestand Lenin: "Wir verjagten die alten Bürokraten, aber sie sind wiedergekommen, sie nennen sich 'Kammunisten', wenn sie Kommunist nicht sagen können, sie hängen sich ein rotes Bändchen an und drängen sich auf die warmen Plätzchen.“[13]

Das Wachstum der sowjetischen Bürokratie überwältigte schließlich die Sowjets. Sie zählte im Juni 1918 114‘259 Angestellte, ein Jahr später 529‘841 und im Dezember 1920 schon 5‘820‘000! Das “Staatsinteresse" wurde unbarmherzig über den revolutionären Kampf um den Kommunismus gestellt, "die allgemeinen Interessen des Staates wurden über die Interessen der Arbeiterklasse gestellt"[14].

Die Integration der bolschewistischen Partei in den Staat

In dem Maße, wie der Staat sich stärkte, sog er die bolschewistische Partei in sich auf. Diese hatte zwar zunächst nicht vor, sich in eine Staatspartei zu verwandeln. Gemäß den Zahlen von 1918 beschäftigte das Zentralkomitee der Bolschewiki nur sechs Verwaltungsangestellte im Vergleich zu deren 65 beim Rat der Kommissare; die Sowjets von Petrograd und Moskau hatten sogar über 200. „Die bolschewistischen Organisationen hingen finanziell von der Hilfe ab, die ihnen die örtlichen Sowjetinstitutionen zukommen ließen, und insgesamt war diese Abhängigkeit eine vollständige. Es geschah sogar, dass bekannte Bolschewiki – wie zum Beispiel Preobraschenski – angesichts der neuen Tatsachen vorschlugen, dass die Partei sich auflösen sollte, um im Sowjetapparat aufzugehen.“ Der Anarchist Leonard Schapiro anerkannte, dass „die besten Parteikader sich in den zentralen oder örtlichen Apparat der Sowjets integriert hatten“. Viele Bolschewiki waren der Ansicht, dass „die örtlichen Komitees der bolschewistischen Partei nichts anderes waren als die Propagandaabteilungen der örtlichen Sowjets“[15]. Die Bolschewiki hatten sogar Zweifel an ihren Fähigkeiten, Macht an der Spitze der Sowjets auszuüben. „Als unmittelbar nach dem Oktoberaufstand die neue Sowjetregierung gebildet wurde, zögerte Lenin einen Moment lang, bevor er die Stelle als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare annahm. Seine politische Intuition sagte ihm, dass dies seine Fähigkeit, als Vorhut der Vorhut zu handeln, behindern werde – seine Position untergraben, die er so klar zwischen April und Oktober 1917 eingenommen hatte“[16]. Lenin befürchtete nicht ohne Grund, dass die Partei und ihre führenden Mitglieder, wenn sie mit dem Tagesgeschäft der Sowjetregierung beschäftigt sind, zu Gefangenen des Systems werden und die allgemeinen Ziele der proletarischen Bewegung, die nicht mit dem Verwaltungsalltag der Staatsaufgaben verknüpft werden können, aus den Augen verlieren.[17]

Die Bolschewiki wollten die Macht nicht monopolisieren, und sie organisierten den ersten Rat der Volkskommissare gemeinsam mit den Linken Sozialrevolutionären. Einige Sitzungen des Rates waren sogar offen für Delegierte der menschewistischen Internationalisten und der Anarchisten.

Die Regierung wurde erst im Juli 1918 ganz bolschewistisch, nach der Aufstand der Sozialrevolutionäre gegen die Schaffung eines Komitees der armen Bauern: „Am 6. Juli erschienen zwei junge Tscheka-Mitglieder der Sozialrevolutionären Partei und Hauptakteure der Verschwörung, A. Andrejew und G. Blumkin, in der deutschen Botschaft und wiesen sich mit amtlichen Dokumenten über ihre Stellung und Aufgabe aus. Nachdem sie ins Büro des Borschafters, Graf von Mirbach, gelassen worden waren, erschossen sie ihn und flohen. Darauf nahm eine Abteilung von Tschekisten unter dem Kommando eines Linken Sozialrevolutionärs, Popov, eine Reihe von überraschenden Verhaftungen vor einschließlich derjenigen der Führer der Tscheka, Dscherschinskys und Lazis’, des Vorsitzenden des Moskauer Sowjets, Smidowitsch, und des Volkskommissars der Post, Podbjelskys. Er übernahm auch die Gewalt über die Hauptsitze der Tscheka und des Zentralen Postbürogebäudes.“[18]

In Folge dieser Ereignisse gab es in der Partei eine Invasion von allen möglichen Opportunisten und Karrieristen, ehemaligen zaristischen Beamten und menschewistische Führer, die übergelaufen waren. Nogin, ein alter Bolschewik, „sprach über schreckliche Sachverhalten von Trunkenheit, Völlerei, Korruption, Raub und verantwortungslosem Verhalten von Seiten vieler Parteiarbeiter, so dass einem die Haare zu Berge standen.“[19] Im März 1918, vor dem Parteikongress, erzählte Zinovjew die Geschichte von einem Parteigenossen, der ein neues Mitglied willkommen geheißen und aufgefordert habe, am nächsten Tag seine Mitgliedskarte abholen zu kommen, worauf er zur Antwort erhalten habe: „Nein, Genosse, ich brauche sie jetzt, um einen Bürojob zu kriegen.“

Wie Marcel Liebman festhielt: „Dass so viele Männer, die nur in Worten Kommunisten waren, in die Partei eintraten, hatte damit zu tun, dass sie nun die zentrale Macht war, die einflussreichste Institution im gesellschaftlichen und politischen Leben, eine, die die neue Elite vereinte, die Geschäftsführer und sonstigen Leiter einstellte, das Instrument und der Kanal, durch den der Weg nach Oben und zum Erfolg führte“, und er fügte hinzu, dass „die Privilegien der mittleren und jüngeren Kader bei der Parteibasis Proteste auslösten“[20], während solche Vorgänge in einer bürgerlichen Partei zum Alltag gehören.

Die Partei versuchte dieser Invasion mit zahlreichen Ausschlüssen entgegen zu treten. Aber diese Maßnahme stellte sich als wirkungslos heraus, da sie das Problem nicht an der Wurzel erfasste, denn die Fusion zwischen Staat und Partei verstärkte sich unaufhaltsam. Diese Gefahr ging in einer ähnlichen Weise von der Identifizierung der Partei mit der russischen Nation aus. Die proletarische Partei ist in der Tat international, und ihre Sektion in einem oder mehreren Ländern, in denen das Proletariat eine isolierte Bastion unter Kontrolle hat, darf sich keinesfalls mit der Nation identifizieren, sondern einzig und allein mit der Weltrevolution.

Die Umwandlung des Bolschewismus in einen Partei-Staat wurde schließlich mit dem Argument theoretisiert, dass die Partei die Macht im Namen der Klasse ausübe, dass die Diktatur des Proletariats die Diktatur der Partei sei[21]; diese Idee entwaffnete die Partei theoretisch und politisch und schloss ihre Kapitulation gegenüber dem Staat ab. In einer seiner Resolutionen stimmte der 8. Parteitag (im März 1918) der Auffassung zu, dass die Partei „individuellen politischen Einfluss in den Sowjets und Kontrolle über all ihre Tätigkeiten gewinnen“ muss[22]. Diese Resolution wurde in den folgenden Monaten umgesetzt, indem in allen Sowjets Zellen der Partei gebildet wurden, um jene zu kontrollieren. Kamenjew erklärte, dass „die Kommunistische Partei die Regierung Russlands ist. Das Land wird regiert durch die 600'000 Parteimitglieder.“[23] Dem Ganzen setzte Sinowjew die Krone auf, als er am 2. Kongress der Kommunistischen Internationale erklärte, dass „jeder bewusste Arbeiter erkennen muss, dass die Diktatur der Arbeiterklasse nur durch die Diktatur ihrer Vorhut, d.h. die Kommunistische Partei, verwirklicht werden kann“[24] und ähnlich Trotzki am 10. Parteitag (1921), wo er auf eine Intervention der Arbeiteropposition antwortete: „Sie haben gefährliche Losungen aufgestellt. Sie haben aus demokratischen Prinzipien einen Fetisch gemacht. Sie haben das Recht der Arbeiter Vertreter zu wählen über das der Partei gestellt. Als ob die Partei nicht befugt wäre, ihre Diktatur auszuüben, selbst wenn diese Diktatur zeitweilig mit der gerade herrschenden Stimmung der Arbeiterdemokratie zusammenstößt!“ Trotzki sprach vom „revolutionären geschichtlichen Erstgeburtsrecht der Partei“. „Die Partei ist verpflichtet, die Diktatur aufrecht zu erhalten (…) unabhängig von den vorübergehenden Schwankungen sogar in der Arbeiterklasse (…) Die Diktatur beruht nicht in jedem Moment auf dem formellen Prinzip der Arbeiterdemokratie (…)“[25]

Das Proletariat verlor die Bolschewistische Partei als seine Vorhut. Der Staat diente nicht mehr dem Proletariat; vielmehr benützt der Staat die Partei als Rammbock gegen das Proletariat. Die Plattform der Fünfzehn, einer Oppositionsgruppe, die in den späten 1920er Jahren in der Bolschewistischen Partei entstand, stellte es so dar: „Die Bürokratisierung der Partei, die Entartung ihrer regierenden Spitzen, die Verschmelzung des leitenden Parteiapparates mit dem bürokratischen Staatsapparat, die Verminderung des Einflusses des proletarischen Teils der Partei – das alles zeigt, dass das Zentralkomitee in seiner Politik der Knebelung der Partei bereits die Grenzen überschritten hat, hinter der die Liquidierung der Partei und ihre Umwandlung in einen Hilfsapparat des Staates beginnt. Die Durchführung dieser Liquidation würde das Ende der proletarischen Diktatur in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bedeuten. Die Partei ist die Vorhut und die wichtigste Waffe im Klassenkampf des Proletariats. Ohne sie ist weder sein Sieg noch die Aufrechterhaltung seiner Diktatur möglich.“[26]

Das Proletariat muss sich unabhängig vom Übergangsstaat organisieren

Wie hätte das Proletariat in Russland das Kräfteverhältnis umdrehen, die Sowjets wieder beleben, das Wachsen des nachrevolutionären Staates aufhalten und dabei das Tor zu dessen wirklichen Absterben aufstoßen und die weltweite revolutionäre Bewegung vorwärts bringen können?

Diese Frage hätte nur in einer Entwicklung der Weltrevolution gelöst werden können. „In Russland konnte das Problem nur gestellt werden.“[27] „(…) musste es klar sein, dass es in Europa unermesslich schwieriger ist, die Revolution anzufangen, dass es bei uns unermesslich leichter ist, anzufangen, aber schwieriger als dort sein wird, die Revolution fortzuführen“[28].

Im Zusammenhang mit dem Kampf für eine Weltrevolution gab es in Russland zwei konkrete Aufgaben: die Partei für das Proletariat bewahren, indem man sie wegzieht aus den Fängen des Staates, sich selbst in den Arbeiterräten organisieren, die fähig sind, die Sowjetstruktur neu zu schaffen. Wir behandeln hier nur den letzten Aspekt.

Das Proletariat muss sich unabhängig vom Übergangsstaat organisieren und seine eigene Diktatur über ihn ausüben. Das mag jenen dumm vorkommen, die eine Vorliebe für einfache Formeln und Syllogismen haben und sagen, dass der Staat, wenn das Proletariat herrschende Klasse, sein treustes Organ sein müsse. In Staat und Revolution schrieb Lenin unter Bezugnahme auf Marxens Kritik des Gothaer Programms von 1875: „In seiner ersten Phase, auf seiner ersten Stufe kann der Kommunismus ökonomisch noch nicht völlig reif, völlig frei von Traditionen, von den Spuren des Kapitalismus sein. Daraus erklärt sich eine so interessante Erscheinung wie das Fortbestehen des „engen bürgerlichen Rechtshorizonts“ während der ersten Phase des Kommunismus. Das bürgerliche Recht setzt natürlich in Bezug auf die Verteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürgerlichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen. So ergibt sich, dass im Kommunismus nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern auch der bürgerliche Staat – ohne Bourgeoisie!“[29]

Der Staat in der Übergangsperiode[30] ist ein „bürgerlicher Staat ohne Bourgeoisie“[31], oder, um es präziser zu fassen, ein Staat, der noch die tiefsten Charakterzüge einer Klassengesellschaft trägt, einer Ausbeutungsgesellschaft: In dieser Phase gelten nach wie vor bürgerliches Recht[32], das Wertgesetz, der moralische und geistige Einfluss des Kapitalismus. Die Übergangsgesellschaft trägt noch viele Aspekte der alten Gesellschaft in sich, aber sie hat bereits eine tiefe Veränderung durchgemacht, die lebendig bleiben muss, weil sie das Einzige ist, das zum Kommunismus führen kann: die massenhafte, bewusste und organisierte Tätigkeit der großen Mehrheit der Arbeiterklasse, ihre Organisierung zur politisch herrschenden Klasse, die Diktatur des Proletariats.

Die tragische Erfahrung der Russischen Revolution zeigt, dass die Organisierung des Proletariats als bestimmende Klasse nicht durch den Übergangsstaat (den Sowjetstaat) erfolgen kann.

Kollontai kritisierte, „dass aber die Arbeiterklasse selbst, als Klasse, als einheitliche, nicht in sich zersplitterte soziale Einheit, mit einheitlichen, gleichartigen Klassenbedürfnissen, -aufgaben und -interessen und folglich auch einer gleichartigen, konsequenten, klipp und klar formulierten Politik, eine immer geringere Rolle in der Sowjetrepublik spielt“[33].

Die Sowjets waren der Kommune-Staat, von dem Engels als der politischen Assoziation der Volksklassen sprach. Dieser Kommune-Staat spielt eine unabdingbare Rolle bei der Unterdrückung der Bourgeoisie im Verteidigungskrieg gegen den Imperialismus und bei der Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an gesellschaftlichem Zusammenhalt, aber er kann nicht den Kampf für den Kommunismus selber führen. Marx sah das bereits in seinem (ersten) Entwurf des Bürgerkriegs in Frankreich voraus: „so ist die Kommune nicht die soziale Bewegung der Arbeiterklasse und folglich nicht die Bewegung einer allgemeinen Erneuerung der Menschheit, sondern ihr organisiertes Mittel der Aktion. Die Kommune beseitigt nicht den Klassenkampf, durch den die arbeitenden Klassen die Abschaffung aller Klassen, und folglich aller [Klassenherrschaft] erreichen wollen (…), aber sie schafft das rationelle Zwischenstadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiednen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann.“[34] Prosper Lissagaray kritisiert in seiner Geschichte der Commune von 1871 „das Zaudern, die Verwirrungen und – in einigen Fällen – leeren Phrasen gewisser Delegierter im Rat der Kommune, von denen viele eigentlich nur eine altmodische kleinbürgerliche Radikalität verkörperten, die oft durch die Versammlungen der proletarischen Viertel in Frage gestellt wurde. Mindestens einer der revolutionären Clubs erklärte, dass die Kommune aufgelöst gehöre, weil sie zu wenig revolutionär sei!“[35]

„(…) der Staat ist in unseren Händen – aber hat er unter den Verhältnissen der Neuen Ökonomischen Politik in diesem Jahr nach unserem Willen funktioniert? Nein. Das wollen wir nicht zugeben: Er hat nicht nach unserem Willen funktioniert. Wie hat er denn funktioniert? Das Steuer entgleitet den Händen: Scheinbar sitzt ein Mensch da, der den Wagen lenkt, aber der Wagen fährt nicht dorthin, wohin er ihn lenkt, sondern dorthin, wohin ein anderer ihn lenkt – jemand, der illegal ist, der gesetzwidrig handelt, der von Gott weiß woher kommt (…)“[36]

Um dieses Problem zu lösen, setzte die Bolschewistische Partei verschiedene Maßnahmen um. Einerseits erklärte die 1918 angenommene Sowjetische Verfassung, dass „Der Gesamtrussische Sowjetkongress aus Vertretern der örtlichen Sowjets besteht, wobei die Städte auf je 25'000 Einwohner einen Delegierten und die ländlichen Gebiete auf je 125'000 Einwohner einen Delegierten haben. Dieser Artikel kodifizierte die Vorherrschaft des Proletariats gegenüber der Bauernschaft“[37], während andererseits das Programm der Bolschewistischen Partei, das 1919 angenommen wurde, festhielt: „erstens (ist) jedem Mitglied eines Sowjets unbedingt eine bestimmte Arbeit auf dem Gebiet der Staatsverwaltung zu übertragen, zweitens (sind) diese Arbeiten nacheinander zu wechseln, so dass sie den ganzen Aufgabenkreis der Staatsverwaltung, alle ihre Zweige erfassen, und drittens, (ist) durch eine Reihe allmählicher und behutsam ausgewählter, aber unbeirrt durchgeführter Maßnahmen die ganze werktätige Bevölkerung ohne jede Ausnahme zu selbständiger Teilnahme an der Verwaltung des Staates heranzuziehen“.[38]

Diese Maßnahmen standen unter dem Einfluss der Lehren aus der Pariser Commune. Sie zielten darauf ab, den Privilegien und Vorrechten der Staatsbeamten Grenzen zu setzen. Aber dies wirksam umzusetzen, wäre nur das autonom, unabhängig vom Staat[39] in Arbeiterräten organisierte Proletariat in der Lage gewesen.

Der Marxismus ist eine lebendige Theorie, die auf der Grundlage der geschichtlichen Erfahrungen vertieft und berichtigt werden muss. Indem die Bolschewiki die von Marx und Engels vermachten Lehren aus der Pariser Commune zogen, verstanden sie, dass der Kommune-Staat, der seinem eigenen Verschwinden entgegen gehen sollte, der Ausdruck der Sowjets sei. Aber gleichzeitig setzten sie ihn fälschlicherweise einem proletarischen Staat gleich[40] und meinten, dieser Prozess laufe von selbst ab, aus dem Staat heraus.[41] Die Erfahrung der Russischen Revolution lehrt, dass es für den Staat nicht möglich ist, einfach selber abzusterben, und deshalb muss man unterscheiden zwischen den Arbeiterräten und den allgemeinen Sowjets; jene sind der Ort, wo das Proletariat sich selber organisiert und seine Diktatur über den Übergangs-Kommune-Staat ausübt, der sich darstellt in den allgemeinen Sowjets.

Nach der Machtergreifung durch die Sowjets muss das Proletariat seine eigene Organisation erhalten und aufbauen, die unabhängig von den Sowjets handeln: die roten Garden, die Fabrikkomitees, die Nachbarschaftskomitees, die Arbeiterabteilungen der Sowjets, die Vollversammlungen.

Die Fabrikkomitees, das Herz der Organisation der Arbeiterklasse

Wir haben schon gesehen, wie die Fabrikkomitees eine entscheidende Rolle während der Krise der Sowjets im Juli gespielt hatten,[42] und wie sie vor der Manipulation der Bourgeoisie bewahrt werden konnten, um im Oktober ihre Rolle als Organe des Aufstands spielen zu können.[43] Im Mai 1917 befand die Konferenz der Fabrikkomitees von Jarkow (Ukraine), das diese sich in „Organe der Revolution umwandeln und sich der Konsolidierung ihrer Siege widmen sollen“.[44] Zwischen dem 7. und dem 12. Oktober beschloss eine Konferenz der Fabrikkomitees Petrograds, einen zentralen Rat der Fabrikkomitees zu bilden, der den Namen Arbeitersektion des Petrograder Sowjets erhielt. Dieser Zentralrat begann unmittelbar aktiv in die Politik der Sowjets zu intervenieren, die sich dadurch zunehmend radikalisierten. In seinem Werk Die Sowjetischen Gewerkschaften anerkennt Isaac Deutscher, dass „die mächtigsten und gefürchtetsten Werkzeuge der Revolution die Fabrikkomitees gewesen sind, und nicht die Gewerkschaften“[45].

Zusammen mit den anderen Basisorganisationen, die direkt und organisch aus der Klasse heraus entstanden waren, drückten die Fabrikkomitees in natürlicher Weise und authentischer als die Sowjets die Gedanken, die Tendenzen und die Fortschritte der Arbeiterklasse aus, indem sie eine tiefgreifende Symbiose mit ihr aufrechterhielten.

Während der Übergangsphase zum Kommunismus hat das Proletariat auf der Ebene der Wirtschaft keineswegs die Rolle der herrschenden Klasse. Aus diesem Grunde kann sie, anders als die Bourgeoisie unter dem Kapitalismus, die Macht nicht an eine institutionelle Macht delegieren, in diesem Falle den Staat. Hinzu kommt noch, dass er trotz seiner Eigenschaften als Kommune-Staat nicht der Vertreter der spezifischen Interessen des Proletariats ist, die von der revolutionären Veränderung der Welt bestimmt werden, sondern er vertritt die Interessen der gesamten nichtausbeutenden Klassen. Endlich ist die unausweichliche Tendenz des Staatswesens zur Bürokratisierung der Grund für seine Verselbständigung und Entgegenstellung zu den Massen, indem er ihnen seine Herrschaft aufzwingt. Aus diese Grunde kann die Diktatur des Proletariats nicht von einem staatlichen Organ aus kommen, sondern von einer Kampfkraft, von Debatten und ständiger Mobilisierung, einem Organ also, das die Unabhängigkeit der Klasse sichert, die Bedürfnisse der Arbeitermassen vertritt und ihre eigene Veränderung in den Aktionen und Diskussionen erlaubt.

Wir haben am Ende des vierten Artikels dieser Serie aufgezeigt, dass nach der Machübernahme die Basisorganisationen der Sowjets und die Kampforgane der Klasse zunehmend verschwanden. Dies war eine tragische Phase, welche das Proletariat schwächte und den sozialen Zerfall beschleunigte, unter dem es litt.

Die Rote Garde, welche 1905 nur vorübergehend entstanden war, erstand im Februar 1917 unter der Kontrolle der Arbeiterkomitees wieder auf. Es gelang ihr, um die 100’000 Mitglieder zu mobilisieren. Sie blieb bis Mitte 1918 aktiv, aber der Bürgerkrieg stürzte sie in eine schlimme Krise. Die enorme Übermacht der imperialistischen Streitkräfte hat die Unfähigkeit der Roten Garde, sich ihnen entgegenzustellen, zu Tage gebracht. Die Einheiten im südlichen Russland unter dem Kommando von Antonov Owsejenko haben heroischen Widerstand geleistet, sie wurden trotzdem hinweggefegt und geschlagen. Opfer ihrer Angst vor der Zentralisierung sind die Einheiten, die weiterhin versuchten, operativ tätig zu sein, ohne jeglichen Nachschub geblieben, z.B. fehlten die Patronen. Es war vor allem eine städtische Miliz mit beschränkter Bewaffnung und Ausbildung. Sie hatte auch keine Organisationserfahrung, man hätte sie höchstens als Nothilfetrupp oder Hilfstrupp einer organisierten Armee einsetzen können, für einen regulären Krieg war sie aber nicht geeignet. Die Notwendigkeit des Augenblicks erforderte, dass in aller Eile eine Rote Armee mit aller militärischen Rigidität gebildet wurde.[46] Diese absorbierte viele Einheiten der Roten Garde, die sich als solche aufgelöst hatte. Es gab bis 1919 Versuche, die Rote Garde wieder aufzubauen, einige Sowjets boten ihre Mitarbeit der Roten Armee an. Dies wurde aber von ihr systematisch abgelehnt, wenn nicht sogar solche Einheiten gewaltsam aufgelöst wurden.

Das Verschwinden der Roten Garde gab dem sowjetischen Staat eine der klassischen Prärogativen des Staats, das Gewaltmonopol, was umgekehrt dem Proletariat einen großen Teil seiner Verteidigungsmittel aus der Hand schlug, da es nun über keine eigene militärische Macht mehr verfügte.

Die Quartierkomitees verschwanden Ende 1919. Sie wurden integriert in die proletarische Organisation der Arbeiter der kleinen Unternehmen und des Handels, der Arbeitslosen, der Jungen, der Rentner, der Familien, die Teile der gesamten Arbeiterklasse waren. Es handelte sich dabei auch um ein wesentliches Mittel, um die proletarischen Ideen und Taten nach und nach in den Schichten der städtischen Randständigen, der Handwerker, Kleinbauern etc. zu verbreiten.

Das Verschwinden der Fabrikkomitees war ein entscheidender Schlag. Wie wir im vierten Artikel dieser Serie gesehen haben, geschah dies schnell, und schon Ende 1918 gab es sie nicht mehr. Die Gewerkschaften spielten bei deren Zerstörung eine entscheidende Rolle.

Der Konflikt brach offen auf einer chaotischen Gesamtrussischen Konferenz der Fabrikkomitees am Vorabend der Oktoberrevolution aus. Während der Debatten tauchte die Idee auf: „Wenn die Fabrikkomitees gebildet werden, haben die Gewerkschaften aufgehört zu existieren, und die Fabrikkomitee haben die Lücke gefüllt“. Ein anarchistischer Delegierter erklärte, dass „die Gewerkschaften die Fabrikkomitees aufsaugen wollen. Die Leute haben nichts gegen die Fabrikkomitees, aber es gibt eine Unzufriedenheit mit den Gewerkschaften. Für den Arbeiter ist die Gewerkschaft eine von außen aufgezwungene Organisationsform. Das Fabrikkomitee steht ihnen näher.“ Eine der von der Konferenz angenommenen Resolutionen hielt fest: „‘Arbeiterkontrolle – innerhalb der von der Konferenz gezogenen Grenzen – ist nur unter der politischen und wirtschaftlichen Herrschaft der Arbeiterklasse möglich‘. Sie warnte vor ‚isolierten‘ und ‚ungeordneten‘ Aktionen und wies darauf hin, dass ‚die Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter und ihr Einsatz für den persönlichen Profit mit den Zielen des Proletariats nicht vereinbar‘ sei.“[47]

Die Bolschewiki verteidigten dogmatisch die Idee, dass die Gewerkschaften die wirtschaftlichen Organe des Proletariats seien, und sie nahmen Stellung für sie im Konflikt zwischen ihnen und den Fabrikkomitees. Auf derselben Konferenz brachte ein bolschewistischer Delegierter vor, dass „die Fabrikkomitees ihre Kontrollfunktionen zugunsten der Gewerkschaften ausüben müssen und darüber hinaus finanziell von ihnen abhängig sein sollten“.[48]

Am 3. November 1917 erließ der Rat der Volkskommissare ein Dekret über die Arbeiterkontrolle, in welchem stand, dass die Beschlüsse der Fabrikkomitees durch die „Gewerkschaften und Gewerkschaftskongresse“ aufgehoben werden können[49]. Dieser Entscheid rief lebhaften Protest bei den Fabrikkomitees und Parteimitgliedern hervor. Schließlich wurde das Dekret abgeändert: Von den 21 Delegierten, die den Rat der Arbeiterkontrolle bildeten, vertraten 10 die Gewerkschaften und nur 5 die Fabrikkomitees! Dieses Ungleichgewicht versetzte die Letzteren nicht bloß in eine Schwächeposition, sondern pferchte sie in die Logik der Verwaltung der Produktion, was sie gegenüber den Gewerkschaften noch verletzlicher machte.

Obwohl der Sowjet der Fabrikkomitees während mehrerer Monate am Leben gehalten wurde und sogar versuchte, einen allgemeinen Kongress zu organisieren (siehe den vierten Artikel dieser Reihe), gelang es den Gewerkschaften schließlich, die Fabrikkomitees aufzulösen. Der Zweite Gewerkschaftskongress, der vom 25. bis 27. Januar 1919 abgehalten wurde, nahm eine Resolution an, die „verlangte, dass ‚den Verwaltungsvorrechten der Gewerkschaften offizieller Status zuerkannt‘ werde. Er sprach von der ‚Verstaatung‘ (ogosud arstvlenie) der Gewerkschaften, da ihre Funktion sich ausweitete und verschmolz mit der Regierungsmaschinerie der industriellen Verwaltung und Kontrolle“[50].

Mit dem Verschwinden der Fabrikkomitees „wurden die Industriearbeiter im ‚sowjetischen‘ Russland 1920 ‚wieder der Autorität der Geschäftsführung, der Arbeitsdisziplin, der Lohnanreize, dem wissenschaftlichen Management unterworfen – den bekannten Formen der kapitalistischen Industrieorganisation mit denselben bourgeoisen Managern, mit dem einzigen Unterschied, dass der Staat als Eigentümer fungierte‘“[51]. Die Arbeiter waren wieder völlig atomisiert, ohne ihre eigene Einheitsorganisation, denn die Sowjets wurden immer mehr dem klassischen Wahlprozedere der bürgerlichen Demokratie angeglichen und zu bloßen Parlamenten.

Nach der Revolution gibt es noch nicht den Überfluss, und die Arbeiterklasse ist weiterhin den Bedingungen im Reich der Notwendigkeit unterworfen, die auch Ausbeutung in der ganzen Phase miteinschließt, in welcher die Weltbourgeoisie noch nicht geschlagen ist. Sogar über diesen Zeitpunkt hinaus, nämlich so lange die Integration der anderen gesellschaftlichen Schichten in die assoziierte Arbeit nicht abgeschlossen ist, wird die Anstrengung zur Produktion des wesentlichen Reichtums hauptsächlich durch das Proletariat geleistet werden. Der Weg zum Kommunismus wird deshalb von einem ständigen Kampf begleitet sein, die Ausbeutung zu vermindern, bis sie schließlich verschwunden sein wird.[52] „Um ihre politische Herrschaft kollektiv ausüben zu können, muss die Arbeiterklasse die grundlegenden materiellen Bedürfnisse des Lebens gesichert und insbesondere genügend Zeit und Energie haben, um sich am politischen Leben beteiligen zu können.“[53] Marx schrieb: „Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen.“[54] Wenn das Proletariat nach der Machtergreifung ein ständiges Anwachsen seiner Ausbeutung akzeptiert, wir es unfähig sein, den Kampf für den Kommunismus zu führen.

Das geschah im nach-revolutionären Russland. Die Ausbeutung der Arbeiterklasse stieg in unglaublichem Ausmaß an, je mehr sie ihre Autonomie und ihre Selbstorganisierung verlor. Dieser Prozess wurde unumkehrbar, als sich herausstellte, dass die Ausbreitung der Revolution gescheitert war. Die Gruppe Arbeiterwahrheit[55] drückte die Lage klar aus: „die Revolution endete in einer vollständigen Niederlage der Arbeiterklasse (…) Die Bürokratie und die NEP-Leute sind eine neue Bourgeoisie geworden, die von der Ausbeutung der Arbeiter lebt und von ihrer Desorganisierung profitiert. Da die Gewerkschaften in den Händen der Bürokratie sind, sind die Arbeiter hilfloser denn je. (…) Die Kommunistische Partei (…) hat, nachdem sie zur herrschenden Partei geworden ist, zur Partei der Organisatoren und Führer des Staatsapparats und des auf kapitalistischer Grundlage beruhenden wirtschaftlichen Lebens, unwiderruflich ihre Verbindungen und ihre Gemeinsamkeit mit dem Proletariat verloren“.[56]      

C. Mir, 28.12.2010


[1] Vgl. die zum Thema publizierten Artikel, z.B.: „Probleme der Übergangsperiode (1975) [75]“; Kapitel 7 aus dem Buch Italienische Kommunistische Linke, „Bilanz der Russischen Revolution, Partei, Gewerkschaften, Klassenkampf, der Staat in der Übergangsperiode“, /content/713/kapitel-7-bilanz-der-russischen-revolution-partei-gewerkschaften-klassenkampf-der-staat [76]; Aus der Serie über den Kommunismus: „Wie das Proletariat sich organisiert, um den Kapitalismus zu stürzen“, https://de.internationalism.org/node/201 [77]

[2] Bilan Nr. 18, Organ der Fraktion der Kommunistischen Linken Italiens, S. 618. Bilan setzte die Arbeiten von Marx, Engels und Lenin in der Frage des Staats fort, insbesondere betreffend seine Rolle in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus, des Staats, den Bilan in Anlehnung an eine Formulierung von Engels als „Geissel, die das Proletariat als Erbe übernimmt und der gegenüber wir ein schon fast instinktives Misstrauen hegen“ (Bilan Nr. 26, S. 874), betrachtete.

[3] Internationalisme Nr. 10, Organ der Gauche communiste de France (GCF), der Kommunistischen Linken Frankreichs, 1945-1953. Die Kommunistische Linke Frankreichs setzte das Werk von Bilan fort und war Vorfahre unserer Organisation.

[4] Linke Tendenz, die in der Partei 1920-21 auftauchte. Das Ziel des vorliegenden Artikels liegt nicht darin, die verschiedenen Linksfraktionen zu analysieren, die in der bolschewistischen Partei als Antwort auf die Degenerierung entstanden sind. Wir verweisen dazu auf die zahlreichen anderen Artikel, die wir zu diesem Thema schon publiziert haben, z.B. Die Kommunistische Linke Russlands, /content/747/kommunistische-linke-russlands [78].

Es ist zu unterstreichen, dass der Arbeiteropposition zwar das Verdienst zukam, die Probleme der Revolution zu erkennen, aber die Lösungen, die sie vorschlug, verschlimmerten die Sache nur. Sie ging davon aus, dass die Gewerkschaften immer mehr Macht haben sollten. Sie dachte richtigerweise, dass der „Sowjetapparat (…) eine gemischte soziale Zusammensetzung aufweist“, stellte aber die Frage: „Wer soll die Potenzen der Diktatur des Proletariats auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Aufbaus verwirklichen? Sollen es die Organe sein, die ihrer Zusammensetzung nach Klassenorgane sind, die unmittelbar, durch lebendige Bande mit der Produktion verknüpft sind, d.h. also die Gewerkschaften (…)?“, um sie zu bejahen (zit. nach Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Olten, 1967, S. 190, aus einer Rede Alexandra Kollontais). Diese Sichtweise reduziert einerseits die Aktivitäten des Proletariats auf den engen Bereich des „wirtschaftlichen Aufbaus“ und schreibt andererseits bürokratischen Organen, welche die Fähigkeiten des Proletariats verstümmeln, den Gewerkschaften, eine utopische Mission zu, nämlich die Selbsttätigkeit der Massen zu entwickeln.

[5] Vgl. Maurice Brinton, The Bolsheviks and Workers‘ Control, Einführung, https://www.marxists.org/archive/brinton/1970/workers-control/index.htm [79]. 

[6] zit. nach Marcel Liebmann, Le Léninisme sous Lénine, S. 167

[7] E.H. Carr, The Bolshevik Revolution, Kap. VIII, “Der Aufstieg der Partei”, S. 192 der Penguin-Ausgabe von 1973

[8] Ebenda, Note A, “Lenins Staatstheorie”, S. 251.

[9] Aus Internationale Revue 99 (engl./frz./span. Ausgabe), “Das Scheitern der Russischen Revolution verstehen” (Teil 1), S. 17.

[10] Ebenda, Zitat von Ossinski, einem Mitglied der linken Flügel in der Partei.

[11] Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, S.181 der spanischsprachigen Ausgabe, von uns übersetzt.

[12] Brinton, a.a.O., Kapitel über 1920. Die Glavki waren Staatsorgane für das Management der Wirtschaft.

[13] Lenin, März 1919, Sitzung des Petrograder Sowjets, Werke Bd. 29 S. 15.

[14] Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, S. 213 der spanischsprachigen Ausgabe, von uns übersetzt.

[15] Zitiert nach Marcel Liebman, Le Léninisme sous Lénine, S. 109

[16] International Review Nr. 99 (engl./frz./span. Ausgabe), a.a.O.

[17] Diese Sorge fand ein Echo bei der Kommunistischen Linken, die „1919 den Wunsch äußerte, man möge eine klarere Unterscheidung machen zwischen Staat und Partei. Ihnen schien es, dass diese mehr als jener auf den Internationalismus konzentriert war, was auf der Linie ihrer eigenen Sorgen lag. Die Partei sollte in einer gewissen Weise die Rolle des Gewissens der Regierung und des Staates spielen“ (Marcel Liebman, a.a.O.). Bilan beharrte auf dieser Gefahr für die Partei, vom Staat aufgesogen zu werden, und für die Arbeiterklasse, ihre Vorhut und ihre Hauptstütze, die Sowjets, zu verlieren: „Die Verwechslung zwischen diesen beiden Begriffen der Partei und des Staates ist besonders schädlich, da es nicht möglich ist, diese beiden Organe zu versöhnen, da es einen unauflösbaren Gegensatz gibt im Wesen, in der Funktion und in den Zielen von Staat und Partei. Das Adjektiv ‚proletarisch’ ändert nichts am Wesen des Staates, der ein ökonomisches oder politisches Zwangsorgan bleibt, während die Partei ein Organ ist, dessen Rolle insbesondere darin besteht, die Befreiung der Arbeiter nicht durch Zwang, sondern durch politische Erziehung zu erreichen“ (Bilan Nr. 26, S. 871).

[18] Pierre Broué, Trotsky, S. 255. Der Autor erzählt die Schilderung des anarchistischen Schriftstellers Leonard Schapiro.

[19] E.H. Carr, The Bolchevik Revolution, Ch. VIII, “The Ascendancy of the party”, Pelican Books, S. 212

[20] Marcel Liebman, a.a.O.

[21] Diese Theorie beruhte auf einer damals von allen Revolutionären geteilte Verwirrung über die Partei, ihr Verhältnis zur Klasse und die Frage der Macht, wie wir schon in einem Artikel der Serie über den Kommunismus, in International Review Nr. 91 (engl./frz./span. Ausgabe) geschrieben haben: „die damaligen Revolutionäre steckten trotz ihrem Engagement für das Rätesystem der Delegation, welches das alte System der parlamentarischen Repräsentation überflüssig machte, noch insofern in der parlamentarischen Ideologie fest, als sie in der Partei, die in den zentralen Sowjets die Mehrheit hatte, das Organ sahen, das die Regierung stellen und den Staat verwalten sollte.“ Tatsächlich wurde die alte Verwirrung verstärkt und bis zu ihrem Extrem getrieben durch die Theoretisierung des immer klareren Beweises der Verwandlung der Bolschewistischen Partei in den Partei-Staat.

[22] Marcel Liebman, a.a.O., S. 280

[23] A.a.O.

[24] A.a.O.

[25] Zitiert in Brintons Broschüre, Kapitel über 1921. Trotzki lag richtig mit der Idee, dass die Klasse durch Phasen der Verwirrung und des Zauderns gehen kann, während die Partei umgekehrt mit einem strengen theoretischen und programmatischen Gerüst gewappnet die Trägerin der geschichtlichen Interessen der Klasse ist und diese Interessen in ihr vertreten soll. Aber sie kann dies nicht mittels einer Diktatur über das Proletariat tun, die es nur schwächt, was zu weiterem Zaudern führt.

[26] Die Plattform der Gruppe der Fühnzehn wurde außerhalb Russlands erstmals durch den Zweig der Italienischen Linken veröffentlicht, welcher in den späten 1920er Jahren die Zeitung Reveil Commniste herausgab. Sie erschien auf Deutsch und Französisch unter dem Titel Vor dem Thermidor. Revolution und Konterrevolution in Sowjetrussland. Die Plattform der linken Opposition in der bolschewistischen Partei (Sapronow, Smirnow, Oborin, Kalin usw.) Anfang 1928.

[27] Rosa Luxemburg, Die Russische Revolution

[28] Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees vom 7. März 1918 an den Außerordentlichen 7. Parteitag der KPR(B), Werke Bd. 27 S. 79 f.

[29] Kapitel V, „4. Die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft“

[30] Wie Marx benutzte auch Lenin den Begriff „erste Phase des Kommunismus“ nicht sauber, denn in Wirklichkeit leben wir nach der Zerstörung des bürgerlichen Staats immer noch unter einer Form des Kapitalismus mit einer besiegten Bourgeoisie, und wir denken, es ist präziser, wenn wir stattdessen von einer „Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus“ sprechen.

[31] In Verratene Revolution greift Trotzki die gleiche Idee auf, wenn er über den „doppelten“ Charakter des Staates spricht, „sozialistisch“ auf der einen Seite, aber „bürgerlich ohne Bourgeoisie“ auf der anderen. Vgl. dazu auch unseren Artikel in der Serie über den Kommunismus in International Review Nr. 105.

[32] Wie Marx in der Kritik des Gothaer Programms sagte, hat der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ noch gar nichts mit Sozialismus zu tun.

[33] Alexandra Kollontai in einer Intervention am 10. Parteitag, 1921, zitiert nach Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Olten, 1967, S. 184. Ante Ciliga geht in seinem Buch Dix ans au pays du mensonge déconcertant in eine ähnliche Richtung: „Was diese Opposition vom Trotzkismus trennte, war nicht nur die Art, das Regime zu beurteilen und die gegenwärtigen Probleme zu verstehen. Vielmehr ging es dabei um das Verständnis der Rolle des Proletariats in der Revolution. Für die Trotzkisten war die Partei, für die Gruppen der extremen Linken war die Arbeiterklasse der Motor der Revolution. Der Kampf zwischen Stalin und Trotzki betraf die Politik der Partei, das leitende Personal der Partei; für den einen wie für den anderen war das Proletariat nur passives Objekt. Die Gruppen der extremen kommunistischen Linken hingegen interessierten sich vor allem für die Lage und die Rolle der Arbeiterklasse, dafür, was sie tatsächlich in der sowjetischen Gesellschaft war, und dafür, was sie in einer Gesellschaft sein sollte, die sich ehrlich die Aufgabe der Errichtung des Sozialismus stellt.“ (aus der französischen Ausgabe (1977, S. 259) von uns übersetzt, da diese Stelle in der deutschen Ausgabe Im Land der verwirrenden Lüge, Kapitel „Und jetzt?“ fehlt)

[34] Erster Entwurf zum „Bürgerkrieg in Frankreich“, Der Charakter der Kommune

[35] International Review Nr. 77 (engl./frz./span. Ausgabe), “1871, die erste proletarische Revolution”

[36] Lenin, Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPR(B) vom 27. März 1922 an den XI. Parteitag, Werke Bd. 33 S. 266

[37] Victor Serge, L’An I de la Révolution russe, Band II, „Die sowjetische Verfassung“ (Übersetzung von uns)

[38] Entwurf des Programms der KPR(B), Lenin Werke Bd. 29 S. 93

[39] In seinem Grußschreiben an die Bayerische Räterepublik, die nur gerade drei Wochen dauern sollte, bevor sie im Mai 1919 durch die Truppen der sozialdemokratischen Regierung niedergeschlagen wurde, scheint Lenin für die Unabhängigkeit der Arbeiterräte einzutreten: „Die schnellste und umfassendste Durchführung dieser und ähnlicher Maßnahmen bei eigener Initiative der Arbeiter- und Landarbeiterräte und gesondert von ihnen der Kleinbauernräte wird Ihre Stellung festigen.“ 27. April 1919, Werke Bd. 29 S. 314

[40] Lenin scheint seine Zweifel darüber gehabt zu haben, denn er nannte diesen Staat bei verschiedenen Gelegenheiten „einen Arbeiter- und Bauernstaat mit bürokratischen Auswüchsen“; und 1921 während der Debatte über die Gewerkschaftsfrage vertrat er die Auffassung, dass das Proletariat in Gewerkschaften organisieren sollte und das Recht habe, sich mit Streiks gegen „seinen“ Staat zu verteidigen: „Indessen macht aber Gen. Trotzki (…) gleich selber einen Fehler. Nach ihm ist der Schutz der materiellen und geistigen Interessen der Arbeiterklasse nicht Sache der Gewerkschaften im Arbeiterstaat. Das ist ein Fehler. Gen. Trotzki spricht vom ‚Arbeiterstaat’. Mit Verlaub, das ist eine Abstraktion. Als wir 1917 vom Arbeiterstaat schrieben, war das verständlich; sagt man aber jetzt zu uns: ‚Wozu und gegen wen soll die Arbeiterklasse geschützt werden, wo es doch keine Bourgeoisie gibt, wo wir doch einen Arbeiterstaat haben’, so begeht man einen offensichtlichen Fehler. Es ist nicht ganz ein Arbeiterstaat, das ist es ja gerade. Hier liegt eben einer der grundlegenden Fehler des Gen. Trotzki. Wir sind jetzt von den allgemeinen Prinzipien zur sachlichen Erörterung und zu Dekreten übergegangen, man will uns aber von der Inangriffnahme des Praktischen und Sachlichen zurückzerren. So geht es nicht. Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat. Das zum ersten. Daraus aber folgt sehr viel. (Bucharin: „Was für einen Staat? Einen Arbeiter- und Bauernstaat?“) Gen. Bucharin schreit zwar da hinten: ‚Was für einen Staat? Einen Arbeiter- und Bauernstaat?’, ich werde ihm aber darauf nicht antworten. Wer Lust hat, der mag sich an den soeben zu Ende gegangenen Sowjetkongress erinnern, und das wird schon einen Antwort sein. – Aber nicht genug damit. Aus unserem Parteiprogramm – einem Dokument, das dem Verfasser des ‚ABC des Kommunismus’ sehr gut bekannt ist –, aus diesem Programm ist bereits ersichtlich, dass unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist. Ja, mit diesem traurigen – wie soll ich mich ausdrücken? – Etikett mussten wir ihn versehen. Da haben Sie die Realität des Übergangs. Was meinen Sie, haben in einem praktisch derart beschaffenen Staat die Gewerkschaften nichts zu schützen, kann man ohne sie auskommen, wenn man die materiellen und geistigen Interessen des in seiner Gesamtheit organisierten Proletariats schützen will? Das ist theoretisch eine völlig falsche Argumentation. Das versetzt uns in den Bereich der Abstraktion oder des Ideals, das wir in 15-20 Jahren erreichen werden; aber ich bin nicht einmal so sicher, dass wir es in dieser Frist erreichen werden. Wir haben aber die Wirklichkeit vor uns, die wir gut kennen, wenn wir uns nur nicht berauschen und nicht hinreißen lassen von Intellektuellengerede oder von abstrakten Betrachtungen oder von dem, was manchmal als ‚Theorie’ erscheint, in Wirklichkeit aber ein Irrtum, eine falsche Einschätzung der Besonderheiten des Übergangs ist. Unser heutiger Staat ist derart beschaffen, dass das in seiner Gesamtheit organisierte Proletariat sich schützen muss, wir aber müssen diese Arbeiterorganisationen zum Schutz der Arbeiter gegenüber ihrem Staat und zum Schutz unseres Staates durch die Arbeiter ausnutzen.“ Über die Gewerkschaften, die gegenwärtige Lage und die Fehler Trotzkis, 30. Dezember 1920, Werke Bd. 32 S. 6 f.

[41] Lenin trat für eine Arbeiter- und Bauerninspektion (1922) ein, die aber schnell ihr Ziel der Kontrolle verfehlte und sich in eine zusätzliche bürokratische Kommission verwandelte.

[42] Vgl. Internationale Revue Nr. 49, „Was sind Arbeiterräte?“, Teil 2: „Das Wiederaufleben und die Krise der Arbeiterräte 1917“.

[43] Vgl. Internationale Revue Nr. 49, „Was sind Arbeiterräte?“, Teil 3: „Die Revolution von 1917 (von Juli bis Oktober): Von der Erneuerung der Arbeiterräte zur Machtergreifung“.

[44] Brinton, a.a.O., siehe Fußnote 10 S. 32 der spanischen Ausgabe, von uns übersetzt.

[45] Ebenda., S. 47 der spanischen Ausgabe, von uns übersetzt.

[46] Ohne hier in die Diskussion über die Notwendigkeit einer Roten Armee in dieser Phase der Übergangsperiode einzutauchen, die wir die Phase des Weltbürgerkriegs nennen können (d.h. solange das Proletariat noch nicht weltweit die Macht übernommen hat), scheint doch am russischen Beispiel offensichtlich, was folgt: Die Bildung der Roten Armee, ihre rasche Bürokratisierung und Behauptung als staatliches Organ, das gänzliche Fehlen eines proletarischen Gegengewichts in der Armee – all dies war Ausdruck eines für das Proletariat auf Weltebene sehr ungünstigen Kräfteverhältnisses zur Bourgeoisie. Wie wir im Artikel der Serie über den Kommunismus in der International Review Nr. 96 (engl./frz./span. Ausgabe) bemerkt haben: „Je mehr sich die Revolution weltweit ausdehnt, umso mehr wird sie direkt durch die Arbeiterräte und ihre Milizen geleitet, umso mehr werden die politischen über die militärischen Gesichtspunkte die Oberhand gewinnen, umso weniger wird es eine ‚Rote Armee‘ brauchen, um den Kampf zu führen“.

[47] Zitiert nach Brinton, Kapitel über 1917. Begeistert über den Ausgang der Konferenz, erklärte Lenin, dass „wir das Gravitationszentrum zu den Fabrikkomitees verschieben müssen. Die Fabrikkomitees müssen die Organe des Aufstands werden. Wir müssen unsere Parole ändern, statt ‚Alle Macht den Sowjets‘, müssen wir sagen: ‚Alle macht den Fabrikkomitees‘“ (ebda.).

[48] Ebenda, S. 35 der spanischen Ausgabe.

[49] Ebenda, S. 50 der spanischen Ausgabe.

[50] Ebenda., Kapitel über 1919. Die russische Erfahrung zeigt schlüssig das reaktionäre Wesen der Gewerkschaften auf, ihre unabwendbare Tendenz, sich in staatliche Struktur zu verwandeln und ihr unauflöslicher Gegensatz zu den neue Organisationsformen, die das Proletariat ab 1905 auf dem Hintergrund der neuen Bedingungen im dekadenten Kapitalismus und angesichts der Notwendigkeit der Revolution entwickelt hatte.

[51] Brinton, Kapitel über 1920, aus R.V. Daniels’ The Conscience of the Revolution zitierend.

[52] „Eine Politik der proletarischen Verwaltung kann deshalb (…) nur dann einen sozialistischen Inhalt haben, wenn sie einen wirtschaftlichen Kurs verfolgt, der dem kapitalistischen diametral entgegen gesetzt ist, wenn er eine zunehmende und konstante Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen verfolgt, und nicht eine Verschlechterung“ (Bilan Nr. 28, „Probleme der Übergangsperiode“).

[53] International Review Nr. 95 (engl./frz./span. Ausgabe), “Das Programm der Diktatur des Proletariats”

[54] Marx, Lohn Preis und Profit

[55] Die Gruppe entstand 1922; sie war eine der letzten linken Fraktionen, die aus der Bolschewistischen Partei im Kampf für ihr Wiedererstehen, für ihre Wiederaneignung durch die Arbeiterklasse hervorgingen. Vgl. das Buch der IKS The Russian Communist Left.

[56] zit. nach Maurice Brinton, The Bolsheviks and Workers‘ Control, Übersetzung von uns aus dem Englischen

Immigration und Arbeiterbewegung

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Mit der Verschlimmerung der globalen Wirtschaftskrise und des gesellschaftlichen Zerfalls werden die Lebensbedingungen weltweit, besonders in den unterentwickelten Ländern, immer unerträglicher. Die gesammelten Auswirkungen von wirtschaftlicher Entbehrung, natürlichen Katastrophen, Krieg und ethnischer Säuberung, Hungersnot und völliger Barbarei sind alltägliche Wirklichkeit für Millionen von Menschen geworden und erhöhen dramatisch den Druck für eine Massenflucht. Millionen fliehen Richtung kapitalistische Metropole oder sogar andere unterentwickelten Länder, die etwas besser dran sind, mit dem Ziel, zu überleben und erträglichere Bedingungen zu finden.

Die Vereinten Nationen schätzen, dass es 200 Millionen Einwanderer - etwa 3% der Weltbevölkerung - sind, die außerhalb ihres Heimatlandes leben, doppelt so viele wie 1980. In den USA sind es 33 Millionen Einwohner, die Ausländer sind, das sind 11,7% der Gesamtbevölkerung; in Deutschland 10,1 Millionen, 12,3%; in Frankreich 6,4 Millionen, 10,7%; in Großbritannien 5,8 Millionen, 9,7%; in Spanien 4,8 Millionen, 8,5%; in Italien 2,5 Millionen, 4,3%; in der Schweiz 1,7 Millionen, 22,9%; und in den Niederlanden 1,6 Millionen.[1] Bürgerliche Regierungen und Medienquellen schätzen, dass es mehr als 12 Millionen illegale Einwanderer in den USA und mehr als 8 Millionen in der Europäischen Union gibt. In diesem Zusammenhang ist Immigration überall in den kapitalistischen Metropolen, ja sogar innerhalb der Dritten Welt selber heißes Thema politischer Probleme geworden, wie der gegen Einwanderer gerichtete Aufruhr letztes Jahr in Südafrika zeigte.

Obwohl die Einzelheiten von Land zu Land verschieden sind, folgt die Bourgeoisie gegenüber der Massenmigration im Allgemeinen einem dreiteiligen Muster: 1. Förderung der Einwanderung aus wirtschaftlichen und politischen Gründen; 2. gleichzeitig der Versuch, diese einzuschränken und zu kontrollieren und 3. die Orchestrierung ideologischer Kampagnen, die Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegen die Einwanderer schüren, um die Arbeiterklasse zu spalten.

Die Einwanderung fördern: Die herrschende Klasse verlässt sich auf ausländische Arbeitskräfte, legale und illegale, um Niedriglohnjobs zu besetzen, die für die einheimischen Arbeiter nicht attraktiv genug sind; um eine Reservearmee von Arbeitslosen und Sozialempfängern zur Verfügung zu haben; um die Löhne der Arbeiterklasse niedrig zu halten und die Knappheit der Belegschaft zu kompensieren, die durch ins Rentenalter gekommene Arbeiter und den Rückgang der Geburtenraten der Einheimischen entstanden ist. In den USA ist der herrschenden Klasse genügend bewusst, dass sich komplette Industriezweige wie Einzelhandel, Bau, Fleisch- und Geflügelverarbeitung, Hausmeistersdienstleistungen, Hotels, Restaurants, Pflege und Jugendfürsorge auf die eingewanderte Arbeitskraft, sowohl die legale als auch die illegale, abstützen. Das ist der Grund, warum die Forderungen der Rechtsextremen nach Zwangsdeportation von 12 Millionen illegalen Einwanderer und nach Beschränkung der legalen Einwanderung für die dominierende Fraktion der amerikanischen herrschenden Klasse keineswegs eine vernünftige Alternativpolitik darstellen und als unvernünftig, unpraktisch und schädlich für die amerikanische Wirtschaft zurückgewiesen worden sind.

Einschränken und kontrollieren: Zur gleichen Zeit anerkennt die dominierende Fraktion die Notwendigkeit, den Status von illegalen Einwanderern aufzulösen, um eine Menge von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen zu entschärfen, was die Verfügbarkeit und Abgabe von medizinischen, sozialen, pädagogischen und anderen öffentlichen Diensten einschließt wie auch eine Vielzahl von gesetzlichen Erleichterungen, welche die in den USA geborenen Kinder von Einwanderern und deren Eigentum betreffen. Das war die Kulisse zur vorgeschlagenen Einwanderungsreform in den USA im Frühjahr 2007, die von der Regierung Bush und der republikanischen Führung, den Demokraten (einschließlich der Linken, die im Ex-Senator Edward Kennedy personifiziert war) und den wichtigen Unternehmen unterstützt wurde. Weit davon entfernt ein einwanderungsfreundliches Gesetz zu sein, verlangte es die Militarisierung und Abschottung der Grenzen, die Legalisierung der illegal lebenden Einwanderer im Land und Maßnahmen, um den Strom der Immigranten einzudämmen. Es stellte zwar ein Mittel für die gegenwärtig illegalen Einwanderer im Land zur Verfügung, um ihren Status zu legalisieren, war aber in keiner Weise eine "Amnestie", weil es Wartezeiten und hohe Geldstrafen beinhaltete.

Ideologische Kampagnen: Die Kampagnen zur Anti-Einwanderungspropaganda ändern sich von Land zu Land, aber die Hauptbotschaft ist überall bemerkenswert ähnlich. In erster Linie werden "Latinos" in den USA und Moslems in Europa mit der Behauptung ins Visier genommen, dass neue Einwanderer, besonders papierlose, dafür verantwortlich seien, dass die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sich verschlechtern, indem sie den Einheimischen Jobs wegnähmen, schlechte Löhne akzeptierten, Schulen mit ihren Kindern überfüllten, Sozialfürsorge-Programme in Anspruch nähmen, Verbrechen begingen – kurz: jedes gesellschaftliche Problem vergrößerten, das man sich vorstellen kann. Das ist ein klassisches Beispiel der kapitalistischen Strategie des "Teilens und Herrschens", um Arbeiter gegeneinander auszuspielen und zu trennen und sie für ihre Probleme verantwortlich zu machen, um sie um die Krümel streiten zu lassen, damit sie möglichst nicht verstehen, dass das kapitalistische System selbst für ihr Leiden verantwortlich ist. Das dient dazu, die Fähigkeit der Arbeiterklasse zu untergraben, ihr Bewusstsein, ihre Klassenidentität und Einheit wiederzugewinnen, die von der Bourgeoisie am allermeisten gefürchtet werden. Normalerweise kommt in den kapitalistischen Metropolen dem rechten Flügel der Bourgeoisie die Rolle zu, die Stimmung gegen Einwanderer aufzuheizen und mit unterschiedlichem Erfolg auszubeuten. Diese Stimmungsmache hat jeweils in bestimmten Sektoren des Proletariats ein Echo, aber nirgends hat dieses das barbarische Niveau erreicht, das im fremdenfeindlichen Aufruhr gegen Einwanderer in Südafrika im Mai 2008 zum Ausdruck gekommen ist.

Verschlechterte Bedingungen in den unterentwickelten Ländern in den kommenden Jahren, einschließlich der Auswirkungen des Zerfalls und des Krieges sowie der Klimaveränderung, bedeuten, dass die Immigrationsfrage in Zukunft noch wichtiger wird. Es ist entscheidend, dass die Arbeiterbewegung sich über die Bedeutung des Einwanderungsphänomens, über die Strategie der Bourgeoisie hinsichtlich der Einwanderung in Bezug auf ihre politischen und ideologischen Kampagnen und über die Perspektive des Proletariats in dieser Frage klar ist. In diesem Artikel werden wir die Rolle der Bevölkerungswanderungen in der kapitalistischen Geschichte, die Geschichte der Einwanderungsfrage innerhalb der Arbeiterbewegung und die Einwanderungspolitik der Bourgeoisie untersuchen sowie eine Orientierung für das revolutionäre Eingreifen hinsichtlich der Einwanderung darlegen.

Immigration und Entwicklung des Kapitalismus

Die Migration ist eine zentrale Charakteristik der menschlichen Bevölkerung seit dem Beginn der Geschichte der Menschheit, überwiegend angetrieben vom Bedürfnis unter schwierigen Bedingungen zu überleben. Der moderne Homo Sapiens entwickelte sich vor 160`000 bis 200`000 Jahren in Afrika und man geht davon aus, dass vor 150`000 bis 50`000 Jahren eine Serie von Auswanderungen von Afrika nach Europa und Asien begannen aufgrund der unstabilen klimatischen Situation, die durch verschiedene Eiszeiten bedingt war. Die darauffolgenden Besitzverhältnisse in den Sklavengesellschaften und im Feudalismus banden die Menschen an das Land, doch auch unter diesen Produktionsverhältnissen gab es eine Migration, neue Gebiete wurden erobert und einheimische Bevölkerungen vertrieben. Wie bei anderen Fragen, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist, ist es sinnvoll, die Frage der Immigration im Rahmen zu betrachten, dass der Kapitalismus eine aufsteigende und niedergehende Periode kennt.

In seiner aufsteigenden Periode legte der Kapitalismus ein enormes Gewicht auf die Mobilität der Arbeiterklasse als Faktor zur Entwicklung seiner Produktionsweise. Unter dem Feudalismus war die werktätige Bevölkerung ans Land gebunden und zog wenig umher. Durch die Enteignung der landwirtschaftlichen Produzenten drängte der Kapitalismus breite Bevölkerungsteile vom Land in die Städte, damit jene ihre Arbeitskraft verkauften und ein Reservoir an Arbeitskräften bildeten. Wie wir in unserer Presse in englischer Sprache im Dezember 2006 im Artikel „Die Arbeiterklasse ist eine Klasse von Immigranten“ zitierten: „Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulation sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienen; vor allem aber die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden. Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses. (Marx, Das Kapital, Bd.1, MEW, Bd. 23, Seite 744)“.  Lenin schrieb: „Viertens schafft der Kapitalismus unvermeidlich die Beweglichkeit der Bevölkerung, die für die früheren sozialökonomischen Systeme nicht erforderlich war und unter ihrer Herrschaft in größerem Ausmaß auch nicht möglich gewesen wäre“[2]. Mit dem Aufstieg des Kapitalismus wurde die Massenmigration für die Entwicklung des Kapitalismus in der Zeit der Industrialisierung entscheidend. Von 1848 bis 1914 verließen 50 Millionen Menschen Europa, um sich in ihrer überwiegenden Mehrheit in den USA niederzulassen. 20 Millionen wanderten alleine von 1900 bis 1914 von Europa in die USA aus. 1900 zählte die Bevölkerung der USA ungefähr 75 Millionen und 1914 ungefähr 94 Millionen; also war 1914 jeder Fünfte ein kürzlich angekommener Immigrant – nicht mitgerechnet die vor 1900 eingewanderten Immigranten. Wenn man die Kinder der Immigranten mit einbezieht, die in den USA geboren wurden, verdeutlicht sich der Einfluss der Immigranten auf das soziale Leben noch mehr. Während dieser Zeit verfolgte die US-Bourgeoisie eine Politik der Offenheit gegenüber Immigranten (mit Ausnahme von Auflagen gegenüber Einwanderern aus Asien). Für die eingewanderten Arbeiter, die sich selber entwurzelten, lag die Motivation in der Möglichkeit, ihren Lebensstandard zu verbessern, dem Hunger, der Armut, der Unterdrückung und den beschränkten Entwicklungsmöglichkeiten zu entfliehen.

Während die herrschende Klasse eine Politik der Unterstützung der Einwanderung betrieb, zögerte sie gleichzeitig nicht, fremdenfeindliche und rassistische ideologische Kampagnen zu lancieren, um die Arbeiterklasse zu spalten. Sogenannte „einheimische“ Arbeiter – von denen aber viele erst die zweite oder dritte Generation von Immigranten waren - wurden gegen Neuankömmlinge aufgehetzt, die wegen ihrer sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede angeprangert wurden. Selbst zwischen neu angekommenen Immigrantengruppen wurden ethnische Verschiedenheiten als Futter für die „Teile-und-herrsche“-Strategie eingesetzt. Es ist wichtig daran zu erinnern, dass die Angst und das Misstrauen vor Außenseitern tiefliegende psychologische Wurzeln in der Gesellschaft haben und dass der Kapitalismus nicht zögert, damit zu spielen, um seine eigenen unlauteren Ziele zu verfolgen. Die herrschende Klasse gerade in den USA hat dieses Vorgehen des „Teilens und Herrschens“ immer angewendet, um die potentielle Tendenz zur Einheit innerhalb der Arbeiterklasse zu sabotieren und das Proletariat zu unterjochen. Engels schrieb 1892 in einem Brief an Schlüter: “Eure Bourgeoisie versteht es noch viel besser als die österreichische Regierung, eine Nationalität gegen die andere auszuspielen, Juden, Italiener, Böhmen etc. gegen Deutsche und Irländer und jeden gegen den anderen (…)“[3]. Dies ist eine klassische ideologische Waffe der Herrschenden.

Während die Immigration in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus vom Bedarf an Arbeitskräften zur raschen Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise geprägt war, so wurde mit dem Beginn der Dekadenz des Kapitalismus (in der Zeit um den Ersten Weltkrieg) und der Verlangsamung der exponentiellen Wachstumsraten die Immigration zu einem negativen Faktor. Der Druck, den Schikanen, dem Hunger und der Armut zu entrinnen, der Millionen von Arbeitern in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus zur Auswanderung gedrängt hatte, damit sie Arbeit suchen und ihr Leben sichern können, nahm mit dem Beginn der Dekadenz in dramatischer Weise zu. Im Besonderen verursachte die veränderte Kriegsführung im dekadenten 20. Jahrhundert eine Massenemigration und erzeugte eine Flut von Flüchtlingen. Im aufsteigenden Kapitalismus beschränkten sich die Kriege vor allem auf die Konfrontationen von Berufsarmeen auf den Schlachtfeldern. Durch die Dekadenz des Kapitalismus veränderte sich der Charakter des Krieges dramatisch, die gesamte Bevölkerung, der Produktionsapparat und das nationale Kapital wurden in den Krieg einbezogen. Die Terrorisierung und Demoralisierung der Zivilbevölkerung wurde zu einem taktischen Hauptziel und produzierte massive Flüchtlingsströme im 20. Jahrhundert – so wie auch heute noch. Während des Krieges im Irak wurden ungefähr 2 Millionen Leute zu Flüchtlingen und suchten vor allem in Syrien und Jordanien Unterschlupf. Emigranten, die vor den zunehmend barbarischen Bedingungen in ihren Heimatländern flüchten, werden auf ihrem Weg zu Opfern korrupter Polizisten, Militärs, Mafiosi und krimineller Banden, welche sie ausnehmen, misshandeln und ihnen auf ihrer verzweifelten Flucht nach einem besseren Leben alle Hoffnungen rauben. Viele Flüchtlinge sterben oder verschwinden auf der Flucht oder sie fallen in die Hände von Menschenhändlern. Die bürgerliche kapitalistische Ordnung und das Gesetz sind nicht nur unfähig, sondern auch nicht willens, etwas gegen diese Katastrophe, die die Flüchtlinge begleitet, zu tun.

In den USA war der Beginn der Dekadenz des Kapitalismus gezeichnet vom Wechsel einer abrupten Politik der Offenheit gegenüber den Einwanderern (wie schon erwähnt mit Ausnahme der Auflagen gegenüber Leuten aus Asien) zu einer restriktiven Immigrationspolitik der Regierung. Der Wechsel der ökonomischen Periode erforderte einen viel geringeren Bedarf an neu eingewanderten Arbeitskräften. Doch dies war nicht der alleinige Grund für die Einwanderungsbeschränkungen; rassistische und „antikommunistische“ Faktoren waren ebenfalls stark vorhanden. Der National Origins Act von 1924 limitierte die Zahl der Immigranten aus Europa auf 150`000 pro Jahr und setzte eine Quote für jedes Land fest, auf der Basis der Zusammensetzung der ethnischen Bevölkerung in den USA im Jahr 1890 – also bevor die massive Einwanderungswelle aus Süd- und Osteuropa in den USA eingesetzt hatte. Das Ziel dieses Vorgehens gegenüber osteuropäischen Arbeitsimmigranten stand unter dem Stern eines Rassismus gegen „unerwünschte Elemente“ wie Italiener, Griechen, Osteuropäer und Juden. Während der Zeit der „Roten Hysterie“ in den USA nach der Russischen Revolution 1917, wurden Einwanderer aus Osteuropa als mit „Bolschewiki“ und Einwanderer aus Südeuropa als mit Anarchisten durchsetzt betrachtet. Zusätzlich zur Einwanderungsbeschränkung kreierte das Einwanderungsgesetz von 1924 zum ersten Mal den Status des „non-immigrant foreign worker“ („nichteingewanderten fremden Arbeiters“), der zwar nach Amerika kommen konnte, um zu arbeiten, aber keine Aufenthaltsbewilligung erhielt.

1950 führte der McCarran-Walter Act – unter dem Einfluss der McCarthy-Ära und der antikommunistischen Hysterie des Kalten Krieges unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den russischen Imperialismus – neue Beschränkungen für die Immigration ein. In den späten 1960er Jahren, mit dem Ausbruch der weltweiten offenen Krise des Kapitalismus, wurde die US-Amerikanische Immigrationspolitik liberalisiert und es gab nicht nur aus Europa, sondern auch aus Asien und Lateinamerika eine Welle der Immigration. Dies wiederspiegelte den Wunsch des amerikanischen Kapitalismus, den Erfolg der europäischen Mächte einzudämmen und deren vormalige Kolonien nach talentierten intellektuellen Arbeitskräften wie Wissenschaftlern, Ärzten, Krankenschwestern, und anderen gut Ausgebildeten abzugrasen – der so genannte „brain drain“ (Abzug von Wissen) aus den unterentwickelten Ländern – aber auch, um billige Arbeitskräfte für die Landwirtschaft zu erhalten. Das Resultat dieser Liberalisierungsmaßnahmen war ein dramatischer Anstieg der illegalen und legalen Immigration vor allem aus Lateinamerika.

1986 wurde die immigrantenfeindliche Politik der USA mit dem Simpson-Rodino Immigration and Naturalization Control Reform Act verstärkt, bei dem es um die illegale Einwanderung aus Lateinamerika ging und der zum ersten Mal in der Geschichte der USA Sanktionen (Geldstrafen und sogar Gefängnis) gegen Unternehmer festlegte, die wissentlich Arbeiter ohne Aufenthaltsbewilligung beschäftigen. Der Zustrom an illegalen Immigranten hatte mit dem wirtschaftlichen Kollaps in Drittweltländern in den 1970er Jahren enorm zugenommen und es entstand eine Welle aus komplett verarmten Massen aus Mexiko, Haiti und dem kriegsgebeutelten El Salvador. Das Ausmaß dieser unkontrollierten Einwanderung wird deutlich an der Rekordzahl von 1,6 Millionen durch die US-Fremdenpolizei inhaftierte illegale Immigranten im Jahr 1986.

Auf der Ebene der ideologischen Kampagnen, der Anwendung der „Teile-und-herrsche“-Strategie“ gegenüber Immigranten, die ja bereits in der Zeit des aufsteigenden Kapitalismus angewandt worden war, gibt es seit der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus einen richtiggehenden Höhenflug. Immigranten werden beschuldigt die Metropolen zu überfluten, Löhne zu drücken, Grund für Epidemien, Kriminalität und eine „kulturellen Verschmutzung“ zu sein, die Schulen zu überfüllen, Sozialprogramme zu überlasten – also für alle nur erdenklichen sozialen Probleme die Verantwortung zu tragen. Dieses Vorgehen beschränkt sich mitnichten auf die USA, sondern gilt auch für Länder wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland und ganz Europa, wo Immigranten aus Osteuropa, Afrika und dem Nahen Osten mit solchen verblüffend ähnlichen ideologischen Kampagnen zu Sündenböcken für die sozialen Auswirkungen der kapitalistischen Krise und des Zerfalls des Kapitalismus gemacht werden. Die Massemigration ist eine Folge der globalen ökonomischen Krise und der immer elenderen Bedingungen in weniger entwickelten Ländern. Diese Kampagnen haben zum Ziel, die Bewusstseins-Entwicklung und dessen Ausbreitung innerhalb der Arbeiterklasse zu behindern, Arbeiter an der Nase herumzuführen und daran zu hindern, dass sie verstehen, dass es der Kapitalismus ist, der Kriege, Krisen und all die anderen sozialen Probleme, die typisch für den sozialen Zerfall sind, hervorbringt.

Die sozialen Auswirkungen des Zerfalls und der anhaltenden wirtschaftlichen und ökologischen Katastrophe werden in den kommenden Jahren Millionen von Flüchtlingen in die höher entwickelten Länder treiben. Wenn diese massive Flüchtlingsflut von den Herrschenden anders angegangen wird als die routinemäßige Immigration, so verdeutlicht dies die grundlegende Unmenschlichkeit des kapitalistischen Systems. Flüchtlinge werden meist in Lager gepfercht und von der Bevölkerung abgeschottet, was es ihnen oft erst nach Jahren ermöglicht, sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden. Sie werden als Gefangene und Unwillkommene behandelt und nicht als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft. All das ist das komplette Gegenteil einer internationalistischen Solidarität, welche die proletarische Perspektive in sich trägt.

Die historische Position der Arbeiterbewegung zur Frage der Immigration

Konfrontiert mit ethnischen, rassischen und sprachlichen Unterschieden innerhalb der Arbeiterklasse orientierte sich die Arbeiterbewegung historisch am Prinzip „Arbeiter haben kein Vaterland“, eine Orientierung die einerseits das interne Leben der revolutionären Arbeiterbewegung und andererseits die Intervention dieser Bewegung im Klassenkampf beeinflusste. Jeglicher Abstrich an diesem Prinzip ist eine Kapitulation vor der bürgerlichen Ideologie.

1847 gelangten die deutschen Mitglieder des Bundes der Kommunisten, die sich im Londoner Exil hauptsächlich auf die Propaganda unter deutschstämmigen Arbeitern beschränkt hatten, zu einer internationalistischen Haltung und pflegten „regen Verkehr mit Flüchtlingen aus aller Herren Länder“[4]. In Brüssel „veranstaltete dieser Verein ein internationales Bankett, um zu zeigen, dass die Arbeiter verschiedener Länder brüderliche Gesinnungen gegeneinander hegten. (…) An der Festtafel saßen 120 Gäste, Belgier, Deutsche, Schweizer, Franzosen, Polen, Italiener, auch ein Russe.“[5] Zwanzig Jahre später unterstrich die Erste Internationale dasselbe Anliegen, um mit zwei Zielen in Streiks zu intervenieren: um die Bourgeoisie daran zu hindern von außen Streikbrecher anzuheuern und um den Streikenden eine direkte Unterstützung zu geben, wie dies in London bei den Siebmachern, Schneidern und Hutmachern, und in Paris bei den Bronzeschmieden geschehen war.[6] Als die Wirtschaftskrise von 1866 in ganz Europa eine Streikwelle auslöste, half der Generalrat der Ersten Internationale „mit Rat und Tat den Sieg der Arbeiter sichern, indem er die internationale Solidarität des Proletariats mobilmachte. Er schlug den Kapitalisten die bequeme Waffe aus der Hand, streikende Arbeiter durch den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte lahmzulegen; aus den unbewussten Hilfstruppen des gemeinsamen Feindes warb er vielmehr opferfreudige Bundesgenossen; er verstand, den Arbeitern jedes Landes, wohin sein Einfluss reichte, klarzumachen, dass es ihr eigenes Interesse sei, die Lohnkämpfe ihrer ausländischen Klassengenossen zu unterstützen.“[7] Ähnlich unterstützte 1871, als in England eine Bewegung für den Achtstundentag ausbrach, organisiert durch die Nine Hour League, und nicht von den Gewerkschaften, die dem Kampf fernblieben, die Erste Internationale den Kampf, indem sie Delegierte nach Belgien und Dänemark sandte, „um die Anwerbung ausländischer Arbeiter durch die Agenten der Fabrikanten zu hintertreiben. Das gelang ihnen auch in weitem Umfange.“[8]

Die gravierendste Ausnahme gegenüber dieser internationalistischen Haltung tauchte 1870-71 in den USA auf, als die Sektion der Internationale sich gegen die chinesischen Immigranten aussprach, weil diese von den Kapitalisten als Lohndrücker gegen die weißen Arbeiter eingesetzt wurden. Eine Delegation aus Kalifornien behauptete: „Die Chinesen haben Tausende von weißen Männern, Frauen, Mädchen und Jungen in die Arbeitslosigkeit getrieben.“ Diese Haltung wiederspiegelte eine verdrehte Interpretation von Marx‘ Kritik am asiatischen Despotismus als anachronistische Produktionsweise, deren Dominanz in Asien überwunden werden musste, um den asiatischen Kontinent in die moderne Produktionsweise zu integrieren, was zur Bildung eines Proletariats in Asien führen würde. Diese chinesischen Arbeiter waren noch nicht proletarisiert und waren daher leicht zu manipulieren. Ihre extreme Ausbeutung durch die Bourgeoisie war leider nicht Ansporn zur Ausweitung der Solidarität und zu ihrer Eingliederung in die Reihen der Arbeiterklasse in den USA, sondern zur Begründung ihres radikalen Ausschlusses.

Aber der Kampf für die Einheit der internationalen Arbeiterklasse setzte sich in der 2. Internationale fort. Vor etwas mehr als hundert Jahren, auf dem Stuttgarter Kongress der 2. Internationale 1907, wurde ein Antrag der Opportunisten, die Beschränkung der Einwanderung aus China und Japan durch die bürgerlichen Regierungen zu unterstützen, deutlich abgeschmettert. Die Opposition dagegen war dermaßen groß, dass die Opportunisten gezwungen waren, ihre Resolution zurückzuziehen. Als Antwort darauf bejahte der Kongress eine Anti-Ausschluss Orientierung für die Arbeiterbewegung in allen Ländern. In seinem Bericht über diesen Kongress schrieb Lenin: "Auch hier wurde in der Kommission versucht, zünftlerisch beschränkte Anschauungen zu verfechten, ein Verbot der Einwanderung von Arbeitern aus rückständigen Ländern (Kulis aus China usw.) durchzubringen. Das ist derselbe Geist des Autokratismus unter den Proletariern einiger “zivilisierter” Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen. Auf dem Kongress selbst fanden sich keine Verfechter dieser zünftlerischen und spießbürgerlichen Beschränktheit. Die Resolution entspricht durchaus den Forderungen der revolutionären Sozialdemokratie.”[9]

In den USA versuchten die Opportunisten 1908, 1910 und 1912 auf den Kongressen der Socialist Party Resolutionen durchzudrücken, um den Beschluss des Stuttgarter Kongresses zu umgehen, und riefen zur Unterstützung der „Amerikanischen Föderation der Arbeiteropposition gegen die Immigranten“ auf. Doch sie wurden immer wieder von Genossen in Schach gehalten, welche die internationale Solidarität aller Arbeiter verteidigten. Ein Delegierter hielt den Opportunisten entgegen, für die Arbeiterklasse „gibt es keine Fremden“. Andere betonten, die Arbeiterbewegung dürfe nicht mit den Kapitalisten gemeinsame Sache gegen andere Arbeiter machen. In einem Brief von 1915 an die Socialist Propaganda League (der Nachfolgerin des linken Flügels der Socialist Party, der später die Communist und die Communist Labor Party in den USA gründete) schrieb Lenin: „In unserem Kampf für wahren Internationalismus und gegen „Jingo-Sozialismus“ verweisen wir in unserer Presse stets auf die opportunistischen Führer der SP in Amerika, die dafür eintreten, dass die Einwanderung chinesischer und japanischer Arbeiter beschränkt wird (besonders nach dem Stuttgarter Kongress von 1907 und entgegen seinen Beschlüssen). Wir denken, dass niemand Internationalist sein und gleichzeitig für derartige Beschränkungen eintreten kann.“[10]

Historisch haben Immigranten in der Arbeiterbewegung der USA immer eine bedeutende Rolle gespielt. Die ersten marxistischen Revolutionäre kamen nach der Niederlage der Revolution von 1848 in Deutschland in die USA und waren später ein lebendiges Bindungsglied zur Ersten Internationale, die in Europa ihr Zentrum hatte. Engels vermittelte, was die Frage der Immigration betrifft, einige problematische Konzeptionen in die sozialistische Bewegung in den USA. In einigen Aspekten waren sie angebracht, in anderen stellten sie einen Irrtum dar und hatten schlussendlich negativen Einfluss auf die organisatorischen Aktivitäten der revolutionären Bewegung in Amerika. Engels war in Sorge über die anfängliche Langsamkeit der Entwicklung der Arbeiterbewegung in den USA. Er verstand, dass gewisse Besonderheiten in der Situation der USA lagen, so das Fehlen einer feudalen Tradition mit einem strengen Klassensystem und die Existenz der „Grenze“ im Land selber, die der Bourgeoisie als Überlaufventil diente und es unzufriedenen Arbeitern erlaubte, aus ihrer proletarischen Existenz zu flüchten, um im Westen des Landes ihr Glück als Bauern oder Siedler zu suchen. Etwas anderes war der Graben zwischen eingeborenen und eingewanderten Arbeitern bezüglich der ökonomischen Möglichkeiten und die Unfähigkeit radikaler eingewanderter Arbeiter, mit den im Land geborenen Arbeitern zu kommunizieren. Als Engels beispielsweise die deutschen sozialistischen Immigranten in Amerika kritisierte, dass sie nicht Englisch lernen, schrieb er: „Sie müssen alle Reste ihres ausländischen Gewandes ablegen. Sie werden durch und durch Amerikaner werden. Sie können nicht erwarten dass die Amerikaner zu ihnen kommen; sie die Minderheit und Immigranten müssen zu den Amerikanern gehen, welche die große Mehrheit und die Eingeborenen sind. Und um das zu tun, müssen sie vor allem Englisch lernen.“[11] Es ist wahr, dass bei den revolutionären Immigranten aus Deutschland eine Tendenz existierte, sich auf die theoretische Arbeit zu beschränken und die Arbeit gegenüber den Arbeitermassen des Landes bei Seite zu lassen, was zu den Kommentaren von Engels geführt hatte. Es ist auch wahr, dass die von Immigranten angeführte revolutionäre Bewegung sich den englischsprachigen Arbeitern in Amerika gegenüber öffnen musste. Doch der Aufruf zur Amerikanisierung der Bewegung, der in diesen Zeilen impliziert wird, konnte sehr negative Konsequenzen für die Arbeiterbewegung mit sich bringen. Er drängte die politisch und theoretisch erfahrensten Arbeiter in zweitrangige Rollen und legte die Führung in die Hände von Militanten, die über wenig Erfahrung verfügten und deren einzige Qualitäten die Beherrschung der englischen Sprache und ihr Status als im Land Geborene waren. Nach der Russischen Revolution 1917 wurde dieselbe Politik von der Kommunistischen Internationale angewendet mit noch negativeren Folgen für die junge Kommunistische Partei in den USA. Der Druck Moskaus, in Amerika geborene Mitglieder in wichtige Positionen zu setzen, brachte Opportunisten und Karrieristen wie William Z. Foster an die Führung, bugsierte Revolutionäre, die aus Osteuropa kamen und linkskommunistische Ansichten vertraten, ins Abseits und beschleunigte den Triumpf des Stalinismus in der amerikanischen Kommunistischen Partei.

Eine andere Bemerkung von Engels ist gleichfalls problematisch: „Was Euer großes Hindernis in Amerika ist, scheint mir, besteht in der Ausnahmestellung der eingeborenen Arbeiter (…). Jetzt hat sich eine solche Klasse entwickelt und hat sich auch großenteils trades-unionistisch organisiert. Aber sie nimmt immer noch eine aristokratische Stellung ein und überlässt, was sie auch kann, die ordinären, schlecht bezahlten Beschäftigungen den Eingewanderten, von denen nur ein geringer Teil in die aristokratischen Trades eintritt.“[12] Obschon diese Beschreibung richtig feststellt, wie im Land geborene und eingewanderte Arbeiter aufgespalten waren, impliziert sie falsch, dass es die im Land geborenen Arbeiter sind und nicht die herrschende Klasse, die verantwortlich ist für die Gräben zwischen den verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse. Diese Zeilen beschrieben die Aufspaltung innerhalb der weißen eingewanderten Arbeiterklasse, die Linken aber interpretierten es in den 1960er Jahren als Basis für ihre „Theorie der privilegierten Weißen“[13].

Die Geschichte des Klassenkampfes in den USA widerlegte Engels Sichtweise, nach der die „Amerikanisierung“ der immigrierten Arbeiter eine Vorbedingung für die Bildung einer starken sozialistischen Bewegung in den USA sei. Klassensolidarität und Einheit über ethnische sprachliche Grenzen hinweg war ein Charakteristikum der Arbeiterbewegung zur Zeit der Wende ins 20. Jahrhundert. Die sozialistischen Parteien in den USA hatten fremdsprachige Presse und publizierten Dutzende von Tages- und Wochenzeitungen in verschiedenen Sprachen. 1912 druckte die Socialist Party in den USA 5 englische und 8 fremdsprachige Tageszeitungen, 262 englische 36 fremdsprachige Wochenzeitungen, 10 englische und 2 fremdsprachige Monatsblätter, und dies ohne die Zeitschriften der Socialist Party selber. Die Socialist Party hatte 31 fremdsprachige Sektionen: armenisch, böhmisch, bulgarisch, kroatisch, tschechisch, dänisch, estnisch, finnisch, französisch, deutsch, griechisch, spanischsprachig, ungarisch, irisch, italienisch, japanisch, jüdisch, lettisch, litauisch, norwegisch, polnisch, rumänisch, russisch, skandinavisch, serbisch, slowakisch, slowenisch, südslawisch, spanisch, schwedisch, ukrainisch, jugoslawisch. Diese Sektionen bildeten die Mehrheit der Organisation. Die Mehrheit der Mitglieder der Communist Party und der Communist Labor Party, die 1919 gegründet wurden, waren Immigranten. Ebenfalls war das Anwachsen der Industrial Workers oft the World IWW in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hauptsächlich durch einen Zulauf von Immigranten entstanden. Selbst die IWW im Westen der USA, die zum Großteil im Lande geborene Mitglieder hatte, zählte Tausende von Slawen, Mexikanern und Skandinaviern in ihren Reihen.

Der berühmteste Kampf der IWW, der Streik der Textilarbeiter in Lawrence 1912, war Symbol für die Solidarität zwischen immigrierten und im Land geborenen Arbeitern. Lawrence war eine Stadt in Massachusetts mit großen Getreidemühlen, in denen die Arbeiter unter schlechtesten Bedingungen arbeiteten. Die Hälfte der Arbeiter waren Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren. Die Facharbeiter waren meist englischsprachig aus England und Irland oder deutschstämmig. Die ungelernten Arbeiter waren Französisch-Kanadier, Italiener, Slawen, Ungaren, Portugiesen, Syrer und Polen. Lohnkürzungen in einem Betrieb entfachten einen Streik von polnischen Arbeiterinnen, der sich schnell auf 20`000 Beschäftigte ausweitete. Ein Streikkomitee unter der Leitung der IWW umfasste zwei Vertreter jeder ethnischen Gruppe und verlangte eine Lohnerhöhung von 15% und keine Repressalien gegen die Streikenden. Die Streikversammlungen wurden in 25 Sprachen übersetzt. Als der Staat mit gewalttätiger Repression antwortete, startete das Streikkomitee eine Kampagne bei der mehrere Hundert Kinder von streikenden Arbeitern nach New York City geschickt wurden, wo sie bei Unterstützern des Streiks Unterschlupf fanden. Als ein zweiter Zug mit 100 Kindern nach New Jersey zu Unterstützern des Streiks abfahren wollten, griff die Polizei die Kinder und ihre Mütter an, schlug und verhaftete sie unter den Augen der Presse. Dies löste eine nationale Welle der Solidarität aus. Eine ähnliche Vorgehensweise, das Unterbringen von Kindern streikender Arbeitsimmigranten bei „Streikmüttern“ in anderen Städten, wurde von den IWW 1913 in Paterson, New Jersey, angewendet und war Ausdruck der Klassensolidarität über ethnische Grenzen hinweg.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war in den USA die Rolle von Immigranten und Eingewanderten aus dem linken Flügel der sozialistischen Bewegung andere Länder besonders bedeutsam. Trotzki zum Beispiel nahm am 14. Januar 1917, am Tag, nachdem er in New York angekommen war, an einer Versammlung in Brooklyn im Hause von Ludwig Lore, einem Immigranten aus Deutschland, teil, um gemeinsam einen „Aktionsplan“ für die linken Kräfte innerhalb der sozialistischen Bewegung der USA zu entwerfen. Auch Bucharin war anwesend, der bereits in den USA lebte und als Redaktor der Zeitschrift Novy Mir, des Organs der Russischen Sozialistischen Föderation, tätig war; ebenfalls S. J. Rutgers, ein holländischer Revolutionär und Weggefährte von Pannekoek; aber auch Sen Katayama, ein Immigrant aus Japan. Laut Augenzeugenberichten war die Diskussion von den Russen geprägt: Bucharin rief dazu auf, die Linke solle sich sofort von der Socialist Party trennen, und Trotzki vertrat den Standpunkt, die Linke solle noch innerhalb der Partei bleiben, jedoch ihre Kritiken in einer unabhängigen zweimonatlichen Zeitschrift verteidigen – was dann auch von der Versammlung angenommen wurde. Wäre Trotzki nicht nach der Februar-Revolution 1917 nach Russland zurückgekehrt, so hätte er vermutlich den linken Flügel der Arbeiterbewegung in den USA stark geprägt.[14] Die Existenz verschiedenster Sprachen war kein Hindernis für die Bewegung, im Gegenteil war sie ein Zeichen ihrer Stärke. An einer Massendemonstration 1917, begrüßte Trotzki die Leute auf Russisch und in anderen Sprachen wie Deutsch, Finnisch, Englisch, Lettisch, Jüdisch und Litauisch.[15]

Die bürgerliche Theoretisierung der immigrantenfeindlichen Ideologie

Bürgerliche Ideologen behaupten immer wieder, der Charakter der Massenimmigration nach Europa und in die USA sei heute komplett anders als in vergangenen Zeiten. Dahinter steht die Idee, die heutigen Immigranten würden die Gesellschaften, in die sie strömen, schwächen oder sogar zerstören, sich nicht in die neuen Gesellschaften integrieren wollen und deren politische und kulturelle Institutionen ablehnen. In Europa behauptet das Buch von Walter Laqueur Die letzten Tage von Europa: Ein Kontinent verändert sein Gesicht, die muslimische Immigration sei verantwortlich für den Niedergang Europas. Die zentrale These des bürgerlichen politischen Wissenschaftlers Samuel P. Huntington an der Harvard Universität in seinem Buch Who Are We? Die Krise der amerikanischen Identität von 2004 lautet, dass lateinamerikanische und speziell mexikanische Immigranten, die in den letzten 30 Jahren in den USA eingetroffen sind, viel weniger gewillt seien, Englisch zu sprechen, als vorhergehende Generationen von Immigranten, die aus Europa kamen. Dies angeblich, weil sie alle eine gemeinsame Sprachen sprechen würden, in den Spanisch sprechenden Quartieren konzentriert und weniger an sprachlicher und kultureller Integration interessiert seien und von Aktivisten, welche die nationale Identität der Immigranten bewahren möchten, aufgefordert würden, nicht Englisch zu lernen. Huntington behauptet weiter, die „Zweiteilung“ der amerikanischen Gesellschaft entlang der Schwarz-Weiß-Linie, die über Jahrzehnte existierte, drohe nun von einer gesellschaftlichen Zweiteilung zwischen Spanisch sprechenden Immigranten und einheimischen Englischsprachigen abgelöst zu werden, was die nationale Identität der USA aus dem Gleichgewicht bringe.

Beide, Laqueur und Huntington, haben einschlägige Karrieren als bürgerliche Ideologen des Kalten Krieges hinter sich. Laqueur ist ein konservativer jüdischer Gelehrter, hat den Holocaust überlebt, ist klar pro-israelisch, anti-arabisch und ein führender Kopf des sich in Washington befindenden Center for Strategic and International Studies (CSIS), eines Instruments des Kalten Krieges, das seit 1962 eng mit dem Pentagon verknüpft ist. Bushs früherer Verteidigungsminister Rumsfeld stand mit dem CSIS in regelmäßigem Austausch. Huntington ist Professor der Politwissenschaften in Harvard, fungierte während des Vietnamkrieges als Berater von US-Präsident Lyndon Johnson und vertrat 1968 die Strategie der flächendeckenden Bombardierungen der vietnamesischen Agrargebiete mit dem Ziel, die Unterstützung des Vietkong durch die Bauern zu unterbinden und diese in die Städte zu treiben. Er arbeitete später, in den 1970er Jahren, in der Trilateralen Kommission, die den Governability of Democracies Report von 1976 verfasste und in den späten 1970er Jahren als politischer Koordinator für den National Security Council diente. 1993 schrieb er einen Artikel in der Zeitschrift Foreign Affairs der 1996 zu einem Buch mit dem Titel Clash of Civilizations erweitert wurde, in dem er die These entwickelte, dass nach dem Kollaps der UdSSR die Kultur und nicht mehr die Ideologie die dominierende Basis für die Konflikte auf der Welt sei. Er behauptete, ein dauernder Konflikt der Zivilisationen des Islams und des Westens steige nun zum zentralen internationalen Konflikt der Zukunft auf. Zwar wurde Huntingtons immigrantenfeindliches Pamphlet von vielen akademischen Experten für Bevölkerungsstudien und Immigrations- und Assimilierungsangelegenheiten zurückgewiesen, doch fanden seine Ansichten weite Verbreitung durch die Medien und „Politikexperten“ in Washington.

Huntingtons Entrüstung über den fehlenden Willen der fremdsprachigen Immigranten, Englisch zu lernen und sich zu integrieren, womit sie zur kulturellen „Verunreinigung“ beitrügen, sind ein Standard in der Geschichte der USA. Im späten 18. Jahrhundert äußerte Benjamin Franklin die Angst, Pennsylvania würde von einem „Schwarm“ deutscher Immigranten überwältigt. „Weshalb soll Pennsylvania, das von Engländern gegründet wurde, einen Kolonie von Ausländern werden, die in Kürze so zahlreich sein werden, dass sie uns germanisieren, statt dass wir sie anglifizieren?“, meinte Franklin. 1896 warnte der Präsident des Massachusetts Institute of Technology (MIT) Francis Walker, ein einflussreicher Ökonom, vor der Entwertung der amerikanischen Staatsbürgerschaft durch den „ungebändigten Zustrom riesiger Scharen unwissender und stumpfer Bauern aus den Ländern Ost- und Südeuropas“. Der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt war dermaßen verärgert über den Zustrom nicht Englisch sprechender Immigranten, dass er vorschlug, dass „jeder Immigrant, der hierher kommt, innert 5 Jahre Englisch lernen oder das Land wieder verlassen muss“. Der Historiker Arthur Schlesinger Sr. in Harvard beschwerte sich in ähnlicher Manier über die soziale, kulturelle und intellektuelle „Minderwertigkeit“ der Immigranten aus Süd- und Osteuropa. All diese Befürchtungen und Klagen vergangener Zeiten sind bemerkenswert gleich wie die Beschreibung Huntingtons über die heutige Lage.

Der Gang der Geschichte hat diese fremdenfeindlichen Ängste nie bestätigt. Während es bei den Immigranten in die USA immer ein Segment gab, welches das Erlernen der englischen Sprache offensiv suchte, sich schnell integrierte und auch ökonomisch erfolgreich war, erfolgte die Assimilierung eher allmählich – typischerweise über drei Generationen hinweg. Erwachsene Immigranten behielten in der Regel ihre Muttersprache und kulturellen Traditionen auch in den USA. Sie lebten in ethnischen Nachbarschaften, redeten in ihren Sprachen innerhalb der Gemeinschaften, in den Läden, an religiösen Treffen, usw. Sie lasen Zeitungen und Bücher ihrer Muttersprache. Ihre Kinder, die als Jugendliche einwanderten oder in den USA geboren wurden, tendierten zur Zweisprachigkeit. Sie lernten Englisch in der Schule und waren im 20. Jahrhundert von der englischsprachigen Massenkultur umgeben, sprachen aber auch die ursprüngliche Sprache des Elternhauses und tendierten zu Heiraten innerhalb der nationalen ethischen Gruppen. Die dritte Generation, die Enkelkinder der Immigranten, verloren meist die Fähigkeit, die ursprüngliche Sprache zu sprechen und wurden einsprachig englischsprechend. Ihre kulturelle Assimilierung war geprägt von einem Trend zu Eheschließungen mit Partnern außerhalb der ursprünglichen ethnischen Gemeinschaft. Trotz der großen Immigration aus Lateinamerika in den letzten Jahren scheinen laut Untersuchungen des Pew Hispanic Center und Soziologen der Princeton Universität die beschriebenen Tendenzen in der Assimilierung in den USA weiterhin zu bestehen.[16]

Wie auch immer, auch wenn die heutige Welle der Immigration qualitativ verschieden ist im Vergleich mit früheren - was soll`s? Wenn die Arbeiterklasse kein Vaterland hat, sollen wir dann in Sorge sein, ob die Assimilierung stattfindet oder nicht? Engels sah die Amerikanisierung in den 1880er Jahren nicht als „Ziel an sich“, nicht als irgendein zeitloses Prinzip der Arbeiterbewegung, sondern als eine Basis zu Bildung der Einheit der Arbeiterklasse. Doch wie wir gesehen haben, wurde die Losung der „Amerikanisierung“ als notwendige Vorbedingung zur Schaffung der Einheit der Arbeiterklasse durch die Realität der Bewegung in den frühen 1920er Jahren klar widerlegt. Die Erfahrung zeigte auf, wie die Arbeiterklasse die Unterschiede überwinden kann und der internationale Charakter des Proletariates es ermöglicht, eine geeinte Bewegung gegen die herrschende Klasse zu bilden.

Während die fremdenfeindlichen Ausschreitungen 2008 in den Slums von Südafrika ein Alarmzeichen dafür waren, wie die ideologischen Kampagnen der herrschenden Klasse gegen Einwanderer direkt zur Barbarei im gesellschaftlichen Leben führen, sticht ins Auge, dass die kapitalistische Propaganda die existierenden fremdenfeindlichen Gefühle innerhalb der Arbeiterklasse der Metropolen meist überzeichnet darstellt. In den USA zum Beispiel ist – trotz den großen Anstrengungen der bürgerlichen Medien und der Propaganda der Rechten um die Thematik Sprache und Kultur innerhalb der Bevölkerung, eingeschlossen die Arbeiterklasse, einen Hass gegen Immigranten zu schüren – die vorherrschende Meinung, Immigranten seien genauso Arbeitskräfte, die versuchen, ihren Familien Unterstützung zu bieten, dass sie Leute seien, die Arbeiten übernehmen müssten, die für „Einheimische“ zu schmutzig und schlecht bezahlt seien, und es absurd wäre, sie rauszuwerfen[17]. Im Klassenkampf selber gibt es deutliche Zeichen von Solidarität zwischen eingewanderten und „einheimischen“ Arbeitern, welche an die internationalistische Einheit in Lawrence 1912 erinnern. Es gab 2008 mehrere Beispiele, wie die großen Proteste in Griechenland, bei denen sich Immigranten an den Kämpfen beteiligten, oder in Großbritannien beim Streik in der Ölraffinerie Lindsey im Winter 2009, bei dem Immigranten offen ihre Solidarität kundtaten, oder in den USA bei der Besetzung der Fenster- und Türenfabrik Republic durch Spanisch sprechende eingewanderte Arbeiter, als „einheimische“ Arbeiter auf das Gelände kamen, um Essen zu bringen und ihre Unterstützung auszudrücken.            

Die Haltung der Revolutionäre zur Frage der Immigration

Gemäß Berichten in den Medien glauben 80% der Menschen in Großbritannien, das Land leide wegen der Immigration unter einer Bevölkerungskrise; mehr als 50% befürchten dadurch eine Gefährdung der britischen Kultur; 60% glauben, das Leben in Großbritannien sei wegen der Immigration gefährlicher geworden; 85% wollen die Immigration beschränken oder stoppen.[18] Die Tatsache, dass es in den Reihen der Arbeiterklasse eine gewisse Empfänglichkeit gibt gegenüber den irrationalen, rassistischen Ängsten und der fremdenfeindlichen Propaganda der herrschenden Klasse, überrascht nicht, denn die Ideologie der herrschenden Klasse in einer Klassengesellschaft wird immer einen immensen Einfluss auf die Arbeiterklasse ausüben. Dies ändert sich erst wirklich in einer offen revolutionären Situation. Wie stark auch immer der Erfolg der zerstörerischen bürgerlichen Ideologie innerhalb der Arbeiterklasse ist, für die revolutionäre Bewegung bleibt das Prinzip der weltweiten Arbeiterklasse als Einheit, als Klasse ohne Vaterland, Grundstein für die internationale proletarische Solidarität und für ihr Klassenbewusstsein. Alles, was die Einheit der Arbeiterklasse untergräbt, verunmöglicht oder sabotiert, steht im Widerspruch zur internationalistischen Natur des Proletariats als Klasse und ist Ausdruck der bürgerlichen Ideologie, die wir als Revolutionäre bekämpfen. Es ist unsere Verantwortung, die historische Tatsache, dass die Arbeiterklasse kein Vaterland hat, zu verteidigen.

Die Beschuldigungen der bürgerlichen Ideologie gegen die Immigranten basieren mehr auf Mythen als auf der Realität. Immigranten sind vielmehr selber Opfer von Kriminellen als selber kriminell. Meist sind Immigranten ehrliche Arbeiter, die hart zu schuften haben und lange und mühsam arbeiten, um nicht nur sich selber zu ernähren, sondern um ihren Familien Geld nach Hause zu senden. Sie werden oft von skrupellosen Unternehmen unter die Mindestlöhne gedrückt und erhalten keinen Lohn für Überzeitarbeit. Skrupellose Hausbesitzer pressen ihnen oft hohe Mieten für Slum-Wohnungen ab, alle Arten von Halunken und Gauner versuchen sie auszubeuten – im Wissen, dass Immigranten Angst vor den Behörden haben und sich so in die Opferrolle drängen lassen. Statistiken zeigen, dass die Kriminalität in Immigrantenfamilien in der zweiten und dritten Generation ansteigt. Nicht wegen ihrem Status als Immigranten, sondern wegen der zunehmenden zermürbenden Armut, Diskriminierung und Chancenlosigkeit als arme Leute.[19]

Es ist wichtig, den Unterschied zu sehen, der heute zwischen den Positionen der Kommunistischen Linken und allen Varianten von Predigern antirassistischer Ideologien besteht (auch denen, die behaupten, Revolutionäre zu sein). Trotz der Denunzierung des rassistischen Charakters der Anti-Immigranten-Ideologie befinden sich die Aktionen Letzterer auf derselben Ebene. Sie heben nicht die grundlegende Einheit der Arbeiterklasse hervor, sondern verschärfen nur deren Aufspaltung. In aufgewärmten Versionen der alten Theorie des „Privilegs der weißen Haut“ beschuldigen sie vor allem Arbeiter, die gegenüber Immigranten misstrauisch sind, und nicht den Kapitalismus für seinen Rassismus gegen Einwanderer. Sie glorifizieren oft auch eingewanderte Arbeiter als Helden, die ehrlicher seien als die im Land geborenen. Die „Anti-Rassisten“ stellen Immigranten gegen Nicht-Immigranten, statt die Einheit der Arbeiterklasse hervorzuheben. Die Ideologie des Multikulti, die sie propagieren, versucht, die Arbeiter vom Klassenbewusstsein abzulenken, hin zu einer „Politik der Identität“ bei der die ethnische, sprachliche und nationale „Identität“ die Triebkraft ist, und nicht die Zugehörigkeit zur selben sozialen Klasse. Diese vergiftende Ideologie besagt, dass mexikanische Arbeiter-Immigranten mehr Gemeinsamkeiten mit Elementen der mexikanischen herrschenden Klasse hätten als andere Arbeiter. Angesichts ihrer Unzufriedenheit über die Diskriminierung bindet dieser „Anti-Rassismus“ die Immigranten an den Staat. Die angebotenen Lösungen für die Probleme der Immigranten führen auf die Ebene der bürgerlichen Legalität, indem Arbeiter für die kapitalistischen Gewerkschaften oder zu einem Engagement für die Reform der Immigrantengesetze aufgefordert werden und der Einstieg von Immigranten in die parlamentarische Politik oder die Anerkennung der gesetzlichen „Rechte“ propagiert wird. Also genau das Gegenteil des gemeinsamen Kampfes der Arbeiterklasse.

Die Entlarvung der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus gegen eingewanderte Arbeiter von Seiten der Kommunistischen Linken unterscheidet sich klar von den anti-rassistischen Ideologien. Unsere Haltung steht in einer direkten Kontinuität mit den Ansichten der revolutionären Bewegung seit dem Bund der Kommunisten, dem Kommunistischen Manifest, der 1. Internationale, den linken Fraktionen innerhalb der 2. Internationale, den International Workers of the World (IWW) und den Kommunistischen Parteien in ihrer Gründungsphase. Unsere Arbeit hat die grundlegende Einheit der Arbeiterklasse zum Ziel, entblößt die Bemühungen der herrschenden Klasse, die Arbeiter gegeneinander auszuspielen, stemmt sich gegen den bürgerlichen Legalismus, gegen die Politik der „Identität“ und gegen den Interklassismus. Die IKS zeigte ihre internationalistische Haltung in den USA, als sie die bürgerlichen Manipulationen rund um die Demonstrationen von 2006 (für die Legalisierung der Immigranten) bloßstellte, die zu einem großen Teil von Spanisch sprechenden Immigranten organisiert worden waren. Wir schrieben in unserer Zeitung INTERNATIONALISM Nr. 139, dass diese Demonstrationen „zu weiten Teilen eine bürgerliche Manipulation sind“, sich „komplett auf dem Terrain der herrschenden Klasse befinden, die diese Demonstrationen provozierte, manipulierte, kontrollierte und offen anführte“, und dass sie vom Nationalismus infiziert waren, „sei es vom Latino-Nationalismus, der die Anfangsphase der Demonstrationen beherrschte, oder vom kranken Bekenntnis zum Amerikanismus, das später auftauchte“ und „als Kurzschluss-Gedanke dazu diente, zu verhindern, dass Immigranten und in Amerika Geborene ihre grundlegende Einheit erkennen“.

Wie auch immer, wir müssen für die internationale Einheit der Arbeiterklasse einstehen. Als proletarische Internationalisten bekämpfen wir bürgerliche Ideologien, die von „kultureller“ oder „sprachlicher Verunreinigung“, „nationaler Identität“, „Vorsicht vor Ausländern“ oder „Verteidigung der Gemeinschaft oder Nachbarschaft“ sprechen. Unsere Intervention muss folgende historische Errungenschaften der Arbeiterklasse verteidigen: dass die Arbeiter kein Vaterland haben; dass die Verteidigung nationaler Kultur, Sprache oder Identität keine Aufgabe und kein Anliegen des Proletariats ist; dass wir die Bestrebungen derer bekämpfen, die versuchen, die bürgerlichen Konzepte des Hervorhebens der Verschiedenheiten innerhalb der Arbeiterklasse zur Schwächung der Einheit des Proletariats zu nutzen. Welchen Einfluss fremde Klassenideologien in der Geschichte auch hatten, der rote Faden der revolutionären Arbeiterbewegung ist und bleibt die internationale Klassensolidarität und Einheit. Das Proletariat existiert in vielen Ländern und spricht viele Sprachen, doch es ist eine weltweite Klasse mit der historischen Aufgabe, das System der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung zu überwinden. Wir fassen die sprachliche, kulturelle und ethnische Verschiedenheit unserer Klasse als eine Stärke und nicht als eine Schwäche auf. Wir stellen die Einheit der Arbeiterklasse vor alles andere und die internationale Solidarität gegen die Bemühungen, uns zu spalten. Wir müssen das Prinzip, nach dem die Arbeiterklasse kein Vaterland hat, in eine lebendige Realität verwandeln, welche in sich die Möglichkeit trägt, in einer kommunistischen Gesellschaft eine wirklich menschliche Gemeinschaft entstehen zu lassen. Alles andere ist eine Abkehr vom revolutionären Prinzip.

Jerry Grevin, Winter 2009

 

[1] Muenz Rainer: Europe: Population and Migration in 2005, von www.migrationpolicy.org/programs/migration-information-source [80] im September 2009

[2] Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland, Kapitel 8, Abschnitt VI, Werke Bd. 3, Seite 620

[3] Engels an Hermann Schlüter in New York (30. März 1892), MEW, Bd.38, Seite 314

[4] Franz Mehring, Karl Marx, Geschichte seines Lebens, Gesammelte Schriften, Dietz Verlag 1976, Bd.3, Kapitel 5, Abschnitt 6: Der Bund der Kommunisten, Seite 148

[5] Mehring, a.a.O., Abschnitt 7: Propaganda in Brüssel, Seite 150

[6] Stekloff, G.M., History of the First International, England, 1928, Kapitel 7

[7] Mehring, a.a.O., Kapitel 13, Abschnitt 2: Die Schweiz und Deutschland, Seite 398

[8] Mehring, a.a.O., Kapitel 14, Abschnitt 4: Die Internationale und die Kommune, Seite 465

[9] Lenin, Der internationale Sozialistenkongress in Stuttgart, in PROLETARI Nr. 17, 20.10.1907, Lenin Werke, Bd. 13, S. 71. (Wir lassen in diesem Artikel die Debatte und fragwürdige Haltung über die “Arbeiteraristokratie”, die Lenin aufwarf, beiseite.)

[10] Lenin, „An den Sekretär der Socialist Propaganda League”, Ende Oktober/Anfang November 1915, Lenin Werke, Bd. 21, S. 435   

[11] Zitiert und von uns übersetzt aus: Draper's, Roots of American Communism

[12] Engels an Hermann Schlüter in New York, MEW, Bd. 38, S.313

[13] Die „Theorie der privilegierten Weißen“ war ein ideologisches Gebräu der neuen Linken in den 1960er Jahren, die behauptete, es bestehe ein angeblicher Deal zwischen den Herrschenden und der weißen Arbeiterklasse, was den weißen Arbeitern einen höheren Lebensstandard ermögliche, dies auf Kosten der schwarzen Arbeiter, die unter Rassismus und Diskriminierung litten.

[14] Draper Theodore, The Roots of American Communism, Seiten 80-83

[15] ebenda S. 79

[16] Siehe: 2003/2004 Pew Hispanic Center/the Kaiser Family Foundation Survey of Latinos: Education; und Rambaut, Reuben G., Massey, Douglas, S. und Bean, Frank. D.: Linguistic Life Expectancies: Immigrant Language Retention in Southern California. Population and Development, 32 (3): 47-460, September 2006.

[17] "Problems and Priorities," von PollingReport.com am 11. Juni 2008

[18] Sunday Express, 6. April 2008

[19] States News Service, Immigration Fact Check: Responding to Key Myths, 22. Juni 2007

 

Internationale Revue – 2013

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Internationale Revue 51

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20. Kongress der IKS: Bericht über die imperialistischen Spannungen

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Seit Ende der 1980er Jahre weist die IKS auf das Eintreten des Kapitalismus in seine Zerfallsphase hin: „In solch einer Situation, in der die beiden grundlegenden und sich entgegengesetzten Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne gleichzeitig ihre jeweils eigene Antwort durchsetzen zu können, bleibt die Geschichte aber nicht stehen. Viel weniger noch als bei den anderen vorhergehenden Produktionsformen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein 'Einfrieren' des gesellschaftlichen Lebens nicht möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich nur noch zuspitzen, bewirkt die Unfähigkeit der Bourgeoisie, irgendeine Perspektive für die gesamte Gesellschaft  anzubieten und die Unfähigkeit des Proletariats, seine eigene Perspektive durchzusetzen, dass es zur Bildung dieses Phänomens des allgemeinen Zerfalls der Gesellschaft kommt, ihres Verfaulens auf der Stelle." (Internationale Revue Nr. 13, 1991: Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft)

Das Auseinanderfallen des Ostblocks 1989 hatte in dramatischer Weise ein Auseinanderbrechen der verschiedenen gesellschaftlichen Komponenten in ein „Jeder-gegen-Jeden" und eine Verstärkung des Chaos zur Folge. Wenn es ein Gebiet gab, in dem sich diese Entwicklung sofort zeigte, so waren das die imperialistischen Spannungen: "Das Ende des „Kalten Krieges" und das Verschwinden der Blöcke hat die Entfaltung der imperialistischen Widersprüche, die typisch ist für die kapitalistische Dekadenz, nur noch verstärkt und ein qualitativ neues blutiges Chaos hervorgebracht, in das die ganze Gesellschaft versinkt." (9. Kongress der IKS: Resolution über die internationale Lage, Punkt 6, International Review Nr. 67, 1991, engl./franz./span. Ausgabe) Zwei Charakteristiken der imperialistischen Zusammenstöße in der Periode des Zerfalls wurden dort hervorgehoben:

a) Die Irrationalität der Konflikte ist ein typisches Merkmal der Kriege in der Periode des Zerfalls. „Wenn der Golfkrieg ein Beispiel für die Irrationalität des gesamten dekadenten Kapitalismus ist, so stellt er überdies ein zusätzliches und bedeutendes Ereignis der Irrationalität dar, das aufzeigt wie dieses System in seine Zerfallsphase eingetreten ist. Die anderen Kriege in der Dekadenz des Kapitalismus hatten, trotz ihrer grundsätzlichen Irrationalität, noch den Anschein von „nachvollziehbaren" Zielen (wie zum Beispiel die Suche nach „Lebensraum" für die deutsche Wirtschaft oder die Verteidigung der imperialistischen Position der Alliierten im Zweiten Weltkrieg). Doch für den Golfkrieg gilt das alles nicht mehr. Die Ziele, die dabei formuliert wurden, auf welcher Kriegsseite auch immer, drücken nur die totale und verzweifelte Sackgasse des Kapitalismus aus." (International Review Nr. 67 (engl./frz./span. Ausgabe), 1991, 9. Kongress der IKS, Berichte über die internationale Lage)

b) Die Rolle, welche die dominierende imperialistische Macht, die USA, bei der weltweiten Ausbreitung des Chaos spielt: „Der Unterschied zur Vergangenheit ist bedeutend, denn heute ist es nicht mehr eine zu kurz gekommene imperialistische Macht, die den imperialistischen Kuchen neu aufteilen will und eine militärische Offensive startet. (...) Die Tatsache, dass heute die Aufrechterhaltung der „Weltordnung" nicht mehr durch eine „defensive" (...) Haltung der führenden Großmacht geschieht, sondern durch die immer systematischere Anwendung der militärischen Offensive, sowie durch Destabilisierungsaktionen einer ganzen Region, ohne sich mit den anderen Mächten abzusprechen, drückt das zunehmende Abgleiten des dekadenten Kapitalismus in einen entfesselten Militarismus aus. Genau dies ist typisch für die Phase des Zerfalls und unterscheidet sie von den vorangegangenen Phasen des Kapitalismus (...)." (International Review Nr. 67 (engl./frz./span. Ausgabe), 1991, 9. Kongress der IKS, Berichte über die internationale Lage)

Diese Charakteristiken fördern das Chaos, welches sich nach dem Attentat vom 11. September 2001 und den Kriegen im Irak und in Afghanistan, die darauf folgten, zugespitzt hat. Der Bericht für den 19. Kongress der IKS hatte genau diese zehn Jahre des „Krieges gegen den Terror" und ihre Auswirkung auf die generelle Verstärkung der imperialistischen Spannungen, das „Jeder für sich", und die Situation der amerikanischen Vorherrschaft thematisiert. Er hob vier Hauptlinien der Entwicklung der imperialistischen Konfrontationen hervor:

a) Die Verschärfung des „Jeder für sich", welche sich durch eine Vielzahl neuer imperialistischer Ambitionen zeigte, führte vor allem in Asien zu vermehrten Spannungen rund um die wirtschaftliche und militärische Expansion Chinas. Trotz einer beeindruckenden wirtschaftlichen Expansion, eines Ausbaus der militärischen Macht und einer spürbareren Präsenz in imperialistischen Konflikten verfügt China nicht über die industriellen und technologischen Kapazitäten, um sich als Blockführer aufzuschwingen und die USA auf Weltebene herauszufordern.

b) Die zunehmende Sackgasse der Politik der USA und ihre Flucht in eine kriegerische Barbarei. Das Fiasko der Interventionen im Irak und in Afghanistan hat die Position der USA als Weltpolizist geschwächt. Auch wenn die amerikanische Bourgeoisie unter Obama, die eine Politik des kontrollierten Rückzugs aus dem Irak und aus Afghanistan eingeschlagen hat, die Auswirkungen der katastrophalen Politik unter Bush eindämmen konnte, so konnte sie die generelle Dynamik nicht umdrehen. Ihre Flucht nach vorne in die kriegerische Barbarei geht weiter. Die Exekution von Bin Laden war ein Zeichen, dass die USA versucht, auf ihre schwindende Vorherschaft zu reagieren, und sollte ihre militärische und technologische Überlegenheit beweisen. Doch dieser Coup stellt die Tendenz zur Schwächung der Position der USA nicht in Frage. Ganz im Gegenteil beschleunigte die Hinrichtung Bin Ladens die Destabilisierung Pakistans und die Ausbreitung des Krieges. Auch die ideologische Basis für den „Krieg gegen den Terrorismus" ist wackliger denn je geworden.

c) Eine Tendenz der Ausbreitung permanent instabiler und chaotischer Zonen auf der ganzen Welt, wie in Afghanistan und Afrika, welche sogar von bürgerlichen Experten wie dem Franzosen Jaques Attali als „Somalisierung" der Welt bezeichnet wird.

d) Das Fehlen eines autonamischen und unmittelbaren Zusammenhangs zwischen der Zuspitzung der Krise und den imperialistischen Spannungen, auch wenn es da und dort Anzeichen eines Zusammenhangs gibt:

- wo gewisse Staaten ihre wirtschaftliche Stärke in die Waagschale werfen, um anderen ihren Willen aufzuzwingen und ihre eigene Wirtschaft zu fördern (USA, Deutschland);

- wo der industrielle und technologische Rückstand (China und Russland) und auch die Finanzprobleme (Großbritannien, Deutschland) eine Bremse für die jeweilige militärische Aufrüstung darstellen.

Diese allgemeinen Charakteristiken, die schon der letzte Kongress hervorgehoben hatte, haben sich in den letzten zwei Jahren nicht nur bestätigt, vielmehr sind sie in dieser Periode auf dramatische Art und Weise unterstrichen worden. Ihre Verstärkung vertieft dramatisch die Destabilisierung des Kräfteverhältnisses zwischen den Staaten und das Risiko von Chaos und Krieg in wichtigen Zonen der Erde. Dies vor allem im Nahen und Fernen Osten, mit allen negativen Konsequenzen auf wirtschaftlicher, ökologischer und menschlicher Ebene, was schlussendlich auf die ganze Welt eine Auswirkung hat, im Besonderen auf die Arbeiterklasse.

Die Geschichte des Nahen Ostens in den letzten 45 Jahren zeigt eindrücklich das Fortschreiten des Zerfalls und des zunehmenden Kontrollverlusts der Weltmacht  USA:

- In den 1970er Jahren hatten die USA ihre Position im Nahen Osten zwar ausgebaut und den Einfluss des russischen Blocks zurückgedrängt, doch die Machtergreifung der Mullahs im Iran 1979 war der Beginn des Zerfalls.

- In den 1980er Jahren zeigte das Drama im Libanon die Schwierigkeiten Israels aber auch der USA auf, die Kontrolle über die Region aufrecht zu erhalten, und sie drängten den Irak zum Krieg gegen den Iran.

- 1991: Erster Golfkrieg, in dem der Weltpolizist USA noch eine ganze Reihe von Staaten um sich scharen konnte, um den Krieg gegen Saddam Hussein zu führen und ihn wieder aus dem Kuwait zurückzudrängen.

- 2003: Das Scheitern der Mobilisierung durch George W. Bush gegen den Irak und der Aufstieg des Irans (seit den 1990er Jahren) als regionale imperialistische Macht, was die USA schwächte.

- 2011: Abzug der USA aus dem Irak und zunehmendes Chaos in Nahen Osten.

Die Politik des schrittweisen Rückzugs aus dem Irak und aus Afghanistan durch die Regierung Obama hat die direkten Schäden und Kosten für den Weltpolizisten USA vermindert, doch das Resultat dieser Kriege ist lediglich ein unüberschaubares Chaos in der gesamten Region.

Die Zuspitzung der „Jeder für sich" in den imperialistischen Konfrontationen und die Ausbreitung des Chaos, das absolut unvorhersehbare Ereignisse mit sich bringt, haben sich in der letzten Zeit durch vier besondere Situationen ausgedrückt:

1. Die Gefahr von kriegerischen Zusammenstößen und eine Instabilität der Staaten des Nahen Ostens.

2. Der Aufstieg Chinas und die Ausbreitung des Chaos auf den Fernen Osten.

3. Das Auseinanderbrechen einzelner Staaten und die Ausbreitung des Chaos in Afrika.

4. Die Auswirkungen der Krise auf die Spannungen der Staaten in Europa

Die Ausbreitung des Chaos im Nahen Osten

Ein kurzer historischer Rückblick

Aus wirtschaftlichen und strategischen Gründen (Handelsrouten nach Asien, Erdöl, ...) stand diese Region schon immer im Zentrum der Konfrontationen zwischen den mächtigsten Staaten. Seit dem Beginn der Dekadenz des Kapitalismus und besonders seit dem Niedergang des Osmanischen Reichs stand sie im Zentrum der imperialistischen Spannungen:

- Bis 1945: Nach dem Niedergang des Osmanischen Reichs wurde die Region 1916 durch den Sykes-Picot-Vertrag zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. Sie wird Schauplatz des Bürgerkrieges in der Türkei, des türkisch-griechischen Konflikts, des Aufstiegs des arabischen Nationalismus und des Zionismus, und sie ist Schauplatz des Zweiten Weltkrieges (deutsche Offensive gegen Russland und in Nordafrika).

- Nach 1945: Die Region wurde zu einem Hauptaustragungsfeld der West-Ost-Spannungen (1945-1989), durch die Versuche des russischen Blocks, in der Region Fuß zu fassen, was eine starke Präsenz der USA hervorrief. Diese Periode war gekennzeichnet durch die Installierung eines starken israelischen Staates, die arabisch-israelischen Kriege, die Palästinenserfrage, die iranische „Revolution" (ein erster Ausdruck des Zerfalls) und den Iran-Irak-Krieg.

- Nach 1989 und dem Zusammenbruch des Ostblocks: Alle Widersprüche, die seit dem Zerfall des Osmanischen Reichs bestanden, begannen das „Jeder für sich", das Chaos und die Infragestellung der amerikanischen Vorherschaft zu verstärken. Der Irak, der Iran und Syrien wurden von den USA als Banditenstaaten bezeichnet. Die Region musste zwei amerikanische Kriege im Irak, drei israelische im Libanon und den Aufstieg des Iran und seiner Verbündeten, der Hisbollah im Libanon, über sich ergehen lassen.

- Seit 2003 die Explosion der Instabilität: die Zerstückelung der palästinensischen Autoritäten und des Iraks, der „Arabische Frühling", welcher zur Destabilisierung mehrerer Regime in der Region führte (Libyen, Ägypten, Jemen), und der Krieg zwischen den verschiedenen bürgerlichen Fraktionen in Syrien. Permanente Massaker in Syrien, die nukleare Aufrüstung des Irans, erneute Bombardierungen des Gazastreifens durch Israel, die politische Instabilität in Ägypten. All diese Ereignisse  können nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung der Region verstanden werden.

Die zunehmende Gefahr kriegerischer imperialistischer Konflikte

Der Krieg bedroht die Region wie nie zuvor. Präventivschläge von Israel (mit oder ohne Zustimmung der USA) gegen den Iran, die Möglichkeit einer Intervention von verschiedenen imperialistischen Staaten in Syrien, der Krieg zwischen Israel und den Palästinensern (welche momentan von Ägypten unterstützt werden), Spannungen zwischen den Königreichen am Golf und dem Iran. Der Nahe Osten ist eine schreckliche Bestätigung unserer Analysen über die Sackgasse des Systems und die Flucht ins „Jeder für sich":

- Die Region ist ein enormes Pulverfass geworden, und die Waffenkäufe haben sich in den letzten Jahren vervielfacht (Saudi-Arabien, Katar, Kuwait, Arabische Emirate, Oman).

- Eine Armada von imperialistischen Geiern der ersten, zweiten und dritten Kragenweite stehen sich in der Region gegenüber, wie der Konflikt in Syrien zeigt: USA, Russland, China, Türkei, Iran, Israel, Saudi-Arabien, Katar, Ägypten, zusammen mit bewaffneten Banden vor Ort im Dienste dieser Staaten, oder mit Kriegsherren, die eigene Ziele verfolgen.

- In diesem Zusammenhang gilt es die destabilisierende Rolle Russlands im Nahen Osten hervorzuheben, das versucht seine letzten Stützpunkte in der Region zu verteidigen. Dasselbe gilt für China mit seinem offensiven Vorgehen und seiner Unterstützung für den Iran, der für China eine wichtige Erdölquelle darstellt. Die europäischen Imperialisten sind etwas diskreter, auch wenn ein Staat wie Frankreich seine Karten in Palästina, Syrien und selbst in Afghanistan (mit der Organisierung einer Konferenz im Dezember 2012 in Chantilly bei Paris, welche versuchte, die wichtigsten afghanischen Fraktionen an einen Tisch zu bringen) auszuspielen versucht.

Es handelt sich um eine explosive Situation, welche der Kontrolle der imperialistischen Großmächte entgleitet, und der Rückzug der westlichen Truppen aus dem Irak und aus Afghanistan verstärkte die Destabilisierung noch mehr, auch wenn die USA versuchten, den Schaden zu begrenzen:

- durch die Eindämmung der kriegerischen Haltung Israels gegen den Iran und gegen die Hamas im Gazastreifen;

- durch eine Annäherung an die Muslimbrüder und den ägyptischen Präsidenten Mursi. 

Im Allgemeinen haben sich die USA im Verlauf des „Arabischen Frühlings" als komplett unfähig erwiesen, die ihr nahestehenden Regime zu schützen (was zu einem Vertrauensverlust führte, wie es die Haltung Saudi-Arabiens, das auf Distanz mit den USA zu gehen versucht, klar zeigt), und sie sind unbeliebter geworden.

Diese Zunahme der imperialistischen Konflikte kann jederzeit zu erheblichen Konsequenzen führen. Länder wie Israel oder der Iran können enorme Erschütterungen provozieren und die Region in einen Strudel reißen, ohne dass eine Großmacht sie daran hindern kann, denn sie unterliegen keiner wirklichen Kontrolle. Es ist eine enorm heikle Situation, für die Region des Nahen Ostens extrem unberechenbar, aber auch für die gesamte Welt birgt sie gefährlichste Konsequenzen.

Die zunehmende Instabilität der meisten Staaten in der Region

Seit 1991, mit der Invasion in Kuwait und seit dem ersten Golfkrieg, ist die sunnitische Front, die vom Westen gegen den Iran aufgebaut wurde, zusammengebrochen. Das Gesetz des „Jeder für sich" breitete sich in der Region extrem schnell aus. So wurde der Iran zum großen Nutznießer der beiden Golfkriege, mit der Erstarkung der Hisbollah und der schiitischen Bewegungen; zudem war die praktische Unabhängigkeit der Kurden eine Nebenwirkung der Invasion in den Irak. Die Tendenz der „Jeder für sich" hat sich noch verstärkt, vor allem im Zuge des „Arabischen Frühlings", und dort, wo das Proletariat am schwächsten ist. Es ist eine Destabilisierung verschiedenster Staaten der Region im Gange:

- Vor allem im Libanon, Libyen, Jemen, Irak, Syrien, im „Befreiten Kurdistan" und in den palästinensischen Gebieten, in denen sich Clans bekriegen und sich der Bürgerkrieg ausbreitet.

- Auch in Ägypten, Bahrein, Jordanien (wo sich die Muslimbrüder gegen König Abdallah auflehnen), doch auch im Iran wo sie sozialen Spannungen und die Zusammenstöße von Clans eine unberechenbare Situation erzeugen.

Die Zuspitzung der Spannungen zwischen den verfeindeten Fraktionen vermischte sich auch mit religiösen Tendenzen. So die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten, Christen und Muslimen. Aber auch die Spannungen innerhalb der sunnitischen Welt nehmen zu wie bei der Machtübernahme des modernen Islamisten Erdogan in der Türkei oder kürzlich der Muslimbrüder in Ägypten, in Tunesien (Ennahda) und bei der Regierung in Marokko. Die Muslimbrüder werden heute durch Katar unterstützt und stellen sich der Salafisten- und Wahhabitenbewegung entgegen, die durch Saudi-Arabien und die Arabischen Emirate finanziert werden. Letztere hatten Mubarak in Ägypten und Ben Ali und Tunesien gestützt.

Diese verschiedenen religiösen Tendenzen, eine barbarischer als die andere, verstecken nur die imperialistischen Interessen der verschiedenen Cliquen, die an der Macht sind. Heute wird mit dem Krieg in Syrien und den Spannungen in Ägypten klarer denn je, dass es keinen „muslimischen" oder „arabischen" Block gibt, sondern verschiedene bürgerliche Cliquen, die ihre eigenen imperialistischen Interessen verteidigen und dabei die religiösen Unterschiede (Christen, Juden, Muslime, die verschiedenen Tendenzen bei den Sunniten und Schiiten) ausnutzen. Dies sticht klar hervor bei den Auseinandersetzungen zwischen Staaten wie der Türkei, Marokko, Saudi-Arabien oder Katar um die Kontrolle der Moscheen „im Ausland", vor allem in Europa.

Doch diese Ausbrüche der religiösen Widersprüche und Zerstückelung seit Ende der 1980er Jahre und der Niedergang der „laizistischen" oder „sozialistischen" Regime (Ägypten, Syrien, Irak,...), drücken vor allem das Gewicht des Zerfalls, des Chaos und der Misere aus, des totalen Fehlens einer Perspektive und einer Flucht in komplett rückwärtsgerichtete und barbarische Ideologien.

Die Vorstellung, dass die USA eine Kontrolle über die Region wiederherstellen könnten, z.B. mit der Vertreibung Assads, ist vollkommen unrealistisch. Seit dem ersten Golfkrieg sind alle Versuche der USA, ihre Führungsrolle wiederherzustellen, kläglich gescheitert und haben umgekehrt den regionalen imperialistischen Appetit geweckt, besonders beim stark bewaffneten Iran, der viele Rohstoffe besitzt und von Russland und China unterstützt wird. Doch der Iran befindet sich in einem Konflikt mit Saudi-Arabien, Israel und der Türkei. Die „normalen" imperialistischen Ambitionen jedes Staates, die Verstärkung des „Jeder für sich", die israelisch-palästinensische Frage, die religiösen Konflikte, aber auch die ethnischen Konflikte (Kurden, Türken, Araber) spielen in diesem Theater von Spannungen mit, und machen die Situation immer unübersichtlicher und dramatischer für die Bevölkerung der Region und potentiell für die gesamte Welt. Der Ausbruch erneuter Spannungen rund um den Iran und eine drohende Blockade der Straße von Hormus hätten unkalkulierbare Folgen für die Weltwirtschaft.

Die Zuspitzung der imperialistischen Konflikte im Fernen Osten

Ein kurzer historischer Rückblick

Der Ferne Osten war seit den ersten Anzeichen der Dekadenz des Kapitalismus eine entscheidende Zone bei der Zuspitzung der imperialistischen Spannungen: der russisch-japanische Krieg 1904-1905, die chinesische „Revolution" 1911 und der entfesselte Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Kriegsherren, die japanische Offensive in der Mandschurei 1931, die japanische Invasion in China 1937, der Konflikt zwischen Japan und der UdSSR von Mai bis September 1939 und dann der Zweite Weltkrieg, in dem der Ferne Osten eines der wichtigsten Kriegsgebiete war, sowie die nachfolgenden Kriege:

- Zwischen 1945 und 1989 stand die Region im Zentrum der Ost-West-Spannungen: 1946-1950 ein Bürgerkrieg in China, die Kriege in Korea, Indochina und Vietnam, und zusätzlich die russisch-chinesischen, chinesisch-vietnamesischen, chinesisch-indischen und indisch-pakistanischen Grenzkonflikte. Die amerikanische Politik der „Neutralisierung" Chinas im Verlauf der 1970er Jahre war ein wichtiger Moment in der Verstärkung des Drucks des amerikanischen gegenüber dem russischen Block.

- Seit dem Zusammenbuch der russischen Blocks hat sich das „Jeder für sich" auch im Fernen Osten ausgeweitet (Schurkenstaat Nordkorea, Zerfall in Pakistan). Die Region zeichnet sich vor allem durch den wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg Chinas aus, was die regionalen imperialistischen Spannung angeheizt hat (regelmäßige Zwischenfälle im Chinesischen Meer in den letzten Monaten mit Vietnam und den Philippinen, aber vor allem mit Japan, und der wiederholte Schlagabtausch zwischen den beiden koreanischen Staaten), es gibt aber auch die verstärkte Aufrüstung anderer Staaten in der Region (Indien, Japan, Südkorea, Singapur, ...).

Der Aufstieg Chinas und die Verstärkung der Tendenz hin zum Krieg

Die Entwicklung der wirtschaftlichen und militärischen Macht Chinas und seine Bemühungen, sich nicht nur im Fernen Osten als Macht ersten Ranges in Stellung zu bringen, sondern auch in Nahen Osten (Iran), in Afrika (Sudan, Simbabwe, Angola) und in Europa, wo China eine strategische Annäherung an Russland betreibt, hat zur Folge, dass China für die USA eine der Hauptgefahren für ihre Hegemonie darstellt. Die USA richten demzufolge ihre strategischen Manöver vor allem gegen China, wie die Besuche von Obama Ende 2012 in Burma und Kambodscha, zwei Staaten, die mit China verbündet sind, gezeigt haben.

Das wirtschaftliche und militärische Wachstum Chinas drängt dieses Land dazu, seine nationalen wirtschaftlichen und strategischen Interessen mit einer zunehmenden imperialistischen Aggressivität durchzusetzen, und ist daher ein Faktor der Destabilisierung im Fernen Osten.

Der Aufstieg Chinas beunruhigt nicht nur die USA, sondern auch zahlreiche Länder im Fernen Osten selber, wie Japan, Indien, Vietnam, die Philippinen, die sich durch den chinesischen Riesen bedroht fühlen und ihre Aufrüstung deutlich verstärkt haben. Strategisch gesehen haben die USA ein leichtes Spiel, ein Bündnis gegen die chinesischen Ambitionen zu bilden, dessen Pfeiler Japan, Indien und Australien sind, aber auch andere kleinere Länder wie Südkorea, Vietnam, die Philippinen, Indonesien und Singapur einschließt. Indem sich der Weltpolizist USA als Anführer einer solchen Allianz ausgibt, vor allem unter dem Motto „China in die Schranken zu weisen", versucht er, die Glaubwürdigkeit seiner Vorherrschaft, die weltweit am zerbröckeln ist, wiederherzustellen.

Die Ereignisse der letzten Zeit bestätigen, dass heute ein bedeutendes wirtschaftliches Wachstum eines Landes nicht ohne die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen über die Bühne geht. Der ganze Kontext des Auftretens dieses großen Rivalen auf der Weltbühne, während gleichzeitig der große Weltpolizist immer schwächer wird, kündigt neue und gefährliche Konfrontationen an, nicht nur in Asien, sondern weltweit.

Die Gefahr von Konfrontationen ist noch wahrscheinlicher geworden, weil die Tendenz zum „Jeder für sich" auch in anderen Ländern des Fernen Ostens sehr präsent ist. Die Verhärtung Japans bestätigt sich durch die Rückkehr von Shinzo Abe an die Regierung, der eine Kampagne zur Stärkung der nationalen Macht entfaltet. Er will die Selbstverteidigungstruppen durch eine richtige Armee zur nationalen Verteidigung ersetzen und verspricht, China im Konflikt um einige Inseln im Chinesischen Meer die Stirn zu bieten und auch zu den ehemaligen Verbündeten in der Region, den USA und Südkorea, die etwas vergessenen Verbindungen wieder zu verstärken. Auch in Südkorea scheint die Wahl von Park Geun-hye, der Kandidaten der konservativen Partei (und Tochter des ehemaligen Diktators Park Chung-hee), eine Verstärkung des „Jeder für sich" und der eigenen imperialistischen Ambitionen dieses Landes anzukündigen.

Aber auch eine ganze Serie von anderen zweitrangigen Konflikten unter asiatischen Staaten ist Wasser auf die Mühle der Destabilisierung: der indisch-pakistanische Konflikt, die Friktionen zwischen den beiden koreanischen Staaten, die Spannungen zwischen Südkorea und Japan, der Konflikt zwischen Kambodscha und Vietnam oder Thailand, zwischen Burma und Thailand, zwischen Indien und Burma oder Bangladesch, usw. All das trägt zur Verstärkung der kriegerischen Tendenzen bei.

Die Spannungen innerhalb des politischen Apparates der chinesischen herrschenden Klasse

Der kürzlich abgehaltene Kongress der „Kommunistischen" Partei Chinas ließ durchschimmern, dass es angesichts der gegenwärtigen wirtschaftlichen, imperialistischen und sozialen Situation starke Spannungen innerhalb der herrschenden Klasse in China gibt. Sie wirft eine Frage auf, die bisher kaum beachtet wurde: die Charakteristiken des politischen Apparates der herrschenden Klasse in einem Land wie China und die Frage; wie sich die Kräfteverhältnisse in seinem Innern entwickeln. Die Unfähigkeit eines vergleichbaren politischen Apparates war ein wesentlicher Faktor beim Zusammenbruch des Ostblocks - doch wie ist das in China? Auch wenn sie jegliche „Glasnost" oder „Perestroika" ablehnen, so haben die Herrschenden mit Erfolg die Mechanismen der Marktwirtschaft eingeführt, auf politischer Ebene aber eine rigide stalinistische Organisation beibehalten. In früheren Berichten haben wir die strukturellen Schwächen des politischen Apparates der chinesischen Bourgeoisie als Hindernis dafür bezeichnet, dass China ein wirklicher Herausforderer der USA werden könnte. Das Schliddern der Wirtschaft in die allgemeine weltweite Krisendynamik, die Explosion von sozialen Konflikten und das Anwachsen von imperialistischen Spannungen begünstigen zweifelsohne die Spannungen zwischen den verschiedenen Fraktionen der chinesischen Bourgeoisie, wie einige überraschende Ereignisse bewiesen haben. So die Vertreibung des „aufsteigenden Sterns" Bo Xilai und das mysteriöse Verschwinden des zukünftigen Präsidenten Xi Jinping einige Wochen vor dem Kongress.

Es gibt verschiedene Konfliktpunkte, welche Streitigkeiten zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse erahnen lassen:

- Ein erster Konfliktpunkt betrifft den Gegensatz zwischen Regionen, welche stark von der wirtschaftlichen Entwicklung profitieren, und andern, die eher vernachlässigt wurden; es dabei auch um die Wirtschaftspolitik. Weiter stehen sich zwei große Netzwerke gegenüber, die je auf Vetternwirtschaft beruhen. Einerseits die Gelegenheitskoalition der „Partei der Prinzen", der Kinder hoher Parteikader aus der Zeit von Mao und Deng, andererseits die Shanghai Clique, Funktionäre aus den Küstenprovinzen. Letztere bilden die führenden Schichten der am meisten industrialisierten Küstenprovinzen und streben ein Wirtschaftswachstum um jeden Preis an, auch wenn es die sozialen Gräben vertieft. Diese Fraktion wird durch den neuen Präsidenten Xi Jinping und den Makro-Ökonomie-Experten des Politischen Büros Wang Qishan repräsentiert. Ihr gegenüber steht die „Tuanpai"-Fraktion rund um die Liga der „kommunistischen" Jugend, in der die meisten der Führer dieses Netzwerks ihre Karriere begonnen haben. Da es sich vor allem um Funktionäre zu handeln scheint, welche in den ärmeren Zentralprovinzen des Landes ihre Karriere machten, strebt diese Fraktion eine Politik der Industrialisierung der Zentral- und Westprovinzen an, was eine größere „soziale Stabilität" fördern solle. Sie werden durch Gruppen gebildet, welche viel Erfahrung in der Verwaltung und der Propaganda haben. Repräsentiert durch den früheren Präsidenten Hu Jintao, ist diese Fraktion in der neuen Führung durch Li Keqiang vertreten, der Wen Jiabao als Ministerpräsidenten abgelöst hat. Die Konfrontation dieser zwei Fraktionen scheint beim Zwischenfall rund um Bo Xilai eine Rolle gespielt zu haben.

- Die soziale Lage scheint ebenfalls Spannungen unter den verschiedenen Fraktionen des Staates zu erzeugen. Gewisse Teile, vor allem aus dem Industrie- und Exportsektor, aber auch aus dem Konsumgütersektor, sind gegenüber den sozialen Spannungen sensibilisiert und befürworten politische Konzessionen gegenüber der Arbeiterklasse. Sie stellen sich den „harten" Fraktionen", die nur auf die Repression setzen, um die Privilegien der herrschenden Cliquen zu verteidigen, entgegen.

- Die imperialistische Politik spielt ebenfalls eine Rolle in den Konfrontationen unter den herrschenden Cliquen. Es gibt Fraktionen, welche eine aggressive Haltung der Konfrontation vertreten, so die Regierung der Küstenregionen von Hainan, Guanxi und Guangdong, die neue Ressourcen für ihre Unternehmen im Auge haben und dazu die Kontrolle über Kohlenwasserstoffe und Fischfanggebiete erringen wollen. Auf der anderen Seite birgt diese Aggressivität die Gefahr des Einbruchs auf der Ebene der Exporte und der ausländischen Investitionen, wie der Konflikt mit Japan um einige Inseln zeigt. Das immer häufigere Anheizen des nationalistischen Fiebers in China ist zweifellos Produkt dieser internen Spannungen. Wie schwer wiegt das Gewicht des Nationalismus auf die Arbeiterklasse? Wie sehr ist die junge Generation der Arbeiterklasse fähig, sich nicht davon einnehmen zu lassen und für ihre eigenen Interessen zu kämpfen? Auf dieser Ebene ist die Situation anders als 1989-91 in der UdSSR.

Diese drei Spannungslinien bestehen aber nicht völlig getrennt voneinander, sondern überlagern sich, und sie waren Triebfedern der Spannungen, welche den Kongress der KP Chinas und die Wahl der neuen Führung prägten. Laut Beobachtern haben diese Auseinandersetzungen mit einem Sieg der „Konservativen" über die „Fortschrittlichen" geendet (die 4 neuen Mitglieder des permanenten Komitees des Politbüros, das aus 7 Mitgliedern zusammengesetzt ist, sind „Konservative"). Doch die immer häufigeren Enthüllungen darüber, dass diese internen Kämpfe von Korruption und der Anhäufung gigantischer Vermögen in den oberen Rängen der Partei geprägt sind (das Vermögen der Familie des ehemaligen Premierminister Wen Jiabao wird auf 2.7 Milliarden Dollar geschätzt und besteht aus einem Netzwerk von Firmen, die meist auf den Namen seiner Mutter, seiner Frau oder der Kinder eingetragen sind, oder das Vermögen des neuen Premiers Xi Jinping, welches mindestens eine Milliarde Dollar beträgt), weisen nicht nur auf ein Problem mit gigantischen Proportionen hin, sondern auch auf eine zunehmende Instabilität innerhalb der herrschenden Schicht, der die neue konservative und alternde Führung kaum gewachsen zu sein scheint.

Die zunehmende „Somalisierung" in Afrika

Die Ausbreitung des „Jeder für sich" und des Chaos hat eine Zone der Instabilität und der „Rechtlosigkeit" entstehen lassen, welche sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts über den Nahen Osten bis hin nach Pakistan erstreckt. Sie betrifft ebenfalls den gesamten afrikanischen Kontinent, der in eine schreckliche Barbarei abgleitet. Diese „Somalisierung" zeigt sich auf verschiedenste Art und Weise:

Die Tendenz hin zum Auseinanderbrechen der Staaten

Das 1964 in der Charta der Organisation der Afrikanischen Einheit verankerte Prinzip der Unantastbarkeit der Grenzen scheint über den Haufen geworfen zu sein. 1991 hat sich Eritrea von Äthiopien getrennt, und seither erfasst dieser Prozess ganz Afrika. Seit Beginn der 1990er Jahre hat der Fall der Zentralmacht in Somalia eine Zerstückelung des Landes zur Folge gehabt, mit dem Auftauchen von Pseudo-Staaten wie Somaliland und Puntland. Darauf folgten die Abspaltung des Süd-Sudans vom Sudan und die blutige Rebellion von Darfour, die Abtrennung Azawads von Mali, die separatistischen Tendenzen in Libyen (im Gebiet von Bengasi), im Senegal (Casamance) und kürzlich in der Region von Mombasa in Kenia.

Neben den Abspaltungen, die immer zahlreicher werden, gibt es seit den 1990er Jahren eine Vervielfachung von inneren Konflikten mit einem politisch-ethnischen oder ethnisch-religiösen Charakter: Liberia, Sierra Leone und die Elfenbeinküste gleiten in politisch-ethnische Bürgerkriege ab, die den Staat zugunsten von bewaffneten Clans in sich zusammenstürzen ließen. In Nigeria gibt es eine muslimische Rebellion im Norden, in Uganda die "Widerstandsarmee Gottes" und im Osten der Demokratischen Republik Kongo bekämpfen sich die Hutu- und Tutsi-Clans. Die Ausbreitung der Spannungen über die Landesgrenzen hinweg, in einer Situation des Zerfalls und der Unmöglichkeit, eine nationale Ordnung aufrecht zu erhalten, führt dazu, dass religiöse oder ethnische Konflikte bestimmend werden. Die Folge ist die Bildung von Milizen, welche sich auf dieser Grundlage zusammenschließen.

Diese inneren Konflikte werden oft von Interventionen von außen angeheizt und ausgenutzt. So hat zum Beispiel die Intervention des Westens in Libyen die Destabilisierung des Landes verschärft und die Ausbreitung von Waffen und bewaffneten Banden in der gesamten Sahelzone verstärkt. Die zunehmende Präsenz Chinas auf dem afrikanischen Kontinent hat sich auf die kriegerische Politik im Sudan ausgewirkt und fördert die Destabilisierung der gesamten Region. Auch die großen multinationalen Konzerne und ihre Staaten im Hintergrund instrumentalisieren und orchestrieren diese lokalen Konflikte, um sich den Zugang zu den Bodenschätzen zu sichern (so zum Bespiel im Osten der Demokratischen Republik Kongo).

Nur der Süden des afrikanischen Kontinents scheint diesem Szenario entfliehen zu können. Doch auch dort gibt es eine Verwässerung der Grenzen, jedoch mehr im Sinne eines „Aufsaugens" von schwachen Staaten in der Region (Mozambique, Swasiland, Botswana, aber auch Namibia, Sambia und Malawi) durch Südafrika, was diese Staaten in Halb-Kolonien verwandelt.

Die Verwischung der Grenzen

Die Destabilisierung der Staaten wird durch eine grenzüberschreitende Kriminalität des Waffen-, Drogen- und Menschenhandels gefördert. Eine Folge davon ist, dass die territorialen Grenzen zu Zonen werden, in denen eine effektive Kontrolle kaum mehr oder nur noch auf korrupter Grundlage existiert. Bewaffnete Aufstände, die Unfähigkeit der Staatsmacht, die Ordnung aufrecht zu erhalten, transnationaler Handel von Waffen und Munition, lokale Tyrannen, Einmischung aus dem Ausland, Gerangel um die Bodenschätze, usw. Die schwachen Staaten verlieren die Kontrolle über die „Grauzonen", die immer größer und von Kriminellen verwaltet werden (manchmal gibt es auch den perversen Effekt der Interventionen von humanitären Organisationen, welche die „beschützten" Gebiete zu „extra-territorialen" machen). Hier einige Beispiele:

- Die ganze Sahel- und Sahara-Zone, die libysche Wüste Azawad, Mauretanien, Niger, Tschad sind zu einem Aktionsfeld Krimineller und radikaler islamistischer Gruppen geworden.

- Zwischen dem Niger und Nigeria existiert ein Streifen von 30-40 Kilometern, der der Kontrolle Niameys und Abujas entwichen ist. Die Grenze ist hier verschwunden.

- In der Demokratischen Republik Kongo gibt es keine Kontrolle der Grenzen zu Uganda, Ruanda, Tansania durch den Zentralstaat, was den transnationalen Handel mit Bodenschätzen und Waffen fördert.

- Durch Staaten wie Burkina Faso, Ghana, Benin oder Guinea gibt es Menschenhandelsrouten mit Arbeitskräften für die Landwirtschaft und die Fischerei. Guinea-Bissau ist gänzlich zu einer rechtlosen Zone geworden, die als neuralgischer Punkt für den Drogenhandel Südamerikas oder Afghanistans Richtung Europa und den USA dient.

Die Dominanz von Clans und Kriegsherren

Mit dem Zerfall von Nationalstaaten fallen ganze Regionen in die Hände von Clans und Kriegsherren, die ihre eigenen Grenzen aufstellen. Es sind nicht mehr nur Somalia und Puntland, wo Cliquen und lokale Herren ihre Gesetze mit Waffengewalt durchsetzen. In der Sahel-Zone spielen diese Rolle die Al-Qaida des islamischen Maghreb (AQMI), Ançar Dine, die Bewegung für die Einzigkeit und den Jihad in Westafrika (Mujao), Nomadengruppen der Tuareg. Im Osten des Kongo gibt es die Gruppe M23, eine Privatarmee eines Kriegsherren, welche ihre Dienste dem Meistbietenden zur Verfügung stellt.

Solche Banden betreiben in der Regel Menschenhandel und kassieren dafür Geld oder andere Dienste. Auch in Nigeria, im Niger-Delta, agieren solche Gruppen mit Erpressungen und Sabotage der Ölanlagen.

Die Entstehung und Ausbreitung der „rechtlosen Zonen" beschränkt sich aber nicht nur auf Afrika. Die Generalisierung des organisierten Verbrechens und der Bandenkriege in Lateinamerika, wie in Mexiko und Venezuela, wo ganze Stadtquartiere von Banden kontrolliert werden, zeugen vom weltweiten Fortschreiten des Zerfalls. Doch die Heftigkeit des Auseinanderfallens und des Chaos auf dem afrikanischen Kontinent geben ein Bild davon, wohin das kapitalistische System die gesamte Menschheit zu führen droht.             

Die ökonomische Krise und die Spannungen unter den europäischen Staaten

Im Bericht für den 19. Kongress der IKS 2011 hatten wir hervorgehoben, dass es keine mechanische und unmittelbare Verbindung zwischen der ökonomischen Krise und der Entwicklung der imperialistischen Spannungen gibt. Doch dies bedeutet keinesfalls, dass diese beiden Faktoren keine Auswirkung aufeinander hätten. Wir sehen dies vor allem bei der Rolle der europäischen Staaten auf dem imperialistischen Schachbrett.

Die Auswirkungen auf die internationalen imperialistischen Ambitionen

Die Krise des Euro und der EU diktiert den meisten europäischen Staaten einen harten Sparkurs, der sich auch auf die militärischen Ausgaben auswirkt. Anders als die Staaten im Fernen und Nahen Osten, wo die Ausgaben für die Aufrüstung explodiert sind, sind die militärischen Budgets der wichtigsten europäischen Staaten am sinken.

Der Schritt zurück bei der Aufrüstung geht Hand in Hand mit zurückhaltenderen imperialistischen Ambitionen der europäischen Staaten auf internationaler Ebene (eine Ausnahme bildet Frankreich, das in Mali präsent ist und sich in Afghanistan diplomatisch präsentiert mit dem Versuch, durch die Verhandlungen von Chantilly die afghanischen Konfliktparteien zu einigen). Die europäischen Staaten zeigen momentan weniger imperialistische Autonomie und sogar eine gewisse Wiederannäherung an die USA, ein „Zurück in die Reihe", das aber sicher nur zeitweiliger Natur ist.

Die Auswirkungen auf die Spannungen unter den europäischen Staaten

Diese äußern sich innerhalb der EU durch eine zunehmende Spannung zwischen einer  Tendenz, welche die Einheit sucht (aufgrund der Notwendigkeit; gemeinsam die Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen) und einer zentrifugalen Tendenz (einer Tendenz des „Jeder für sich").

Die Bedingungen der Entstehung der EU waren ein Projekt, Deutschland nach 1989 zu zügeln. Was die Bourgeoisie heute aber braucht, ist eine viel stärkere Zentralisierung, eine budgetäre und politische Einheit, wenn sie der Krise auf wirksame Art entgegentreten will, was genau den Interesen Deutschlands entspricht. Diese Notwendigkeit einer wirksameren Zentralisierung stärkt die Kontrolle Deutschlands über alle anderen europäischen Staaten in dem Sinne, dass Deutschland die Maßnahmen diktieren und damit direkt ins Funktionieren der anderen Länder eingreifen kann: „Europa spricht Deutsch", sagte 2011 der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag.

Auf der anderen Seite führen die Krise und die drastischen Maßnahmen zu einem Auseinanderbrechen der EU und zu einer Ablehnung der Kontrolle durch einen EU-Staat, also zu einem „Jeder für sich". Großbritannien weist die vorgeschlagenen zentralisierenden Maßnahmen radikal zurück, und in den südlichen Ländern Europas ist eine anti-deutsche Tendenz am zunehmen. Die zentrifugalen Kräfte haben in gewissen Staaten auch eine zersetzende Auswirkung in der Form von Autonomiebestrebungen wie in Katalonien, Norditalien, Flandern und Schottland.

Der Druck der Krise und die dadurch entstandene komplexe Spannung zwischen den vereinheitlichenden und den zentrifugalen Tendenzen drücken ein Auseinanderbröckeln der EU aus und verschärfen die Differenzen zwischen den Staaten.

Auf allgemeiner Ebene unterstreicht dieser Bericht des 20. Kongresses die Orientierungen des Berichts für den 19. Kongress der IKS und die dort festgestellten Entwicklungstendenzen. Wie noch nie zuvor war die absolute Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise dermaßen ersichtlich. Die kommende Periode „wird noch deutlicher den Zusammenhang zeigen zwischen:

- der ökonomischen Krise, welche die Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise aufzeigt,

- der kriegerischen Barbarei, welche die grundlegenden Konsequenzen dieser historischen Sackgasse verdeutlicht: die Zerstörung der Menschheit.

Dieser Zusammenhang ist heute für die Arbeiterklasse ein wichtiger Anstoß zum Nachdenken über die Zukunft, welche der Kapitalismus der Menschheit zu bieten hat, und über die Notwendigkeit, eine Alternative zu diesem verfaulten System zu finden."

IKS, Frühling 2013

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [82]

20. Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage

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1. Vor einem Jahrhundert trat die kapitalistische Produktionsweise in die Periode ihres historischen Niedergans ein, ihre Dekadenz. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete den Übergang von der „Belle Epoque“, dem Höhepunkt der bürgerlichen Gesellschaft, in  die Epoche der „Kriege und Revolutionen“, wie es der erste Kongress der Kommunistischen Internationale 1919 formulierte. Seither ist der Kapitalismus immer mehr in eine Barbarei versunken, wie der Zweite Weltkrieg mit mehr als 50 Millionen Toten zeigte. Wenn die Periode des „Wiederaufschwungs“, welche dieser furchtbaren Schlächterei folgte, die Illusion streute, dass dieses System seine Widersprüche überwunden habe, so bestätigte die offene ökonomische Krise, die Ende der 1960er Jahre ausbrach, was die Revolutionäre schon ein halbes Jahrhundert zuvor ausgesprochen hatten: Die kapitalistische Produktionsweise kann dem Schicksal der vorangegangenen Produktionsweisen nicht entrinnen. Sie wurde, nachdem sie zuerst einen Fortschritt für die menschliche Geschichte dargestellt hatte, zu einem Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte und für den Fortschritt der Menschheit. Die Zeit des Abdankens dieser Produktionsweise und der Ersetzung durch eine andere Gesellschaft war gekommen.

2. Diese offene Krise zeigte nicht nur die historische Sackgasse des kapitalistischen Systems auf, wie es Ende der 1930er Jahre schon der Fall gewesen war, sie stellte die Gesellschaft einmal mehr vor die Alternative: generalisierter imperialistischer Krieg oder Entfaltung gewichtiger proletarischer Kämpfe mit der Perspektive der revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Gegenüber der Krise der 1930er Jahre war die Arbeiterklasse, welche nach der Niederlage der revolutionären Welle 1917-23 von der Bourgeoisie ideologisch niedergeworfen worden war, nicht fähig, eine Antwort zu geben, und die Bourgeoisie konnte ihren Weg einschlagen: einen neuen Weltkrieg. Bei den ersten Erscheinungen der Krise gegen Ende der 1960er Jahre hingegen reagierte die Arbeiterklasse mit breiten Kämpfen: Mai 68 in Frankreich, der „Heiße Herbst“ 1969 in Italien, die massiven Streiks der Arbeiter in Polen von 1970, und viele andere Kämpfe, die zwar weniger spektakulär, aber nicht weniger bedeutend für den fundamentalen Kurswechsel in der Gesellschaft waren. Die Konterrevolution war vorbei. In dieser neuen Situation hatte die Bourgeoisie nicht freie Hand, um auf einen Weltkrieg zuzusteuern. Es folgten mehr als 40 Jahre, in denen die Weltwirtschaft immer mehr ins Schlingern geriet und die von harten Angriffen gegen die Lebensbedingungen der Ausgebeuteten gekennzeichnet waren. Während dieser Jahrzehnte führte die Arbeiterklasse zahlreiche Abwehrkämpfe. Auch wenn sie keine definitive Niederlage erlitt, welche den historischen Kurs geändert hätte, war sie anderseits auch nicht fähig, ihren Kampf und ihr Bewusstsein so zu entfalten, dass sie der Menschheit eine revolutionäre Perspektive wenigstens als Entwurf skizziert hätte.

„In solch einer Situation, in der die beiden grundlegenden - und sich entgegengesetzten - Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne gleichzeitig ihre jeweils eigene Antwort durchsetzen zu können, bleibt die Geschichte aber nicht stehen. Viel weniger noch als bei den anderen vorhergehenden Produktionsformen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein 'Einfrieren' des gesellschaftlichen Lebens nicht möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich nur noch zuspitzen, bewirkt die Unfähigkeit der Bourgeoisie, irgendeine Perspektive für die gesamte Gesellschaft anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, seine eigene Perspektive durchzusetzen, dass es zur Bildung dieses Phänomens des allgemeinen Zerfalls der Gesellschaft kommt, ihres Verfaulens auf der Stelle.“ (Der Zerfall: Letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 13)

Damit begann vor einem Vierteljahrhundert eine Periode, in der das Phänomen des Zerfalls bestimmendes Element im Leben der gesamten Gesellschaft wurde.

3. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft zeigt sich auf dem Gebiet der militärischen Konflikte und internationalen Beziehungen am dramatischsten. Was die IKS dazu führte, die Analyse des Zerfalls in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre weiterzuentwickeln, waren die mörderischen Angriffe, welche die großen Städte Europas heimsuchten, vor allem Paris – Angriffe die nicht von isolierten Gruppen, sondern von etablierten Staaten geführt wurden. Dies war der Beginn einer Form der imperialistischen Konflikte, später als „asymmetrische Kriegsführung“ bezeichnet, die eine tiefgreifende Wende in der Beziehung zwischen den Staaten, aber generell auch in der gesamten Gesellschaft, kennzeichnete. Das erste historische Zeichen dieser neuen und finalen Phase der Dekadenz des Kapitalismus war der Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Europa und des Ostblocks 1989. Die IKS erkannte die Bedeutung dieser Ereignisse für die imperialistischen Konflikte sofort:

„Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen 'Hauptpartnern' von früher öffnet die Tür für das Aufbrechen einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn das Proletariat nicht mehr dazu in der Lage wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen). Weil die vom Block auf erzwungene Disziplin nicht mehr gegeben ist, werden diese Konflikte dagegen viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere in den Gegenden, wo die Arbeiterklasse am schwächsten ist.“ (Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos, Internationale Revue Nr. 12)                 

Seither hat die internationale Situation diese Analyse nur bestätigt:

- Golfkrieg 1991

- Krieg in Ex-Jugoslawien zwischen 1991 und 2001

- Zwei Kriege in Tschetschenien (1994-95 und 1999-2000)

- Der Krieg in Afghanistan 2001, der immer noch anhält.

- Der Krieg im Irak 2003, dessen Konsequenzen das Land noch immer dramatisch belasten, aber auch den Auslöser dieses Krieges, die USA.

- All die Kriege auf dem afrikanischen Kontinent (Ruanda, Somalia, Kongo, Sudan, Elfenbeinküste, Mali, usw.)

- Die zahlreichen militärischen Aktionen Israels gegen Libanon und den Gazastreifen als Vergeltungsschläge gegen die Raketenangriffe der Hisbollah oder Hamas.

4. All diese Konflikte an geografisch verschiedenen Orten zeigen auf, wie der Krieg im dekadenten Kapitalismus einen komplett irrationalen Charakter angenommen hat. Die Kriege des 19. Jahrhunderts, so mörderisch sie auch waren, hatten unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung des Kapitalismus eine Rationalität. Die Kolonialkriege erlaubten es Europa, Imperien aufzubauen, aus denen sie Rohmaterialien erhielten und in die sie ihre Waren absetzen konnten. Der amerikanische Bürgerkrieg, aus dem der Norden als Sieger hervorging, öffnete die Türe zur vollen industriellen Entwicklung des Landes, das die führende Weltmacht werden sollte. Der Französisch-Preußische Krieg von 1870 war ein entscheidender Schritt in der Einigung Deutschlands und zur politischen Herausbildung der zukünftigen zentralen Macht in Europa. In Gegensatz dazu blutete der Erste Weltkrieg die Staaten in Europa aus, alle, die „Verlierer“ und die „Sieger“, vor allem aber jene, die am „kriegerischsten“ waren (Österreich, Russland und Deutschland). Ebenso der Zweite Weltkrieg, welcher den Niedergang des europäischen Kontinents bestätigte, allen voran Deutschlands, das wie die andere „Angriffsmacht“ Japan 1945 nur noch eine Ruine war. Das einzige Land, welches von diesem Krieg profitierte, war dasjenige, das spät in den Krieg einstieg und auf dessen Gebiet aufgrund seiner geografischen Lage keine Schlachten gefochten wurden – die USA. Der wichtigste Krieg, der von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg geführt wurde, der Vietnamkrieg, hatte einen unübersehbar irrationalen Charakter, denn er brachte den USA nichts, trotz des gigantischen Einsatzes auf wirtschaftlicher, vor allem aber auch menschlicher und politischer Ebene.

5. Der irrationale Charakter des Krieges erreichte in der Periode des Zerfalls eine neue Stufe. Dies zeigten die Kriegsabenteuer der USA im Irak und in Afghanistan deutlich. Diese beiden Kriege verursachten größte ökonomische Kosten, doch das Erreichte war äußerst gering, wenn nicht negativ. Die USA konnten in diesen Kriegen ihre militärische Übermacht demonstrieren, doch sie erreichten ihre Ziele keinesfalls: weder die Stabilisierung des Iraks und Afghanistans noch die Unterordnung der alten Alliierten des Westblocks unter die Fittiche der USA. Heute hinterlässt der etappenweise Rückzug der US- und der NATO-Truppen aus Afghanistan und dem Irak eine absolut unstabile Situation in diesen Ländern, was die Instabilität in der gesamten Region verstärkt. Gleichzeitig verlassen die anderen Parteien in diesem militärischen Abenteuer das Schiff wie Ratten in jede Richtung.

6. In den vergangenen Monaten hat sich das chaotische Wesen der imperialistischen Spannungen und Konflikte durch die Situation in Syrien und dem Fernen Osten erneut bestätigt. In beiden Fällen handelt es sich um Konflikte, welche die Gefahr einer größeren Ausbreitung und Destabilisierung in sich tragen. Im Fernen Osten gibt es zunehmende Spannungen zwischen einzelnen Staaten der Region. In letzter Zeit sind es Spannungen, bei denen mehrere Staaten beteiligt sind, von den Philippinen bis nach Japan. China und Japan liegen im Streit um die Senkaku-/Diyao-Inseln, Japan und Südkorea um die Inseln Takeshima/Dokdo, während es andere Spannungen gibt, die Taiwan, Vietnam und Burma betreffen. Doch der spektakulärste Konflikt ist zweifellos derjenige zwischen Nord- und Südkorea, Japan und den USA. Trotz der dramatischen wirtschaftlichen Krise hat Nordkorea seine militärischen Ausgaben erhöht mit dem Ziel, auf die anderen Länder Druck auszuüben, besonders auf die USA, um damit wirtschaftliche Zugeständnisse zu erzwingen. Doch diese abenteuerliche Politik beinhaltet zwei Gefahren. Auf der einen Seite die Gefahr des Hineinziehens des chinesischen Riesen, welcher Nordkoreas einziger Verbündeter darstellt und der immer heftiger seine imperialistischen Interessen vorantreibt, wo immer er kann: im Fernen Osten sowieso, aber auch im Nahen Osten mit der Allianz mit dem Iran (welcher der Hauptlieferant von Kohlenwasserstoffen ist), aber auch in Afrika, wo eine verstärkte wirtschaftliche Präsenz existiert, welche die Basis für eine eventuelle militärische Präsenz ist. Auf der anderen Seite beinhaltet die abenteuerliche Politik des nordkoreanischen Staates, eines Staates, dessen brutales Polizeiregime Ausdruck seiner Zerbrechlichkeit ist, die Gefahr, jeder Kontrolle zu entgleiten und in eine unkontrollierte militärische Dynamik zu rutschen, deren Konsequenzen schwer abzusehen sind. Wir können jetzt schon sagen, dass dies eine Tragödie mehr in der langen Liste der militärischen Barbarei wäre, welche die Erde erfasst hat.

7. Der Bürgerkrieg in Syrien folgte dem “Arabischen Frühling”, der das Regime von Assad geschwächt hatte und eine Büchse der Pandora mit Konflikten und Widersprüchen öffnete, welche das eiserne Regime jahrzehntelang unter Kontrolle gehalten hatte. Die westlichen Staaten sind für eine Absetzung Assads, doch sie sind absolut unfähig, eine Alternative anzubieten, da die Opposition komplett gespalten ist und ein guter Teil aus Islamisten besteht. Gleichzeitig unterstützt Russland das Assad Regime militärisch, welches Russland im Gegenzug die Stationierung seiner Kriegsflotte in Tartus garantiert. Es ist nicht der einzige Staat, der das Regime unterstützt: auch der Iran und China halten Assad die Stange. Syrien ist deshalb zum Schauplatz eines blutigen Konfliktes geworden, in den verschiedene imperialistische Staaten ersten und zweiten Ranges verwickelt sind – Rivalitäten, unter denen die Bevölkerung im Nahen Osten schon seit Jahrzehnten leidet. Die Tatsache, dass die Ausdrücke des „Arabischen Frühlings“ in Syrien nichts zugunsten der unterdrückten und ausgebeuteten Massen brachten, sondern in einen Krieg mündeten, der schon mehr als 100.000 Tote gefordert hat, ist ein Zeichen der Schwäche der Arbeiterklasse in diesem Land – die einzige Kraft, die der militärischen Barbarei etwas entgegensetzen könnte. Dies trifft, wenn auch nicht in derselben tragischen Form, ebenfalls auf die anderen arabischen Länder zu, in denen der Fall der alten Diktatoren zum Aufstieg des rückständigsten Sektors der Bourgeoisie an die Macht geführt hat, der Islamisten in Ägypten und Tunesien, oder im noch größeren Chaos Libyens.

Syrien ist heute ein neues Beispiel der Barbarei, die der Kapitalismus in seiner Phase des Zerfalls auf der Welt verursacht. Einer Barbarei, welche die Form blutiger militärischer Konfrontationen annimmt, aber auch Zonen betrifft, in denen nicht Krieg herrscht, aber in denen die Gesellschaft wie in Lateinamerika im Chaos versinkt, wo Drogenbanden in Komplizenschaft mit Teilen des Staatsapparates in einigen Gebieten ihr eigenes Terrorregime installiert haben.

8. Auf der Ebene der Umweltzerstörung haben die Folgen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft eine apokalyptische Qualität erreicht. Auch wenn der Kapitalismus von Beginn weg auf seiner Suche nach Profit und Akkumulation durch einen extremen Raubbau im Namen der „Eroberung der Natur“ gekennzeichnet war, so haben die Folgen dieser Tendenz in den letzten dreißig Jahren ein Niveau der Zerstörungen angenommen, wie sie weder in vorangegangenen Gesellschaften noch in der „Blut und Schweiß“-Zeit der Geburt des Kapitalismus vorhanden waren. Die Sorge des revolutionären Proletariates gegenüber dem zerstörerischen Charakter des Kapitalismus besteht schon seit langem, wie auch die Gefahr schon seit langem besteht. Schon Marx und Engels warnten vor den negativen Auswirkungen – auf die Natur und auf die Menschen – der Menschenkonzentration in den ersten industriellen Zentren von Großbritannien um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Im selben Geist haben Revolutionäre in verschiedensten Epochen den ignoranten Charakter der kapitalistischen Entwicklung verstanden und angeprangert und die Gefahren für die Arbeiterklasse und die gesamte Menschheit aufgezeigt. Heute geht es schlicht um das Überleben des Planeten.

Die gegenwärtige Tendenz hin zu einer definitiven und unumkehrbaren Zerstörung der Natur ist alarmierend, wie die Szenarien der globalen Erwärmung, die Ausplünderung des Planeten, Abholzung, Bodenerosion, Artenzerstörung, Wasser-, Meeres- und Luftverschmutzung und Nuklearkatastrophen deutlich zeigen. Letztere sind Beispiele der permanenten Zerstörungsgefahr durch das, was der Kapitalismus in seiner verrückten Logik entwickelt hat, ein Damoklesschwert über den Köpfen der Menschheit. Die Bourgeoisie versucht, die Umweltzerstörung der Schwäche des Individuums, dem individuellen „Fehlen eines ökologischen Bewusstseins“ in die Schuhe zu schieben, sie kreiert so eine Atmosphäre der Schuld und Angst. Diese Versuche, das Problem anzugehen, sind so heuchlerisch, weil es nicht die Schuld des Individuums ist, auch nicht von einzelnen Firmen oder Nationen. Es ist vielmehr die Logik der Verwüstung in einem System der Akkumulation, dessen Hauptziel nur der Profit ist und das keine Skrupel kennt, sich alles zu unterwerfen, solange es einen unmittelbaren Nutzen herauspressen kann, auch wenn es damit vielleicht für immer den Stoffwechsel zwischen Leben und Erde untergräbt.

Dies ist die unausweichliche Folge des Widerspruchs zwischen den Produktivkräften – den menschlichen und natürlichen –, welche der Kapitalismus entwickelt hat und die heute eingezwängt werden und unkontrolliert zu explodieren drohen, und den dazu antagonistischen Produktionsverhältnissen, die auf der Teilung der Gesellschaft in Klassen und auf der kapitalistischen Konkurrenz beruhen. Die Überwindung dieser dramatischen Weltlage muss die Arbeiterklasse in ihren revolutionären Bemühungen stimulieren, denn nur durch die Zerstörung des Kapitalismus wird das Leben wieder aufblühen können.

9. Die Hilflosigkeit der herrschenden Klasse gegenüber der Umweltzerstörung, auch wenn es den Eindruck macht, dass sie sich der negativen Dimension für die Menschheit bewusster geworden ist, hat ihre Wurzeln in der Unmöglichkeit, die Widersprüche zu überwinden, welche die kapitalistische Produktionsweise auszeichnen. Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise ist der Hauptgrund für die Barbarei, welche die Gesellschaft immer mehr erfasst. Für die kapitalistische Produktionsweise gibt es keinen Ausweg. Ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben diese Produktionsweise in die Sackgasse geführt, und es gibt keinen Ausweg außer der Abschaffung dieser Gesetzmäßigkeiten, der Abschaffung von sich selbst. Der Motor der kapitalistischen Entwicklung war von Anbeginn weg die Eroberung neuer Märkte außerhalb seiner eigenen Sphäre. Die Handelskrisen, welche der Kapitalismus seit den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts durchlebte, die Ausdruck des Problems waren, dass die vom Kapitalismus erzeugten Waren nicht genügend Käufer fanden, wurden durch eine exzessive Zerstörung von Kapital, aber vor allem auch durch eine Eroberung neuer Märkte überwunden, vor allem in vom Standpunkt des Kapitals noch unterentwickelten Zonen. Deshalb war jenes Jahrhundert das Jahrhundert der Eroberungen: Für jede entwickelte kapitalistische Macht war es lebenswichtig, Zonen zu ergattern, aus denen sie billiges Rohmaterial erhielten, die aber auch als Absatzmärkte für ihre Waren dienten. Der Erste Weltkrieg war im Kern die Folge davon, dass die Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Mächte abgeschlossen war und somit neue Eroberungen nur noch mittels Konfrontationen mit anderen Kolonialmächten gemacht werden konnten. Doch dies heißt nicht, dass es keine außerkapitalistischen Märkte mehr gab, auf welchen der Warenüberschuss abgesetzt werden konnte. Rosa Luxemburg schrieb kurz vor dem Ersten Weltkrieg: „Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalsherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist.“ (Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 32)

Der Erste Weltkrieg war der erste schreckliche Ausdruck dieser neuen Epoche der “Katastrophen und Konvulsionen”, in welche die kapitalistische Produktionsweise eintrat, „selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist“. Und 10 Jahre nach dem großen imperialistischen Gemetzel war die Krise der 1930er Jahre der zweite Ausdruck davon, eine Krise, welche geradeaus ins zweite generalisierte imperialistische Massaker führte. Doch die Periode des „Wiederaufschwungs“ nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Aufschwung, der durch noch vor Ende des Krieges lancierte Mechanismen des westlichen Blocks gesteuert wurde (vor allem das Abkommen von Bretton Woods 1944) und der auf einer systematischen Intervention des Staates in die Wirtschaft beruhte, bewies, dass der Kapitalismus noch nicht auf seine „natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist“. Die offene Krise, die Ende der 1960er Jahre ausbrach, zeigte aber, wie das System dieser Schranke näher kam, vor allem durch das Ende des Entkolonialisierungsprozesses, der paradoxerweise zur Schaffung neuer Märkte beitrug. Seither hat das zunehmende Schwinden außerkapitalistischer Märkte den Kapitalismus immer mehr in die generalisierte Überproduktion getrieben, in die Flucht in Kredite, einen Sturzflug, in dem immer mehr Schulden akkumuliert werden, die mit immer geringerer Wahrscheinlichkeit zurückbezahlt werden können.

10. Der wachsende Einfluss des Finanzsektors in der Wirtschaft zulasten des eigentlichen produktiven Sektors, wobei der Finanzsektor heute von Politikern und Journalisten als Sündenbock für die Krise stigmatisiert wird, ist mitnichten das Resultat des Sieges einer Art des ökonomischen Denkens über die andere („Monetaristen“ gegen „Keynesianisten“, oder „Neoliberale“ gegen „Interventionisten“). Er entspringt der Tatsache, dass die Flucht in den Kredit den Institutionen, welche Kredite verleihen, den Banken, mehr Gewicht geben. In diesem Sinne ist die „Finanzkrise“ nicht der Grund der ökonomischen Krise und der Rezession. Ganz im Gegenteil ist es die Überproduktion, welche die Quelle der „Finanzialisierung“ darstellt, und es ist das zunehmende Risiko, in die Produktion zu investieren - weil der Weltmarkt zunehmend gesättigt ist -, welche das Geld immer mehr in die Spekulation treibt. All die „linken“ Wirtschaftstheorien, die zur „Zügelung des internationalen Kapitals“ aufrufen, um die Krise zu überwinden, sind nichts als naive Träume, da sie die wirklichen Gründe des Aufblähens des Finanzsektors außer Acht lassen.

11. Die “Sub-prime-Krise“ 2007, die Finanzpanik 2008 und die Rezession 2009 stellten einen neuen wichtigen Schritt des Kapitalismus in seine unumkehrbare Krise dar. Über Jahrzehnte hatte der Kapitalismus auf den Kredit gebaut und ihn missbraucht, um der drohenden Tendenz der Überproduktion entgegenzuwirken, welche sich vor allem in einer Folge von Rezessionen ausdrückte, die zunehmend tiefer wurden, der jeweilige Aufschwung aber immer schwächer. Das Resultat war, wenn man die Schwankungen von Jahr zu Jahr beiseitelässt, das Sinken der durchschnittlichen Wachstumsraten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, während die Arbeitslosigkeit stetig anstieg. Die Rezession von 2009 war die schlimmste seit derjenigen der 1930er Jahre, und die Arbeitslosenzahlen stiegen in vielen Ländern auf ein seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erreichtes Niveau. Nur eine massive Intervention des IWF, die am G20-Gipfel vom März 2009 entschieden wurde, rettete die Banken vor einem generellen Bankrott, der durch ihre Anhäufung von „toxischen Schulden“ zustande gekommen war, das heißt durch Kredite an Schuldner, die sie nicht mehr zurückzahlen konnten. Die „Schuldenkrise“, wie sie die bürgerlichen Kommentatoren nannten, erreichte somit ein höheres Niveau: Es waren nicht mehr nur Individuen (wie es in den USA während der Hypothekenkrise der Fall gewesen war), nicht nur Unternehmen oder Banken, die unfähig wurden, ihre Schulden oder auch nur die Zinsen dieser Schulden zurückzuzahlen. Es waren jetzt ganze Staaten, die mit einem enormen Gewicht an Schuldenlasten konfrontiert waren, mit „Staatsschulden“, was ihre Interventionsfähigkeit, die eigenen nationalen Ökonomien mit Budgetdefiziten zu beleben, noch mehr schwächte.

12. In diesem Kontext ereignete sich im Sommer 2011 das, was als „Eurokrise“ bezeichnet wurde. Wie beim japanischen oder amerikanischen Staat steigerten sich die Schulden der europäischen Staaten auf spektakuläre Weise, vor allem in denjenigen Ländern der Eurozone, deren Wirtschaft am zerbrechlichsten oder am meisten abhängig von den illusorischen Präventivmaßnahmen war, die zuvor ergriffen worden waren – den PIIGS (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien). In den Staaten mit eigener Währung wie den USA, Japan oder Großbritannien können Staatsschulden kurzfristig mittels Druckens von Geld kompensiert werden. So hat das amerikanische FED große Mengen von amerikanischen Staatsanleihen (Treasury Bonds) aufgekauft, das heißt es hat die verbrieften Schuldanerkennungen des Staates zurück genommen, um sie in Dollarnoten zu verwandeln. Doch diese Möglichkeit besteht nicht für diejenigen Staaten, welche die nationale Währung zugunsten des Euro abgeschafft haben. Der Möglichkeit der „Monetarisierung“ der Schulden beraubt, haben die Staaten der Eurozone keine andere Wahl, als mehr zu borgen, um die Löcher in den Staatskassen zu stopfen. Wenn die Staaten von Nordeuropa noch fähig sind, geliehenes Geld von privaten Banken zu akzeptablen Zinsen zu erhalten, so gibt es diese Möglichkeit für die PIIGS nicht mehr, deren Schulden mit horrenden Zinsen belastet sind, weil sie immer zahlungsunfähiger werden. Dies zwingt sie zu einer Serie von „Rettungsplänen“ von Seiten der EZB und dem IWF, begleitet von einem großen Druck, die staatlichen Defizite zu vermindern. Die Konsequenzen dieser Maßnahmen sind dramatische Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse; doch sie erlauben es dem Staat immer noch nicht, das Defizit zu reduzieren, denn die Rezession, die mit der Ausgabenbremse ausgelöst wird, führt zu einer Verminderung der Einkommen und damit auch der Steuereinnahmen. Somit bringen die Notfallmedikamente, die zur Genesung des Patienten gedacht waren, denselben immer mehr in Todesgefahr. Dies ist ein Grund für den kürzlich gefällten Entscheid der Europäischen Union, die Forderung nach einer Reduktion der Defizite in gewissen Ländern abzuschwächen, wie in Spanien und Frankreich. Die ganze Sackgasse des Kapitalismus wird hier erneut deutlich: Schulden wurden eingesetzt, um die ungenügenden Absatzmärkte zu kompensieren, doch dies führt zu keinem Wachstum, wie die ab 2007 einsetzende Finanzkrise verdeutlicht. Wie auch immer, all die Maßnahmen, die zur erneuten Beschränkung der Schulden ergriffen werden, konfrontieren den Kapitalismus mit seiner Überproduktionskrise, und das in einem internationalen Kontext der permanenten Zuspitzung und Begrenzung des Spielraums für finanzielle Manöver.

13. Die so genannten Schwellenländer, vor allem die BRIC-Staaten  (Brasilien, Russland, Indien, China), deren Wachstumsraten im Vergleich zu den USA, Japan oder Westeuropa besser waren, stellen keine Widerlegung der Unüberwindbarkeit der kapitalistischen Widersprüche dar. In Wirklichkeit ist der „Erfolg“ dieser Länder (wobei hier auch die Unterschiede hervorgehoben werden müssen: Russland zum Beispiel lebt vor allem vom Export von Rohstoffen, besonders Erdgasen) eine Konsequenz der generellen Überproduktionskrise der kapitalistischen Wirtschaft, welche durch die verschärfte Konkurrenz zwischen den Unternehmen zur drastischen Verminderung der Lohnkosten drängt, was zu einer Verlagerung von großen Teilen des Produktionsapparats (Automobil-, Textil- und Bekleidungs-, Elektroindustrie, usw.) aus den alten Industriestaaten in Gebiete geführt hat, in denen die Löhne viel tiefer sind. Die enge Bindung der Wirtschaft dieser Schwellenländer an Exporte in die hochentwickelten Staaten wird zweifellos früher oder später zu Erschütterungen führen, wenn die Verkäufe durch die Rezession einbrechen.

14. Wie wir vor vier Jahren schrieben: „Auch wenn das kapitalistische System nicht wie ein Kartenhaus zusammenstürzen wird, auch wenn der Rückgang der Produktion nicht endlos weitergehen wird, bleibt es bei der Perspektive eines immer tieferen Versinkens in der historischen Sackgasse und der Vorbereitung von noch größeren Erschütterungen als jene, die wir derzeit erleben. Seit mehr als vier Jahrzehnten hat sich die herrschende Klasse als unfähig erwiesen, die Zuspitzung der Krise zu verhindern. Heute ist die Lage viel verheerender als in den 1960er Jahren.“ (Internationale Revue Nr. 44, 18. Kongress der IKS, Resolution zur internationalen Lage). Dies bedeutet aber nicht, dass es zu einer vergleichbaren Situation wie 1929 oder in den 1930er Jahren kommt. Vor 70 Jahren war die Bourgeoisie angesichts des Kollapses ihrer Wirtschaft komplett überrumpelt, und die Politik, in die sich jeder Staat im Alleingang stürzte, führte nur zu einer Verschärfung der Krise. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 40 Jahre hat gezeigt, dass, auch wenn es unmöglich ist, die Talfahrt in die Krise zu vermeiden, die herrschende Klasse fähig geworden ist, diese Dynamik zu verlangsamen und ein Szenario der allgemeinen Panik wie am „Schwarzen Donnerstag“  des 24. Oktobers 1929 zu verhindern. Es gibt einen weiteren Grund, weshalb wir nicht auf eine Situation wie in den 1930er Jahren zusteuern. Damals ging die Schockwelle von der stärksten Macht der Welt aus, den USA, und breitete sich danach auf die zweitgrößte aus, Deutschland. In diesen zwei Ländern manifestierten sich die härtesten Zeichen der Krise wie die Massenarbeitslosigkeit von über 30% der arbeitenden Bevölkerung, die endlosen Schlangen vor den Arbeitsämtern und Suppenküchen, während Länder wie Großbritannien und Frankreich relativ verschont blieben. Heute spielt sich in den Staaten von Südeuropa Vergleichbares ab (vor allem in Griechenland), aber ohne das Ausmaß des Elends der Arbeiterklasse in den 1930er Jahren in den USA und Deutschland zu erreichen. Gleichzeitig sind die am meisten entwickelten Länder von Nordeuropa, die USA und Japan noch weit weg von einem solchen Szenario. Dies weil einerseits ihre nationalen Ökonomien fähiger geworden sind, der Krise zu begegnen, doch auch weil die Arbeiterklasse in diesen Ländern, vor allem in Europa, nicht bereit ist, ein solches Niveau von Angriffen auf ihre Lebensbedingungen zu akzeptieren. Dieser wichtige Faktor bei der Entwicklung der Krise unterliegt keinem strikt ökonomischen Determinismus, sondern spielt sich auf der Ebene der sozialen Verhältnisse ab - dem Kräfteverhältnis zwischen den zwei wichtigsten sozialen Klassen der Gesellschaft - zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse.

15. Auch wenn die herrschende Klasse die eiternden Wunden ihrer Gesellschaft als Schönheitsflecken zu präsentieren versucht, beginnt die Menschheit, aus einem Schlaf aufzuwachen, der ein Albtraum geworden ist, und den totalen Bankrott dieser Gesellschaft zu erkennen. Doch lediglich das vage Bewusstsein und der Drang nach einer anderen Ordnung als einer brutalen Welt, die sich im Zerfall befindet, beutet noch lange nicht, dass die Arbeiterklasse von der Überwindung dieses Systems überzeugt ist, und noch weniger, dass sie daran ist, eine Perspektive hin zu einer neuen Welt zu entwickeln. Die beispiellose Zuspitzung der Krise des Kapitalismus durch den Zerfall ist der Rahmen, in dem sich der Klassenkampf heute abspielt, was mit sich bringt, dass dieser Kampf sich nicht einfach in offenen Konfrontationen zwischen zwei gesellschaftlichen Klassen abspielt. Es gilt hier die besonderen Bedingungen der gegenwärtigen Kämpfe zu sehen, seit sie sich im Kontext einer Krise abspielen, welche seit 40 Jahren anhält, und deren graduelle Auswirkungen – nebst einzelnen Ausbrüchen – die Arbeiterklasse an die langsame Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen gewöhnt hat, was es schwieriger macht, die Bedeutung der Angriffe zu verstehen und darauf konsequent zu reagieren. Darüber hinaus ist es eine Krise, deren Rhythmus schwer verstehen lässt, wer hinter den Angriffen steht, welche sich durch ihre langsame und gestaffelte Natur auszeichnen. Dies unterscheidet sich stark von offensichtlichen und unmittelbaren Erschütterungen im gesamten sozialen Leben in einer Situation des Krieges. So gibt es Unterschiede in der Entwicklung des Klassenkampfes – auf der Ebene der möglichen Reaktionen, der Breite, der Tiefe, der Ausbreitung und des Inhalts – in einer Situation des Krieges einerseits, welche sofort und unaufschiebbar zum Kampf drängt (wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts während dem Ersten Weltkrieg der Fall war, auch wenn es zunächst keine unmittelbare Antwort auf den Krieg gab), und in einer sich langsam entwickelnden Krise andererseits.

Der Ausgangsbedingung für die heutigen Kämpfe ist die Abwesenheit einer Klassenidentität innerhalb des Proletariats, welches seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Phase des Zerfalls große Schwierigkeiten hat, nicht nur seine historische Perspektive zu entwickeln, sondern sich selbst als Klasse wahrzunehmen. Der sogenannte „Tod des Kommunismus“, der angeblich durch den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 stattgefunden haben soll, löste eine ideologische Kampagne aus, welche das Ziel hatte, die Existenz der Arbeiterklasse überhaupt in Frage zu stellen. Dies hatte eine scherwiegende Wirkung auf das Bewusstsein und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse. Die Auswirkungen dieser Kampagne haben den Verlauf des Klassenkampfes bis zum heutigen Zeitpunkt belastet. Doch trotz alledem zeichnet sich, wie wir es seit 2003 unterstrichen haben, eine Tendenz hin zu Klassenkonfrontationen ab, welche durch verschiedenste Bewegungen bestätigt wurde, in denen die Arbeiterklasse der Bourgeoisie gegenüber „ihre Existenz zeigte“. Die weltweite Arbeiterklasse hat nicht aufgehört zu kämpfen, auch wenn die Kämpfe nicht die erhoffte Breite und Tiefe erreicht haben, die angesichts der dramatischen Situation gefordert sind. Doch über den Klassenkampf in Begriffen wie „was sein sollte“ nachzudenken, als wäre die heutige Situation einfach vom Himmel gefallen, ist keine Methode für Revolutionäre. Die Schwierigkeiten und das Potential des Klassenkampfes zu verstehen, war immer eine Aufgabe, die Geduld und eine historische und materialistische Herangehensweise erforderte, um in das angebliche Chaos Ordnung zu bringen, um zu verstehen, was neu und schwierig ist und auf was wir bauen können.

16. Nur in diesem Kontext von Krise, Zerfall und dem fragilen subjektiven Zustand der Arbeiterklasse kann man die Schwächen, Unzulänglichkeiten, Fehler, aber auch die potentielle Stärke der Kämpfe verstehen, was uns in der Überzeugung bestärkt, dass die kommunistische Perspektive nicht in automatischer oder mechanischer Art von den Umständen bestimmt wird. Während der letzten zwei Jahre haben sich Bewegungen entfaltet, die wir mit der Metapher der fünf Ströme beschrieben:

1. Soziale Bewegungen junger Menschen in prekären Arbeitssituationen, Arbeitslosigkeit oder im Studium, welche mit dem Kampf gegen das CPE-Gesetz in Frankreich 2006 begannen, mit der Revolte in Griechenland 2008 weitergingen, und 2011 in der Bewegung der Empörten und Occupy gipfelten.

2. Bewegungen die massiv waren, doch von der Bourgeoisie gut kontrolliert und im Vorfeld vorbereitet wurden, wie in Frankreich 2007, Frankreich und Großbritannien 2010, Griechenland 2010-2012, usw.

3. Bewegungen, die unter dem Gewicht der klassenübergreifenden Ideologie litten, wie in Tunesien und Ägypten 2011.

4. Ansätze massiver Streiks in Ägypten 2007, Vigo (Spanien) 2006, China 2009.

5. Bewegungen in Fabriken oder in einzelnen Industriesektoren, die vielversprechende Zeichen enthielten, wie bei Lindsey 2009, bei Tekel 2010 oder diejenige der Elektrizitätsangestellten in Großbritannien 2011.

Diese fünf Ströme gehören trotz ihrer Unterschiede der Arbeiterklasse. Jeder drückt auf seine Art eine Bemühung der Arbeiterklasse aus, zu sich selber zurückzufinden trotz all der Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihr von der Bourgeoisie in den Weg gelegt werden. Jeder enthält eine Dynamik der Suche, der Klärung und der Vorbereitung des Klassenterrains. In unterschiedlicher Weise sind sie durch die Vollversammlungen Teil der Suche nach „der Welt, die uns zum Sozialismus führen wird“ (wie es Rosa Luxemburg bezüglich der Arbeiterräte ausdrückte). Der am weitesten fortgeschrittene Ausdruck dieser Tendenz waren die Bewegungen der Empörten und Occupy – vor allem in Spanien – denn sie waren diejenigen, welche am deutlichsten die Spannungen, Widersprüche und das Potential des heutigen Klassenkampfes aufzeigten. Trotz der Präsenz der verarmten Schichten des Kleinbürgertums zeichneten sich diese Bewegungen aus durch ihre Suche nach Solidarität, durch die Vollversammlungen, durch die Bemühungen, eine Debattenkultur zu entwickeln, durch die Fähigkeit, nicht in die Fallen der Repression zu laufen, in Ansätzen durch den Internationalismus und durch eine große Sensibilität für subjektive und kulturelle Aspekte. Es ist diese Dimension der Vorbereitung des subjektiven Terrains, durch welche all diese Bewegungen ihre Bedeutung für die Zukunft bewiesen haben.

17. Die Bourgeoisie hat ihrerseits Zeichen der Unruhe gezeigt angesichts dieser „Wiederauferstehung“ ihres weltweiten Totengräbers, der reagiert auf den Horror, der ihm täglich zum Zwecke der Aufrechterhaltung des Systems auferlegt wird. Der Kapitalismus hat seine Offensive ausgeweitet mit einer Verstärkung der gewerkschaftlichen Einbindung, der Ausstreuung demokratischer Illusionen und mit dem Feuerwerk des Nationalismus. Es ist kein Zufall, wenn sich seine Gegenoffensive auf das Thema konzentriert: Die Zuspitzung der Krise und ihre Auswirkungen auf die Lebensbedingungen des Proletariats rufen einen Widerstand hervor, den die Gewerkschaften aufzufangen und zu kanalisieren versuchen mit Aktionen, die die Einheit der Kämpfe aufbrechen und den Vertrauensverlust des Proletariats in seine eignen Kräfte möglichst in die Länge ziehen.

Da sich die heute zu beobachtende Entwicklung des Klassenkampfes in einem Rahmen der offenen Krise des Kapitalismus seit fast 40 Jahren abspielt – was gewissermaßen eine neuartige Situation im Vergleich zu den früheren Erfahrungen der Arbeiterbewegung darstellt -, versucht die Bourgeoisie, das Proletariat davon abzuhalten, das weltweite und historische Wesen der Krise zu erkennen, indem sie dieses versteckt. So verhindern die Idee der „nationalen“ Lösungen und das Aufkommen von nationalistischen Diskursen das Verständnis des wirklichen Charakters der Krise, das aber unabdingbar ist, damit der Kampf des Proletariats eine radikale Richtung einschlägt. Denn das Proletariat nimmt sich nicht selber als Klasse wahr, sein Widerstand läuft im Moment tendenziell darauf hinaus, allgemein eine Empörung gegen alles, was in der Gesellschaft stattfindet, zum Ausdruck zu bringen. Dieses Fehlen einer Klassenidentität und somit einer Klassenperspektive erlaubt es der Bourgeoisie, Verschleierungen über die „Bürgerrechte“ und die Kämpfe zugunsten einer „wirklichen Demokratie“ zu produzieren. Und es gibt weitere Ursachen für diesen Verlust an Klassenidentität, die ihre Wurzeln in der Struktur selber der kapitalistischen Gesellschaft und in der Form haben, in der sich die Krise gegenwärtig vertieft. Der Zerfall, der eine brutale Verschlimmerung der minimalsten menschlichen Überlebensbedingungen nach sich zieht, führt auch zu einer schleichenden Verelendung der Menschen auf persönlichem, geistigem und sozialem Gebiet. Dies drückt sich aus in einer „Vertrauenskrise“ der Menschheit. Hinzu kommt, dass die Verschärfung der Krise über die Ausbreitung der Arbeitslosigkeit und der prekären Überlebensbedingungen die Sozialisierung der Jugend erschwert und die Flucht in eine Welt der Abstraktion und der Vereinzelung erleichtert.

18. So sind die Bewegungen dieser beiden letzten Jahre und insbesondere die „sozialen Bewegungen“ durch zahlreiche Widersprüche gekennzeichnet. So widerspricht insbesondere die Seltenheit von spezifischen Forderungen scheinbar dem „klassischen“ Modell eines Weges vom Besonderen zum Allgemeinen, den wir im Klassenkampf erwartet haben. Aber wir müssen auch die positiven Aspekte der allgemeinen Herangehensweise berücksichtigen, die daher rührt, dass wir die Auswirkungen des Zerfalls auf einer allgemeinen Ebene spüren und dass die wirtschaftlichen Angriffe der herrschenden Klasse ihrem Wesen nach universell sind. Heute hat der Weg, den das Proletariat unter die Füße genommen hat, seinen Ausgangspunkt im „Allgemeinen“, so dass sich die Frage der Politisierung tendenziell deutlich direkter stellt. Die ausgebeuteten Massen sind mit dem offensichtlichen Bankrott des Systems und mit den verheerenden Auswirkungen des Zerfalls konfrontiert, so dass ihre Revolte nur vorankommen kann, wenn sie die Probleme als Folgen der Dekadenz des Systems und der Notwendigkeit seiner Überwindung begreifen. Genau in diesem Zusammenhang werden die eigentlich proletarischen Kampfmethoden wichtig, die wir beobachten (Vollversammlungen, offene und brüderliche Debatten, Solidarität, Entfaltung einer mehr und mehr politischen Perspektive), denn es sind Methoden, die eine kritische Reflektion und die Schlussfolgerung erlauben, dass das Proletariat nicht nur in der Lage ist, den Kapitalismus zu zerstören, sondern auch, eine neue Welt aufzubauen. Ein entscheidender Moment in diesem Prozess wird erreicht sein, wenn die Kämpfe, die vom Arbeitsplatz ausgehen, mit den allgemeineren Mobilisierungen zusammen kommen – eine Perspektive, die sich abzuzeichnen beginnt, trotz der Schwierigkeiten, auf die wir in den kommenden Jahren treffen werden. Die ist der Inhalt der Perspektive des Zusammenfließens der „fünf Ströme“, von dem wir oben gesprochen haben, in „ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen“, wie Rosa Luxemburg den Massenstreik beschrieben hat.

19. Um diese Perspektive des Zusammenfließens zu verstehen, ist das Verhältnis zwischen Klassenidentität und Klassenbewusstsein von zentraler Bedeutung, und eine Frage stellt sich: Kann sich das Bewusstsein ohne Klassenidentität entwickeln, oder wird diese entstehen durch die Entwicklung des Bewusstseins? Die Entwicklung des Bewusstseins und einer geschichtlichen Perspektive ist nach richtigem Verständnis verbunden mit der Rückgewinnung der Klassenidentität, aber wir können nicht erwarten, dass dieser Prozess in kleinen Schritten nach einem vorbestimmten Rhythmus ablaufe: zuerst die Identität schmieden, dann kämpfen, dann das Bewusstsein und schließlich die Perspektive entwickeln – oder irgendeine andere Reihenfolge all dieser Bestandteile. Die Arbeiterklasse erscheint heute nicht als je länger je massenhafter auftretender Gegenpol, so ist auch die Entwicklung einer kritischen Haltung durch ein Proletariat, das sich noch nicht als es selber erkennt, das wahrscheinlichste. Die Lage ist vielschichtig, aber es spricht vieles dafür, dass wir eine Antwort in der Form einer allgemeinen Fragestellung erleben werden, die in politischer Hinsicht der Möglichkeit nach positiv ist, aber nicht von einer unterschiedenen, klar abgrenzenden Klassenidentität ausgeht, sondern von Bewegungen, die versuchen, ihre eigene Perspektive im eigenen Kampf zu finden. Wie wir 2009 gesagt haben: „Damit das Bewusstsein über die Möglichkeit einer kommunistischen Revolution in der Arbeiter_innenklasse bedeutend an Boden gewinnen kann, muss sie Vertrauen in ihre eigenen Kräfte schöpfen, und dies geschieht durch die Entfaltung von massenhaften Kämpfen.“ (Resolution zur internationalen Lage, Punkt 11, 18. Kongress der IKS) Die Formulierung „ihre Kämpfe entfalten, um das Vertrauen in sich selbst und ihre Perspektive wieder zu finden“ wird der Sache gerecht, denn sie beinhaltet die Erkennung „seiner selbst“ und einer Perspektive, aber die Entwicklung dieser Bestandteile kann erst aus den Kämpfen selber herrühren. Das Proletariat „schafft“ nicht sein Bewusstsein, sondern es „begreift“, ergreift das Bewusstsein darüber, was es selber ist.

In diesem Prozess liegt der Schlüssel in der Debatte, damit die Unzulänglichkeiten der beschränkten Gesichtspunkte kritisiert, die Fallen demontiert, die Suche nach Sündenböcken abgelehnt, das Wesen der Krise verstanden werde, etc. In dieser Hinsicht sind die Tendenzen zur offenen und brüderlichen Debatte der letzten Jahre vielversprechend für diesen Politisierungsprozess, der die Klasse voranbringen sollte. Die Welt zu verändern, indem wir uns selber verändern – dies beginnt Gestalt anzunehmen in der Initiativergreifung zu Debatten und in der Diskussion von Sorgen, die sich um die Kritik der Ketten drehen, die das Proletariat lähmen. Der Prozess der Politisierung und Radikalisierung braucht die Debatte, um den herrschenden Zustand zu kritisieren und eine historische Erklärung für die Probleme zu geben. In dieser Hinsicht stimmt nach wie vor, dass „die Verantwortung der revolutionären Organisationen, insbesondere der IKS, darin liegt, aktiver Teil der Reflektion zu sein, die schon heute in der Klasse stattfindet, und zwar nicht nur mittels aktiver Intervention in den Kämpfen, die sie zu entfalten beginnt, sondern auch durch die Stimulierung der Haltung der Gruppen und Einzelpersonen, die vorhaben, sich ihrem Kampf anzuschließen.“ (Resolution zur internationalen Lage des 17. Kongresses der IKS, 2007) Wir müssen fest davon überzeugt sein, dass die Verantwortung der Revolutionäre in der kommenden Phase darin besteht, zur Entwicklung des entstehenden Bewusstseins beizutragen, das zwar erst in leisen, aber doch vernehmbaren Zweifeln und Kritiken im Proletariat zum Ausdruck kommt – als Katalysator zu wirken. Dieser Beitrag besteht im Wesentlichen in der Fortsetzung und Vertiefung der theoretischen Arbeit, nicht nur gegen die Auswirkungen des Zerfalls, sondern auch als Mittel, um das gesellschaftliche Feld geduldig zu befruchten, als Medizin gegen den Immediatismus in unseren Aktivitäten, denn ohne die Radikalisierung und die Vertiefung der Theorie durch die Minderheiten wird die Theorie nie die Massen ergreifen.        

Der 20. Kongress der IKS

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Kürzlich hat die IKS ihren 20. Kongress abgehalten. Der Kongress einer kommunistischen Organisation ist einer der wichtigsten Momente ihrer Aktivitäten und ihres Lebens. Er ist der Ort, wo die ganze Organisation (mittels Delegationen, die von jeder Sektion bestimmt werden) eine Bilanz über ihre Tätigkeit zieht, eine in die Tiefe gehende Analyse der internationalen Lage erstellt, Perspektiven erarbeitet und ein Zentralorgan wählt, das dafür verantwortlich ist, dass die Entscheide der Kongresses umgesetzt werden.

Da wir von der Notwendigkeit einer Debatte und einer Zusammenarbeit zwischen Organisationen überzeugt sind, die für die Überwindung des kapitalistischen Systems kämpfen, haben wir drei Gruppen eingeladen – zwei von Korea und OPOP von Brasilien, die schon früher an internationalen Kongressen teilgenommen haben. Weil die Arbeit eines Kongresses einer kommunistischen Organisation keine „interne“ Angelegenheit ist, sondern die gesamte Arbeiterklasse etwas angeht, informieren wir unsere Leser_innen über die wesentlichen Fragen, die an diesem Kongress diskutiert worden sind.

Dieser Kongress ist vor dem Hintergrund einer Zuspitzung der Spannungen in Asien, einer Fortsetzung des Krieges in Syrien, einer Vertiefung der Wirtschaftskrise und einer komplizierten Lage des Klassenkampfes abgehalten worden, die gekennzeichnet ist durch eine schwache Entwicklung der „klassischen“ Arbeiterkämpfe gegen die wirtschaftlichen Angriffe der Bourgeoisie, aber auch durch das weltweite Auftauchen von sozialen Bewegungen, von denen die bedeutsamsten Beispiele diejenigen der „Indignados“ in Spanien und „Occupy Wall Street“ in den USA sind.

Die Analyse der Weltlage:

Eine Herausforderung, die eine bedeutende theoretische Anstrengung erfordert

Die Resolution zur internationalen Lage, die am 20. Kongress der IKS angenommen wurde und welche die aus der Diskussion herausgekommenen Analysen zusammenfasst, wird in der vorliegenden Ausgabe der Internationalen Revue ebenfalls veröffentlicht. Es ist deshalb nicht nötig, hier im Detail auf sie einzugehen.

Diese Resolution ruft den geschichtlichen Rahmen in Erinnerung, in welchem wir die gegenwärtige Lage der Gesellschaft verstehen, den Rahmen der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, des Niedergangs, der mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat, und der letzten Phase in dieser Dekadenz, den die IKS seit Mitte der 1980er Jahre als Phase des Zerfalls, des Verfaulens am lebendigen Leib, analysiert. Dieser Zerfall zeigt sich insbesondere an der Form, welche die imperialistischen Konflikte heute annehmen, von denen die Lage in Syrien ein tragisches Beispiel ist (wie dies dem Bericht über diese Frage entnommen werden kann, den wir ebenfalls in dieser Nummer veröffentlichen), aber auch in der katastrophalen Umweltzerstörung, welche die Bourgeoisie trotz all ihrer lauten Erklärungen und Kampagnen völlig unfähig ist zu verhindern oder auch nur zu bremsen.

Der Kongress hat keine besondere Diskussion über die imperialistischen Konflikte geführt - einerseits aus Zeitmangel, andererseits aber auch, weil die Vorbereitungsdiskussionen gezeigt haben, dass wir uns in dieser Frage weitgehend einig sind. Doch hat der Kongress eine Einführung der koreanischen Gruppe Sanoshin über die imperialistischen Spannungen im Fernen Osten zur Kenntnis genommen, die wir als Anhang auf unserer englischsprachigen Webseite veröffentlichen.

Über die Wirtschaftskrise

Die Resolution unterstreicht die Sackgasse, in der sich die Bourgeoisie heute befindet; diese ist unfähig, die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden, was eine schlagende Bestätigung der marxistischen Analyse ist. Einer Analyse, die alle „Experten“, ob sie sich auf den „Neoliberalismus“ berufen oder ihn verwerfen, mit der Verachtung der Unwissenden geringschätzen und vor allem bekämpfen, weil sie eben den historischen Bankrott dieser Produktionsweise und die Notwendigkeit voraussieht, sie durch eine Gesellschaft zu ersetzen, in welcher der Markt, der Profit und die Lohnarbeit ins Museum der Geschichte gestellt werden, wo die Menschheit von den blinden Gesetzen befreit wird, die sie in die Barbarei hinab ziehen, um endlich nach dem Grundsatz zu leben: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“

Was die gegenwärtige Lage der Krise des Kapitalismus betrifft, hat sich der Kongress klar dahingehend geäußert, dass die „Finanzkrise“ weder der Ursprung der Widersprüche ist, in denen die Weltwirtschaft versinkt, noch dass sie ihre Wurzeln in der „Finanzialisierung der Oekonomie“ und der Jagd nach kurzfristigen und spekulativen Profiten habe: es „ist (…) die Überproduktion, welche die Quelle der „Finanzialisierung“ darstellt, und es ist das zunehmende Risiko, in die Produktion zu investieren - weil der Weltmarkt zunehmend gesättigt ist -, welche das Geld immer mehr in die Spekulation treibt. All die „linken“ Wirtschaftstheorien, die zur „Zügelung des internationalen Kapitals“ aufrufen, um die Krise zu überwinden, sind nichts als naive Träume, da sie die wirklichen Gründe des Aufblähens des Finanzsektors außer Acht lassen“ (Resolution zur internationalen Lage, Punkt 10). Gleichzeitig hat der Kongress festgehalten, dass „die “Sub-prime-Krise“ 2007, die Finanzpanik 2008 und die Rezession 2009 (…) einen neuen wichtigen Schritt des Kapitalismus in seine unumkehrbare Krise“ darstellten (a.a.O. Punkt 11).

Der Kongress hat aber auch festgestellt, dass wir uns in unserer Organisation in verschiedenen Fragen nicht einig sind und dass die Diskussion insbesondere über die folgenden Themen weitergeführt werden soll.

Stellte die Krise von 2007 einen qualitativen Bruch dar, der ein neues Kapitel eröffnete, in welchem die Wirtschaft schnell und unmittelbar zusammenbricht? Worin besteht die Bedeutung der qualitativ neuen Etappe, die durch die Ereignisse von 2007 eingeläutet worden ist? In einem allgemeineren Sinn, müssen wir uns auf welche Krisenentwicklung gefasst machen: eine plötzlichen Zusammenbruch oder einen „langsamen“ Niedergang, der durch die kapitalistischen Staaten begleitet wird? Welche Staaten werden zuerst abtauchen, welche zuletzt? Hat die herrschende Klasse einen Spielraum, und welche Fehler will sie vermeiden? Oder in einem allgemeineren Sinn: Wenn die Bourgeoisie die Perspektiven der Krise analysiert, kann sie dabei die Möglichkeit von Reaktionen der Arbeiterklasse ignorieren? Welche Kriterien zieht die herrschende Klasse in Betracht, wenn sie in den verschiedenen Ländern Sparprogramme beschließt? Sind wir in einer Situation, in der alle herrschenden Klassen die Arbeiterklasse angreifen kann, wie es in Griechenland geschah? Ist in den alten Industrieländern der Zentren eine Kopie der Angriffe gleichen Ausmaßes (Lohnsenkungen von bis zu 40% usw.) zu erwarten? Worin besteht der Unterschied zwischen der Krise von 1929 und der heutigen? Welches ist der Grad der Verarmung in den großen Industrieländern?

Die Organisation hat daran erinnert, dass sie sehr schnell nach 1989 das Bewusstsein über die Bedeutung der Ereignisse erlangt und vorausgesehen hat, welche grundlegenden Veränderungen der Zusammenbruch des Ostblocks und der so genannten „sozialistischen“ Länder auf imperialistischer Ebene und im Klassenkampf bewirkt hat[i]. Doch auf der Ebene der wirtschaftlichen Auswirkungen haben wir die großen Veränderungen, die in der Zwischenzeit eingetreten sind, nicht vorausgesehen. Was bedeutete die Aufgabe einer gewissen Autarkie und Abschottungspolitik gegenüber dem Weltmarkt durch China und Indien für die Weltwirtschaft?

Wie wir dies schon mit der in der Organisation vor einigen Jahren geführten Debatte über die Mechanismen, die den Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg bewirkt haben, getan haben[ii], werden wir unsere Leser_innen auch über die wesentlichen Teile der aktuellen Debatte in Kenntnis setzen, sobald die Diskussion einen genügenden Klarheitsgrad erreicht hat.

Über den Klassenkampf

Der Bericht an den Kongress über den Klassenkampf hat eine Bilanz über die letzten zwei Jahre (seit dem Arabischen Frühling, den Bewegungen des Indignados, von Occupy, den Kämpfen in Asien, etc.) und die Schwierigkeiten der Klasse gezogen, auf die immer größeren Angriffe der Kapitalisten in Europa und den USA zu antworten. Die Diskussionen am Kongress drehten sich hauptsächlich um die folgenden Fragen: Wie sind die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse zu erklären, „angemessen“ auf die wachsenden Angriffe zu reagieren? Wieso gibt es in den alten industrialisierten Zentren noch keine Entwicklung hin zu einer revolutionären Situation? Welche Politik verfolgt die herrschende Klasse, um Massenkämpfe in den alten industrialisierten Zentren zu verhindern? Welches sind die Voraussetzungen für den Massenstreik?

Welche Rolle spielt die Arbeiterklasse in Asien – insbesondere in China – für das weltweite Kräfteverhältnis zwischen den Klassen? Was können wir von der Klasse erwarten? Hat sich das Zentrum der Weltwirtschaft und des Weltproletariats nach China verlagert? Wie sind die Veränderungen in der Zusammensetzung der Weltarbeiterklasse einzuschätzen? Die Diskussion ist auf unsere Position zum schwachen Glied zurückgekommen, die wir zu Beginn der 1980er Jahre gegen Lenins These erarbeitet haben, wonach die Kette der kapitalistischen Herrschaft am „schwächsten Glied“[iii], das heißt in den schwach entwickelten Ländern reißen werde.

Auch wenn die Diskussionen keine Meinungsverschiedenheiten über den vorgestellten Bericht (der im Abschnitt zum Klassenkampf der Resolution zur internationalen Lage zusammengefasst ist) zu Tage gefördert haben, sind wir zum Schluss gelangt, dass die Organisation die Reflexion über diese Frage fortsetzen muss, insbesondere indem wir das Thema diskutieren: „Mit welcher Methode muss man die Analyse des Klassenkampfes in der gegenwärtigen geschichtlichen Phase angehen?“

Das Leben und die Aktivitäten der Organisation

Die Diskussionen über das Leben der Organisation, über die Bilanz und die Perspektiven der Aktivitäten und des Funktionierens nahmen einen großen Teil des 20. Kongresses ein. Dies ist Ausdruck der Tatsache, dass Organisationsfragen nicht „technische“ Fragen sind, sondern einen politischen Charakter mit eigenem Stellenwert haben und größtmöglicher Aufmerksamkeit bedürfen. Wenn wir die Geschichte der drei Internationalen betrachten, welche von der Arbeiterklasse hervorgebracht wurden, so sehen wir, wie der marxistische Flügel diese Fragen immer wieder resolut ins Zentrum rückte. Folgende Beispiele sind nur einige von vielen:

- Der Kampf von Marx und dem Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation gegenüber der Allianz von Bakunin, vor allem auf dem Haager Kongress von 1872.

- Der Kampf Lenins und der Bolschewiki gegen die kleinbürgerlichen und opportunistischen Auffassungen der Menschewiki auf dem 2. Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahre 1903.

- Der Kampf der Linken Fraktion der Kommunistischen Partei Italiens gegen die Degeneration der Komintern, und ihre Vorbereitungen zur politischen und programmatischen Bildung einer neuen proletarischen Partei, wenn die Bedingungen es erlauben.

Die geschichtliche Erfahrung der Arbeiterbewegung hat gezeigt, dass spezifische politische Organisationen, welche die revolutionäre Perspektive innerhalb der Arbeiterklasse verteidigen, unabdingbar sind, wenn die Arbeiterklasse den Kapitalismus überwinden und eine kommunistische Gesellschaft aufbauen will. Doch proletarische politische Organisationen können nicht einfach proklamiert werde: Sie müssen aufgebaut werden. Während das Ziel die Überwindung des kapitalistischen Systems ist und die kommunistische Gesellschaft nur realisiert werden kann, wenn die Macht der Bourgeoisie gebrochen und der Kapitalismus überwunden ist, muss eine revolutionäre Organisation innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft aufgebaut werden. Deshalb ist der Aufbau der Organisation dem Druck und den Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Ideologie ausgesetzt. Der Prozess des Organisationsaufbaus findet nicht in einem luftleeren Raum statt. Revolutionäre Organisationen sind immer Fremdkörper innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, welche die kapitalistische Gesellschaft ständig zu zerstören versucht. Eine revolutionäre Organisation muss sich deshalb dauernd gegen eine ganze Reihe von Angriffen der bürgerlichen Gesellschaft zur Wehr setzten.

Dass sie der Repression ausgesetzt ist, ist bekannt. Die herrschende Klasse schreckte, wenn immer sie es für notwendig befand, nie davor zurück, die Polizei oder das Militär gegen die Revolutionäre einzusetzen. Die Mehrzahl der Organisationen in der Vergangenheit bestanden für lange Zeit unter den Bedingungen der Repression: Sie wurden „Gesetzlose“, und viele Mitglieder wurden ins Exil getrieben. Doch diese Art der Repression konnte sie nur selten brechen, ganz im Gegenteil, es stärkte sogar oft ihre Entschlossenheit und verstärkte den Kampf gegen demokratische Illusionen. So zum Beispiel im Fall der SPD in Deutschland, die während der Sozialistengesetze von 1878-1890 dem Gift der Demokratie und des Parlamentarismus viel besser widerstehen konnte als während der Periode der Legalität. Dies war auch bei der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands der Fall (und insbesondere bei ihrer bolschewistischen Fraktion), die während praktisch der ganzen Zeit ihrer Existenz illegal war.

Die revolutionäre Organisation muss auch der Zerstörung von innen entgegentreten – dem Eindringen von Spionen, Informanten, Abenteurern, usw., die oft mehr Schaden anrichten als die offene Repression.

Doch sie hat vor allem dem Druck der herrschenden Ideologie zu widerstehen, vor allem dem Demokratismus und dem sogenannten „gesunden Menschenverstand“, der speziell von Marx ins Visier genommen worden war. Sie muss gegen all die „Werte“ und „Prinzipien“ der kapitalistischen Gesellschaft ankämpfen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung hat uns durch das Geschwür des Opportunismus in der Zweiten und Dritten Internationale gelehrt, dass die Hauptgefahr für revolutionäre Organisationen darin besteht, das Eindringen der „Werte“ und Gewohnheiten der bürgerlichen Gesellschaft nicht abwehren zu können.

Aus diesen Gründen kann eine revolutionäre Organisation nicht wie die kapitalistische Gesellschaft funktionieren, sie muss in einer assoziierten Weise arbeiten.

Die kapitalistische Gesellschaft funktioniert mit Konkurrenz, Entfremdung, dem gegenseitigen sich „Messen“, mit dem Aufstellen von Normen, mit einer maximalen Effizienz. Eine kommunistische Organisation erfordert die Zusammenarbeit und die Überwindung des Konkurrenzgedankens. Sie kann nur funktionieren, wenn ihre Mitglieder sich nicht wie Schafe einer Herde verhalten, keine Nachtrabpolitik praktizieren und nicht blind akzeptieren, was die Zentralorgane oder einzelne Genossen sagen. Die Suche nach der Wahrheit und Klarheit muss die Aktivitäten der Organisation ständig beseelen. Unabhängiges Denken, die Fähigkeit zum Nachdenken und zur Infragestellung sind lebenswichtig. Dies heißt, dass wir uns nicht hinter dem Kollektiv verstecken können, sondern dass wir unsere individuelle Verantwortung wahrnehmen müssen, indem wir unseren Standpunkt formulieren und die Klärung vorantreiben. Der Konformismus ist ein großes Hindernis in unserem Kampf für den Kommunismus.

In der kapitalistischen Gesellschaft ist man schnell ausgeschlossen, wenn man die Normen nicht erfüllt, wird zum schwarzen Schaf, welches für alles die Schuld trägt. Eine revolutionäre Organisation muss eine Funktionsweise entwickeln, durch die alle mit ihren verschiedenen individuellen Persönlichkeiten in ein Ganzes integriert werden können, d.h. die Kunst lernen, die Reichhaltigkeit unserer Verschiedenheit als Beiträge zum Ganzen zusammen zu führen. Dies beinhaltet einen Kampf gegen persönlichen Stolz und andere Sichtweisen, die mit dem Wettbewerb verknüpft sind. Es bedeutet die Anerkennung des Beitrags von allen Militanten. Gleichzeitig muss eine Organisation Regeln und Prinzipien aufstellen, welche im Einklang mit unserer Ethik sind. All das muss entwickelt werden und ist ein Kampf für sich. Während die Ethik der kapitalistischen Gesellschaft keine Skrupel kennt, sollte das Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse in Übereinstimmung mit den Mitteln des Kampfes stehen.

Der Aufbau und die Funktionsweise einer Organisation enthalten eine theoretische und eine moralische Dimension, welche beide eine konstante und bewusste Anstrengung erfordern. Jegliche Trägheit und schwankende Haltung, jede Schwächung der Anstrengungen und der Aufmerksamkeit bei einer Dimension eröffnet die Schwächung der anderen. Diese zwei Dimensionen sind untrennbar miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig. Je weniger theoretische Anstrengungen die Organisation betreibt, desto schneller und widerstandsloser kann ein moralischer Rückschritt Einzug halten, und gleichzeitig schwächt der Verlust unseres moralischen Kompasses unweigerlich unsere theoretischen Fähigkeiten. Am Wendepunkt zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert zeigte Rosa Luxemburg auf, wie sich das opportunistische Abgleiten der deutschen Sozialdemokratie Hand in Hand mit ihrem moralischen und theoretischen Verfall entwickelte.

Einer der grundlegendsten Aspekte im Leben einer kommunistischen Organisation ist der Internationalismus, nicht nur auf der Ebene ihrer Prinzipien, sondern auch auf der Ebene der Konzeption, die sie bezüglich ihres Lebens und Funktionierens hat.

Das Ziel – eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, welche für die Bedürfnisse der Menschheit produziert – kann nur auf internationaler Ebene erreicht werden und erfordert die Vereinigung des Proletariats über alle Grenzen hinweg. Aus diesem Grunde war der Internationalismus das Leitmotiv der Arbeiterklasse seit ihrer Entstehung. Revolutionäre Organisationen müssen eine Vorhut sein bei der Entwicklung einer internationalistischen Haltung und gegen „lokalistische“ Auffassungen kämpfen.

Schon von Beginn weg hat das Proletariat versucht, sich international zu organisieren (der Bund der Kommunisten 1847-1852 war die erste internationale Organisation), die IKS ist die erste Organisation, die international zentralisiert ist und in der alle Sektionen dieselben Positionen vertreten. Unsere Sektionen sind in internationale Debatten in unserer Organisation integriert, wo alle Mitglieder – über die Kontinente hinweg – an den Erfahrungen der gesamten Organisation teilhaben können. Dies bedeutet, dass wir lernen müssen, Mitglieder mit verschiedenstem Hintergrund zusammenzubringen und Debatten zu führen trotz all der verschiedenen Sprachen – was ein sehr inspirierender Prozess ist –, in denen die Klärung und Vertiefung unserer Positionen bereichert wird durch Genoss_innen aus der ganzen Welt.

Schlussendlich ist es für eine revolutionäre Organisation lebenswichtig, ein klares Verständnis ihrer Rolle im Kampf der Emanzipation der Arbeiterklasse zu haben. Die IKS hat schon oft darauf hingewiesen, dass die Funktion der revolutionären Organisation heute nicht die der „Organsierung der Klasse“ oder deren Kämpfe ist (wie es während der ersten Zeit der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert noch der Fall sein konnte). Die Hauptaufgabe ergibt sich, wie schon im Kommunistischen Manifest 1848 beschrieben, aus der Tatsache, dass die Kommunisten „(…) vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ haben. In diesem Sinne ist die ständige und wesentliche Aufgabe der Organisation die Entwicklung der politischen Positionen, und um dies zu tun, darf sie nicht vollkommen absorbiert sein durch ihre Aufgabe der Intervention innerhalb der Arbeiterklasse. Sie muss fähig sein, einen Schritt zurück zu machen, um den allgemeinen Überblick zu bewahren. Sie sollte ständig Fragen vertiefen, die sich für die Klasse als Ganzes stellen, und diese Fragen aus einer historischen Perspektive angehen. Sie darf sich daher nicht lediglich auf die Analyse der Weltlage beschränken. Die Arbeit muss breiter sein, theoretische Fragen aufgreifen, Oberflächlichkeit und Verzerrungen durch die bürgerlichen Gesellschaft und Ideologie vermeiden. All dies ist ein dauernder Kampf mit einer langfristigen Sichtweise, die viel mehr Aspekte beinhaltet als diejenigen, die sich für die Klasse in diesem oder jenem Moment des Kampfes stellen.

Da die proletarischen Revolution nicht einfach ein Kampf um „Messer- und Gabelfragen“ ist, wie Rosa Luxemburg hervorhob, sondern die erste Revolution in der Geschichte der Menschheit darstellt, bei der alle Ketten der Ausbeutung und Unterdrückung gesprengt werden, erfordert dieser Kampf eine breite kulturelle Veränderung. Eine revolutionäre Organisation beschäftigt sich nicht nur mit Fragen der politischen Ökonomie oder dem Klassenkampf im engeren Sinne. Sie muss ihre eigene Vision zu den wichtigsten Fragen, vor denen die Menschheit steht, entwickeln, ihre Sichtweise immer neu erweitern und offen und bereit sein, neue Fragen anzugehen. Die theoretische Anstrengung, die Suche nach der Wahrheit, der Wille zur Klärung muss unsere tägliche Passion werden.

Gleichzeitig können wir unsere Rolle nur erfüllen, wenn die alte Generation von Mitgliedern ihre Erfahrungen und Lehren an die neue weitergibt. Wenn die alte Generation keine „Schatztruhe“ an Erfahrungen und Lehren an die neue Generation weitergeben kann, hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllt. Der Aufbau einer Organisation beinhaltet die Kunst, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen, um so die Zukunft vorzubereiten.

Die Aufgabe des Aufbaus einer revolutionären Organisation ist enorm komplex und erfordert einen ständigen Kampf. In der Vergangenheit führte unsere Organisation schon wichtige Auseinandersetzungen zur Verteidigung unserer Prinzipien. Doch die Erfahrung hat auch gezeigt, dass diese Auseinandersetzungen ungenügend waren und erneut aufgenommen werden müssen. Dies vor allem angesichts von Schwierigkeiten und Schwächen, die seit der Gründung unserer Organisation bestehen und aus den historischen Umständen herrühren, in denen wir leben:

„Es gibt nicht einen alleinigen Grund für die verschiedenen Schwächen der Organisation. Sie sind das Resultat verschiedener Faktoren, welche, auch wenn sie miteinander verknüpft sind, einzeln erkannt werden müssen:

- Das Gewicht unserer Wurzeln im historischen Wiedererwachen des Weltproletariats Ende der 1960er Jahre, und vor allem die Auswirkungen des historischen Bruchs.

- Das Gewicht des Zerfalls des Kapitalismus, das sich ab Mitte der 1980er Jahre auswirkte.

- Der Druck der „unsichtbaren Hand des Marktes“, der Verdinglichung, deren Auswirkungen auf die Gesellschaft sich mit dem Weiterbestehen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse immer mehr verstärken.

Die verschiedenen Schwächen, die wir feststellen, auch wenn sie sich gegenseitig beeinflussen, rühren in letzter Instanz aus diesen drei genannten Faktoren oder aus deren Kombination her:

- Die Unterschätzung der theoretischen Vertiefung, vor allem der Fragen der Organisation, hat ihre Wurzeln in unseren Ursprüngen: dem Einfluss der Studentenrevolten mit ihren kleinbürgerlichen und akademistischen Komponenten, denen sich eine Tendenz entgegenstellte, die den Anti-Akademismus mit dem Widerstand gegen die Theorie vermischte, einer Stimmung der Ablehnung jeglicher Autorität [der älteren Organisationsmitglieder], die viele junge Mitglieder der Organisation erfasste. Später wurde diese Unterschätzung der Theorie genährt durch die allgemeine Atmosphäre der Zerstörung des Denkens, die charakteristisch ist für die Periode des Zerfalls, und durch die wachsende Übernahme des altbekannten „gesunden Menschenverstandes“, ein Zeichen des schleichenden Eindringens der Verdinglichung in unsere Reihen. (…)

- Der Verlust von Errungenschaften ist eine direkte Konsequenz der Unterschätzung der theoretischen Vertiefung: die Errungenschaften der Organisation, seien es programmatische, analytische oder organisatorische Fragen, können unter dem andauernden Druck der bürgerlichen Ideologie nur erhalten bleiben, wenn sie immer wieder durch eine theoretische Reflexion genährt werden. Ein Denken, das nicht vorwärts schreitet und stattdessen durch die Wiederholung stereotyper Formulierungen geprägt ist, bleibt nicht nur stehen, sondern macht unweigerlich Rückschritte. Die in der Vergangenheit oft festgestellte Oberflächlichkeit im Begreifen unserer Positionen führt unabdingbar zum Verlust unserer Errungenschaften. (…)

- Der Immediatismus ist eine Kinderkrankheit einer Organisation, welche von jungen Genoss_innen gegründet wurde, die sich zu einer Zeit der spektakulären Rückkehr des Klassenkampfes politisiert hatten. Viele dachten, die Revolution warte an der nächsten Ecke. Die Ungeduldigsten blieben nicht lange dabei, waren letztendlich demoralisiert und kehrten dem Kampf den Rücken. Doch diese Schwäche bestand auch bei denen weiter, die blieben: Sie begann die Organisation zu durchdringen und drückte sich bei verschiedensten Gelegenheiten aus. Der Immediatismus ist eine Schwäche, die fatal sein kann, denn, kombiniert mit dem Verlust von Errungenschaften, führt er unweigerlich zum Opportunismus, einer Haltung, welche die Fundamente der Organisation immer wieder angegriffen hat. (…)

- Der Routinismus ist einer der deutlichsten Ausdrücke des Gewichts der Entfremdung, der verdinglichten Beziehungen, welche die kapitalistische Gesellschaft beherrschen und die dazu tendieren, die Organisation in eine Maschine und die Mitglieder in Roboter zu verwandeln. Der Routinismus wird ganz offensichtlich durch den Mangel an theoretischer Reflexion verstärkt, was dazu führt, dass die Gründe der Existenz der Organisation vergessen gehen.

- Die Sklerose resultiert zu großen Teilen aus dem Routinismus, doch sie wird ebenfalls genährt durch den Verlust von Errungenschaften und die theoretische Verarmung. Aus diesem Grund ist sie lediglich die Kehrseite des Opportunismus. Auch wenn die Sklerose nicht wie der Opportunismus zum Verrat führt (beide können allerdings Hand in Hand gehen), so führt die sklerotische Lähmung gegenüber der Verantwortung als Organisation dazu, dass diese aufhört, ein aktiver Faktor bei der Entwicklung des Klassenbewusstsein zu spielen.

Der Zirkelgeist ist, wie die Geschichte der IKS und der gesamten Arbeiterbewegung zeigt, eines der gefährlichsten Gifte für die Organisation. Er beinhaltet nicht nur die Tendenz, ein Instrument des proletarischen Kampfes in einen simplen „Haufen von Freunden“ zu verwandeln, sondern begünstigt auch die Personalisierung politischer Fragen, was die Debattenkultur untergräbt. Der Zirkelgeist bedeutet auch die Zerstörung der kollektiven Arbeit und der Einheit der Organisation, dies vor allem in Form der Clan-Ideologie. Der Zirkelgeist ist ebenfalls verantwortlich für die Jagd nach Sündenböcken, was die moralische Gesundheit der Organisation untergräbt. Er ist einer der schlimmsten Feinde der Kultur der Theorie, indem er vertieftes und rationales Denken zugunsten von Verleumdungen und Klatsch zerstört. Er ist ein gängiges Vehikel des Opportunismus, der Vorstufe des Verrats.” (Aktivitätenresolution des Kongresses, Punkt 4)

Für den Kampf gegen die Schwächen und Gefahren, die auf die revolutionäre Organisation lauern, gibt es keine Zauberformel, und wir müssen auf verschiedenen Ebenen eine Anstrengung leisten. Ein Punkt, der vom Kongress unterstrichen wurde, ist die Notwendigkeit, den Routinismus und Konformismus zu bekämpfen, denn die Organisation ist kein anonymer, uniformer Körper, sondern eine Assoziation verschiedener Mitglieder, die alle ihren spezifischen Beitrag an die gemeinsame Arbeit leisten können.

„Zum Aufbau einer wirklichen internationalen Assoziation kommunistischer Militanter, wo jeder seinen Baustein zum kollektiven Bauwerk beiträgt, muss die Organisation die reaktionäre Utopie des „Modellmilitanten“, des „Standardmilitanten“ oder des unverletzlichen und unfehlbaren Supermilitanten zurückweisen. Militante sind weder Roboter noch Übermenschen, sondern schlicht Menschen mit verschiedenen Persönlichkeiten, Vergangenheiten und sozio-kulturellen Wurzeln. Nur durch ein besseres Verständnis der menschlichen Charaktere und der Unterschiede, die unserer Spezies eigen sind, kann ein Vertrauen und eine Solidarität zwischen den Militanten aufgebaut und gefestigt werden. Alle Mitglieder haben die Fähigkeit, ihren besonderen Beitrag an die Organisation zu leisten. Und es ist auch ihre individuelle Verantwortung, dies zu tun. Es ist vor allem die Verantwortung jedes Mitglieds, seine Position in den Debatten zu äußern, vor allem wenn man nicht einverstanden ist oder Fragen hat. Ohne dies kann die Organisation ihre Debattenkultur und die theoretische Vertiefung nicht weiter entwickeln.“ (Aktivitätenresolution, Punkt 9).

Der Kongress unterstrich im Besonderen die Notwendigkeit, die theoretische Vertiefung mit Entschlossenheit und Beharrlichkeit an die Hand zu nehmen.

„Die erste Herausforderung für die Organisation ist es, sich der bestehenden Gefahren bewusst zu werden. Wir können diese Gefahren nicht mit „Feuerwehrübungen“ im letzten Moment überwinden. Wir müssen alle unsere Probleme mit einer theoretischen und historischen Haltung angehen und Pragmatismus und Oberflächlichkeit beiseite lassen. Das bedeutet eine langfristige Sichtweise zu entwickeln, und nicht einem empirischen „Funktionieren von heute auf morgen“ zu verfallen. Das theoretische Studium und der politische Kampf müssen ins Zentrum des Organisationslebens zurückkehren, und dies nicht nur im Hinblick auf die unmittelbaren Interventionen in der Klasse, sondern um die tiefgehenden Fragen des Marxismus zu verfolgen, welche in den letzten zehn Jahren in unseren Orientierungen beschrieben, aber von der Organisation nicht umgesetzt wurden. Das bedeutet, sich die notwendige Zeit zu geben für die Vertiefung und den Kampf gegen den Konformismus in unseren Reihen. Die Organisation muss das kritische Infrage-stellen, das Formulieren von Zweifeln und die Anstrengungen zur Vertiefung fördern. Wir sollten nicht vergessen, dass die „Kritik keine Leidenschaft des Kopfs [ist], sie ist der Kopf der Leidenschaft“, und dass, „auch die Theorie zur materiellen Gewalt [wird], sobald sie die Massen ergreift“ (Marx). Der Kampf für den Kommunismus beinhaltet nicht nur eine ökonomische und politische Dimension, sondern auch, und vor allem, eine theoretische Dimension (geistig und moralisch). Durch die Entwicklung der „Kultur der Theorie“, das heißt durch die permanente Fähigkeit, alle Aktivitäten der Organisation in einen theoretischen Rahmen zu stellen, können wir die Debattenkultur in unseren Reihen entwickeln und vertiefen und uns so die dialektische Methode des Marxismus besser aneignen. Ohne die Entwicklung der „Kultur der Theorie“ wird die IKS nicht fähig sein, ihren Kompass auf eine lange Zeit auszurichten, um eine Orientierung zu haben oder sich unvorhergesehenen Situation zu stellen und den Marxismus zu entwickeln und zu bereichern, welcher kein invariantes und unantastbares Dogma, sondern eine lebendige Theorie ist, die in die Zukunft weist.

Diese „Kultur der Theorie“ ist keine Angelegenheit des Bildungsgrades der Mitglieder. Sie beinhaltet die Entwicklung eines rationalen, rigorosen und kohärenten Denkens, das unabdingbar ist für die Fähigkeit, Argumente zu entwickeln, das Bewusstsein der Mitglieder zu erweitern und die marxistische Methode in unseren Reihen zu konsolidieren.

Diese Arbeit der theoretischen Reflexion darf den Beitrag der Wissenschaft (vor allem von Geisteswissenschaften wie der Psychologie und Anthropologie) und die Geschichte der menschlichen Spezies und deren Zivilisationsentwicklung nicht ignorieren. Aus diesem Grund hatte die Diskussion zum Thema „Marxismus und Wissenschaft“ auf dem Kongress höchste Bedeutung. Die Fortschritte, die wird dort machten, müssen im Denken und Leben der Organisation verstärkt präsent sein.

Die Einladung von Wissenschaftlern

Die IKS interessiert sich nicht erst seit kurzem für die Wissenschaften. Wir berichteten in den Artikeln über unseren letzten Kongress von der Einladung an Wissenschaftler, die einen Beitrag zum Nachdenken in der ganzen Organisation leisteten, indem sie ihre Gedanken über ihre Forschungsgebiete präsentierten. An diesen Kongress luden wir die britischen Anthropologen Camilla Power und Chris Knight ein, die schon an früheren Kongressen teilgenommen hatten. Wir möchten uns bei ihnen herzlich für ihre Teilnahme bedanken. Diese zwei Wissenschaftler machten eine gemeinsame Präsentation zur Frage der Gewalt in der Urgeschichte, in Gesellschaften, welche noch nicht in Klassen geteilt waren. Kommunisten haben ein fundamentales Interesse an dieser Frage. Der Marxismus hat viele Untersuchungen zur Frage der Gewalt gemacht. Engels widmete einen wichtigen Teil seines Werkes Anti-Dühring der Rolle der Gewalt in der Geschichte. Heute, fast hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, nach einem ganzen Jahrhundert der wohl schrecklichsten Gewalt in der Geschichte der Menschheit, wo die Gewalt im gesellschaftlichen Leben allgegenwärtig ist, ist es wichtig, dass diejenigen, die für eine Gesellschaft kämpfen, welche den Kapitalismus und seine Kriege und die Unterdrückung hinter sich lässt, sich Fragen zur Rolle der Gewalt in den verschiedenen Gesellschaften stellen. Im Besonderen angesichts der bürgerlichen Ideologie, welche die heutige Gewalt der „Natur des Menschen“ zuschreibt und deren Regeln das „Jeder für sich“ und die Dominanz der Starken über die Schwachen sind, besteht die Notwendigkeit, die Rolle von Gesellschaften zu untersuchen, die nicht in Klassen gespalten waren, wie im Urkommunismus.

Wir können hier nicht auf die reichhaltige Präsentation von Camilla Power und Chris Knight eingehen (wir werden sie auf unserer Website veröffentlichen). Doch wir wollen zumindest hervorheben, dass diese beiden Wissenschaftler gegen die Theorien von Steven Pinker[iv] argumentierten, welcher behauptet, dass dank der „Zivilisation“ und dem Einfluss des Staates die Gewalt eingedämmt wurde. Camilla Power und Chris Knight zeigten auf, dass in Jäger- und Sammlergesellschaften ein viel tieferes Niveau an Gewalt herrschte als in späteren Gesellschaftsformationen.

Die Diskussion, welche auf die Präsentation von Camilla Power und Chris Knight folgte, war - wie am vorherigen Kongress - sehr lebhaft. Sie zeigte einmal mehr, wie der Beitrag der Wissenschaften das revolutionäre Denken bereichern kann, eine Idee, welche schon Marx und Engels vor hundertfünfzig Jahren formuliert haben.

Schlussfolgerung

Der 20. Kongress der IKS zeigte durch die Schwierigkeiten, vor denen die Arbeiterklasse in ihrem Kampf um die Emanzipation steht, aber ebenso durch die Schwierigkeiten, mit denen die revolutionäre Organisation konfrontiert ist, um ihre spezifische Rolle in diesem Kampf wahrzunehmen, auf, wie lange und beschwerlich der Weg vor uns ist. Doch all das soll uns nicht entmutigen. Die vom Kongress angenommene Resolution formulierte es folgendermaßen:

„Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist langwierig und schwierig. Sie erfordert Geduld, die Lenin als eine der größten Qualitäten der Bolschewiki bezeichnete. Wir müssen angesichts unserer Probleme der Resignation entgegentreten. Sie sind unvermeidbar und wir sollten sie nicht als gegeben betrachten, sondern im Gegenteil als eine Ermutigung, unseren Kampf aufrecht zu erhalten und zu verstärken. Revolutionäre, und dies ist einer ihrer wesentlichen Charakterzüge, sind nicht Leute, die den Komfort oder den Weg des geringsten Widerstandes suchen. Sie sind Kämpfer, deren Ziel es ist, einen entscheidenden Beitrag zu leisten zur größten und schwierigsten Aufgabe, welche die Menschheit sich je gestellt hat. Diese Aufgabe ist aber auch die tollste, denn sie bedeutet die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung, der Beginn ihrer „wirklichen Geschichte“.“ (Punkt 16)

November 2013


[i] Vgl. Internationale Revue 12, 1990: „Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks - Destabilisierung und Chaos“ und Internationale Revue 13, 1991: „Orientierungstext zu Militarismus und Zerfall“.

[ii] Vgl. Interne Debatte der IKS: Die Gründe für das „Wirtschaftswunder“ nach dem Zweiten Weltkrieg in Internationale Revue Nr. 42, 43, 44, 45 und 46.

[iii] Vgl. Das Proletariat in Westeuropa im Zentrum der Generalisierung des Klassenkampfes in International Review Nr. 31 (engl./frz./span. Ausgabe).

[iv] https://stevenpinker.com/publications/better-angels-our-nature [83]

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [32]

Die Organisation des Proletariats außerhalb Zeiten des offenen Kampfes (Arbeitergruppen, Kerne, Zirkel, Komitees)

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Für die Mehrheit der revolutionären Gruppierungen von heute sind die Gewerkschaften keine Organisationen mehr, die die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse vertreten können, ganz zu schweigen von ihren revolutionären, historischen Interessen. Es herrscht auch weitestgehende Übereinstimmung darin, dass die effektivste Form für die Organisierung und Ausbreitung des Kampfes heute die Generalversammlung der ArbeiterInnen und die gewählten und jederzeit rückrufbaren Komitees sowie Koordinierungsorgane sind, die aus den Versammlungen hervorgehen. Doch solche Organisationsformen können nicht permanent aufrechterhalten werden, wenn der Kampf abflaut, was militanten ArbeiterInnen, die nicht in die Atomisierung zurückfallen wollen und eine aktive Rolle in künftigen Kämpfen anstreben, ein Problem bereitet. Daher gibt es, auch wenn sie lediglich unter einer kleinen Minderheit zu beobachten ist, eine Neigung unter diesen ArbeiterInnen, außerhalb der offiziellen Gewerkschaften, und manchmal ausdrücklich gegen sie, Gruppen, Zirkel, Komitees und Netzwerke zu bilden. Unter den revolutionären Organisationen gibt es eine Reihe von verschiedenen Annäherungen an solche Gruppierungen: Sind sie die Basis für eine wiederbelebte Form des Anarcho-Syndikalismus? Sollten sie als Grundlage für permanente Vermittlungsorgane zwischen der kommunistischen politischen Organisation und der Klasse in ihrer Gesamtheit betrachtet werden?

Diese Fragen waren einige Jahrzehnte lang Gegenstand von Diskussionen gewesen, und auch heute werden sie auf Internet-Diskussionsforen wie z.B. auf www.red-marx.com/icc-ict-and-the-icp-t695.html [84] gestellt. In einem konkreteren und praktischeren Sinn werden sie auf zahllosen Arbeitsplätzen und anderswo gestellt, da eine kämpferische Minderheit von ArbeiterInnen, StudentInnen und Arbeitslosen danach strebt, zusammenzukommen, um der Austeritätsoffensive des Kapitals etwas entgegenzusetzen.

Wir denken, dass es sinnvoll ist, eine Reihe von Artikeln zu veröffentlichen, die auf verschiedene Elemente in dieser Debatte zurückschauen und versuchen werden, einige Perspektiven für die künftigen Aktivitäten herauszuarbeiten. Wir beginnen mit einem Text, der 1980 vom Dritten Kongress der belgischen Sektion der IKS verabschiedet und in der Internationalen Revue Nr. 21 (engl., franz., span. Ausgabe) veröffentlicht worden war. Der Text ist eine gute Grundlage, um diese Reihe zu beginnen, weil er, nachdem er den allgemeinen Rahmen zum Verständnis der Natur des Klassenkampfes in der Ära des kapitalistischen Niedergangs festgelegt hat, das Ziel verfolgt, die allgemeinen Lehren aus den Erfahrungen mit den Arbeitergruppen in der 1970er Jahren zu erarbeiten. In weiteren Artikeln werden wir auf andere Erfahrungen aus den 1980er Jahren und aus dem vergangenen Jahrzehnt blicken sowie einige der Debatten zwischen den Revolutionären über diese Frage aufarbeiten.

September 2012

 

Was ist außerhalb von Zeiten des offenen Kampfes zu tun? Wie sollen wir uns organisieren, wenn der Streik beendet ist? Wie können wir uns auf die kommenden Kämpfe vorbereiten?

Wir haben keine Rezepte angesichts dieser Fragen, angesichts der Probleme, die sich durch die Existenz von Komitees, Zirkeln, Kernen, etc. stellen, in denen sich kleine Minderheiten der Arbeiterklasse sammeln. Wir können nicht zwischen dem Bestreben, sie in den Rang moralischer Lehren zu versetzen („Organisiert euch so oder so“, „Löst euch auf“, „Tretet uns bei“), und demagogischen Schmeicheleien wählen. Stattdessen muss es unsere Sorge sein, diese Ausdrücke des Proletariats als Bestandteil der Klasse zu begreifen. Wenn wir sie in der allgemeinen Bewegung des Klassenkampfes platzieren, wenn wir erkennen, dass sie eng verknüpft sind mit den Stärken und Schwächen der verschiedenen Perioden dieses Kampfes zwischen den Klassen, dann werden wir in der Lage sein zu verstehen, auf welches grundsätzliche Bedürfnis sie eine Antwort sind. Indem wir es vermeiden, politisch unpräzise ihnen gegenüber zu sein, und uns aber auch nicht in strenge Schemata einsperren, versetzen wir uns zudem in die Lage zu begreifen, worin ihre positiven Aspekte bestehen, und ermöglichen uns, hervorzuheben, welche Gefahren auf sie lauern.

Merkmale des ArbeiterInnenkampfes im dekadenten Kapitalismus

Um dieses Problem zu verstehen, muss es unsere erste Sorge sein, den allgemeinen, historischen Kontext  in Erinnerung zu rufen, in dem wir uns befinden. Wir müssen an den Charakter dieser historischen Periode (die Epoche der sozialen Revolutionen) und an die Merkmale des Klassenkampfes in der Dekadenz erinnern. Diese Analyse ist fundamentaler Art, weil sie es uns ermöglicht, die Art der Klassenorganisation zu begreifen, die in solch einer Epoche existieren kann.

Ohne in die Details zu gehen, sollten wir uns einfach in Erinnerung rufen, dass das Proletariat im neunzehnten Jahrhundert permanent als organisierte Kraft existierte. Das Proletariat vereinigte sich durch einen wirtschaftlichen und politischen Kampf für Reformen zu einer Klasse. Der fortschrittliche Charakter des kapitalistischen Systems erlaubte dem Proletariat, Druck zu erzeugen, um der Bourgeoisie zu Leibe zu rücken und Reformen durchzusetzen; dafür sammelten sich große Massen der Arbeiterklasse in den Gewerkschaften und Parteien.

In der Epoche des senilen Kapitalismus haben sich die Merkmale und die Formen der Klassenorganisation geändert. Eine quasi permanente Mobilisierung des Proletariats um seine unmittelbaren und politischen Interessen ist nicht mehr möglich und auch nicht mehr praktikabel. Von nun an sind die permanenten Einheitsorgane der Klasse nicht mehr in der Lage, weiter zu existieren, ausgenommen im Kampf selbst. Von nun an kann es nicht mehr die Funktion dieser Einheitsorgane sein, sich einfach auf die „Aushandlung“ von Verbesserungen der Lebensbedingungen des Proletariats zu beschränken (weil eine Verbesserung langfristig nicht mehr möglich ist und weil die einzig realistische Antwort die Revolution ist). Ihre Aufgabe ist es, die Machtergreifung vorzubereiten.

Die Einheitsorgane der Diktatur des Proletariats sind die Arbeiterräte. Diese Organe besitzen eine Reihe von Merkmalen, über die wir uns im Klaren sein müssen, wenn wir den vollständigen Prozess erfassen wollen, der zur Selbstorganisierung des Proletariats führt.

Daher müssen wir deutlich machen, dass die Räte ein direkter Ausdruck des Arbeiterkampfes sind. Sie entstehen auf spontane (nicht mechanische) Weise aus dem Kampf heraus. Deshalb sind sie aufs Engste mit der Entwicklung und Reifung des Kampfes verknüpft. Sie beziehen ihre Substanz und ihre Vitalität aus ihm. Sie bilden schließlich keine simple „Delegierung“ der Macht ab, keine Parodie des Parlaments, sondern sind wirklich der organisierte Ausdruck der gesamten Arbeiterklasse und ihrer Macht. Ihre Aufgabe ist es nicht, eine proportionale Repräsentation von gesellschaftlichen Gruppierungen oder politischen Parteien zu organisieren, sondern dem Proletariat zu gestatten, dies selbst praktisch zu verwirklichen. In ihnen werden alle Entscheidungen getroffen. Dies ist der Grund dafür, warum die ArbeiterInnen mit den Mitteln der Generalversammlung ständig die Kontrolle über sie ausüben müssen (die jederzeitige Absetzbarkeit der Delegierten).

Allein die Arbeiterräte sind imstande, eine lebendige Identifizierung des unmittelbaren Kampfes mit dem Endziel herzustellen. In dieser Liaison zwischen dem Kampf um unmittelbare Interessen und dem Kampf um die politische Macht etablieren die Räte die objektive und subjektive Basis für die Revolution. Sie konstituieren den Schmelztiegel des Klassenbewusstseins par excellence. Das Auftreten der Räte ist nicht die Frucht organisatorischer Rezepte, vorfabrizierter Strukturen oder vermittelnder Organe.

Die immer bewusstere Ausweitung und Zentralisierung der Kämpfe über die Fabriken und nationalen Grenzen hinaus kann keine willkürliche, voluntaristische Tat sein. Um von der Richtigkeit dieser Idee überzeugt zu sein, reicht es nicht aus, die Erfahrungen der AAUD und ihres willkürlichen Versuchs in Erinnerung zu rufen, die „Fabrikorganisationen“ zu einem Zeitpunkt, als der Kampf im Rückfluss begriffen war, zu vereinen und zu zentralisieren.[1]

Die Räte können nur dann weiter existieren, wenn auch der permanente, offene Kampf fortdauert, was die Beteiligung einer stetig wachsenden Zahl von ArbeiterInnen am Kampf bedeutet. Ihr Auftreten ist im Wesentlichen eine Funktion in der Entwicklung des Kampfes und des Klassenbewusstseins.

Die Versuche, eine Kluft zu überbrücken

Doch wir befinden uns noch nicht in einer Periode des permanenten Kampfes, in einem revolutionären Kontext, der es dem Proletariat erlauben würde, sich selbst in Arbeiterräten zu organisieren.  Die Konstituierung des Proletariats in den Räten ist das Resultat objektiver Bedingungen (das Ausmaß der Krise, der historische Kurs) und subjektiver Umstände (die Reife des Kampfes und des Bewusstseins der Klasse). Es ist das Resultat einer kompletten Ausbildung, eine ganze Reifung, die genauso organisatorisch wie politisch ist.

Wir müssen uns darüber bewusst sein, dass diese Reifung, diese politische Fermentierung sich nicht auf festgelegte, direkte Weise entfaltet. Sie drückt sich stattdessen als ein hitziger, ungestümer, konfuser Prozess innerhalb einer ruckartigen Bewegung aus. Sie erfordert die aktive Teilnahme revolutionärer Minderheiten.

Da es unfähig ist, mechanisch in Übereinstimmung mit abstrakten Prinzipien, vorgefassten Plänen oder voluntaristischen Schemata, losgelöst von der Realität, zu agieren, muss das Proletariat seine Einheit und sein Bewusstsein auf dem Wege einer schmerzvollen Ausbildung schmieden. Unfähig, all seine Kräfte an einem vorher bestimmten Tag zu bündeln, schließt es seine Reihen im Verlauf der Schlacht. Es bildet seine „Armee“ innerhalb des Konflikts selbst. Doch im Verlauf des Kampfes bildet es in seinen Reihen kämpferischere Elemente, eine entschlossene Avantgarde heran. Diese Elemente sammeln sich nicht notwendigerweise in der revolutionären Organisation (weil diese in bestimmten Zeiten faktisch unbekannt ist). Das Erscheinen dieser revolutionären Minderheiten innerhalb des Proletariats, ob vor und nach dem offenen Kampf, ist kein unbegreifliches oder neues Phänomen. Es drückt den irregulären Charakter des Kampfes, die ungleiche und heterogene Entwicklung des Klassenbewusstseins aus. So erleben wir seit Ende der 1960er Jahre gleichzeitig die Entwicklung von Kämpfen (im Sinne seiner größeren Selbstorganisation), eine Wiederverstärkung revolutionärer Minderheiten und das Auftreten von Komitees, Kernen, Zirkeln, etc., um die Avantgarde der Arbeiterklasse zu sammeln. Die Entwicklung eines kohärenten politischen Pols der Umgruppierung und die Tendenz im Proletariat, sich außerhalb der Gewerkschaften zu organisieren, sind beide gleichermaßen aus derselben Reifung des Kampfes entstanden.

Das Auftreten dieser Komitees, Zirkel, etc. ist eine Antwort auf ein Bedürfnis im Kampf. Wenn einige kämpferische Elemente das Bedürfnis spüren, zusammenzubleiben, nachdem sie zusammen gekämpft hatten, tun sie dies mit dem Ziel, gleichzeitig damit fortzufahren, „gemeinsam zu handeln“ (die eventuelle Vorbereitung eines neuen Streiks) und (durch politische Diskussionen) die Lehren aus dem Kampf  zu ziehen. Das Problem, das sich diesen ArbeiterInnen stellt, ist genauso  ein Problem der Umgruppierung mit Blick auf die künftigen Aktionen wie ein Problem der Umgruppierung mit Blick auf die Klärung von Fragen, die sich im vergangenen Kampf gestellt hatten und sich in den kommenden Kämpfen stellen. Dieses Verhalten ist insofern verständlich, als die Abwesenheit des permanenten Kampfes, der „Bankrott“ der Gewerkschaften und die sehr große Schwäche revolutionärer Organisationen ein organisatorisches und politisches Vakuum hinterlassen haben. Wenn die Arbeiterklasse auf den Pfad ihres historischen Kampfes zurückkehrt, hat sie einen Horror vor diesem Vakuum. Daher strebt sie danach, auf das Bedürfnis zu reagieren, das von diesem organisatorischen und politischen Vakuum geschaffen wurde.

Diese Komitees, diese Kerne, diese proletarischen Minderheiten, die noch nicht klar ihre eigene Funktion begreifen, sind eine Antwort auf dieses Bedürfnis. Sie sind gleichzeitig Ausdruck der allgemeinen Schwäche des heutigen Klassenkampfes sowie Ausdruck der Reifung der Klassenorganisation. Sie sind die Kristallisierung einer ganzen unterirdischen Entwicklung, die im Proletariat im Gange ist.

Der Rückfluss 1973-77

Daher müssen wir aufpassen, dass wir diese Organe nicht hermetisch in streng nach Rubriken geordnete Schubladen sperren. Wir können ihr Auftreten und ihre Entwicklung nicht präzise voraussagen. Darüber hinaus sollten wir uns davor hüten, willkürlich zwischen den verschiedenen Momenten im Leben dieser Komitees zu trennen, weil uns dies in das falsche Dilemma „Aktion oder Diskussion“ stürzt.

Allerdings darf uns dies nicht davon abhalten, gegenüber diesen Organen zu intervenieren. Wir müssen gleichfalls in der Lage sein, ihre Evolution unter den Bedingungen der Epoche zu würdigen, abhängig davon, ob wir uns in einer Phase der Wiederaufnahme oder des Rückflusses des Kampfes befinden. Weil sie spontane, unmittelbare Produkte des Kampfes sind und weil das Auftreten dieser Kerne hauptsächlich von der konjunkturellen Lage abhängt (anders als eine revolutionäre Organisation, die auf der Basis der historischen Notwendigkeiten des Proletariats auftritt), bedeutet dies, dass sie sehr vom umgebenden Milieu des Klassenkampfes abhängen. Sie sind stärker gehandicapt aufgrund der allgemeinen Schwächen der Bewegung und haben die Tendenz, dem Auf und Ab des Kampfes zu folgen.

Wir müssen in der Entwicklung dieser Kerne zwischen der Periode des Rückflusses der Kämpfe (1973-77) und der heutigen Periode des international erneuerten Klassenkampfes unterscheiden. Auch wenn man auf die Tatsache hinweisen muss, dass die Gefahren, die ihnen drohen, in beiden Perioden identisch sind, sollte man dennoch in der Lage sein zu begreifen, welche Unterschiede die Zeitenwende für ihre Entwicklung beinhaltet.

Am Ende der ersten Welle von Kämpfen Ende der 1960er Jahre erlebten wir das Aufkommen einer ganzen Reihe von Konfusionen in der Arbeiterklasse. Man konnte das Ausmaß dieser Konfusionen am Verhalten einiger der kämpferischen Klassenelemente ermessen, die sich umzugruppieren versuchten.

Wir sahen die Entwicklung:

-      von Illusionen über kämpfende Gewerkschaften und des Misstrauens gegenüber allem Politischen (OHK, AAH, Komiteewerking ).[2] In vielen Fällen wandelten sich die Komitees, die aus den Kämpfen heraus entstanden waren, selbst dezidiert in Semi-Gewerkschaften um. Dies war der Fall bei den Arbeiterkommissionen in Spanien und den „Fabrikräten“ in Italien;

-      eines ausgeprägten Korporatismus (der sich auf der Grundlage der Illusionen über die „kämpfenden Gewerkschaften“ konstituierte);

-      von Konfusionen und eines ausgeprägten politischen Eklektizismus als Ergebnis von Versuchen, über die Grenzen der Fabrik hinauszugehen;

-      einer ausgeprägten politischen Konfusion, die diese Organe gegenüber den Manövern der Linksextremisten sehr verwundbar machte und sie auch dazu veranlasste, Illusionen über den Typus der PIC (bzw. ihres Bluffs über die Arbeitergruppen) zum Opfer zu fallen.[3] Ebenfalls im Verlauf dieser Periode entwickelt sich die Ideologie der „Arbeiterautonomie“, die die Rechtfertigung für den Immediatismus, den Fabrikkult und den Ökonomismus liefert.

All diese Mängel waren im Wesentlichen eine Folge der Schwächen der ersten Welle von Kämpfen Ende der 60er Jahre. Diese Bewegung wurde von einem Ungleichgewicht zwischen der Stärke und der Ausweitung der Streiks auf der einen und der Schwäche im Inhalt der gestellten Forderungen gekennzeichnet. Was dieses Ungleichgewicht besonders deutlich machte, war die Abwesenheit von jeglichen klaren politischen Perspektiven in der Bewegung. Der Rückfall der ArbeiterInnen, der sich zwischen 1973 und 1977 ereignete, war das Produkt dieser Schwäche, die die Bourgeoisie dazu benutzte, um die Kämpfe zu demobilisieren und ideologisch einzudämmen. Jeder der Schwachpunkte dieser ersten Welle von Kämpfen wurde von der Bourgeoisie zu ihren eigenen Gunsten ausgenutzt:

„So wurde die Idee einer ständigen Klassenorganisation, die gleichzeitig ökonomisch und politisch ist, später in die Idee ‚neuer Gewerkschaften‘ umgewandelt, um letztendlich in einer Rückkehr zu den traditionellen Gewerkschaften zu enden. Die Vision einer Generalversammlung als eine Form bar jeden Inhalts endete – via die Mystifikationen der direkten Demokratie und der Volksmacht – in der Wiederherstellung des Vertrauens in die klassische bürgerliche Demokratie. Es wurden Ideen der Selbstverwaltung und der Arbeiterkontrolle über die Produktion (Konfusionen, die zu Beginn verständlich waren) im Mythos der ‚allgemeinen Selbstverwaltung‘, der ‚Inseln des Kommunismus‘ oder der ‚Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle‘ theoretisiert. All dies veranlasste die ArbeiterInnen dazu, ihr Vertrauen in Pläne zur Umstrukturierung der Wirtschaft zu setzen, die angeblich Entlassungen verhindern würde, oder veranlasste sie, nationale Solidaritätspakte zu unterstützen, die als ein ‚Ausweg aus der Krise‘ präsentiert wurden.“ (Bericht über den Klassenkampf für den III. Internationalen Kongress der IKS)

Die Wiederaufnahme der Kämpfe nach 1977

Mit der Wiederaufnahme der Kämpfe nach 1977 hat man andere, sich abgrenzende Tendenzen sehen können. Das Proletariat war gereift aus seiner „Niederlage“ hervorgegangen.  Es zog, wenn auch auf konfuse Weise, die Lehren aus dem Rückfluss, und selbst wenn die Gefahren, die von den „kämpfenden Gewerkschaften“, dem Korporatismus, etc. ausgingen, blieben, so existierten sie in einer unterschiedlichen Allgemeinentwicklung der Kämpfe.

Seit 1977 erlebten wir die zögerliche Entwicklung:

-      eines mehr oder weniger ausgeprägten Willens auf Seiten der Avantgarde der kämpferischen ArbeiterInnen, eine politische Diskussion  zu entwickeln (erinnert sei an die Generalversammlung der Co-ordinamenti in Turin, an die Debatte in Antwerpen mit den Arbeitern von Rotterdam, Antwerpen, etc., die Konferenz der Hafenarbeiter von Barcelona);[4]

-      des Willens, das Kampfgebiet zu erweitern, über das Ghetto des Fabrikkults hinauszugehen, dem Kampf einen breiteren politischen Rahmen zu geben. Dies wird durch das Erscheinen der „co-ordinamenti“ und noch spezifischer im politischen Manifest ausgedrückt, das von einer der „co-ordinamenti“ aus Norditalien (Sesto San Giovanni) verfasst wurde. Dieses Manifest forderte die Vereinigung der kämpferischen Avantgarde in den Fabriken, verdeutlichte die Notwendigkeit eines politisch unabhängigen Kampfes durch die ArbeiterInnen und beharrte auf der Notwendigkeit für den Kampf, aus den Beschränkungen durch die Fabrik auszubrechen;

-      des Interesses, eine Verknüpfung zwischen dem unmittelbaren Aspekt des Kampfes und dem Endziel herzustellen. Dieses Interesse wurde besonders stark in den Arbeitergruppen in Italien (FIAT) und in Spanien (FEYCU, FORD) artikuliert. Die italienischen Gruppen intervenierten mit den Mitteln des Flugblatts, um die Gefahr von Entlassungen anzuprangern, die von der Bourgeoisie im Namen der „Terrorismusbekämpfung“ praktiziert wurden, und die spanischen Gruppen intervenierten, um die Illusion des Parlamentarismus anzuprangern;

-      des Anliegens, die kommenden Kämpfe besser vorzubereiten und zu organisieren (siehe die Aktion der „Sprecher“-Gruppe der Hafenarbeiter in Rotterdam, die zur Bildung einer Generalversammlung aufrief).

Wir müssen wiederholen, dass die Gefahren des Korporatismus, des „kämpfenden Gewerkschaftstums“ und der Fixierung des Kampfes auf ein strikt wirtschaftliches Terrain selbst in dieser Periode weiter existierten. Doch was wir berücksichtigen müssen, ist der wichtige Einfluss der Periode auf die Evolution der Komitees und Kerne, die sowohl vor als auch nach den offenen Kämpfen aufkamen. Wenn die Periode eine Zeit der Kampfbereitschaft und des Wiedererwachens des Klassenkampfes ist, bekommt die Intervention solcher Minderheiten eine andere Bedeutung, so wie auch unser Verhalten ihnen gegenüber. In einer Zeit des allgemeinen Rückflusses der Kämpfe müssen wir mehr auf die Gefahr dieser Organe bestehen, die in Semi-Gewerkschaften transformiert werden oder in die Klauen der Linksextremisten fallen, Illusionen über den Terrorismus haben, etc. In einer Zeit des Wiedererwachens der Klasse beharren wir eher auf die Gefahren, die vom Voluntarismus und Aktivismus repräsentiert werden (siehe die Illusionen, die einige dieser kämpferischen ArbeiterInnen über die Möglichkeit hegen, die Embryos künftiger Streikkomitees zu bilden, etc.). In einer Zeit der Wiederaufnahme der Kämpfe werden wir ebenfalls offener gegenüber kämpferischen Minderheiten sein, die sich mit Blick auf Streiks und die Bildung von Streikkomitees, Generalversammlungen, etc. umgruppieren.

Die Möglichkeiten dieser Organe

Das Anliegen, die Komitees, Kerne, etc. im Hexenkessel des Klassenkampfes zu platzieren, sie im Rahmen der Periode, in der sie auftraten, zu verstehen, beinhaltet jedoch nicht einen abrupten Wechsel in unserer Analyse im Kielwasser der verschiedenen Ebenen des Klassenkampfes. Welches Moment auch immer diesen Komitees zum Leben verhalf, wir wissen, dass sie lediglich eine Stufe in einem dynamischen, allgemeinen Prozess bildeten; sie waren ein Moment in der Reifung der Organisation und des Bewusstseins der Klasse. Sie können lediglich dann eine positive Rolle spielen, wenn sie sich selbst einen breiten, flexiblen Rahmen geben, um in der Klasse zu wirken, und nicht den allgemeinen Prozess aufzuhalten. Daher müssen diese Organe wachsam sein, wenn sie vermeiden wollen, in folgende Fallen zu tappen:

-      sich selbst mit einer Art „Potenzial“ ausgestattet zu wähnen, das künftige Kämpfe bewerkstelligen kann. (Es sind nicht die Minderheiten, die willkürlich einen Streik oder eine Generalversammlung bewirken können, auch wenn sie aktiv zu diesem Prozess beitragen müssen.)

-      sich selbst eine Plattform oder Statuten oder irgendetwas anderes zu verleihen, das ihre Weiterentwicklung zu ersticken riskiert und sie somit zu politischer Konfusion verdammt;

-      sich als Zwischenorgane zu präsentieren, halb Klassen-, halb politische Organisation, als seien sie eine Organisation, die gleichzeitig vereinheitlichend und politisch ist.

Daher bleiben wir in unserer Haltung gegenüber diesen Minderheitsorganen offen, aber versuchen gleichzeitig, die Entwicklung eines politischen Denkprozesses in ihrer Mitte zu beeinflussen, und dies in jeder Epoche. Wir müssen alles versuchen, sicher zu stellen, dass diese Komitees, Kerne, etc. nicht erstarren, weder in der einen Richtung (eine Struktur, die meint, die Arbeiterräte vorwegzunehmen) noch in der anderen (politische Festlegung). Was uns vor allem anderen in unseren Interventionen leiten muss, sind nicht die Interessen und die augenblicksgebundenen Anliegen dieser Organe (können wir ihnen doch kein organisatorisches Rezept noch irgendeine Antwort „von der Stange“ empfehlen), sondern die allgemeinen Interessen der gesamten Klasse. Unsere Sorge gilt stets, das Klassenbewusstsein in solch einer Weise zu homogenisieren und zu entwickeln, dass die Entwicklung des Klassenkampfes mit einer größeren, massiveren Beteiligung aller ArbeiterInnen vonstattengeht und der Kampf von den ArbeiterInnen selbst in die Hand genommen wird und nicht von einer Minderheit, ganz gleich, welcher Art sie ist. Aus diesem Grund bestehen wir auf die Dynamik der Bewegung und darauf, dass sich die kämpferischen Elemente vor jedem Versuch des Substitutionismus oder Ähnlichem hüten, was die spätere Entwicklung des Kampfes und des Klassenbewusstseins blockieren könnte.

Wenn wir die Entwicklung dieser Organe mehr in die Richtung des Nachdenkens und der politischen Diskussion lenken könnten, können wir eine Antwort geben, die die Dynamik der Bewegung begünstig. Doch damit keine Missverständnisse aufkommen: dies bedeutet nicht, dass wir jegliche Form der „Intervention“ oder „Aktion“ verurteilen, die von diesen Organen unternommen werden. Es ist klar, dass, sobald eine Gruppe kämpferischer ArbeiterInnen verstanden hat, dass die Aufgabe nicht darin besteht, sich selbst als eine Semi-Gewerkschaft zu konstituieren, sondern darin, die politischen Lehren aus den vergangenen Kämpfen zu ziehen, dies nicht beinhaltet, dass ihr politischer Denkprozess in einem flüchtigen Vakuum stattfindet, im Abstrakten, ohne jegliche praktischen Konsequenzen. Die politische Klärung, die von diesen kämpferischen ArbeiterInnen unternommen wird, wird sie auch dazu bringen, in ihren eigenen Fabriken (und in den positivsten Fällen selbst außerhalb ihrer Fabriken) zusammen zu handeln. Sie werden das Bedürfnis verspüren, ihrem politischen Denkprozess einen Ausdruck zu verleihen (Flugblätter, Zeitungen, etc.). Sie werden das Bedürfnis verspüren, Stellung zu konkreten Fragen zu beziehen, denen sich die Arbeiterklasse gegenübersieht. Um ihre Positionen zu verteidigen und zu verbreiten, werden sie konkrete Interventionen unternehmen müssen. Unter gewissen Umständen werden sie konkrete Kampfmethoden (Bildung von Generalversammlungen, Streikkomitees, etc.) vorschlagen, um den Kampf voranzubringen. Im Verlaufe des Kampfes selbst werden sie die Notwendigkeit gemeinsamer Anstrengungen fühlen, um eine bestimmte Orientierung für den Kampf zu entwickeln; sie werden Forderungen unterstützen, die es ihnen erlauben, ihren Kampf auszuweiten, und sie werden auf die Notwendigkeit seiner Vergrößerung, Generalisierung, etc. bestehen.

Auch wenn wir weiterhin auf diese Anstrengungen achtgeben und nicht versuchen werden, sie in rigide Schemata zu pressen, ist es nichtsdestotrotz klar, dass wir auch weiterhin auf die Tatsache bestehen müssen, dass das, worauf es am meisten ankommt, die aktive Beteiligung aller ArbeiterInnen am Kampf ist, und dass die kämpferischsten ArbeiterInnen sich niemals bei der Organisierung und Koordinierung des Streiks an die Stelle ihrer GenossInnen setzen sollten. Darüber hinaus ist klar, dass je mehr die Organisation der Revolutionäre ihren Einfluss in den Kämpfen geltend macht, desto mehr kämpferische Elemente sich ihr zuwenden werden. Nicht weil die Organisation eine Politik der systematischen Rekrutierung dieser Elemente betreibt, sondern ganz einfach deswegen, weil die kämpferischen ArbeiterInnen sich von selbst bewusst werden, dass eine politische Intervention, die wirklich aktiv und wirksam ist, nur im Rahmen solch einer internationalen Organisation unternommen werden kann.

Die Intervention der Revolutionäre

Nicht alles, was glänzt, ist Gold. Darauf hinzuweisen, dass die Arbeiterklasse in ihrem Kampf mehr kämpferische Elemente auf den Plan rufen kann, heißt nicht zu behaupten, dass der Einfluss dieser Minderheiten für die spätere Entwicklung des Klassenbewusstseins ausschlaggebend ist. Wir dürfen nicht diese absolute Gleichung aufstellen: ein Ausdruck der Reifung des Bewusstseins = ein aktiver Faktor für dessen Weiterentwicklung.

In Wirklichkeit ist der Einfluss, den diese Kerne auf die sich später entfaltenden Kämpfe haben werden, sehr limitiert. Ihr Einfluss hängt voll und ganz von der allgemeinen Kampfkraft des Proletariats und von der Fähigkeit dieser Kerne ab, dieses Werk der politischen Klärung, ohne nachzulassen, zu verfolgen. Langfristig kann diese Arbeit nicht getan werden, außer im Rahmen einer revolutionären Organisation.

Doch auch hier haben wir keinen Mechanismus, der stattdessen greifen könnte. Die revolutionäre Organisation gewinnt diese Elemente nicht auf willkürliche Weise. Im Gegensatz zu den Organisationsauffassungen von Battaglia Comunista oder der PIC trachtet die IKS nicht danach, die „Lücke“ zwischen der Partei und der Klasse auf willkürliche, voluntaristische Weise zu füllen. Unser Verständnis der Arbeiterklasse als historische Kraft und unser Selbstverständnis hindern uns daran, ein Einfrieren dieser Komitees in die Form einer Zwischenstruktur zu wollen. Auch streben wir nicht an, „Fabrikgruppen“ als Transmissionsriemen zwischen der Klasse und der Partei zu erschaffen.

Dies führt uns zur Frage, wie wir uns gegenüber solchen Zirkeln, Komitees, etc. verhalten sollten. Selbst wenn wir ihren limitierten Einfluss und ihre Schwächen sehen, müssen wir offen ihnen gegenüber und aufmerksam gegenüber ihrem Auftreten bleiben. Die wichtigste Sache, die wir anregen können, ist, dass sie sich vorbehaltlos Diskussionen öffnen. Zu keiner Zeit nehmen wir, unter dem Vorwand des Kampfes gegen ihre politische „Unreinheit“, eine misstrauische oder missbilligende Haltung ihnen gegenüber ein. Dies ist die eine Sache, die wir vermeiden sollten; eine andere Sache ist es, zu vermeiden, diese Organe zu umschmeicheln oder gar unsere Energie auf sie zu konzentrieren. Wir dürfen sie nicht ignorieren, dürfen gleichzeitig aber auch nicht versessen auf sie sein.  Wir erkennen an, dass der Kampf und das Klassenbewusstsein in einem Prozess heranreifen.

In diesem Prozess existieren innerhalb der Klasse Tendenzen, die versuchen, den Kampf auf ein politisches Terrain „anzuheben“. Im Verlauf dieses Prozesses wird, so wissen wir, das Proletariat kämpferische Minderheiten in die Welt setzen, die sich nicht notwendigerweise in politische Organisationen sammeln. Wir müssen uns davor hüten, diesen Reifungsprozess der Klasse heute mit dem zu identifizieren, was die Entwicklung des Kampfes im 19. Jahrhundert kennzeichnete. Dieses Verständnis ist sehr wichtig, weil es uns ermöglicht, einzuschätzen, auf welche Weise diese Komitees, Zirkel, etc. ein realer Ausdruck des reifenden Klassenbewusstseins sind, ein Ausdruck jedoch, der vor allem temporär und flüchtig ist, keine fixierte, strukturierte Sprosse in der Entwicklung des Klassenkampfes. Der Klassenkampf in der Epoche der kapitalistischen Dekadenz schreitet explosiv voran. Es kommt zu Eruptionen, die selbst jene überraschen, die in der vorhergehenden Runde von Kämpfen zu den kämpferischsten gehörten, und diese Eruptionen können in punkto Bewusstsein und der im neuen Kampf erreichten Reife unvermittelt über die früheren Erfahrungen hinausgehen. Das Proletariat kann sich nur auf einem einheitlichen Niveau im Kampf organisieren. Insofern als der Kampf selbst permanent wird, wird er dazu führen, dass die Einheitsorganisationen der Klasse wachsen und stärker werden.

Dieses Verständnis ist es, was uns erlaubt zu begreifen, warum wir keine gesonderte Politik, eine spezielle „Taktik“ im Verhältnis zu Arbeiterkomitees haben, auch wenn unter besonderen Umständen es sehr positiv für uns sein kann, Diskussionen mit ihnen zu beginnen und systematisch fortzusetzen und an ihren Treffen teilzunehmen. Wir wissen, dass es möglich und immer leichter ist, mit diesen kämpferischen Elementen in eine Diskussion zu treten. Wir sind uns ebenfalls darüber bewusst, dass einige dieser Elemente in der allgemeinen Dynamik des Kampfes uns beitreten möchten, doch wir richten nicht all unsere Aufmerksamkeit auf sie. Und dies, weil für uns die allgemeine Dynamik des Kampfes von vorrangiger Bedeutung ist und wir keine strengen Klassifikationen oder Hierarchien in dieser Dynamik errichten. Vor allem Anderen richten wir uns an die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit. Im Gegensatz zu anderen politischen Gruppen, die versuchen, das Problem des mangelnden Einflusses revolutionärer Minderheiten auf die Klasse durch willkürliche Methoden oder dadurch zu überwinden, dass sie sich Illusionen über diese ArbeiterInnengruppen hingeben, erkennt die IKS an, dass sie nur einen sehr geringen Einfluss in der gegenwärtigen Periode besitzt. Wir versuchen nicht unseren Einfluss unter den ArbeiterInnen zu steigern, indem wir ihnen ein willkürliches „Vertrauen“ in uns einimpfen. Wir sind keine Arbeitertümler und auch keine Größenwahnsinnigen. Der Einfluss, den wir in den Kämpfen zunehmend haben werden, rührt im Wesentlichen aus unserer politischen Praxis in diesen Kämpfen her und nicht daraus, dass wir als Kriecher, Schmeichler oder als „Wasserträger“ agieren, die sich selbst darauf beschränken, technische Hilfsdienste zu leisten. Ferner wenden wir uns in unserer politischen Intervention an alle ArbeiterInnen, an das Proletariat in seiner Gesamtheit, als eine Klasse, weil es unsere wesentliche Aufgabe ist, zur maximalen Ausweitung der Kämpfe aufzurufen. Wir existieren nicht, um uns befriedigt zu fühlen, wenn wir das Vertrauen von zwei, drei Malochern mit schwieligen Händen gewinnen, sondern um die Entwicklung des Klassenbewusstseins zu homogenisieren und zu beschleunigen. Es ist notwendig, sich im Klaren darüber zu sein, dass erst im revolutionären Prozess selbst das Proletariat uns sein politisches „Vertrauen“ in dem Maße schenken wird, in dem es realisiert, dass die revolutionäre Partei wirklich ein Bestandteil in seinem historischen Kampf ist.

[1]AAUD: Allgemeine Arbeiterunion Deutschlands. Die „Unionen“ waren keine Gewerkschaften, sondern Versuche, permanente Organisationsformen zu schaffen, die sämtliche ArbeiterInnen außerhalb und gegen die Gewerkschaften in Deutschland nach der Zerschlagung des Januaraufstandes in Berlin 1919 sammeln sollten. Sie drückten eine Nostalgie für die Arbeiterräte aus, doch gelang es ihnen nie, die Funktion der Räte auszuüben.
 

[2]Diese waren allesamt Arbeitergruppen in Belgien.

[3]Die französische Gruppe PIC (Pour une Intervention Communiste) war einige Monate lang davon überzeugt – und versuchte alle anderen davon zu überzeugen -, dass sie an der Entwicklung eines Netzwerkes von „Arbeitergruppen“ beteiligt war, die eine mächtige Avantgarde der revolutionären Bewegung konstituieren würden. Sie stützte diese Illusion einer skelettierten Realität von zwei oder drei Gruppen, die sich größtenteils aus ehemaligen linksextremistischen Elementen zusammensetzten. Heute ist nicht mehr viel übrig geblieben von diesem Bluff.

[4]Dies sind organisierte Treffen, die Delegierte aus verschiedenen Arbeitergruppen, Kollektiven und Komitees sammelten.

 

Soziale Bewegungen in der Türkei und in Brasilien

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Die Empörung als Triebkraft einer proletarischen Dynamik

Auf der ganzen Welt setzt sich das Gefühl durch, dass es so nicht weitergehen kann. Nach den Revolten des „Arabischen Frühlings“, der Bewegung der „Indignados“ in Spanien, der Occupy-Bewegung in den USA im 2011, strömten im Sommer 2013 in der Türkei und Brasilien große Massen auf die Straßen. Hunderttausende, ja Millionen von Menschen protestierten gegen alle möglichen Missstände. In der Türkei waren die Auslöser die Zerstörung der Umwelt für eine sinnlose „Verbesserung“ der Stadt, die Zunahme des Einflusses der Religion auf das Privatleben, die Korruption der Polizei. In Brasilien waren es die Verteuerung der öffentlichen Verkehrsmittel und die Ausgaben für die Prestigebauten der Fußballweltmeisterschaft, während Gesundheits-, Transport- und Bildungswesen und die Lage auf dem Wohnungsmarkt je länger je schlimmer werden - und auch hier wieder die korrupten Politiker. In beiden Ländern gab es eine brutale Polizeirepression, die nur dazu führte, dass sich die Proteste ausbreiteten. Es war nicht die sogenannte „Mittelklasse“, der „Mittelstand“, der sich auf die Straße begab, wie es von den Medien gern wiedergegeben wird. Die Speerspitze beider Bewegungen war die neue Generation der Arbeiter_innen, die trotz ihrer auch guten Ausbildung schlechte Aussichten darauf hat, hat einen festen Arbeitsplatz zu finden. Für diese neue Generation bedeutet das Leben in einem sogenannten „Schwellenland“ vor allem, einer wachsenden sozialen Ungerechtigkeit zusehen und einen abstoßenden Reichtum einer kleinen Minderheit ertragen zu müssen.

Deswegen ist heute „das Gespenst, das in der Welt umgeht“, das der Empörung. Zwei Jahre nach dem Arabischen Frühling, der überraschend verschiedene Länder Nordafrikas traf und immer noch zu spüren ist, nach der Bewegung der Indignados und der Occupy-Bewegung kamen die Bewegungen in der Türkei und in Brasilien, welche Millionen von Menschen auf die Straßen Hunderter Städte brachte.

Dies geschah in ganz verschiedenen Ländern, die geographisch weit auseinander liegen. Trotzdem haben sie gewisse Gemeinsamkeiten: die Spontaneität, die brutale Repression des Staates und eine starke Teilnahme der Jugend, die sich über die sozialen Netzwerke organisiert. Der gemeinsame Nenner ist jedoch die große Empörung angesichts der Verschlimmerung der Lebensbedingungen auf der ganzen Welt, in einer Krise, welche die Fundamente der kapitalistischen Gesellschaft angreift und 2007 eine Beschleunigung erfuhr.

Die Beschleunigung zeigt sich in immer prekäreren Verhältnissen von immer größeren Teilen der Arbeiterklasse und einer großen Unsicherheit der Zukunft für die proletarische Jugend. Es ist kein Zufall, dass sich die Bewegung in Spanien den Namen „Indignados“ gegeben hat; in der ganzen massiven Welle sozialer Bewegungen ist diese Bewegung in Spanien am weitesten gegangen, indem sie das kapitalistische System in Frage gestellt und die Organisationsform der Vollversammlungen angewandt hat.[1]

Die Revolten in Brasilien und der Türkei von 2013 beweisen, dass die Dynamik der vorhergehenden Bewegungen nicht gebrochen ist. Auch wenn die bürgerlichen Medien verschwiegen, dass diesmal die Bewegungen in Ländern auftraten, die sich im Wachstum befinden, konnten sie nicht unterschlagen, dass es die gleiche Empörung war, die sich gegen die Funktionsweise dieses Systems und alle Missstände, die daraus folgen, entlud. Es sind die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, die Gier und die Korruption der herrschenden Klasse, die Brutalität der staatlichen Repression, der Zerfall der Infrastruktur, die Zerstörung der Umwelt und vor allem die Unfähigkeit des Systems, der Jugend eine Perspektive zu bieten.

Vor 100 Jahren erinnerte Rosa Luxemburg das Proletariat angesichts des 1. Weltkrieges daran, dass es im niedergehenden Kapitalismus nur zwei Möglichkeiten gibt: Sozialismus oder Barbarei. Die Unfähigkeit der Arbeiterklasse, ihre eigene Perspektive durchzusetzen, hatte ein Jahrhundert der kapitalistischen Barbarei zur Folge. Heute ist die Gefahr noch grösser, denn heute hat der Kapitalismus die Mittel, die ganze Menschheit in den Abgrund zu reißen. Die Revolten der Unterdrückten und Ausgebeuteten, der massive Kampf um die menschliche Würde und eine Zukunft, das ist das Versprechen der sozialen Revolten in der Türkei und in Brasilien.

Ein besonderer Aspekt der Revolte in der Türkei ist die Nähe zum blutigen Krieg in Syrien. Der Krieg in Syrien begann auch mit massenhaften Revolten gegen das herrschende Regime. Aber die Schwäche des Proletariats in diesem Land und die tiefen Spaltungen in religiöse und ethnische Gruppen ermöglichte es dem Regime, mit einer außergewöhnlichen Brutalität zu antworten. Die Spaltungen haben sich vergrößert, und wie in Libyen begann in Syrien ein „Bürgerkrieg“, der sich in einen Stellvertreterkrieg der verschiedenen imperialistischen Fraktionen verwandelte. Syrien ist heute zum Musterbeispiel der Barbarei geworden, die der Kapitalismus der Menschheit bereithält. In Ländern wie Tunesien und insbesondere Ägypten, wo die sozialen Bewegungen zwar eine Prägung durch das Gewicht der Arbeiterklasse hatten, konnten sie trotzdem nicht der herrschenden Ideologie standhalten, und nun werden die Arbeiter_innen zwischen den verschiedenen bürgerlichen Fraktionen wie den religiösen Fundamentalisten und Anhängern der alten Regierung und anderer Fraktionen der Bourgeoisie aufgerieben. Auf der anderen Seite sehen wir die Türkei, Brasilien wie auch andere soziale Revolten, welche den eröffneten Weg aufzeigen, den Weg zu einer Ablehnung des Kapitalismus, zur proletarischen Revolution und zum Aufbau einer neuen Gesellschaft, die auf den menschlichen Bedürfnissen und der Solidarität fußt.

Das proletarische Wesen der Bewegungen

Türkei

Die Bewegung der Monate Mai und Juni begann damit, dass man dagegen war, dass Bäume im Gezi-Park beim Taksimplatz in Istanbul gefällt werden sollten. Dieser Widerstand in der Türkei sah eine noch nie dagewesene Größe und Ausbreitung. Viele Teile der Gesellschaft, die unzufrieden mit der Politik der Regierung waren, nahmen teil. Was aber die Massen der Menschen auf die Straße trieb, war die Repression des Staates. Genau diese Repression rief eine große Wut in der Arbeiterklasse hervor. Die Bewegung in der Türkei war nicht nur Teil der Dynamik des „Arabischen Frühlings“, sondern war in direkter Verbindung zu der Bewegung der „Indignados“ und der Occupy-Bewegung zu sehen. In diesen Ländern ist das Proletariat nicht nur zahlenmäßig die Mehrheit, sondern war auch der tragende Teil der Bewegung. Dies galt auch für die Bewegung in Brasilien, dort setzte sich die Bewegung zum größten Teil aus der Arbeiterklasse zusammen, besonders aus der jungen Arbeiterklasse.

Der am stärksten vertretene Teil der Bevölkerung war die sogenannte „Generation 1990“. Die apolitische Haltung war bisher das Etikett dieser Generation, von der viele sich nicht an die Zeit vor der AKP-Regierung erinnern.[2] Die Mitglieder dieser Generation, von der man sagte, sie interessiere sich nicht für die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern nur für ihr eigenes Wohl, verstanden, dass es keine Chance gibt, wenn sie nur die eigene Rettung suchen. Sie hatten genug von der Regierung, die ihnen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Die Student_innen und ganz besonders die Gymnasiast_innen nahmen massenhaft an den Protesten teil. Die jungen Arbeiter_innen und die arbeitslose Jugend waren auch breit vertreten. Auch die Arbeiter_innen und Arbeitslosen mit höherer Schulbildung waren vor Ort.

Auch ein Teil der Arbeiterklasse nahm an der Bewegung teil, er bildete die Hauptmasse der proletarischen Tendenz darin. Die Streikenden der türkischen Fluggesellschaft versuchten sich dem Kampf um Gezi anzuschließen. Besonders im Textilsektor wurden Stimmen laut, die das auch wollten. Einer dieser Proteste ging von Bagcilar-Günesli in Istanbul aus, wo die Textilarbeiter_innen harter Ausbeutung ausgesetzt sind. Sie brachten ihre Klassenforderungen vor und drückten gleichzeitig ihre Solidarität mit dem Kampf um den Gezi-Park aus. Auf ihren Spruchbändern stand: „Grüsse aus Bagcilar an Gezi!“ und „Samstag sollte ein arbeitsfreier Tag sein!“ In Istanbul sah man Arbeiter_innen mit Transparenten mit der Aufschrift: „Generalstreik, allgemeiner Widerstand“, die andere dazu aufmunterten, sich einem Protestmarsches in Alibeykov anzuschließen,  der schon Tausende umfasste; oder: „Geht nicht zur Arbeit, kämpft!“, riefen die Lohnabhängigen der Einkaufszentren und Büroangestellte, die sich am Taksim-Platz versammelten. Zusätzlich entwickelte die Bewegung den Willen, innerhalb der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft zu kämpfen. KESK, DISK und andere Gewerkschaften, die zum Streik aufriefen, mussten dies zweifellos nicht allein wegen den sozialen Netzwerken tun, sondern auch weil sie unter Druck der eigenen Mitglieder standen. Schließlich rief die Plattform der verschiedenen Branchen von Türk-Is[3] in Istanbul, einem Zusammenschluss aller lokalen Gewerkschaften, die anderen Gewerkschaften dazu auf, einen Generalstreik gegen den Staatsterror zu organisieren. Dies eine Woche nach dem Angriff auf den Gezi-Park. Die Aufrufe kamen zustande, weil die Mitglieder über das Geschehene empört waren.

Brasilien

Die sozialen Bewegungen vom letzten Juni haben eine besondere Bedeutung für das Proletariat in Brasilien, Lateinamerika und dem Rest der Welt, und sie überwinden auch den traditionellen Regionalismus dieses Landes. Diese Massenbewegungen unterscheiden sich auch radikal von Bewegungen, die vom Staat kontrolliert werden oder vom PT (Arbeiterpartei) und anderen politischen Parteien wie derjenigen der Landlosen Arbeiter (MST). Sie waren auch anders als die Bewegungen, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, wie die in Argentinien zu Beginn des Jahrhunderts, die „indigene“ Bewegung in Bolivien und Ecuador, die Zapatistas in Mexiko oder der Chavismus von Venezuela, die eine Konsequenz der Konfrontation zwischen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Fraktionen waren, welche sich um die Verteidigung der nationalen Interessen stritten. In diesem Sinne ist für Brasilien und Lateinamerika diese spontane Massenmobilisierung im Juni die breiteste in den letzten 30 Jahren. Das ist der wesentliche Grund, warum man von einem Klassenstandpunkt aus die Lehren aus diesen Ereignissen ziehen muss.

Es ist unbestreitbar, dass diese Bewegung die Bourgeoisie in Brasilien und weltweit überraschte. Der Kampf gegen die Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Verkehr (die alljährlich zwischen den Transportchefs und dem Staat ausgehandelt werden) war lediglich ein Auslöser für die Bewegung. Er kristallisierte die ganze Empörung, die sich seit einiger Zeit in der brasilianischen Gesellschaft zusammengebraut hatte, die sich 2012 in verschiedenen Kämpfen – am stärksten in São Paolo, der öffentlichen Verwaltung und an den Universitäten – ausdrückte. In den letzten Jahren gab es auch eine Anzahl von Streiks gegen Lohnkürzungen, unsichere Arbeitsbedingungen und gegen die Kürzungen im Gesundheits- und Bildungsbereich.

Im Unterschied zu anderen sozialen Massenbewegungen in verschiedenen Ländern seit 2011 waren die in Brasilien ausgelöst und vereint durch konkrete Forderungen, was es ermöglichte, dass sich weite Teile des Proletariats spontan gegen die Fahrpreiserhöhungen der öffentlichen Verkehrsmittel mobilisierten. Die Bewegung erreichte am 13. Juni einen Massencharakter auf nationaler Ebene, als die Demonstrationen in São Paolo gegen die Fahrpreiserhöhung, zu denen die MPL (Movimento Passe Livre – Bewegung für die kostenlose Benutzung der Verkehrsmittel)[4] und auch andere soziale Bewegungen aufgerufen hatten, gewalttätig von der Polizei unterdrückt wurden.[5] Während fünf Wochen wurde zusätzlich zu den breiten Protesten in São Paolo in verschiedenen Städten für die gleichen Forderungen protestiert, und zwar so stark, dass z.B. in Porto Alegre, Goiânia und anderen Städten der Druck so groß wurde, dass Politiker, gleich welcher Richtung, gezwungen wurden, die höheren Fahrpreise nach heftigen Kämpfen, die von der harten staatlichen Repression gezeichnet waren, wieder zurückzunehmen.

Die Bewegung stellte sich sofort auf einen proletarischen Boden. Zuerst sollten wir unterstreichen, dass die Mehrheit der Teilnehmer_innen aus der Arbeiterklasse sind, meistens junge Arbeiter_innen und Student_innen, vielfach aus proletarischen Familien oder solchen, die einem Proletarisierungsprozess unterworfen sind. Die bürgerliche Presse stellte die Bewegung als eine „Mittelklasse“-Erscheinung dar mit dem klaren Ziel, die Bewegung zu spalten. Tatsächlich sind es aber Arbeiter_innen, die weniger verdienen als die Facharbeiter aus den industrialisierten Zonen des Landes. Dies erklärt den Erfolg und die breite  Sympathie, welche die Bewegung gegen die Preiserhöhungen im Transportbereich genoss, weil sie sich gegen einen direkten Angriff auf die Einkommen der Familien der Arbeiterklasse richtete. Dies erklärt auch, wieso sich die Anfangsforderung schnell in eine Infragestellung des Staates verwandelte, weil es eine Verwahrlosung beispielsweise des Gesundheitssektors, des Bildungs- und Sozialwesens gibt. Vermehrte Proteste gibt es auch gegen die immensen Summen öffentlicher Gelder, die in die Fußballweltmeisterschaft und die Olympiade von 2016 gesteckt werden.[6] Für diese Veranstaltungen hat die brasilianische Bourgeoisie nicht gezögert, die Leute umzusiedeln, die nahe an den Stadien wohnten: zu Beginn des Jahres beim Stadion Aldeia Maracanã in Rio; in den auserwählten Zonen der Baufirmen in São Paulo, wo die Favelas, die ihren Planungen im Weg standen, niedergebrannt wurden.

Es ist sehr bedeutsam, dass die Demonstrationen rund um die Stadien, wo die Spiele um den Konföderations-Pokal stattfanden, organisiert wurden; damit zogen sie eine große mediale Aufmerksamkeit auf sich, und es brachte zum Ausdruck, dass das von der brasilianischen Bourgeoisie inszenierte Spektakel verworfen wurde. Gleichzeitig antwortete die Bewegung damit auch auf die brutale Repression rund um die Stadien gegen die Demonstrationen, die mehrere Todesopfer forderte. In einem Land, wo der Fußball Nationalsport ist, der von der herrschenden Klasse als Sicherheitsventil gebraucht wird, um die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, sind die Demonstrationen des brasilianischen Proletariats ein Beispiel für die ganze Weltarbeiterklasse. Die brasilianische Bevölkerung ist für ihre Liebe zum Fußball bekannt, das hat sie aber nicht daran gehindert, gegen die Sparprogramme anzutreten, welche die Regierung wegen den gewaltigen Ausgaben für diese sportlichen Anlässe umsetzen wollte. Die herrschende Klasse in Brasilien benutzt diese Spiele, um zu zeigen, dass sie in der obersten Liga der Weltökonomie mitspielen kann. Die Demonstrant_innen verlangten öffentliche Dienstleistungen mit „FIFA-Qualitätssiegel“.[7]

Eine außerordentlich bedeutsame Tatsache war, dass es eine breite Ablehnung gegenüber den politischen Parteien gab (insbesondere der Arbeiterpartei, dem PT, die den Präsidenten Lula hervorgebracht hatte), und gegenüber den Gewerkschaften. In São Paulo wurden einige Demonstrant_innen ausgeschlossen, weil sie Spruchbänder von Studentenorganisationen trugen, welche die Regierung unterstützten.

Auch wenn nur durch Minderheiten hat sich der Klassencharakter der Bewegung bei verschiedenen Gelegenheiten gezeigt. Es gab eine Anzahl von Versammlungen, die in der heißen Phase der Bewegung abgehalten wurden, auch wenn diese nicht die Ausdehnung oder den Organisationsgrad der Indignados in Spanien erreichten. Z.B. die von Rio de Janeiro und Belo Horizonte, die zu Volks- und egalitären Versammlungen aufgerufen hatten, die vorschlugen, Raum für „neue, spontane, offene und egalitäre Debatten“ zu schaffen. Bei diesen Versammlungen nahmen mehr als 1000 Leute teil.

Diese Versammlungen, obwohl sie die Vitalität und das Bedürfnis nach Selbstorganisierung der Massen zum Ausdruck brachten, damit sie ihre Forderungen durchsetzen können, zeigten einige Schwächen auf:

- Auch wenn verschiedene Gruppen und Kollektive an der Organisierung teilnahmen, waren diese Versammlungen von der kapitalistischen Linken animiert, die überwiegend an der Peripherie der Stadt ihre Aktivitäten ausübte.

- Die vorherrschende Meinung war, dass die Versammlungen Organe sind, die mit partikulären Forderungen zur Verbesserung der Situation in diesen oder jenen Gemeinden und Städten Druck auf den Staat ausüben sollen. Sie tendierten auch dazu, sich als dauerhafte Organe zu sehen.

- Sie beanspruchten, unabhängig vom Staat und den Parteien zu sein, doch sie waren infiltriert von Regierungsanhängern und linken oder linksextremen Organisationen, die jeglichen spontanen Ausdruck sabotierten.

- Es wurden lokalistische oder nationalistische Sichtweisen vorgebracht, man kämpfte gegen die Auswirkungen der Probleme anstatt zu verstehen, was diese verursacht, auch wurde der Kapitalismus nicht infrage gestellt.

In der Bewegung gab es ausdrückliche Bezugnahmen zu anderen Bewegungen in anderen Ländern, insbesondere zur Türkei, welche Bewegung sich umgekehrt auf Brasilien bezog. Trotz dem minoritären Charakter dieser Bekundungen drückte sich darin doch aus, was beiden Bewegungen gemeinsam war. An verschiedenen Demonstrationen konnte man Spruchbänder mit der Aufschrift sehen: „Wir sind Griechen, Türken, Mexikaner, wir sind obdachlos, wir sind Revolutionäre“, oder Schilder, auf denen stand: „Dies ist nicht die Türkei, nicht Griechenland, es ist Brasilien, das seine Massenträgheit ablegt.“

In Goiânia unterstrich der Frente de Luta Contra o Aumento (Front für den Kampf gegen die Preiserhöhung), der sich aus verschiedenen Basisorganisationen zusammensetzte, das Bedürfnis nach Solidarität und Debatte zwischen den verschiedenen Teilen der Bewegung: „WIR MÜSSEN ZUSAMMENBLEIBEN UND UNS VEREINIGEN! Trotz Meinungsverschiedenheiten müssen wir unsere Solidarität, unseren Widerstand, unseren Kampfgeist pflegen und unsere Organisation und unsere Diskussionen vertiefen. Auf gleiche Weise wie in der Türkei stehen friedliche und militante Teile nebeneinander und kämpfen zusammen, diesem Beispiel müssen wir folgen.“

Die große Empörung, die das brasilianische Proletariat beseelte, wurde in den folgenden Überlegungen von Rede Extremo Sul, einem Netzwerk von sozialen Bewegungen am Stadtrand von São Paulo konkretisiert: „Damit diese Möglichkeiten Wirklichkeit werden, können wir es nicht zulassen, dass die Empörung auf der Straße auf nationalistische, konservative und moralisierende Ziele abgelenkt wird; wir können es nicht zulassen, dass diese Kämpfe vom Staat und von Eliten erfasst und ihres politischen Inhalts entleert werden. Der Kampf gegen die Fahrpreiserhöhung und den schlechten Zustand der Dienstleistungen ist direkt mit den Kämpfen gegen den Staat und die großen Wirtschaftsunternehmen verbunden, gegen die Ausbeutung und Erniedrigung der Arbeiter_innen und gegen diese Lebensweise, wo Geld alles und Menschen nichts sind.“

Die von der herrschenden Klasse gelegte Fallen

Türkei

Verschiedene bürgerliche politische Tendenzen sind aktiv gewesen, um die Bewegung innerhalb der Grenzen der bestehenden Ordnung zu halten, um die Radikalisierung zu vermeiden und die proletarischen Massen, die gegen den Staatsterror auf die Straße gingen, daran zu hindern, ihre Klassenforderungen bei den Lebensbedingungen zu entwickeln. Wir behaupten zwar nicht, dass die demokratischen Forderungen einstimmig von der Bewegung aufgenommen worden wären, aber sie herrschten im Allgemeinen vor. Die Forderungen nach „mehr Demokratie“, die sich um die Anti-AKP- oder vielmehr um Anti-Erdogan-Position bildeten, drückte nichts anderes aus als eine Neuorganisierung des türkischen Staatsapparates auf einer demokratischen Grundlage. Der Einfluss der demokratischen Forderungen in der Bewegung war ihre größte ideologische Schwäche. Denn Erdogan selber baute alle seine ideologischen Angriffe gegen die Bewegung um die Achse von Demokratie und Wahlen auf; die staatlichen Behörden verbanden Lügen und Manipulationen, um bis zum Erbrechen das Argument zu wiederholen, dass die Polizei auch in Ländern, die als demokratischer gelten als die Türkei, mit Gewalt gegen illegale Demonstrationen vorgeht – was natürlich zutrifft. Darüber hinaus fesselte die Orientierung, die auf den Erhalt der demokratischen Rechte abgezielte, die Hände der Massen, die mit Polizeiangriffen und Staatsterror konfrontiert waren, und befriedete ihren Widerstand.

Die aktivsten Elemente dieser demokratischen Tendenzen, die die Taksim-Solidaritätsplattform kontrollierten, waren in die linken Gewerkschaftsbünde wie KESK und DISK eingebunden. Die Taksim-Solidaritätsplattform und damit die demokratische Tendenz, die aus Vertretern aller Arten von Verbänden und Organisationen bestand, zog ihre Stärke nicht aus einer organischen Verbindung mit den Demonstrierenden, sondern aus ihrer bürgerlichen Legitimation und den entsprechenden finanziellen Ressourcen, auf die sie zurückgreifen konnte. Die Basis der linken Parteien, die ebenfalls als bürgerliche Linke angesehen werden kann, war zum großen Teil von der Masse getrennt. In der Regel war sie das hintere Ende der demokratischen Tendenz. Die stalinistischen und trotzkistischen Zirkel und die bürgerlich-radikalen Linken waren ebenfalls weitgehend von den Massen getrennt. Sie hatten nur in den Vierteln einen wirklichen Einfluss, in denen sie traditionell eine gewisse Stärke haben. Sie setzten sich der demokratischen Tendenz dann entgegen, wenn diese die Bewegung zu zerstreuen suchte, unterstützte sie aber in der Regel. Ihr bei den Massen am weitesten verbreitete Slogan war „Schulter an Schulter gegen den Faschismus.“

Brasilien

Die nationale Bourgeoisie hat jahrzehntelang daran gearbeitet, Brasilien zu einer kontinentalen oder sogar Weltmacht zu machen. Um dies zu erreichen, ist es nicht genug, über ein riesiges Gebiet, das fast die Hälfte des südamerikanischen Kontinents bedeckt, zu verfügen oder auf die großen Naturressourcen zurückzugreifen. Es ist auch notwendig, die soziale Ordnung, vor allem die Kontrolle über die Arbeiter_innen zu erhalten. So wechselten sich in den 1980er Jahren Rechts- und Mitte-Links-Regierungen ab, die jeweils auf „freien und demokratischen“ Wahlen basierten. All dies war unverzichtbar für die Stärkung des brasilianischen Kapitals auf der Weltbühne.

Die brasilianische Bourgeoisie war so besser in der Lage, ihren Produktionsapparat zu stärken und auch in den schlimmsten Zeiten der Wirtschaftskrise in den 90er Jahren zu regieren, während es ihr auf der politischen Ebene gelang, eine politische Kraft zu schaffen, die die verarmten Massen kontrollieren, insbesondere den sozialen Frieden wahren konnte. Diese Situation wurde durch die Machtübernahme durch den PT 2002 gefestigt, wobei das Charisma und das „Arbeiterklassebild“ von Lula eingesetzt wurden.

Auf diese Weise stieg im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts die brasilianische Wirtschaft auf den siebten Platz der Weltrangliste (nach Angaben der Weltbank). Die Weltbourgeoisie hat das „brasilianische Wunder“ unter der Präsidentschaft von Lula gefeiert, der angeblich Millionen von Brasilianer_innen aus der Armut herausgezogen und ihnen ermöglichte, in die berühmte Mittelschicht aufzusteigen. In der Tat ist „dieser Erfolg“ durch die Verteilung eines Teils des Mehrwerts als Krümel an die Ärmsten erreicht worden, während zur gleichen Zeit die Lage der meisten Arbeiter_innen noch unsicherer geworden ist.

Die Krise bleibt aber das Grundproblem in Brasilien. Beim Versuch, ihre Auswirkungen zu dämpfen, hat die brasilianische Bourgeoisie eine Politik der großen Bauvorhaben ins Leben gerufen, die zu einem Bauboom im öffentlichen und privaten Sektor führte; gleichzeitig hat sie Kreditaufnahmen und die Verschuldung der Familien erleichtert, um den Binnenkonsum anzuregen. Die Grenzen dieser Politik sind in den Konjunkturindikatoren bereits spürbar (Verlangsamung des Wachstums), vor allem aber in der Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse: steigende Inflationsraten (eine Jahresprognose von 6,7% im Jahr 2013), erhöhte Preise für Konsumgüter und Dienstleistungen (einschließlich Verkehr), eine deutliche Zunahme der Arbeitslosigkeit, Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben. Also kommen die Proteste der Bewegung in Brasilien nicht aus heiterem Himmel.

Das einzige konkrete Ergebnis, das unter dem Druck der Massen herausschaute, war die Aussetzung der Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Verkehr, das der Staat aber auf andere Weise wieder rückgängig machen wird. Zu Beginn der Protestwelle erklärte die Präsidentin Dilma Rousseff über ihre Sprachrohre zur Beschwichtigung der hochgehenden Empörung, dass die Proteste der Bevölkerung „legitim und mit der Demokratie vereinbar“ seien, während ihre Regierung gleichzeitig an einer Strategie arbeitete, um die Bewegung zu kontrollieren. Lula kritisierte seinerseits die „Exzesse“ der Polizei. Aber die Repression des Staates hörte nicht auf – und die Straßendemonstrationen auch nicht.

Eine der aufwendigsten Fallen gegen die Bewegung war die Verbreitung des Mythos eines Staatsstreichs durch die Rechte. Dieses Gerücht verbreiteten nicht nur der PT und die stalinistische Partei, sondern auch die Trotzkisten des PSOL (Partido Socialismo e Liberdade) und des PSTU (Partido Socialista dos Trabalhadores Unificados): Das war ein Versuch, die Bewegung abzulenken und in eine Kraft zur Unterstützung der Rousseff-Regierung zu verwandeln, die ihrerseits stark geschwächt und diskreditiert war. Tatsache war, dass die grausame Repression gegen die Proteste im Juni von der Links-Regierung des PT durchgeführt wurde, und sie war ebenso brutal wie diejenige der Militärregime, wenn nicht noch brutaler. Die Linke und die extreme Linke des brasilianischen Kapitals versuchten diese Realität zu verschleiern, indem sie die Repression mit dem Faschismus oder rechten Regimen identifizierten. Es gibt weiter den Vernebelungsversuch durch die von Rousseff umgesetzten „politischen Reformen“ mit dem Ziel der Bekämpfung der Korruption in den politischen Parteien und der Fesselung der Bevölkerung ans demokratische Terrain mit der Aufforderung, über die vorgeschlagenen Reformen abzustimmen. In der Tat zeigte die brasilianische Bourgeoisie mehr Intelligenz und Know-how als die türkische, die sich meist auf die Wiederholung des Spiels mit Provokation und Repression gegenüber den sozialen Bewegungen beschränkte.

Um einen Einfluss innerhalb der Bewegung auf der Straße wiederzugewinnen, haben politischen Parteien der Linken des Kapitals und die Gewerkschaften mehrere Wochen im Voraus einen „Nationalen Tag des Kampfes“ für den 11. Juli angekündigt, der als Möglichkeit des Protests gegen das Scheitern der Tarifverträge dargestellt wurde. Im gleichen Stil rief Lula, der seine bedeutende Erfahrung mit Manövern gegen die Arbeiterklasse unter Beweis stellte, für den 25. Juni zu einem Treffen der Führer der Bewegungen auf, die vom PT und der stalinistischen Partei kontrolliert werden (einschließlich der mit der Regierung verbündeten Jugend- und Studentenorganisationen), mit dem ausdrücklichen Ziel der Neutralisierung der Straßenproteste.

Die Stärken und Schwächen der beiden Bewegungen

In der Türkei

Wie schon die Bewegung der Empörten und von Occupy versuchte die Bewegung in der Türkei mit der Isolierung, die in gewissen wirtschaftlichen Sektoren herrscht, zu brechen. Es handelt sich dabei um Sektoren, in denen sich vor allem junge Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen befinden (Auslieferer von Kebab-Buden, Barangestellte, Call-Centers und Büros, …) und in denen es den Betroffenen traditionell schwer fällt, sich zu wehren. Ein Motor der Mobilisierung und der Entschlossenheit lag in der Empörung und im Solidaritätsgefühl gegenüber den polizeilichen Gewaltakten und dem Terror des Staates.

Doch gleichzeitig nahmen wenige Arbeiter_innen – und wenn überhaupt, dann individuell – aus den großen Arbeiterkonzentrationen an den Demonstrationen teil, was eine der bedeutendsten Schwächen dieser Bewegung war. Die Lebensbedingungen des Proletariats, das unter dem ideologischen Druck der herrschenden Klasse steht, haben es der Arbeiterklasse nur spärlich erlaubt, sich als Klasse wahrzunehmen und haben das Empfinden bei den Demonstrant_innen hervorgerufen, eine Masse von individuellen Bürger_innen zu sein, legitime Mitglieder der „nationalen Gemeinschaft“. Die Bewegung hat keine eigenen Klasseninteressen formuliert, die Möglichkeiten, diese zu entwickeln, waren blockiert, die proletarische Tendenz war sehr im Hintergrund. Diese Situation hatte stark zur Ausrichtung auf die Frage der Demokratie beigetragen, die eine zentrale Achse der Bewegung gegenüber der Politik der Regierung war. Eine Schwäche der Demonstrationen in der gesamten Türkei hat sich in der Schwierigkeit ausgedrückt, Massenversammlungen mit Diskussionen abzuhalten und die Kontrolle über die Bewegung mittels einer Selbstorganisierung zu erlangen. Diese Schwäche wurde durch eine nur beschränkt existierende Erfahrung mit Massendiskussionen, Versammlungen, Vollversammlungen, usw. gefördert. Gleichzeitig hatte die Bewegung aber ein Bedürfnis nach Diskussionen, und es tauchten Ansätze zu solchen auf, wie vereinzelte Beispiele zeigten: Die Errichtung einer offenen Tribüne im Gezi-Park fand keinen großen Anklang und dauerte auch nicht lange, sie hatte dennoch eine gewisse Wirkung; während des Streiks vom 5. Juni schlugen die Beschäftigten der Universität, welche Mitglieder der Eğitim-Sen-Gewerkschaft[8] waren, vor, eine offene Tribüne zu errichten. Doch die Führung der KESK verwarf diesen Vorschlag nicht nur, sondern isolierte auch denjenigen Teil von Eğitim-Sen, zu dem die Universitätsangestellten gehörten. Die eindrücklichste Erfahrung wurde durch die Demonstranten in Eskişehir gemacht, welche in einer Generalversammlung Komitees gründeten, um die Demonstrationen zu organisieren und zu koordinieren. Aber auch während dem 17. Juni hielten in den Parks verschiedener Quartiere Istanbuls die Massen, inspiriert durch die Foren im Gezi-Park, Massenversammlungen ab, die sich den Namen „Forum“ gaben. In den folgenden Tagen fanden auch in Ankara und anderen Städten solche Foren statt. Die am meisten debattierten Fragen drehten sich um das Problem der Konfrontation mit der Polizei. Dennoch gab es unter den Demonstranten die Tendenz, die Wichtigkeit des Einbezugs desjenigen Teils der Arbeiterklasse in die Bewegung zu sehen, der noch Arbeit hat.

Auch wenn es die Bewegung in der Türkei nicht geschafft hat, eine standhafte Verbindung mit der Gesamtheit der Arbeiterklasse herzustellen, so haben die Streikaufrufe über die sozialen Medien ein Echo gezeigt, und es kam zu Arbeitsniederlegungen. Darüber hinaus zeigten sich aber auch klare proletarische Tendenzen innerhalb der Bewegung durch Leute, die überzeugt waren von der Kraft der Arbeiterklasse und die sich gegen den Nationalismus wandten. Allgemein gesehen verteidigte ein großer Teil der Demonstranten die Idee, dass die Bewegung eine Selbstorganisation anstreben müsse, um weiterzukommen. Sogar die Zahl der Leute, die der Auffassung waren, die Gewerkschaften wie die KESK und die DISK, die sich „kämpferisch“ präsentierten, würden sich nicht wirklich von derjenigen der Regierung unterscheiden, wuchs deutlich an.

Schlussendlich gilt es einen anderen Wesenszug der Bewegung nicht zu vergessen: Die Demonstranten in der Türkei haben die Grußnachrichten vom anderen Ende der Welt mit Parolen in Türkisch wie „Wir gehören zusammen, Brasilien und die Türkei!“ und „Brasilien wehrt sich!“ willkommen geheißen.

In Brasilien

Die große Stärke der Bewegung resultierte daraus, dass sie sich von Beginn weg als eine Bewegung gegen den Staat bezeichnete. Dies nicht nur durch die zentrale Forderung gegen die Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr, sondern auch durch die Mobilisierung gegen den Abbau der öffentlichen Dienste und gegen das Verschieben eines großen Teils der dazu vorgesehenen Ausgaben auf Sportanlässe. Gleichzeitig jagten die Ausbreitung und die Entschlossenheit der Bewegung der Bourgeoisie Angst ein und zwangen sie dazu, die Preisehöhungen in einigen großen Städten zurück zu nehmen.

Die Kristallisierung der Bewegung rund um eine konkrete Forderung bedeutete, auch wenn diese eine Stärke der Bewegung darstellte, gleichzeitig eine Begrenzung, über die nicht hinausgegangen werden konnte. Dies spürte man, als die Tariferhöhungen des öffentlichen Verkehrs zurückgenommen wurden. Darüber hinaus verstand sie sich nicht als eine Bewegung, welche die kapitalistische Weltordnung in Frage stellte – ein Aspekt, der bei der Bewegung der Empörten in Spanien stark präsent war.

Das Misstrauen gegenüber den Mitteln der Bourgeoisie zur sozialen Kontrolle drückte sich im Zurückweisen der politischen Parteien und der Gewerkschaften aus. Dies stellte auf der ideologischen Ebenen einen Rückschlag für die Bourgeoisie dar, die gekennzeichnet ist von der Ermattung ihrer politischen Strategien, welche sie seit dem Ende der Militärdiktatur 1965-85 entwickelte, und Zeichen der schleichenden Diskreditierung des Staates ist, der von einer zunehmenden Korruption erfasst wird. Doch hinter dieser Zurückweisung der Parteien und Gewerkschaften lauert auch die Gefahr der Ablehnung der gesamten Politik, eine apolitischen Haltung, die eine der deutlichsten Schwächen der Bewegung war. Denn ohne politische Debatte gibt es keine Möglichkeit im Kampf weiterzukommen, denn der Nährboden ist die Diskussion, um die Wurzeln der Probleme zu verstehen, gegen die man ankämpft. Und dies kann nur über eine Kritik an den Grundlagen des Kapitalismus geschehen. Es war also kein Zufall, dass eine der Hauptschwächen der Bewegung das Fehlen von offenen Versammlungen auf der Straße war, in denen alle Anwesenden über die sozialen Probleme der Gesellschaft, die Kampfmittel, die Organisierung der Bewegung und über das von ihr Erreichte und ihre Perspektive diskutieren können. Die sozialen Medien spielten eine wichtige Rolle in der Mobilisierung, damit die Isolierung durchbrochen werden konnte. Doch sie können niemals die lebendige und offene Debatte der Vollversammlungen ersetzen.

Das Gift des Nationalismus verschonte die Bewegung nicht, wie man an den zahlreichen brasilianischen Nationalflaggen und den nationalistischen Parolen feststellen konnte – während den Demonstrationen wurde nicht selten die Nationalhymne gesungen. Dies war bei der Bewegung der Empörten in Spanien nicht der Fall. In diesem Sinne beinhaltete die Bewegung in Brasilien dieselben Schwächen wie die Mobilisierungen in Griechenland oder in der arabischen Staaten, in denen die herrschende Klasse sehr erfolgreich war bei der Umwandlung der Vitalität der Bewegungen in ein nationales Projekt für Reformen oder zur Rettung des Staates. In diesem Kontext waren die Proteste gegen die Korruption auch Wasser auf die Mühlen der Bourgeoisie und ihrer politischen Parteien, vor allem derjenigen der Opposition, welche im Hinblick auf die nächsten Wahlen versucht, über diese Schiene einen politischen Kredit zu ergattern. Der Nationalismus ist eine Sackgasse für die Kämpfe der Arbeiterklasse, da er die internationale Solidarität der Klassenbewegungen angreift.

Auch wenn die Mehrzahl der Beteiligten in der Bewegung Arbeiter_innen waren, so hatten sie sich dennoch in isolierter Weise daran beteiligt. Die Bewegung ist nicht dazu gekommen, die Arbeiter_innen der Industriezentren zu mobilisieren, welche vor allem in der Region von São Paulo ein großes Gewicht haben, es wurden auch keine Vorschläge in diese Richtung gemacht. Die Arbeiterklasse, welche der Bewegung zweifelsohne Sympathie entgegen brachte und sich mit ihr identifizierte, da sie für eine Forderung kämpfte, die auch ihren Interessen entsprach, mobilisierte sich aber nicht als solche. Diese Haltung ist sehr charakteristisch für eine Zeit, in der die Arbeiterklasse Mühe hat, eine Klassenidentität zu erlangen, was gerade in Brasilien erschwert ist durch die jahrzehntelange Blockierung aufgrund des Einflusses der politischen Parteien und der Gewerkschaften, vor allem des PT und der CUT.

Ihre Bedeutung für die Zukunft

Der Ausbruch von neuen sozialen Bewegungen mit einer Breite und einer historischen Bedeutung (ohnegleichen seit 1908 in der Türkei und seit 30 Jahren in Brasilien) war auch ein Signal an die weltweite Arbeiterklasse und stellte eine Antwort einer neue Generation von Arbeiter_innen gegenüber der sich verschärfenden weltweiten Krise des Kapitalismus dar. Trotz ihrer jeweiligen Eigenheiten sind sie ein Glied in der Kette der internationalen sozialen Bewegungen als Antwort auf die historische Krise des Kapitalismus, wobei die Mobilisierung der Empörten in Spanien ein Bezugspunkt darstellte. Trotz ihrer Schwächen waren sie einen Quelle der Inspiration und der Erfahrung für das internationale Proletariat. Ihre Schwächen müssen von der Arbeiterklasse selbst und schonungslos kritisch betrachtet werden, um heute Lehren zu ziehen, die morgen in andere Bewegungen einfließen und schon im Voraus ideologische Vereinnahmungen und Fallen der Bourgeoisie erkennen lassen.

Diese Bewegungen waren nichts anderes als Ausdruck dessen, was Marx den „alten Maulwurf“ nannte, der das Fundament des Kapitalismus untergräbt.

Wim, 11.8.2013 

[1] Siehe unsere Artikelserie über die Indignados-Bewegung in Spanien, insbesondere in der Internationalen Revue Nr. 48

[2] Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). Diese „gemäßigt“ islamistische Partei ist in der Türkei seit 2002 an der Regierung.

[3] Konföderation türkischer Gewerkschaften

[4] Angesichts der steigenden Fahrkosten schürte  die MPL Illusionen in den Staat, indem sie so tat, als ob dieser aufgrund von entsprechendem Druck von der Straße im Gegensatz zu den privaten Verkehrsmittel-Betreibern eine kostenlose Benützung des öffentlichen Verkehrs garantieren könne.

[5] Siehe unseren Artikel: Die Repression durch die Polizei fachte die Wut der Jugend an, vom 4. Juli 2013, auf unserer Website und in der gedruckten Presse.

[6] Gemäß den Prognosen werden diese beiden Veranstaltungen die brasilianische Regierung 31,3 Milliarden Dollar oder 1,6% des Bruttosozialprodukts kosten. Hingegen macht die Familienunterstützung, die von der Lula-Regierung als die wichtigste soziale Maßnahme gepriesen wurde, weniger als 0,5% des BSP aus.

[7] FIFA: Internationale Föderation des Verbandsfußballs (frz. Fédération Internationale de Football Association)

[8] Angestelltengewerkschaft und Teil der KESK

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Editorial

Internationale Revue – 2014/2015

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Internationale Revue 52

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100 Jahre Dekadenz des Kapitalismus

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Seit 100 Jahren stehen wir an einem weiteren Scheidepunkt in der Menschheitsgeschichte. Die revolutionäre Klasse hat dieser Epoche mit klarer Zuspitzung schon früh ihre Parole eingeschrieben: „Sozialismus oder Barbarei“. Die Klarsichtigkeit der marxistischen Analyse, die sich hinter dieser Parole verbirgt und in ihr ausgedrückt wird, darf jedoch nicht zu einer platten Floskel verkommen. Deshalb möchten wir die historische Bedeutung und ihre existenzielle Tiefe im Folgenden kurz hervorheben. Werfen wir einen Blick zurück in die dunklen und verborgenen Ursprünge der Gattung Menschen, müssen wir verblüfft und beeindruckt sein, mit welch mächtigen Schritten der Mensch seinen Gang aus der Tierwelt hinaus genommen hat: Sprachen, Schriften, Tänze, Gebäude, Güterfülle, die auf die Vielfalt und Tiefe moralischer, kultureller, intellektueller Bedürfnisse und Wert verweisen, spiegeln einen kulturellen Reichtum und eine Beschleunigung in der Geschichte wieder, die uns erschauern lässt. Doch fokussieren wir den Blick auf einzelne Epochen, müssen wir ebenfalls erkennen, dass es keine stete fortschrittliche Entwicklung gab und gibt. Ja noch dramatischer, nach dem Aufkommen der Klassengesellschaften und dem Entstehen der großen „Kulturen“, müssen wir resümieren, dass fast alle großen „Kulturen“ unwiederbringlich untergegangen sind und nur die wenigsten zu etwas neuem transformierten. Wir finden viele Epochen des kulturellen Rückschritts und Vergessens, in der Regel begleitet von einer moralischen Verrohung der Menschen und einer enormen Brutalisierung der menschlichen Verhältnisse. Den erreichten Fortschritten zugrunde liegt die Fähigkeit der Gattung Mensch, die Natur im Hinblick auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse – in erster Linie der materiellen – zu verändern, und ihre Fähigkeit, die Mittel und Techniken zur Produktion – was Marx die „Produktivkräfte“ nennt – zu verbessern und zu entwickeln. Der Entwicklungsgrad dieser Produktivkräfte und die Arbeitsteilung, die damit zusammenhängt, bestimmen grundsätzlich die Art und Weise, wie sich die Gesellschaft organisiert, um sie  in Bewegung zu setzen, – die „Produktionsverhältnisse“.  Wenn diese den vorteilhaftesten Rahmen zur Entwicklung der Produktivkräfte darstellen, blüht die Gesellschaft auf – nicht nur auf materieller, sondern auch auf kultureller und moralischer Ebene. Doch wenn die Produktionsverhältnisse zu einem Hemmnis der Weiterentwicklung der Produktivkräfte werden, gerät die Gesellschaft in immer größere Krämpfe, und es droht die Barbarei. Um ein Beispiel aus der Geschichte zu nehmen: Einer der Pfeiler des Römischen Reiches war die Ausbeutung der Sklav_innen, insbesondere für die Arbeiten in der Landwirtschaft, aber als neue landwirtschaftliche Techniken auftauchten, konnten diese nicht durch Produzent_innen angewandt werden, die den Status von Vieh hatten, was eine der Ursachen des Niedergangs und des Zusammenbruchs dieses Reiches war.

Wir können noch heute das Leuchten der großen kulturellen Sprünge sehen[1] [86], von der neolithischen Revolution bis zur Renaissance, dem Humanismus und zur Russischen Revolution als Auftakt zur Weltrevolution. Diese kulturellen Sprünge waren jeweils das Ergebnis von langen Kampfepochen, in denen die neuen Verhältnisse sich gegen die alten durchsetzen mussten. Diese großen kulturellen Sprünge bemächtigen uns zum nächsten Sprung: der ersten bewussten Weltvergesellschaftung, dem Sozialismus! Der Marxismus – die Theorie, die sich das Proletariat in seinem Kampf gegen den Kapitalismus gegeben hat – hat die Fähigkeit, geschult die lebendige Geschichte und die großen Tendenzen in ihr zu erkennen. Dies darf nicht verwechselt werden mit dem Blick in die Glaskugel. Wir können nicht weissagen, wann und ob überhaupt es zur Weltrevolution kommen wird. Wir müssen jedoch gegen alle Widerstände und jedes Unverständnis, von denen selbst gewisse Revolutionäre befallen sind, die enorme historische Bedeutung des Eintritts des Kapitalismus in die Dekadenz herausarbeiten und verteidigen. Die historische Weichenstellung, vor der wir seit 100 Jahren stehen ist: nächster kultureller Sprung, Sozialismus – oder Barbarei. Die Zuspitzung ist dramatischer als in jeder bisher gekannten Weltepoche, da die entfalteten Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nicht nur einen kulturellen Niedergang, sondern gar die gesamte Zerstörung der Gattung Mensch (und seiner Natur) möglich machen. Erstmals verschränkt sich die Frage einer untergehenden Produktionsweise mit der Existenzfrage der Gattung Mensch. Dem entgegen stehen gewaltige historische Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung: der Eintritt in die bewusste, die „wirkliche“ Menschheitsgeschichte. Das kapitalistische Modell der Vergesellschaftung ist das bisher erfolgreichste in der Menschheitsgeschichte. Der Kapitalismus hat alle Kulturkreise in sich aufgehoben (soweit er sie nicht vernichtet hat) und erstmals eine Weltgesellschaft hergestellt. Seine zentrale Ausbeutungsform ist die Lohnarbeit, sie ermöglicht die Aneignung und Akkumulation der Mehrarbeit und darüber hinaus die kostenfreie Aneignung der enorm produktiven gemeinschaftlichen Arbeit, der assoziierten, der gesellschaftlichen Arbeit. Dies erklärt die unvergleichliche technische und wissenschaftliche Explosion, die mit der Geschichte des aufsteigenden Kapitalismus verbunden ist. Doch zu den Eigenheiten der kapitalistischen Vergesellschaftung gehört, dass sie unbewusst geschieht, bestimmt durch Gesetze, die zwar Ausdruck von bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen, vom Tausch der Arbeitskraft gegen Lohn zwischen Produzent_innen und Inhabern der Produktionsmittel sind, die aber als „natürlich“, „unveränderbar“ und somit als jedem menschlichen Willen äußerlich erscheinen. In dieser Sicht der verhexten, verdinglichten Wirklichkeit, wo die Menschen und die Verhältnisse zwischen ihnen zu „Sachen“ werden, erscheint das enorme Ansteigen der materiellen Möglichkeiten, der Produktivkräfte als Ergebnis des Kapitals, und nicht als Produkt der menschlichen Arbeit. Doch mit der Eroberung der Welt, stellt sich heraus, dass die Erde rund und endlich ist. Der Weltmarkt ist hergestellt (nach der Zerstörung alternativer Produktionsformen, wie der chinesischen, indischen und osmanischen Textilproduktion). Doch der kulturelle Sprung der industriellen Revolution bedeutet für den Großteil der Bevölkerung im kapitalistischen Zentrum Zerstörung der bisherigen Lebensformen und Hyperausbeutung, in großen Teilen der übrigen Welt Epidemien, Hunger und Versklavung. Der Kapitalismus ist zwar das modernste Ausbeutungsverhältnis, er ist jedoch letztendlich ähnlich parasitär wie seine Vorgänger. Um die Maschine der Verwertung am Laufen zu halten, benötigt die kapitalistischen Vergesellschaftung ständig mehr Rohstoffe und Märkte, wie ihm auch eine größere Reserve an Menschen zur Verfügung stehen muss, die zu ihrem Überleben gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Deshalb führte sein Sieg über die anderen Produktionsweisen zum Ruin und Hunger der früheren Produzent_innen.

Der Kapitalismus stellt sich als Ziel und Höhepunkt der menschlichen Entwicklung dar, nach seiner Ideologie gibt es kein außerhalb mehr. Die zwei größten Tabus sind: dass er im höchsten Maße auf außerkapitalistische Verhältnisse und Milieus angewiesen ist und dass die kapitalistische Vergesellschaftung, wie jede in der Menschheitsgeschichte, eine Etappe in der Bewusstwerdung der Menschheit ist. Seine innere Triebkraft der Akkumulation produziert permanent Widersprüche in ihren einzelnen Elementen, die sich eruptiv in Krisen entladen. In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus wurden diese Krisen überwunden durch die Vernichtung des überschüssigen Kapitals und durch die Eroberung neuer Märkte. Das neue Gleichgewicht wurde begleitet durch eine neue Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, doch mit der Aufteilung des Weltmarkts durch die zentralen Mächte des Kapitalismus kommt der Kapitalismus als Weltverhältnis an eine Grenze. An dieser Grenze können die führenden Nationalstaaten ihre Eroberung der Welt nur fortsetzen, indem sie sich gegenüber stehen; da der Kuchen ganz aufgeteilt ist, kann jeder sein Stück nur vergrößern, indem er dasjenige der anderen verkleinert. Die Staaten rüsten auf und fallen im Ersten Weltkrieg übereinander her. Die von den historisch überkommenden Produktionsverhältnissen gefesselten Produktivkräfte schlagen im Weltgemetzel zu Destruktivkräften mit unglaublich zerstörerischem Potential um. Mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz wird selbst der Krieg zu einer Materialschlacht, in der die ganze Produktion den militärischen Bedürfnissen untergeordnet wird. Die blinde Maschine der Zerstörung und Vernichtung zieht die ganze Welt in den Abgrund. Schon vor 1914 hat die Linke innerhalb der Sozialistischen Internationale, habe die revolutionären Kräfte um Rosa Luxemburg und Lenin mit aller Kraft den Kampf gegen das drohende imperialistische Massaker aufgenommen. Der lebendige Marxismus, das heißt der wirkliche Marxismus, der nicht in Dogmen und für alle Zeiten und Gelegenheiten gültigen Formeln gefangen ist, hat erkannt, dass dies nicht ein weiterer Krieg zwischen Nationalstaaten ist, sondern dass dieser Krieg den Eintritt in die Dekadenz des Kapitalismus markiert. Den Marxisten war klar, dass wir uns an einem historischen Scheideweg befanden und immer noch befinden, der erstmals droht, zu einem Existenzkampf der ganzen Gattung zu werden. Der Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz vor 100 Jahren ist unumkehrbar, jedoch bedeutet dies keinen Stillstand der Produktivkräfte. Diese Kräfte werden vielmehr dermaßen gefesselt und in die alleinige Logik der kapitalistischen Verwertung gepresst, dass die weitere gesellschaftliche Entwicklung in einen immer barbarischer werdenden Strudel gezogen wird. Nur die Arbeiterklasse ist in der Lage, der Geschichte eine andere Richtung zu geben und eine neue Gesellschaft aufzubauen. Mit aller bis dato unvorstellbaren Verrohung erlebten wir die reine Tendenz der kapitalistischen Barbarei nach der Niederlage der revolutionären Aufwallung 1917–23. Der Kurs auf einen weiteren Weltkrieg war offen, Menschen wurden zu Nummern in Lagern und Karteien, gefangen zum Zwecke einer mörderischen Ausbeutung oder direkt der Vernichtung. Die stalinistischen Massenmorde wurden durch den nationalsozialistischen Vernichtungswahnsinn übertroffen, doch die „zivilisierte“ Bourgeoisie selber wollte dieses Rendezvous der Barbarei nicht verpassen: mit dem Einsatz der „demokratischen“ Atombombe, die in Japan zwei Städte ausradierte und den Überlebenden die schrecklichsten Leiden zufügte. Die staatskapitalistische Maschine hat insoweit aus der Geschichte „gelernt“, dass sie sich selbst die Selbstvernichtung verbietet (die Bourgeoisie wird sich nicht einfach selbst umbringen, um die geschichtliche Bühne dem Proletariat zu überlassen), doch ist allein die Rückkehr der Arbeiterklasse nach 1968 ein Garant gegen den offenen Kurs zum Krieg. Während das Proletariat aber den Weg zu einem neuen weltweiten Holocaust hat versperren können, ist es nicht in der Lage dazu gewesen, seine eigene Perspektive durchzusetzen. In dieser Situation, in der keine der beiden bestimmenden Klassen der Gesellschaft eine entschiedene Antwort auf eine unumkehrbare und sich immer mehr vertiefende Wirtschaftskrise hat geben können, ist die Gesellschaft je länger je mehr in einen Verfaulungszustand geraten, in einen zunehmenden sozialen Zerfall. Diese Pattsituation zwischen den Klassen hat der Arbeiterklasse die Perspektive geklaut, die vor 100 Jahren noch eine Selbstverständlichkeit war.

Vor und seit 100 Jahren stand die Arbeiterklasse vor einer gewaltigen historischen Aufgabe. Die Klasse der assoziierten Arbeit, die Arbeiterklasse als Trägerin der gesamten Menschheitsgeschichte, als die zentrale Klasse im Kampf um die Klassenabschaffung muss sich gegen diese Barbarei stemmen. Im Kampf gegen die nihilistische und amoralische Barbarei des Kapitalismus ist sie die Verkörperung der sich selbst bewusst werdenden Menschheit. Sie ist die gefesselte Produktivkraft der Zukunft. In ihr steckt das Potential eines neuen kulturellen Sprungs. Weltweit entstand im Kampf gegen den Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz eine ganze Generation von Revolutionären, die der verdrehten und verdinglichten Vergesellschaftung des Kapitalismus die bewusste Assoziation der Arbeiterklasse – unter dem Leitstern der Kommunistischen Internationale – entgegen setzten.

Mit der russischen Revolution nahm sie den Kampf für die Weltrevolution auf. Diese große Aufgabe, die Verantwortung für die Menschheit in die Hand zu nehmen, ist auch nach bald 100 Jahren für uns aufrüttelnd und begeisternd. Dies zeigt, dass selbst im Angesicht der drohenden Verrohung sich im Herzen der Arbeiterklasse eine moralische Empörung erhebt, die auch heute noch für uns Leitstern ist. Die Arbeiterklasse leidet mit der ganzen Gesellschaft unter der Last des Verfalls. Vereinsamung und Perspektivlosigkeit greifen die eigene Identität an. In den folgenden Auseinandersetzungen wird die Arbeiterklasse zeigen, ob sie sich ihrer historischen Aufgabe wieder bewusst wird. Von der moralischen Empörung zur Politisierung einer ganzen Generation kann es dann ein historisch kurzer Schritt sein. Ein neuer kultureller Sprung in der Menschheitsgeschichte ist möglich und notwendig, das lehrt uns die lebendige Geschichte.

IKS, Januar 2014

 

 

[1] Damit keine Missverständnisse entstehen: Wir fassen unter dem Begriff der „Kultur“ alles, was eine Gesellschaft ausmacht: ihre Art und Weise, sich materiell zu reproduzieren, aber auch die Gesamtheit ihrer künstlerischen, wissenschaftlichen, technischen und moralischen Produktion.

Historische Ereignisse: 

  • Staatskapitalismus [87]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [3]

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Erster Weltkrieg – Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz

Außerordentliche Internationale Konferenz der IKS: Die Nachrichten über unser Ableben sind stark übertrieben

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Im Mai 2014 hat die IKS eine Außerordentliche Internationale Konferenz abgehalten. Seit einiger Zeit hatte sich eine Krise in der IKS entfaltet, deren Epizentrum sich in unserer ältesten Sektion befand, der Sektion in Frankreich. Die Durchführung einer außerordentlichen Konferenz, zusätzlich zu den regelmäßigen internationalen Kongressen der IKS, war notwendig geworden, um die Natur dieser Krise vollständig zu verstehen und einen Weg zu ihrer Überwindung zu finden. Die IKS hat bereits in der Vergangenheit außerordentliche Konferenzen einberufen, so 1982 und 2002, und zwar im Einklang mit unseren Statuten, die diesen Schritt vorsehen, wenn die Grundprinzipien der Organisation in Gefahr sind.[1]

Alle internationalen Sektionen der IKS haben Delegationen zu dieser dritten Außerordentlichen Konferenz entsandt und aktiv an der Debatte teilgenommen. Diejenigen Sektionen, die wegen der restriktiven Schengen-Auflagen nicht teilnehmen konnten, haben der Konferenz Stellungnahmen zu den verschiedenen Rapporten und Resolutionen, die zur Diskussion standen, zukommen lassen.

Krisen sind nicht zwangsläufig tödlich

Unsere Kontakte und Sympathisanten mögen durch diese Nachricht verunsichert und alarmiert sein, und die Feinde der IKS sehen darin sicher Grund zum Jubeln. Unter den Letztgenannten werden gar Stimmen laut, die behaupten, diese Krise sei unsere „Todeskrise“; sie sehen sie als Vorzeichen unseres Verschwindens. Doch Prognosen ähnlicher Manier machten schon angesichts der vorangegangenen Krisen unserer Organisation die Runde. Während der Krise von 1981-82 (und das ist 32 Jahre her!) hatten wir darauf mit den Worten von Mark Twain entgegnet: „Die Nachrichten von unserem Ableben sind stark übertrieben!“. Und genauso antworten wir auch heute.

Krisen sind nicht notwendigerweise Indikatoren für einen Zusammenbruch oder ein Scheitern. Im Gegenteil, das Auftreten von Krisen kann durchaus Ausdruck eines gesunden Widerstandes gegen einen Prozess des Scheiterns sein, der bis dahin ganz unbemerkt vonstattengegangen war. Krisen können deshalb Zeichen einer Reaktion gegen Gefahren und des Kampfes gegen das Scheitern sein. Eine Krise kann auch eine willkommene Gelegenheit darstellen, die Probleme an ihren Wurzeln zu packen und damit die Mittel zu deren Überwindung zu entwickeln. All dies erlaubt es der Organisation, sich zu stärken und ihre Militanten für die künftigen Auseinandersetzungen zu wappnen.

In der 2. Internationale (1889-1914) war die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) bekannt wegen ihrer Anfälligkeit für Krisen und Spaltungen, die sie erlebt hatte. Sie wurde deshalb von den gewichtigsten Parteien der Internationale mit Missachtung bestraft, vor allem von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), die von Erfolg zu Erfolg zu eilen schien und deren Mitgliederzahlen und Wählerstimmen sich stetig vermehrten. Doch die Krisen der russischen Partei und der Kampf des bolschewistischen Flügels, sie zu überwinden und aus ihnen zu lernen, stählten die revolutionäre Minderheit in ihrer Bereitschaft, Widerstand gegen den imperialistischen Krieg von 1914 zu leisten und die Oktoberrevolution von 1917 anzuführen. Im Gegensatz dazu kollabierte die Fassade der Einheit der SPD (die nur von „Störenfrieden“ wie Rosa Luxemburg herausgefordert wurde) 1914 vollkommen und unwiderruflich mit dem totalen Verrat ihrer internationalistischen Prinzipien angesichts des Ersten Weltkrieges.

1982 hatte die IKS erkannt, dass sie in einer Krise steckt (provoziert durch die Ausbreitung von linksbürgerlichen und aktivistischen Konfusionen, die es einem gewissen Chénier[2] erlaubten, in unserer britischen Sektion großes Unheil anzurichten), und ihre Lehren aus dieser Schlappe gezogen, um die Prinzipien der Funktion und der Funktionsweise fester zu etablieren (siehe Internationale Revue Nr. 9: Bericht über die Funktion der revolutionären Organisation, und Internationale Revue Nr. 22: Bericht über die Struktur und die Funktionsweise der revolutionären Organisation). Nach dieser Krise nahm die IKS auch die heute noch bestehenden Statuten an. Die „bordigistische“ Internationale Kommunistische Partei (Kommunistisches Programm), die damals die größte Gruppe der Kommunistischen Linken war, wurde von ähnlichen Tendenzen heimgesucht, nur stärker. Diese Partei schien ganz normal weiterzumachen – nur um letztendlich nach dem Verlust der Mehrheit ihrer Mitglieder wie ein Kartenhaus zusammenzubrechen (siehe dazu: Internationale Revue Nr. 32 auf Französisch, Englisch, Spanisch: „Erschütterungen im revolutionären Milieu“).

Zu der Anerkennung ihrer eigenen Krise kam noch hinzu, dass die IKS einem Prinzip folgte, dass sie aus der bolschewistischen Erfahrung gelernt hatte: die Umstände und Details der Krisen offen zu legen, um so zu einer breiteren Klärung beizutragen. Also anders als jene revolutionären Gruppen zu handeln, die ihre Krisen vor der Arbeiterklasse verbergen. Wir sind davon überzeugt, dass die Kämpfe zur Überwindung der internen Krisen der revolutionären Organisationen erlauben werden, sich über die Wahrheiten und allgemeinen Prinzipien des Kampfes für den Kommunismus klarer zu werden.

Im Vorwort zu Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück schreibt Lenin 1904: „Sie (unsere Gegner) feixen und sind schadenfroh über unsere Streitigkeiten; sie werden sich natürlich bemühen, einzelne Stellen aus meiner Broschüre, die den Mängeln und Unzulänglichkeiten unserer Partei gewidmet ist, für ihre Zwecke aus dem Zusammenhang zu reißen. Die russischen Sozialdemokraten haben bereits genügend im Kugelregen der Schlachten gestanden, um sich durch diese Nadelstiche nicht beirren zu lassen, um dessen ungeachtet ihre Arbeit der Selbstkritik und rücksichtslosen Enthüllungen der eigenen Mängel fortzusetzen, die durch das Wachstum der Arbeiterbewegung unbedingt und unvermeidlich ihre Überwindung finden werden. Die Herren Gegner aber mögen versuchen, uns ein Bild der wahren Sachlage in ihren ‚Parteien‘ zu zeigen, das auch nur im entferntesten dem Bild ähnelt, das die Protokolle unseres zweiten Parteitags bieten!“  [3]

Wir denken wie Lenin, dass, welch oberflächliche Freude unsere Feinde an unseren Schwierigkeiten auch haben mögen (und wie auch immer sie diese durch ihre verzerrte Sichtweise interpretieren), wahre Revolutionäre aus ihren Fehlern lernen und dadurch stärker werden.

Aus diesem Grunde veröffentlichen wir hier, wenn auch nur kurz, eine Darstellung der Entwicklung dieser Krise innerhalb der IKS und der Rolle, die die Außerordentliche Konferenz spielte, um darauf zu antworten.

Die Natur der aktuellen Krise der IKS

Im Mittelpunkt der aktuellen Krise stand das Wiederaufleben einer Verleumdungskampagne innerhalb der Sektion in Frankreich gegen eine Genossin, die dämonisiert wurde (was soweit ging, dass ein anderes Mitglied behauptete,  dass allein ihre Präsenz in der Organisation eine Barriere für deren Weiterentwicklung sei). Die Existenz solch einer Sündenbocksuche – einen einzelnen Genossen für die Probleme in der ganzen Organisation verantwortlich zu machen - ist absolut nicht tolerierbar in einer kommunistischen Organisation, die das Mobbing ablehnt, das allgegenwärtig in der kapitalistischen Gesellschaft ist und aus der bürgerlichen Moral des „Jeder für sich“ und „Den Letzten beißen die Hunde“ entspringt. Die Schwierigkeiten der Organisation werden von der gesamten Organisation verantwortet, folgt man ihrer Ethik des „Alle für Einen und Einer für Alle“. Die verdeckte Kampagne der Ächtung eines Genossen bzw. einer Genossin stellt die Prinzipien der kommunistischen Solidarität auf den Kopf, auf denen die IKS gegründet wurde.                                            

Wir konnten uns aber nicht damit zufrieden geben, diese Kampagne lediglich zu stoppen, nachdem sie ans Tageslicht gekommen war und vom Zentralorgan ernst genommen wurde, denn dies ist nicht etwas, worüber man leichtfertig hinweggehen kann. Wir mussten an die Wurzeln des Problems gehen und erklären, weshalb sich eine derart gravierende Verletzung der kommunistischen Prinzipien erneut in unseren Reihen ausbreiten konnte. Die Aufgabe der Außerordentlichen Konferenz war es, eine gemeinsame Übereinkunft über diese Erklärung zu erreichen und eine Perspektive zu entwickeln, um dergleichen in Zukunft auszumerzen.

Eine der Aufgaben der Außerordentlichen Konferenz war es, den Schlussbericht des Ehrentribunals, das Anfang 2003 von der verunglimpften Genossin gefordert worden war, anzuhören und Stellung dazu zu beziehen. Es genügt nicht das bloße Einverständnis, dass die Genossin das Opfer von Verleumdungen und Verunglimpfungen war; es musste auch mit Tatsachen bewiesen werden. Wir mussten minutiös sämtliche Vorwürfe gegen die Genossin untersuchen und der Frage nachgehen, wo deren Wurzeln liegen. Die Vorwürfe und Beleidigungen sollten der gesamten Organisation offengelegt werden, um jegliche Unklarheiten zu beseitigen und in Zukunft eine Wiederholung solcher Beschuldigungen zu verhindern. Nach einem Jahr Arbeit hatte das Ehrengericht (zusammengesetzt aus Genossen von vier Sektionen der IKS) alle Beschuldigungen systematisch als jeglicher Grundlage entbehrend widerlegt (im Besonderen einige beschämende Verleumdungen, die durch einen Genossen in Umlauf gesetzt wurden)[4]. Das Ehrengericht konnte beweisen, dass diese Stigmatisierungskampagne auf dem Eindringen von obskuren Vorurteilen, verbreitet durch den Zirkelgeist, und auf einer gewissen „Kultur des Klatsches“ basierte, einem Erbe aus der Vergangenheit, von dem sich einige Genossen nicht wirklich freimachen konnten. Mit der Freistellung von Kräften zugunsten dieses Ehrengerichts folgte die IKS einer weiteren Lehre der revolutionären Arbeiterbewegung: Jeder Genosse, der das Opfer von Verdächtigungen, unbegründeten Anschuldigungen oder Lügen ist, hat die Pflicht, die Einberufung eines Ehrengerichts zu fordern. Diese Vorgehensweise abzulehnen würde dazu führen, Anschuldigungen stillschweigend anzuerkennen.

Das Ehrengericht ist auch ein Mittel zur „Aufrechterhaltung der moralischen Gesundheit der revolutionären Organisationen“ (so formulierte es Victor Serge[5]), denn Misstrauen unter ihren Mitgliedern ist ein Gift, das eine revolutionäre Organisation schnell zerstören kann.

Wie die Erfahrungen der Arbeiterbewegung gezeigt haben, ist sich die Polizei dessen sehr bewusst und setzt bevorzugt und ständig das Mittel des Schürens von Misstrauen ein, um die revolutionären Organisationen von innen zu zerstören. Vor allem in den 1930er Jahren wurde dieses Mittel von der stalinistischen GPU gegen die trotzkistische Bewegung in Frankreich und anderswo eingesetzt. Genossen zu schwächen, indem sie Verleumdungs- und Lügenkampagnen ausgesetzt werden, ist eine bevorzugte Waffe der gesamten herrschenden Klasse, um Misstrauen gegen und innerhalb der revolutionären Organisation zu säen.

Aus diesem Grunde haben die revolutionären Marxisten stets alles Erdenkliche getan, um solche Angriffe gegen ihre Organisationen zu demaskieren.

Zur Zeit der Moskauer Prozesse in den 1930er Jahren hatte Leo Trotzki im Exil ein Ehrengericht verlangt (bekannt unter dem Namen Dewey-Kommission), um die Lügen zu widerlegen, die vom Ankläger Wyschinski in diesen Prozessen gegen ihn ins Feld geführt wurden[6]. Marx hatte 1860 die Arbeit zur Niederschrift des Kapital ein Jahr lang unterbrochen, um ein ganzes Buch zu verfassen, in dem er die von „Herrn Vogt“ gegen ihn gerichteten Beschuldigungen systematisch widerlegte.

Zur selben Zeit, als das Ehrengericht seine Arbeit erledigte, suchte die IKS nach den tieferliegenden Wurzel ihrer Krise, um sich mit einem theoretischen Rahmen zu versehen. Nach der Krise der IKS von 2001-2002 hatten wir bereits lange theoretische Anstrengungen unternommen, um zu verstehen, weshalb sich innerhalb der Organisation eine so genannte Fraktion herausbilden konnte, deren Mitglieder sich wie Diebe und Lügner verhielten: siehe die heimliche Verbreitung des Gerüchts, wonach eine unserer Genossinnen eine Staatsagentin sei, den Diebstahl von Geld und Material der Organisation (vor allem von Adresslisten unserer Mitglieder und Abonnenten), die Morddrohungen gegen ein Mitglied der IKS, die Veröffentlichung von internen Informationen - was die Arbeit der Polizei unterstützt - usw. Diese schamlose „Fraktion“ mit ihrer kriminellen Politik ist bekannt unter dem Namen IFIKS (Interne Fraktion der IKS)[7] und erinnert an die sogenannte Chénier-Tendenz während unserer Krise von 1981.

Nach der Erfahrung mit der sog. IFIKS hatten wir begonnen, die Frage der Moral unter historischen und theoretischen Gesichtspunkten zu vertiefen. In der Internationalen Revue Nr. 31 und 32 haben wir den Orientierungstext „Vertrauen und Solidarität im Kampf des Proletariats“ veröffentlicht und in der Nummer 39 und 40 den Text „Marxismus und Ethik“. Unsere Organisation hatte, verbunden mit theoretischen Reflexionen, eine historische Untersuchung über das soziale Phänomen des Pogromismus vorangetrieben – dieser kompletten Antithese der kommunistischen Werte, die Kernstück der Mentalität der IFIKS war und mit der sie die IKS zerstören wollte. Auf der Basis dieser ersten Texte und der theoretischen Arbeit über Aspekte der kommunistischen Moral konnte die Organisation ihr Verständnis der grundlegenden Wurzeln der aktuellen Krise entwickeln. Oberflächlichkeit, opportunistische und „arbeitertümlerische“ Tendenzen, ein Mangel an Reflexion und theoretischen Debatten zugunsten aktivistischer und den linksbürgerlichen Praktiken ähnelnder Interventionen in den unmittelbaren Kämpfen, Ungeduld und die Tendenz, den langfristigen Aspekt unserer Arbeit zu vergessen, all das hat die Krise in der IKS ermöglicht. Diese Krise haben wir als eine „intellektuelle und moralische“ Krise identifiziert, die von einer Negierung und Übertretung der Statuten der IKS begleitet wird.[8]

Der Kampf zur Verteidigung moralischer Prinzipien des Marxismus

Auf der Außerordentlichen Konferenz kehrten wir noch ausführlicher zu einem marxistischen Verständnis der Moral zurück, um den theoretischen Kern unserer Aktivitäten in der kommenden Zeit vorzubereiten. Wir werden mit der Diskussion und der Erforschung dieser Frage als Hauptmittel unserer Rekonvaleszenz nach der jüngsten Krise fortfahren. Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Organisation geben.

Im kommunistischen Projekt enthalten und unzertrennlich mit ihm verbunden ist eine ethische Dimension. Und es ist diese ethische Dimension, die in einer zerfallenden kapitalistischen Gesellschaft, in der Ausbeutung und Gewalt blühen ( „aus allen Poren, blut- und schmutztriefend “, wie Marx im Kapital schrieb) ganz besonders bedroht ist. Diese Bedrohung ist bereits in der dekadenten Epoche des Kapitalismus besonders entwickelt, wenn die Bourgeoisie zunehmend gar den eigenen moralischen Grundsätzen den Rücken kehrt, an denen sie sich in ihrer expandierenden, liberalen Epoche gehalten hatte. Diese finale Episode der kapitalistischen Dekadenz – die Epoche des gesellschaftlichen Zerfalls, die ungefähr mit dem Wendepunkt des Zusammenbruchs des Ostblocks 1989 einsetzte – verschärft diesen Prozess weiter. Heute zeigt sich die Gesellschaft immer offener barbarisch und brüstet sich gar damit. In jedem Aspekt des Lebens werden wir der Barbarei gewahr: in der Vervielfachung von Kriegen, deren Hauptzweck es zu sein scheint, ihre Opfer zu demütigen und herabzusetzen, ehe sie abgeschlachtet werden; in der großflächigen Zunahme des Banditentums – und seiner Zelebrierung in Film und Musik; in der Auslösung von Pogromen auf der Suche nach Sündenböcken für die Verbrechen des Kapitalismus und für das soziale Leid; im Anstieg der Fremdenfeindlichkeit gegenüber Immigranten und der Schikanen auf dem Arbeitsplatz („Mobbing“); in der Entwicklung von Gewalt gegenüber Frauen, von sexueller Belästigung und Frauenfeindlichkeit, auch in Schulen und unter Jugendlichen in städtischen Wohnsiedlungen. Zynismus, Lügen und Heuchelei werden nicht mehr als verwerflich betrachtet, sondern in „Management“-Lehrgängen gelehrt. Die elementarsten Werte der gesellschaftlichen Existenz – gar nicht zu reden von jenen einer kommunistischen Gesellschaft – werden, je mehr der Kapitalismus verwest, umso stärker mit Füßen getreten.

Die Mitglieder revolutionärer Organisationen können dieser Umwelt mit ihren barbarischen Gedanken und Taten nicht entkommen. Sie sind nicht immun gegen diese verderbliche Atmosphäre, insbesondere da die Arbeiterklasse heute verhältnismäßig passiv und desorientiert bleibt und somit unfähig ist, eine Alternative zum sich beschleunigenden Untergang der kapitalistischen Gesellschaft anzubieten. Andere Klassen in der Gesellschaft, die dem Proletariat nahe stehen, stellen einen aktiven Überträger verrotteter Werte dar. Die traditionelle Ohnmacht und Frustration des Kleinbürgertums – die Zwischenschicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat – wird besonders verstärkt und sucht sich ihr Ventil im Pogromismus, im Obskurantismus und in der Hexenjagd, die jenen hetzerischen „Unruhestiftern“ ein Gefühl feiger Ermächtigung verschafft.

Es war besonders notwendig, auf der Außerordentlichen Konferenz von 2014 zum Problem der Moralität zurückzukehren, weil der explosive Charakter der Krise 2000-2002, die widerlichen Handlungen der IFIKS, das Verhalten gewisser ihrer Mitglieder als nihilistische Abenteurer dazu geführt haben, das tiefere, dem zugrundeliegende Unverständnis zu kaschieren, das den Boden für die pogromistische Mentalität bereitet hat, die bei der Bildung dieser so genannten „Fraktion“ Pate stand.[9] Aufgrund der dramatischen Ereignisse rund um den IFIKS-Skandal zehn Jahre zuvor hat es eine starke Tendenz in der Organisation gegeben, in der Zwischenzeit „zur Normalität“ zurückzukehren – eine illusorische Atempause zu finden. Es gab eine Stimmung, die Aufmerksamkeit von einer zutiefst theoretischen und historischen Behandlung von Organisationsfragen zu mehr „praktischen“ Fragen der Intervention und zu einem sanften, aber oberflächlichen „Aufbau“ der Organisation zu lenken. Obwohl der Arbeit der theoretischen Überwindung ihrer vorherigen Krise beträchtliche Anstrengungen gewidmet wurden, wurde dies immer mehr als eine Nebenfrage statt als eine Überlebensfrage für die Zukunft der revolutionären Organisation betrachtet.

Das langsame und schwierige Aufleben des Klassenkampfes 2003 und die größere Bereitschaft im politischen Milieu, mit der kommunistischen Linken zu diskutieren, haben diese Schwäche tendenziell weiter verstärkt. Teile der Organisation begannen die Prinzipien und Errungenschaften der IKS zu „vergessen“ und eine Geringschätzung für die Theorie an den Tag zu legen. Die Statuten der Organisation, die internationalistische, zentralisierte Prinzipien umfassen, wurden tendenziell zugunsten der Gewohnheiten eines lokalen und zirkelhaften Spießbürgertums, des guten, alten „gesunden Menschenverstandes“ und der „Religion des täglichen Lebens“, wie Marx es in Band 1 des Kapital nannte, ignoriert. Der Opportunismus begann sich auf heimtückische Weise auszubreiten.

Jedoch gab es Widerstand gegen diese Neigung zum theoretischen Desinteresse, zur politischen Amnesie und Verknöcherung. Es war insbesondere eine Genossin, die unverblümt diesen opportunistischen Trend kritisierte und infolgedessen als ein „Hindernis“ für eine „normale“, maschinenartige Funktionsweise der Organisation betrachtet wurde. Statt für eine kohärente politische Antwort auf die Kritik der Genossin zu sorgen, drückte sich der Opportunismus in einer unterschwelligen persönlichen Verunglimpfung aus. Andere Mitglieder, besonders in den IKS-Sektionen in Frankreich und Deutschland, die den Standpunkt der Genossin gegen die opportunistischen Verirrungen teilten, wurden ebenfalls zur Zielscheibe dieser Diffamierungskampagne.

So zeigte die Außerordentliche Konferenz, dass heute, wie in der Geschichte der Arbeiterbewegung, Verleumdungskampagnen und Opportunismus zusammengehören. In der Tat erscheinen Erstere in der Arbeiterbewegung als extreme Ausdrücke des Letzteren. Rosa Luxemburg, die als Sprecherin der marxistischen Linken schonungslos in ihrer Anprangerung des Opportunismus war, wurde systematisch von den Führern der deutschen Sozialdemokratie verfolgt und verleumdet. Die Degeneration der bolschewistischen Partei und der Dritten Internationalen wurde von einer uferlosen Verfolgung der alten bolschewistischen Garde und insbesondere Leo Trotzkis begleitet.

Die Organisation musste sich also auch den klassischen Konzepten über den organisatorischen Opportunismus aus der Geschichte der marxistischen Linken zuwenden, die die Lehren aus den eigenen Erfahrungen der IKS mit beinhalten.

Die Notwendigkeit, sowohl den Opportunismus als auch seine versöhnlerischen Ausdrücke abzulehnen, sollte das Motto der Außerordentlichen Konferenz sein: Die Krise der IKS erfordert einen langwierigen Kampf gegen die identifizierten Wurzeln des Problems, nämlich die Neigung, die IKS als einen Kokon zu behandeln und in einen Meinungs-„Club“ zu verwandeln sowie zu versuchen, sie innerhalb der zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft unterzubringen. Im Grunde bedeutet das eigentliche Wesen der revolutionären Militanz einen permanenten Kampf gegen das Gewicht der vorherrschenden Ideologie und all der dem Proletariat fremden Ideologien, die revolutionäre Organisationen schleichend infiltrieren können. Diese Auseinandersetzung muss als die „Regel“ im Leben einer kommunistischen Organisation und jedes ihrer Mitglieder verstanden werden.

Der Kampf gegen  die oberflächliche Übereinkunft, der Mut, Unterschiede auszudrücken und zu entwickeln, und das individuelle Bemühen, seine Meinung vor der gesamten Organisation auszudrücken, die Stärke, politische Kritik zu üben – dies waren die Qualitäten, auf die die Außerordentliche Konferenz bestand:

„5d) Der revolutionäre Militante muss ein Kämpfer für die Klassenpositionen des Proletariats und für seine eigenen Ideen sein. Dies ist keine optionale Bedingung der Militanz, es ist die Militanz. Ohne sie kann es keinen Kampf um die Wahrheit geben, die lediglich aus einem Zusammenprall von Ideen entstehen kann, bei dem jeder Militante dafür einsteht, woran er glaubt. Die Organisation muss die Position aller Genossen kennen, passive Übereinstimmung ist nutzlos und kontraproduktiv (….) Individuelle Verantwortung zu übernehmen, ehrlich zu sein ist ein fundamentaler Aspekt in der proletarischen Moral.“

Die gegenwärtige Krise ist nicht die „finale“ Krise der IKS

Am Vorabend der Außerordentlichen Konferenz unterstrich die Veröffentlichung eines „Appells an das proletarische Lager und die Militanten der IKS“ im Internet, in dem die „finale“ Krise der IKS angekündigt wurde, deutlich die Bedeutung dieser Notwendigkeit, für die Verteidigung der kommunistischen Organisation und ihrer Prinzipien zu kämpfen, insbesondere gegen all jene, die sie zu zerstören versuchen. Dieser besonders widerliche „Appell“ stammt von der so genannten „Internationalen Gruppe der Kommunistischen Linken“ (IGKL), in Wirklichkeit ein Mummenschwanz, hinter dem die berüchtigte frühere IFIKS steckt, die mittlerweile mit Elementen von Klasbatalo aus Montreal vermählt ist. Es ist ein Text, der durchtränkt ist mit Hass und Pogromaufrufen gegen bestimmte Genossen von uns. Dieser Text kündigt großspurig an, dass die „IGKL“ im Besitz von Dokumenten der IKS sei. Ihre Absicht ist klar: zu versuchen, unsere Außerordentliche Konferenz zu sabotieren, durch die Verbreitung von Misstrauen in ihren Reihen am Vorabend der Außerordentlichen Konferenz Unruhe und Unfrieden innerhalb der IKS zu stiften – mit der Botschaft, dass es „einen Verräter innerhalb der IKS gibt, einen Komplizen der IGKL, der uns die internen Bulletins der IKS zuspielt“.[10]

Die Außerordentliche Konferenz bezog sofort Stellung zum „Appell“ der IGKL. Für alle unsere Militanten war klar, dass die IFIKS einmal mehr und auf noch schädlichere Weise die Arbeit der Polizei verrichtet hatte, und zwar in einer Weise, die Victor Serge so eloquent in seinem Buch What everyone should know about repression geschildert hatte (auf der Grundlage der Archive der zaristischen Polizei verfasst, die nach der Oktoberrevolution entdeckt worden waren).[11]

Doch statt die Genossen der IKS gegeneinander auszuspielen, lösten die Methoden der „IGKL“, die jenen der politischen Polizei Stalins und der Stasi würdig sind, ihre einmütige Abscheu aus; sie bewirkten lediglich, dass die weitergehenden Auswirkungen der internen Krise, in der die IKS steckte, deutlich wurden und die Reihen unserer Mitglieder hinter dem Schlachtruf der Arbeiterbewegung: “Alle für einen, einer für alle!“ (in Erinnerung gerufen in dem Buch von Joseph Dietzgen Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit) sich wieder schlossen. Diese polizeitypische Attacke der IGKL machte allen Militanten noch klarer, dass die inneren Schwächen der Organisation, der Mangel an Wachsamkeit gegenüber dem ständigen Druck der vorherrschenden Ideologie die IKS gegenüber den Machenschaften des Klassenfeindes, dessen Absichten fraglos zerstörerisch sind, verwundbar gemacht haben.

Die Außerordentliche Konferenz begrüßte die enorme und äußerst ernsthafte Arbeit des Ehrengerichts. Sie begrüßte ebenfalls den Mut der Genossen, die nach diesem Ehrengericht riefen und wegen ihrer politischen Meinungsverschiedenheiten geächtet wurden.[12] Nur Feiglinge und jene, die wissen, dass sie die ganze Schuld tragen, weigern sich, die Dinge vor einer solchen Kommission zu klären, die ein Vermächtnis der Arbeiterbewegung ist. Die dunklen Wolken, die über die Organisation hingen, haben sich aufgelöst. Und dies rechtzeitig: das Bedürfnis eines jeden Genossen und einer jeden Genossin, zusammen zu kämpfen, war gebieterischer denn je.

Die Außerordentliche Konferenz konnte den Kampf der IKS gegen diese „intellektuelle und moralische Krise“ nicht vollenden – dieser Kampf ist notwendigerweise noch im Gange -, aber sie schuf eine unzweideutige Orientierung: die Eröffnung einer theoretischen Debatte über die „Thesen der Moral“, die vom Zentralorgan der IKS vorgeschlagen wurden. Natürlich werden wir die Debatten und Divergenzen rund um diesen Text veröffentlichen, sobald die Diskussion einen ausreichenden Reifegrad erreicht hat.

Manche unserer LeserInnen mögen denken, dass die Fokussierung der IKS auf ihre interne Krise  und ihren Kampf gegen die polizeitypischen Attacken gegen uns der Ausdruck einer Art von narzisstischer Störung oder eines kollektiven, paranoiden Deliriums ist. Die Sorge um eine kompromisslose Verteidigung unserer organisatorischen, programmatischen und ethischen Prinzipien ist, von diesem Standpunkt aus betrachtet, eine Ablenkung von den praktischen Alltagsaufgaben, nämlich die Weiterentwicklung unseres Einflusses in den unmittelbaren Kämpfen der Arbeiterklasse. Dieser Standpunkt ist im Grunde - inhaltlich, wenn auch in einem anderen Kontext –  eine Wiederholung der Argumente der Opportunisten, die das reibungslose Funktionieren der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die die gesamte Vorkriegszeit hindurch von Krisen geschüttelt wurde, hervorgehoben hatten. Solch ein Vorgehen, das danach trachtet, Differenzen zu vermeiden, die Konfrontation politischer Argumente abzulehnen, um die „Einheit“ um jeden Preis zu bewahren, wird früher oder später zum Verschwinden organisierter revolutionärer Minderheiten führen.

Die Verteidigung fundamentaler kommunistischer Prinzipien ist, wie wenig dies auch mit den gegenwärtigen Bedürfnissen und dem Bewusstsein der Arbeiterklasse zu tun haben mag, die vorrangige Aufgabe revolutionärer Minderheiten. Unsere Entschlossenheit, eine permanente Auseinandersetzung zur Verteidigung der kommunistischen Moralität – die im Zentrum des Solidaritätsprinzips steht – zu führen, ist der Schlüssel dafür, unsere Organisation zu verteidigen, die mit dem Pesthauch des gesellschaftlichen Zerfalls des Kapitalismus konfrontiert ist, der unvermeidlich in alle revolutionären Organisationen eindringt. Nur indem wir uns politisch rüsten, indem wir unsere Arbeit der theoretischen Ausführungen stärken, werden wir in der Lage sein, gegenüber dieser tödlichen Gefahr zu bestehen. Darüber hinaus wird ohne die Verteidigung der Ethik jener Klasse, die der Geburtshelfer des Kommunismus ist, die Möglichkeit, dass der Klassenkampf zur Revolution und zum Aufbau einer wahren Weltgemeinschaft führen wird, immer unwahrscheinlicher.

Eine Sache wurde auf der Außerordentlichen Konferenz 2014 klar: Es wird keine „Rückkehr zur Normalität“ geben, ob in den internen oder in den externen Aktivitäten der IKS.

Im Gegensatz dazu, was in der Krise von 2001 passierte, können wir uns bereits jetzt über die Tatsache freuen, dass Genossen, die in diese Logik der irrationalen Stigmatisierung und der Suche nach einem Sündenbock hineingezogen worden waren, in der Lage waren, die Bedenklichkeit dessen zu erkennen, in was sie involviert gewesen waren. Diese Militanten haben sich freiwillig dazu entschlossen, gegenüber der IKS und ihren Prinzipien loyal zu bleiben, und engagieren sich nun in unserem Kampf für die Konsolidierung der Organisation. Wie auch der Rest der IKS nehmen sie nun teil an der Arbeit der theoretischen Reflexion und Vertiefung, die in der Vergangenheit größtenteils unterschätzt worden war. Indem sie sich Spinozas Formulierung „Weder lachen noch weinen, sondern verstehen“ aneignet, versucht die IKS, zur Schlüsselidee des Marxismus zurückzukehren: dass der Kampf des Proletariats für den Kommunismus nicht nur eine „ökonomische“ Dimension hat (wie die Vulgärmaterialisten meinen), sondern auch und fundamental eine „intellektuelle und moralische“ Dimension (wie Lenin und Rosa Luxemburg insbesondere argumentierten).

Wir müssen daher unseren Verleumdern leider mitteilen, dass es in der IKS keine unmittelbare Aussicht auf eine neue parasitäre Abspaltung geben wird, wie dies in den vorherigen Krisen der Fall war. Es gibt keine Perspektive für die Bildung einer neuen „Fraktion“, die empfänglich genug wäre, sich dem „Appell“ der IGKL zum Pogrom gegen unsere eigenen Genossen anzuschließen – ein Appell, der von mannigfaltigen „sozialen Netzwerken“ und dem so genannten „Pierre Hempel“, der sich selbst für einen Repräsentanten des „universellen Proletariats“ hält, frenetisch weiter getragen wird. Im Gegenteil: die Polizeimethoden der IGKL (gesponsert von einer „kritischen“ Tendenz innerhalb einer bürgerlich-reformistischen Partei, der NPA[13]) haben lediglich erreicht, dass die Empörung unter den Militanten der IKS gewachsen ist und sie in ihrer Entschlossenheit bekräftigt wurden, für die Stärkung der Organisation zu kämpfen.

Die Nachrichten über unser Ableben sind somit sowohl übertrieben als auch verfrüht.

Internationale Kommunistische Strömung

 

[1] Wie bei der Außerordentlichen Konferenz von 2002 (sie dazu den Artikel in der Internationalen Revue Nr. 30 „Außerordentliche Konferenz der IKS: Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien“ (https://de.internationalism.org/print/book/export/html/690 [88]), hat jene von 2014 einen Teil des regulären Kongresses unserer Sektion in Frankreich ersetzt. Das heißt, ein Teil der Zeit war der Außerordentlichen Konferenz gewidmet, ein anderer dem Kongress der Sektion in Frankreich, über den unsere Zeitschrift Révolution International schon berichtet hat.

[2] Chènier war Mitglied unserer Sektion in Frankreich und wurde im Sommer 1981 ausgeschlossen, weil er eine geheime Kampagne mit Verleumdungen gegen das Zentralorgan der Organisation und gegen einige der erfahrensten Mitglieder geführt hatte, mit dem Ziel die Einen gegen die Anderen aufzubringen. Also Verhaltensweisen, die auffallend an die Agenten der GPU innerhalb der trotzkistischen Bewegung in den 1930er Jahren erinnern. Nur einige Monate nach seinem Ausschluss übernahm Chénier einen Posten in der Sozialistischen Partei, die damals an der Regierung war.    

[3] Lenin Werke Bd. 7, Seite 202

[4] Parallel zu dieser Kampagne wurden in informellen Diskussionen in der Sektion in Frankreich durch Genossen der „alten“ Generation Geschichten verbreitet, in denen auf skandalöse Weise unseren Gensossen und Gründungsmitglied  Marc Chirik verunglimpft wurde, ohne den es die IKS nie gegeben hätte. Solche Klatschgeschichten sind Ausdruck des Einflusses des Zirkelgeistes und des Gewichts des heruntergekommenen Kleinbürgertums, das die aus der Studentenbewegung vom Mai 68 hervorgegangene Generation geprägt hatte (mit all seinen anarcho-modernistischen und linken Ideologien).           

[5] Victor Serge: Was jeder Revolutionär über die Repression wissen muss

[6] Das Ehrengericht der IKS hat sich auf die wissenschaftliche Untersuchungs- und Prüfungsmethode der Fakten der Dewey-Kommission gestützt. Die Gesamtheit ihrer Arbeiten (Dokumente, Protokolle, Berichte von Befragungen und Zeugenaussagen, usw.) ist sorgfältig in den Archiven der IKS abgelegt.  

[7] Siehe dazu unsere Artikel: „15. Kongress der IKS: Verstärkung der Organisation angesichts der Herausforderungen der gegenwärtigen Periode“, Internationale Revue Nr. 114 (engl., franz., span.), „Die Polizeimethoden der IFIKS“ in Weltrevolution Nr. 117.

[8] Das Zentralorgan der IKS (sowie auch das Ehrengericht) hat klar bewiesen, dass es nicht die verleumdete Genossin war, die die Stauten verletzt hatte, sondern im Gegenteil die Genossen, die in diese Verleumdungskampagne involviert waren.    

[9] Das Sträuben in unseren Reihen gegen eine Weiterführung der Debatte über die Frage der Moral hat seinen Ursprung in einer genuinen Schwäche der IKS (die tatsächlich alle Gruppen der kommunistischen Linken beeinträchtigt): Die Mehrheit der ersten Generation von Militanten wies diese Frage von sich, die daher nicht in unsere Statuten integriert werden konnte, wie unser Genosse Chirik gehofft hatte. Moral wurde von diesen jungen Militanten damals als ein Gefängnis betrachtet, als ein „Produkt der bürgerlichen Ideologie“, was soweit ging, dass einige von ihnen, die aus dem libertären Milieu kamen, forderten, „ohne Tabus“ zu leben! Was eine krasse Ignoranz gegenüber der Geschichte der menschlichen Spezies und der Entwicklung ihrer Zivilisation offenbart.

 

[10] Siehe „Kommuniqué an unsere Leser: die IKS unter Beschuss durch eine neue Agentur des bürgerlichen Staates“.

[11] Als ob er den Klassencharakter des Angriffs bestätigen wollte, veröffentlichte ein gewisser Pierre Hempel auf seinem Blog weitere interne Dokumente der IKS, die die Ex-IFIKS ihm ausgehändigt hatte. Er fügte den Kommentar hinzu: „Wenn die Polizei mir solch ein Dokument zugespielt hätte, würde ich mich im Namen des Proletariats bei ihr bedanken“! Diese Heilige Allianz der Feinde der IKS, die sich zum größten Teil aus der „Ehrenwerten Gesellschaft alter IKS-Recken“ zusammensetzt, weiß, welchem Lager sie angehört!

[12] Dies war auch zu Beginn der Krise von 2001 der Fall gewesen: Als dieselbe Genossin eine politische Meinungsverschiedenheit mit einem schriftlichen Text des Internationalen Sekretariats der IKS (über die Frage der Zentralisierung) zum Ausdruck brachte, machte die Mehrheit des IS die Schotten dicht, erstickte diese Debatte, statt sie zu eröffnen, um auf die politischen Argumente der Genossin zu antworten, und begann eine Verleumdungskampagne gegen diese Genossin (mit dem Abhalten von Geheimtreffen und der Verbreitung des Gerüchts in den Sektionen Frankreichs und Mexikos, dass diese Genossin wegen ihrer politischen Meinungsverschiedenheiten mit Mitgliedern des Zentralorgans der IKS eine „Dreckschleuder“ und gar ein „Bulle“ sei, um die beiden Genossen der Ex-IFIKS. Juan und Jonas, zu zitieren, die die Initiatoren bei der Bildung der IGKL waren).

[13] Wir sollten hervorheben, dass bis heute die IGKL keine Erklärung für ihre Beziehungen und Annäherung mit/an diese Tendenz, die innerhalb der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) des Olivier Besancenot wirkt, geliefert hat. Schweigen bedeutet Zustimmung!

Aktuelles und Laufendes: 

  • Außerordentliche Internationale Konferenz [89]
  • Ehrengericht [90]
  • Moral [91]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [92]

Rubric: 

Organisationsfrage

1914: Wie der deutsche Sozialismus dazu kam, die ArbeiterInnen zu verraten

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Von allen Parteien, die in der 2. Internationalen vereint waren, war die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) die weitaus mächtigste. 1914 hatte die SPD mehr als eine Million Mitglieder und mehr als vier Millionen Stimmen in den Reichstagswahlen 1912 errungen;[1] sie war in der Tat die einzige Massenpartei in Deutschland und stellte die größte Fraktion im Reichstag – obwohl sie unter dem autokratischen, imperialen Regime von Kaiser Wilhelm II. faktisch keine Chance hatte, die Regierung zu bilden.

Für die anderen Parteien der 2. Internationalen war die SPD der Nabel der Welt. Karl Kautsky,[2] der Herausgeber des theoretischen Organs der Partei, die Neue Zeit, war der allseits anerkannte „Papst des Marxismus“, der führende Theoretiker der Internationalen. Auf dem Kongress der Internationalen von 1900 hatte Kautsky die Resolution verfasst, die die Beteiligung des französischen Sozialisten Millerand an einer bürgerlichen Regierung verurteilte. Der Dresdner Parteitag der SPD im Jahr 1903 hatte unter der Leitung ihres Vorsitzenden August Bebel[3] die revisionistischen Theorien von Eduard Bernstein in Bausch und Bogen verurteilt und die revolutionären Ziele der SPD bekräftigt. Lenin hatte den „Parteigeist“ der SPD und ihre Immunität gegen die kleinbürgerlichen Animositäten gepriesen, die die Menschewiki dazu verleitet hatten, die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDAP) nach deren Parteitag von 1903 zu spalten.[4] Zu alledem wurde die theoretische und organisatorische Überlegenheit der SPD offensichtlich von ihrem Erfolg vor Ort gekrönt: Keine andere Partei der Internationalen konnte für sich beanspruchen, was dem Wahlerfolg der SPD auch nur nahe kam, und was die Gewerkschaften anging, so konnten allein die britischen mit den deutschen Gewerkschaften an Zahl und Disziplin ihrer Mitglieder mithalten.

„In  der Zweiten Internationale spielte der deutsche ‚Gewalthaufen‘ die ausschlaggebende Rolle. Auf den Kongressen, in den Sitzungen des Internationalen Sozialistischen Büros wartete alles auf die deutsche Meinung. Ja, gerade in den Fragen des Kampfes gegen den Militarismus und den Krieg trat die deutsche Sozialdemokratie stets entscheidend auf. ‚Für uns Deutsche ist dies unannehmbar‘, genügte regelmäßig, um die Orientierung der Internationale zu bestimmen. Mit blindem Vertrauen ergab sie sich der Führung der bewunderten, mächtigen deutschen Sozialdemokratie: Diese war der Stolz jedes Sozialisten und der Schrecken der herrschenden Klassen in allen Ländern.“[5]

Es lag daher auf der Hand, dass, als sich die Sturmwolken des Krieges im Juli 1914 zusammenzubrauen begannen, das Verhalten der deutschen Sozialdemokratie für den Ausgang der Geschehnisse Ausschlag gebend war. Die deutschen ArbeiterInnen – die großen Massen, die in der Partei und in den Gewerkschaften organisiert waren, für deren Aufbau sie so hart gekämpft hatten – befanden sich in einer Position, die sie zum alleinigen Zünglein an der Waage machte: entweder hin zum Widerstand, zu Verteidigung  des proletarischen Internationalismus oder  hin zur Klassenkollaboration und zum Verrat, zu Jahren des blutigsten Gemetzels, das die Menschheit jemals erlebt hat.

„Und was erlebten wir in Deutschland, als die große historische Probe kam? Den tiefsten Fall, den gewaltigsten Zusammenbruch. Nirgends ist die Organisation des Proletariats so gänzlich in den Dienst des Imperialismus gespannt, nirgends wird der Belagerungszustand so widerstandslos ertragen, nirgends die Presse so geknebelt, die öffentliche Meinung so erwürgt, der wirtschaftliche und politische Klassenkampf der Arbeiterklasse so gänzlich preisgegeben wie in Deutschland.“[6]

Der Verrat der deutschen Sozialdemokratie kam für die Revolutionären als ein solcher Schock daher, dass Lenin, als er im Vorwärts[7] las, dass die SPD-Parlamentsfraktion zugunsten der Kriegskredite gestimmt hatte, diese Ausgabe für eine Fälschung, für schwarze Propaganda hielt, die von der Reichsregierung lanciert wurde. Wie war eine solche Katastrophe möglich? Wie konnte innerhalb weniger Tage die stolze und mächtige SPD ihr feierlichstes Versprechen brechen und über Nacht sich von einem Juwel in der Krone der Internationalen der ArbeiterInnen in die mächtigste Waffe im Arsenal der kriegslüsternen herrschenden Klasse verwandeln?

Wenn wir in diesem Artikel diese Frage zu beantworten versuchen, mag es paradox erscheinen, sich zum großen Teil auf die Schriften und Handlungen einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von Individuen zu konzentrieren: die SPD und die Gewerkschaften waren immerhin Massenorganisationen, die in der Lage waren, Hunderttausende von ArbeiterInnen zu mobilisieren. Es ist jedoch gerechtfertigt, weil Individuen wie Karl Kautsky oder Rosa Luxemburg bestimmte Tendenzen innerhalb der Partei repräsentierten; in diesem Sinn verliehen ihre Schriften politischen Tendenzen eine Stimme, mit denen sich Massen von Mitgliedern  und ArbeiterInnen – die in der Geschichte anonym bleiben -  identifizierten. Es ist gleichfalls notwendig, die politischen Biografien dieser führenden Figuren mit zu berücksichtigen, wenn wir das Gewicht begreifen wollen, das sie in der Partei hatten. August Bebel, Vorsitzender der SPD von 1892 bis zu seinem Tod 1913, war einer der Parteigründer und zusammen mit seinem Freund, dem Reichstag-Abgeordneten Wilhelm Liebknecht, wegen ihrer Weigerung, den Krieg Preußens gegen Frankreich 1870 zu unterstützen, eingekerkert worden. Kautsky und Bernstein wurden beide durch Bismarcks Sozialistengesetze ins Exil nach London gezwungen, wo sie unter Engels Leitung tätig waren. Das Prestige und die moralische Autorität, die dies ihnen in der Partei verlieh, waren beträchtlich. Selbst Georg von Vollmar, einer der Führer des süddeutschen Reformismus, erlangte zunächst Prominenz als Angehöriger des linken Flügels und als eifriger und talentierter Untergrund-Organisator,  der dafür mit wiederholten Gefängnisstrafen büßen musste.

Und schließlich war dies eine Generation, die durch die Jahre des deutsch-französischen Krieges und der Pariser Kommune, durch die Jahre der klandestinen Propaganda und Agitation trotz Bismarcks Sozialistengesetze (1878-1890) politisiert worden war. Aus einem ganz anderen Holz geschnitzt waren Männer wie Gustav Noske, Friedrich Ebert oder Philipp Scheidemann, alles Mitglieder des rechten Flügels in der Parlamentsfraktion der SPD, die 1914 für die Kriegskredite stimmten und eine Schlüsselrolle bei der Unterdrückung der Deutschen Revolution von 1919 – sowie bei der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts durch die Freikorps - spielten. Ähnlich wie Stalin waren sie Apparatschiks, die hinter den Kulissen ihre Strippen zogen, statt sich aktiv an den öffentlichen Debatten zu beteiligen; sie waren Repräsentanten einer Partei, die mit ihrem Wachstum immer mehr dazu neigte, sich dem deutschen Staat, dessen Sturz noch immer ihr offizielles Ziel war, anzugleichen und mit ihm zu identifizieren.

Die revolutionäre Linke wandte sich gegen die wachsende Tendenz innerhalb der Partei, Zugeständnisse gegenüber der „praktischen Politik“ zu machen, und war auffälligerweise in weiten Teilen sowohl aus dem Ausland gekommen als auch jung (eine namhafte Ausnahme war der alte Franz Mehring). Abgesehen vom Holländer Anton Pannekoek und Wilhelm Liebknechts Sohn Karl kamen Männer wie Parvus, Radek, Jogiches und Marchlewski allesamt aus dem Russischen Reich, wo sie unter den harten Bedingungen der zaristischen Unterdrückung zu Militanten geschmiedet worden waren. Und natürlich war die herausragende Figur auf der Linken Rosa Luxemburg, eine Außenseiterin in der deutschen Partei auf jede erdenkliche Weise: jung, weiblich, polnisch, jüdisch und – womöglich das Schlimmste vom Standpunkt einiger Leute aus der deutschen  Führung – intellektuell und theoretisch turmhoch über den Rest der Partei stehend.

Die Gründung der SPD

Die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), die spätere SPD, wurde 1875 in Gotha durch die Verschmelzung von zwei sozialistischen Parteien gegründet: die Sozialdemokratische Arbeiterpartei  (SDAP),[8] angeführt von Wilhelm Liebknecht und August Bebel, und der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), der ursprünglich von Ferdinand Lassalle 1863 gegründet worden war.

Die neue Organisation entsprang also zwei unterschiedlichen Quellen. Die SDAP hatte nur sechs Jahre lang existiert; durch ihre langjährige Beziehung zu Liebknecht – obgleich Liebknecht kein Theoretiker war, spielte er eine wichtige Rolle bei der Einführung von Männern wie Bebel und Kautsky in die Ideen von Marx – hatten Marx und Engels eine wichtige Rolle in der Entwicklung der SDAP gespielt. 1870 verfolgte die SDAP entschlossen eine internationalistische Linie gegen den Aggressionskrieg Preußens gegen Frankreich: In Chemnitz nahm ein Delegiertentreffen, das 50.000 sächsische Arbeiter repräsentierte, aus diesem Anlass einmütig eine Resolution an: „Im Namen der deutschen Demokratie und namentlich der Arbeiter der sozialdemokratischen Partei erklären wir den gegenwärtigen Krieg für einen ausschließlich dynastischen (…) Mit Freuden ergreifen wir die uns von den französischen Arbeitern gebotene Bruderhand (...) Eingedenk der Losung der Internationalen Arbeiterassoziation: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‘ werden wir nie vergessen, dass die Arbeiter aller Länder unsre Freunde und die Despoten aller Länder unsere Feinde sind.“[9]

Im Gegensatz dazu war der ADAV dem Widerstand seines Gründers Lassalle gegen die Streikaktion und seinem Glauben treu geblieben, dass die Sache der Arbeiter durch ein Bündnis mit dem Bismarckschen Staat und, allgemeiner, durch die Rezepte des „Staatssozialismus“ vorangebracht werden könnte.[10] Während des deutsch-französischen Kriegs blieb der ADAV pro-deutsch, sein damaliger Präsident, Mende, drängte gar auf französische Reparationen, die benutzt werden sollten, um staatliche Werkstätten für deutsche ArbeiterInnen zu errichten.[11]

Marx und Engels standen der Verschmelzung zutiefst kritisch gegenüber, obwohl Marx‘ Randnotizen über das Programm erst sehr viel später öffentlich gemacht wurden.[12] Marx war der Ansicht: “Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“[13] Auch wenn sie es unterließen, die neue Partei offen zu kritisieren, machten sie ihre Ansicht den führenden Mitgliedern dieser Partei deutlich, und in seinem Schreiben an Bebel hob Engels zwei Schwächen hervor, die die Saat für den Verrat von 1914 bilden sollten:

 

  •  „Zweitens wird das Prinzip der Internationalität der Arbeiterbewegung praktisch für die Gegenwart vollständig verleugnet, und das von den Leuten, die fünf Jahre lang und unter den schwierigsten Umständen dies Prinzip auf die ruhmvollste Weise hochgehalten. Die Stellung der deutschen Arbeiter an der Spitze der europäischen Bewegung beruht wesentlich auf ihrer echt internationalen Haltung während des Kriegs, kein anderes Proletariat hätte sich so gut benommen. Und jetzt soll dies Prinzip von ihnen verleugnet werden im Moment, wo überall im Ausland die Arbeiter es in demselben Maß betonen, in dem die Regierungen jeden Versuch seiner Betätigung in einer Organisation zu überdrücken streben!(…)
  • „…Viertens stellt das Programm als einzige soziale Forderung auf – die Lassallesche Staatshilfe in ihrer nacktesten Gestalt, wie Lassalle sie von Buchez gestohlen hatte. Und das, nachdem Bracke diese Forderung sehr gut in ihrer ganzen Nichtigkeit aufgewiesen; nachdem fast alle, wo nicht alle Redner unserer Parteiim Kampf mit den Lassalleanern genötigt gewesen sind, gegen diese ‚Staatshilfe‘ aufzutreten. Tiefer konnte unsere Bewegung sich nicht demütigen. Der Internationalismus heruntergekommen auf Amand Goegg, der Sozialismus auf den Bourgeoisrepublikaner Buchez, der diese Forderung gegen den Sozialisten stellte, um sie auszustechen.“[14]

Diese Verwerfungslinien in der praktischen Politik waren wenig überraschend angesichts der eklektizistischen theoretischen Untermauerung der neuen Partei. Als Kautsky 1883 die Neue Zeit gründete, hatte er eine Zeitschrift im Sinn, die, „als ein marxistisches Organ publiziert, sich selbst die Aufgabe stellt, das niedrige theoretische Niveau in der deutschen Sozialdemokratie anzuheben, den eklektischen Sozialismus zu zerstören und den Sieg des marxistischen Programms durchzusetzen.“ Er schrieb an Engels: „Ich könnte bei meinen Bemühungen erfolgreich sein, die Neue Zeit zum Sammelbecken der marxistischen Schule zu machen. Ich gewinne viele marxistische Kräfte für eine Mitarbeit, wie ich den Eklektizismus und Rodbertusianismus loswerde.“ (von der IKS übersetzt).[15]

Von Anbeginn, einschließlich der Zeit ihrer Untergrund-Existenz, war die SAP also ein Schlachtfeld von kollidierenden theoretischen Tendenzen – völlig normal in einer gesunden proletarischen Organisation. Doch wie Lenin einst bemerkte: „Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis“, und diese unterschiedlichen Tendenzen oder Visionen von Organisation und Gesellschaft sollten ganz praktische Konsequenzen haben.

Mitte der 1870er Jahre hatte die SAP um die 32.000 Mitglieder in mehr als 250 Bezirken, und 1878 setzte Kanzler Bismarck ein „anti-sozialistisches“ Gesetz durch, um die Parteiaktivitäten zu lähmen. Eine Menge Zeitungen, Treffen und Organisationen wurden verboten, und Tausende von Militanten wanderten ins Gefängnis oder wurden mit Geldbußen belegt. Doch die Entschlossenheit der Sozialisten blieb von dem Sozialistengesetz ungebrochen. Ja, die Aktivitäten der SAP blühten unter den Bedingungen der Semi-Illegalität geradezu auf. Die Illegalität zwang die Partei und ihre Mitglieder dazu, sich außerhalb des Fahrwassers der bürgerlichen Demokratie -  selbst der limitierten Demokratie des Bismarckschen Deutschland - zu organisieren und eine starke Solidarität gegen Polizeirepression und permanente staatliche Überwachung zu entwickeln. Trotz ständiger Belästigung durch die Polizei gelang es der Partei, ihre Presse aufrechtzuerhalten und ihre Verbreitung soweit zu vergrößern, dass beispielsweise die satirische Zeitung  Der wahre Jacob (1884 gegründet) allein 100.000 Abonnenten hatte.

Trotz der Sozialistengesetze verblieb der SAP eine öffentliche Aktivität: Es war den SAP-Kandidaten immer noch möglich, an den Reichstagswahlen  als konfessionslose Unabhängige teilzunehmen. Daher konzentrierte sich ein großer Teil der Parteipropaganda auf die Wahlkampagnen auf nationaler und lokaler Ebene, und dies mag der Grund gewesen sein sowohl für das Prinzip, dass die Parlamentsfraktion strikt dem Parteitag und dem Zentralorgan der Partei (der Vorstand)[16] untergeordnet blieb, als auch, angesichts ihrer wachsenden Wahlerfolge, für das wachsende Gewicht der Parlamentsfraktion innerhalb der Partei.

Bismarcks Politik war eine klassische Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“. Während die ArbeiterInnen daran gehindert wurden, sich selbst zu organisieren, versuchte der imperiale Staat, den Sozialisten den Boden unter den Füßen wegzuziehen, indem er ab 1883 Sozialversicherungszahlungen im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Ruhestand einführte – volle zwanzig Jahre vor dem französischen Gesetz über Arbeiter- und Bauernpensionen (1910) und dem britischen Sozialversicherungsgesetz (1911). Ende der 1880er Jahre bezogen um die 4,7 Millionen ArbeiterInnen Geld aus der Sozialversicherung.

Weder das Sozialistengesetz noch die Einführung der Sozialversicherung erreichte den erwünschten Effekt, die Unterstützung für die Sozialdemokratie zu stutzen. Im Gegenteil, zwischen 1881 und 1890 stiegen die Wahlergebnisse der SAP von 312.000 auf 1.427.000 Stimmen, was die SAP zur größten Partei in Deutschland machte. Bis 1890 wuchsen ihre Mitgliederzahlen auf 75.000, und ungefähr 300.000 ArbeiterInnen traten Gewerkschaften bei. 1890 wurde Bismarck vom neuen Kaiser Wilhelm II. abgesetzt, und das Sozialistengesetz wurde außer Kraft gesetzt.

Nachdem sie aus der Klandestinität herausgetreten war, wurde die SAP auf ihrem Erfurter Parteitag 1891 als legale Organisation, als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) neu gegründet. Der Parteitag nahm ein neues Programm an, und obwohl Engels das Erfurter Programm als Verbesserung seines Gothaer Vorgängers betrachte, hielt er es dennoch für notwendig, die Neigung zum Opportunismus zu kritisieren: „Wie nötig das ist, beweist gerade jetzt der in einem großen Teil der sozialdemokratischen Presse einreißende Opportunismus. Aus Furcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Weg durchzuführen. Man redet sich und der Partei vor, ‚die heutige Gesellschaft wachse in den Sozialismus hinein‘ (…) Dies Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über den augenblicklichen Interessen des Tages, dies Ringen und Trachten nach dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung willen mag ‚ehrlich‘ gemeint sein, aber Opportunismus ist und bleibt es, und der ‚ehrliche‘ Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste von allen.“[17] Engels war hier bemerkenswert vorausschauend: Öffentliche Deklarationen von revolutionären Absichten sollten sich ohne einen konkreten Aktionsplan, der ihnen Nachdruck verlieh, als machtlos erweisen. 1914 fand sich die Partei tatsächlich als „plötzlich hilflos“ wieder.

Dennoch blieb es beim offiziellen Schlachtruf der SPD: „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“, und ihre Reichstagsabgeordneten verweigerten systematisch jegliche Unterstützung für Regierungsetats, besonders für Militärausgaben. Solch eine prinzipientreue Opposition  gegen jeglichen Klassenkompromiss war im parlamentarischen System möglich, weil der Reichstag keine wirkliche Macht besaß. Die Regierung des Wilhelminischen Deutschen Reichs war autokratisch, dem zaristischen Russland nicht unähnlich,[18] und die systematische Opposition der SPD hatte daher keine praktischen Konsequenzen.

In Süddeutschland lagen die Dinge anders. Hier behauptete die lokale SPD unter der Führung von Männern wie Vollmar, dass „besondere Umstände“ herrschten und dass die SPD zur Machtlosigkeit und Irrelevanz verdammt sei, wenn sie nicht in der Lage sei, verantwortungsvoll in den Legislativen der Länder abzustimmen, wenn sie  keine Agrarpolitik habe, die imstande sei, die Kleinbauern anzusprechen. Diese Tendenz tauchte auf, sobald die Partei legalisiert war, auf dem Erfurter Parteitag 1891, und bereits 1891 stimmten SPD-Abgeordnete in den Länderparlamenten von Württemberg, Bayern und Baden zugunsten der Regierungsetats.[19]

Die Reaktion der Partei auf diese direkte Attacke gegen ihre Politik sollte, wie in wiederholten Parteitagsresolutionen zum Ausdruck gekommen, darin bestehen, sie unter den Teppich zu kehren. Ein Versuch von Vollmar, ein besonderes Agrarprogramm vorzubringen, wurde vom Frankfurter Parteitag 1894 niedergestimmt, doch derselbe Parteitag lehnte auch eine Resolution ab, in der gefordert wurde, jegliches Votum eines jeglichen SPD-Abgeordneten für jeglichen Regierungsetat zu verbieten. So lange reformistische Politik auf die süddeutsche „Einzigartigkeit“ beschränkt blieb, konnte sie toleriert werden.[20]

Die Legalität untergräbt den Kampfgeist der SPD

Durch das Gift der Demokratie verblassten bald schon die Erfahrungen der Arbeiterklasse aus einem Dutzend Jahre der Semi-Illegalität. Die bürgerliche Demokratie und der Individualismus, die Hand in Hand gehen, untergraben durch ihr eigentliches Wesen jeglichen Versuch durch das Proletariat, eine Vision von sich selbst als eine historische Klasse mit eigener Perspektive zu entwickeln, die unvereinbar mit der kapitalistischen Gesellschaft ist. Die demokratische Ideologie treibt ständig einen Keil in die Arbeitersolidarität, weil sie die Arbeiterklasse in eine bloße Masse von atomisierten StaatsbürgerInnen aufspaltet. Gleichzeitig wuchsen die Wahlerfolge der Partei sowohl in puncto Stimmen als auch in Form von Parlamentssitzen, während immer mehr ArbeiterInnen sich in den Gewerkschaften organisierten und in der Lage waren, ihren Lebensstandard zu verbessern. Die wachsende politische Stärke der SPD und die industrielle Stärke der organisierten Arbeiterklasse brachten eine neue politische Strömung hervor, die den Gedanken zu theoretisieren begann, dass es möglich sei, den Sozialismus innerhalb des Kapitalismus zu errichten und sich für einen allmählichen Übergang  zu engagieren, ohne die Notwendigkeit, den Kapitalismus durch eine Revolution zu stürzen, dass aber die SPD eine spezifisch deutsche expansionistische Außenpolitik haben solle: Die Strömung kristallisierte sich 1897 um die Sozialistische(n) Monatshefte herum, eine Zeitschrift außerhalb der Kontrolle der SPD, mit Artikeln von Max Schippel, Wolfgang Heine und Heinrich Peus.[21]

Dieser unbequeme, aber erträgliche Zustand explodierte 1898 mit der Veröffentlichung von Eduard Bernsteins Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Bernsteins Broschüre erklärte offen, was er und andere seit einiger Zeit behaupteten: “Praktisch gesprochen sind wir nicht mehr als eine radikale Partei; wir haben nichts anderes gemacht als das, was bürgerliche Radikale tun, mit dem Unterschied, dass wir es unter einer Sprache verstecken, die in keinem Verhältnis steht zu unseren Taten und unseren Fähigkeiten“.[22] Bernsteins theoretische Position griff die eigentlichen Fundamente des Marxismus insofern an, als er die Unvermeidlichkeit des Niedergangs und finalen Zusammenbruchs des Kapitalismus verneinte. Sich auf den boomenden Wohlstand der 1890er Jahre stützend, argumentierte Bernstein, dass der Kapitalismus seine Tendenz zur selbstzerstörerischen Krise überwunden habe. Unter diesen Umständen sei das Ziel nichts, die Bewegung alles; die Quantität sollte höher stehen als die Qualität, der Antagonismus zwischen dem Staat und der Arbeiterklasse konnte angeblich überwunden werden.[23] Bernstein verkündete offen, dass der elementare Grundsatz des Kommunistischen Manifests, demzufolge die ArbeiterInnen kein Vaterland haben, „obsolet“ sei. Er rief die deutschen ArbeiterInnen auf, die Kolonialpolitik des Kaisers in Afrika und Asien zu unterstützen.[24]

In Wirklichkeit neigte sich eine ganze Epoche, jene der Expansion und des Aufstiegs des kapitalistischen Systems, ihrem Ende zu. Für Revolutionäre stellen solche Perioden einer tiefen historischen Transformation eine große Herausforderung dar, da sie die Charakteristiken der neuen Epoche analysieren, einen theoretischen Rahmen zum Verständnis der wesentlichen Veränderungen, die stattgefunden haben, entwickeln und ihr Programm, falls notwendig, anpassen müssen, wobei sie die ganze Zeit dasselbe revolutionäre Ziel vertreten.

Die rasche Expansion des Kapitalismus um den Globus, seine massive industrielle Entwicklung, der neue Stolz der herrschenden Klasse und ihre imperiale Pose – all dies veranlasste die revisionistische Strömung zu glauben, dass der Kapitalismus für immer existieren werde, dass der Sozialismus innerhalb des Kapitalismus eingeführt werden könne und dass der kapitalistische Staat im Interesse der Arbeiterklasse benutzt werden könne. Die Illusion eines friedlichen Übergangs zeigte, dass die Revisionisten tatsächlich Gefangene der Vergangenheit geworden waren, die nicht in der Lage waren zu erkennen, dass sich eine neue historische Epoche am Horizont ankündigte: die Epoche der Dekadenz des Kapitalismus und der gewaltsamen Explosion seiner Widersprüche. Ihre Unfähigkeit, die neue historische Lage zu analysieren, und ihre Theoretisierung der „Ewigkeit“ der Bedingungen des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts bedeuteten auch, dass die Revisionisten außerstande waren zu erkennen, dass die alten Waffen des Kampfes, Parlamentarismus und Gewerkschaftskampf, nicht mehr funktionierten. Die Fixierung auf die parlamentarische Arbeit als die Achse ihre Aktivitäten, die Orientierung  auf den Kampf für Reformen innerhalb des Systems, die Illusion eines „krisenfreien Kapitalismus“ und die Möglichkeit, den Sozialismus friedlich innerhalb des Systems einzuführen, bedeutete, dass faktisch große Teile der SPD-Führung sich mit dem System arrangiert hatten. Die offen opportunistische Strömung in der Partei war der Ausdruck des Vertrauensverlustes des Proletariats in seinen historischen Kampf. Nach Jahren des Verteidigungskampfes für das „Minimalprogramm“ hatte die bürgerliche Ideologie die Arbeiterbewegung penetriert. Dies hieß, dass die Existenz und die Kennzeichen von Gesellschaftsklassen in Frage gestellt wurden und eine individualistische Sichtweise die Klassen zu dominieren und im „Volk“ aufzulösen drohte. Der Opportunismus warf die marxistische Methode der Gesellschaftsanalyse im Rahmen des Klassenkampfes und der Klassenwidersprüche über Bord; tatsächlich bedeutete der Opportunismus die Ermangelung jeglicher Methode, jeglicher Prinzipien welcher Art auch immer und den Mangel jeglicher Theorie.

Die Linke schlägt zurück

Die Reaktion der Parteiführung auf Bernsteins Text bestand darin, seine Bedeutung herunterzuspielen (der Vorwärts begrüßte ihn als einen „anregenden Beitrag für die Debatte“  und erklärte, dass alle Strömungen in der Partei die Freiheit besitzen sollten, ihre Auffassungen zum Ausdruck zu bringen), während sie hinter vorgehaltener Hand bedauerte, dass solche Gedanken so offen geäußert wurden. Ignaz Bauer, der Parteisekretär, schrieb an Bernstein: „Mein lieber Ede, das, was Du verlangst, so etwas beschließt man nicht, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man.“[25]

Innerhalb der SPD widersetzten sich jene am entschlossensten Bernstein, die die lange Periode nach dem Ende der Sozialistengesetze nicht erlebt hatten. Es ist kein Zufall, dass die klarsten und unverblümtesten Opponenten von Bernsteins Strömung Militante ausländischer Herkunft und besonders russischer Herkunft waren. Der in Russland geborene Parvus, der in den 1890er Jahren nach Deutschland gezogen war und 1898 als Herausgeber der SPD-Presse in Dresden, die Sächsische Arbeiterzeitung, arbeitete,[26] ritt eine glühende Attacke gegen Bernsteins Gedanken und wurde dabei von der jungen Revolutionärin Rosa Luxemburg unterstützt, die im Mai 1898 nach Deutschland gezogen war und die die Repression in Polin miterlebt hatte. Sobald sie nach Deutschland übergesiedelt war, begann sie mit ihrem Text Reform oder Revolution, zwischen 1898 und 1899 verfasst (in dem sie Bernsteins Methode enthüllte, die Idee einer Etablierung des Sozialismus durch Sozialreformen zurückwies und Theorie und Praxis des Opportunismus entlarvte), den Kampf gegen die Revisionisten anzuführen. In ihrer Antwort auf Bernstein unterstrich sie, dass der reformistische Trend seit der Aufhebung der Sozialistengesetze und der Möglichkeit, legal zu arbeiten, voll in Schwung gekommen sei. Vollmars Staatssozialismus, die Haushaltsbestätigung in Bayern, der süddeutsche Agrarsozialismus, Heines Kompensationsvorschläge, Schippels Position zu Zöllen – all dies waren Elemente einer um sich greifenden opportunistischen Praxis. Sie unterstrich den gemeinsamen Nenner dieser Strömung: die feindselige Abneigung gegenüber der Theorie.

„Was kennzeichnet sie vor allem äußerlich? Die Feindseligkeit gegen ‚die Theorie‘. Und dies ist ganz selbstverständlich, denn unsere ‚Theorie‘, d.h. die Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus, setzen der praktischen Tätigkeit ebenso in bezug auf die angestrebten Ziele wie auf die anzuwendenden Kampfmittel wie endlich selbst auf die Kampfesweise sehr feste Schranken. Daher zeigt sich bei denjenigen, die nur den praktischen Erfolgen nachjagen wollen, das natürliche Bestreben, sich die Hände frei zu machen, d.h. unsere Praxis von der ‚Theorie‘ zu retten, von ihr unabhängig zu machen.“[27]

Die erste Aufgabe von Revolutionären war es, das Endziel zu verteidigen. “Die Bewegung als solche ohne Beziehung auf das Endziel, die Bewegung als Selbstzweck ist mir nichts, das Endziel ist uns alles.”[28]

In Stagnation und Fortschritt des Marxismus (1903) untersuchte Luxemburg die theoretische Unzulänglichkeit der Sozialdemokratie folgendermaßen: „Haben doch schon Marx und Engels die Verantwortlichkeit für die Geistesoffenbarungen eines jeden ‚Marxisten‘ abgelehnt, und die peinliche Angst, um beim Denken ja ‚auf dem Boden des Marxismus‘ zu bleiben mag in einzelnen Fällen für die Gedankenarbeit ebenso verhängnisvoll gewesen sein wie das andere Extrem – die peinliche Bemühung, gerade durch die vollkommene Abstreifung der Marxschen Denkweise um jeden Preis die „Selbständigkeit des eigenen Denkens“ zu beweisen.“   (Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd ½, S. 364)

Luxemburg griff Bernstein an, aber forderte auch, dass das zentrale Presseorgan der SPD die Positionen zu vertreten habe, die auf dem Parteitag beschlossen worden waren. Worauf im März 1899 der Vorwärts (in einem Artikel mit dem Titel „Eitle Hoffnungen“) entgegnete, dass Luxemburgs Kritik an Bernsteins Position ungerechtfertigt sei. Luxemburg konterte: „Der Vorwärts (…) ist eben in der glücklichen Lage, nie Gefahr laufen zu müssen, eine falsche Meinung zu haben oder seine Meinung zu wechseln – eine Sünde, der er bei anderen nachspürt – aus einem höchst einfachen Grund: weil er nie eine Meinung hat.”[29]

Sie fuhr in derselben Manier fort: „Es gibt nämlich zweierlei organische Lebewesen: solche, die ein Rückgrat haben und deshalb auch gehen, zuweilen sogar laufen können. Es gibt andere, die keines haben, deshalb nur kriechen und – kleben.“ (ebenda, S. 565) Jenen, die die Partei dazu bringen wollten, jegliche programmatische Position und jegliches politisches Kriterium fallenzulassen, entgegnete sie auf der Parteikonferenz 1899 in Hannover: „ Wenn Sie aber darunter verstehen sollen, dass die Partei im Namen der Freiheit der Kritik kein Recht haben sollte, zu gewissen Meinungen und Kritiken der letzten Zeit Stellung zu nehmen und durch Majoritätsbeschluss zu erklären: wir stehen nicht auf diesem Standpunkte, so muss ich dagegen protestieren, denn wir sind nicht ein Diskutierclub, sondern eine politische Kampfpartei, die bestimmte Grundanschauungen haben muss.“[30]

Der Sumpf schwankt

Zwischen dem entschlossenen linken Flügel um Luxemburg und der Rechten, die Bernsteins Ideen und seinen Revisionismus prinzipiell vertrat, befand sich ein „Sumpf“, den Bebel mit den folgenden Worten auf dem Dresdner Parteitag 1903 schilderte: „Es ist immer und ewig der alte Kampf, hier links, dort rechts, und dazwischen der Sumpf. Das sind die Elemente, die nie wissen, was sie wollen, oder besser gesagt, die nie sagen, was sie wollen. Das sind die ‚Schlaumeier‘, die immer erst horchen: Wie steht’s da, wie steht’s hier? Die immer spüren, wo die Majorität ist, und dorthin gehen sie dann. Diese Sorte haben wir auch in unsrer Partei (…) Der Mann, der wenigstens offen seinen Standpunkt vertritt, bei dem weiß ich, woran ich bin, mit dem kann ich kämpfen, entweder er siegt oder ich, aber die faulen Elemente, die sich immer drücken und jeder klaren Entscheidung aus dem Weg gehen, die immer wieder sagen: Wir sind ja alle einig, sind ja alle Brüder, das sind die allerschlimmsten! Die bekämpfe ich am allermeisten.“[31]

Dieser Sumpf, der unfähig ist, eine klare Position zu beziehen, schwankt zwischen den unverblümten Revisionisten, der Rechten und der revolutionären Linken. Der Zentrismus ist eines der Gesichter des Opportunismus. Indem er sich stets zwischen den antagonistischen Kräften positioniert, zwischen den reaktionären und den revolutionären Strömungen, versucht der Zentrismus beide zu miteinander zu versöhnen. Er vermeidet die offene Auseinandersetzung von Ideen, rennt vor den Debatten weg, behauptet, dass „die eine Seite nicht völlig recht hat, aber die andere auch nicht“, betrachtet politische Debatten mit klaren Argumenten und polemischem Tonfall als „übertrieben“, „extremistisch“, „wichtigtuerisch“, gar „gewaltsam“. Er denkt, dass der einzige Weg, die Einheit aufrechtzuerhalten, die Organisation intakt zu halten, darin besteht, die Koexistenz aller politischen Tendenzen zu erlauben, selbst einschließlich jener, deren Ziele in direktem Gegensatz zu jenen der Organisation stehen. Er schreckt vor der Verantwortung und der eigenen Positionierung zurück. Der Zentrismus in der SPD neigt dazu, sich widerwillig mit der Linken zu verbünden und gleichzeitig den „Extremismus“ und die „Gewalttätigkeit“ der Linken zu bedauern sowie erfolgreich harte Maßnahmen – wie den Ausschluss der Revisionisten aus der Partei – zur Bewahrung des revolutionären Charakters der Partei zu verhindern.

Luxemburg behauptete dagegen, dass der einzige Weg, die Einheit der Partei als eine revolutionäre Organisation zu verteidigen, darin bestünde, auf die uneingeschränkte Offenlegung und öffentliche Diskussion von gegensätzlichen Auffassungen zu bestehen: „Durch die Vertuschung der Gegensätze, durch künstliche “Vereinigung”  unvereinbarer Ansichten last man die Gegensätze nur zur vollen Reife gedeihen, bis sie früher oder später in einer Spaltung sich gewaltsam Luft verschaffen. (…) Wer die Spaltung in den Ansichten hervorkehrt und bekämpft, arbeitet für die Einigkeit der Partei. Wer die Spaltung der Ansichten vertuscht, arbeitet auf eine Spaltung der Partei hin.“[32]

Der Inbegriff der zentristischen Strömung und ihr prestigeträchtigster Repräsentant war Karl Kautsky.

Als Bernstein begann, seine revisionistischen Ansichten zu entwickeln, blieb Kautsky zunächst schweigsam und zog es vor, seinem alten Freund nicht öffentlich zu widersprechen. Er versagte auch völlig darin, das Ausmaß zu würdigen, in dem Bernsteins revisionistische Theorien die revolutionären Fundamente untergruben, auf denen die Partei errichtet worden war. Wie Luxemburg betonte, wenn man einmal akzeptiert, dass der Kapitalismus für immer existieren kann, dass er nicht dazu verdammt ist, als Konsequenz aus seinen eigenen inneren Widersprüchen  zusammenzubrechen, dann wird man unweigerlich dazu verleitet, dem revolutionären Ziel den Rücken zu kehren.[33] Kautskys Versagen hier – ein Versagen, das er mit dem größten Teil der Parteipresse gemeinsam hat – war ein deutliches Zeichen für den Verfall des Kampfgeistes in der Organisation: Die politische Debatte war nicht mehr eine Überlebensfrage für den Klassenkampf, sie war zu einer akademischen Angelegenheit von intellektuellen Spezialisten geworden.

Rosa Luxemburgs Ankunft in Berlin 1898 (aus Zürich kommend, wo sie gerade ihre Untersuchungen der polnischen Wirtschaftsentwicklung mit Auszeichnung und ihre Antwort auf Bernsteins Theorien abgeschlossen hatte) sollte eine wichtige Rolle für Kautskys Verhalten spielen.

Als Luxemburg Bebels und Kautskys Zögern und Unwillen, Bernsteins Ansichten zu bekämpfen, klar wurde, kritisierte sie dieses Verhalten in einem Brief an Bebel.[34] Sie fragte, warum sie nicht auf eine energische Antwort auf Bernstein gedrängt hatten, und im März 1899, nach dem Beginn einer Artikelserie, die später als Broschüre mit dem Titel Reform oder Revolution bekannt wurde, berichtete sie Jogiches: „Was Bebel betrifft, über den ich herzog (im Gespräch mit Karl Kautsky), dass er nicht auftritt, erklärte mir K. K., dass Bebel die Lust verloren hat, kein Selbstvertrauen und kein Feuer hat. Als ich wieder über hin herzog,: „Warum geben Sie ihm nicht Mut und Ansporn und Energie“? Dann hieß es erneut: „Tun Sie’s (das bin also ich), gehen Sie zu ihm, reden Sie mit ihm.“ Von Luxemburg befragt, warum Kautsky nicht reagiere: „Ach was, jetzt anfangen mit den Versammlungen, wo ich mitten im parlamentarischen Kampf stecke, da wird es ja Krach geben, ja wohin würde das führen, wo hat man Zeit und Kopf dazu etc.?“[35]

1899 sprach sich Kautsky in Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik zumindest gegen Bernsteins Ideen über die marxistische Philosophie und die politische Ökonomie und gegen seine Ansichten über die Entwicklung des Kapitalismus aus. Dennoch begrüßte er Bernsteins Buch als wertvollen Beitrag für die Bewegung, wandte sich gegen einen Antrag, ihn aus der Partei auszuschließen, und vermied es zu sagen, dass Bernstein das marxistische Programm verriet. Kurz, wie Luxemburg schloss, Kautsky wollte jegliche Störung der ziemlich bequemen Routine des Parteilebens und die Notwendigkeit, seinen alten Freund öffentlich zu kritisieren, vermeiden. Wie Kautsky im Vertrauen Bernstein gegenüber zugab: „dass sie [Parvus und Luxemburg] Deinen Gegensatz zu unseren programmatischen Aussagen schon erkannten, wo ich mich mit  diesem Gedanken nicht befreunden konnte und mich an den Gedanken eines Missverständnisses anklammert.“ (26.6.1899), „Mein Fehler war, dass ich damals nicht so weit sah wie Parvus und Luxemburg, die damals schon den Gedankengang Deiner Broschüre witterten.“[36] Tatsächlich minimierte und trivialisierte Kautsky im Vorwärts die Attacke gegen Bernsteins neuer revisionistischer Theorie, als er sagte, dass der „Umfall Bernsteins als eine  „lächerliche“ Einbildung von freisinnigen Biedermännern erklärt wurde.“[37]

Freunde oder Klasse?

In seiner Loyalität zu seinem alten Freund meinte Kautsky, er hätte sich bei Bernstein privat zu entschuldigen, als er schrieb: „Es wäre Feigheit gewesen zu schweigen. Ich glaube nicht, dass es zu Deinem Nachteil war, dass ich sprach. Hätte ich nicht August (Bebel) gesagt, ich würde auf Deine Erklärung antworten, hätte er es selbst getan. Wie seine Antwort ausgefallen wäre, kannst Du Dir bei seinem Temperament und seiner Rücksichtslosigkeit vorstellen.“[38] Dies bedeutete, er zog es vor, stumm und blind gegenüber seinem alten Freund zu sein. Er reagierte unwillig und erst, nachdem er von der Linken gezwungen wurde. Später gestand er ein, dass es eine „Sünde“ gewesen sei, seiner Freundschaft mit Bernstein zu erlauben, seine politische Urteilskraft zu dominieren.  „Ich habe in meinem Leben nur einmal aus Kameradschaft gesündigt, und diese Sünde bereue ich heute noch aufs tiefste. Hätte ich Bernstein gegenüber nicht so lange gezögert und wäre ich ihm von vornherein mit der nötigen Schärfe entgegengetreten, ich hätte der Partei manches Unangenehmes erspart.“[39] Jedoch ist ein solches Bekenntnis wertlos, es sei denn, es geht bis an die Wurzeln des Problems. Trotz seines „Sündenbekenntnisses“ gab Kautsky nie eine profunde politische Erklärung ab, warum solch ein Verhalten, das sich auf persönliche Affinitäten statt auf politische Prinzipien stützt, eine Gefahr für eine politische Organisation ist. In Wirklichkeit führte ihn sein Verhalten dazu, den Revisionisten eine unbegrenzte „Meinungsfreiheit“ in der Partei zuzugestehen. Wie Kautsky am Vorabend des Parteitags in Hannover sagte: „Man muss es in der Regel jedem Parteimitglied selbst überlassen, zu entscheiden, ob er noch auf dem Boden der Partei steht oder nicht. Mit dem Ausschluss geht man bloß gegen Elemente vor, welche die Partei schädigen, wegen rein sachliche Kritik ist noch nie jemand aus der Sozialdemokratie ausgeschlossen worden, die stets auf die Freiheit der Diskussion den höchsten Wert gelegt hat. Selbst wenn Bernstein nicht so große Verdienste um unsere Sache sich erworben hätte und wenn er nicht wegen seiner Parteitätigkeit im Exil säße, würde seine Ausschließung nicht in Betracht kommen.“[40]

Luxemburgs Antwort war eindeutig. “Sosehr wir die Freiheit der Selbstkritik brauchen und ihr die weitesten Schranken lassen, so muss es doch ein gewisses Mindestmaß von Grundsätzen geben, die unser Wesen, unsere Existenz selbst ausmachen und die den Boden unseres Zusammenwirkens als Mitglieder einer Partei bilden. Auf diese wenigen allgemeinsten Grundsätze können wir nicht innerhalb unserer Reihen das Prinzip der „Freiheit der Kritik“ anwenden, denn sie sind ja die Voraussetzung aller Tätigkeit, also auch der Kritik über diese Tätigkeit in unseren Reihen. Wir brauchen unsere Ohren vor einer von außen kommenden Kritik auch in bezug auf diese Grundsätze nicht zu verschließen. Wir müssen aber, solange wir sie als den Boden unserer Existenz als Partei betrachten, an diesen Grundsätzen festhalten und sie auch nicht von unseren Mitgliedern erschüttern lassen. Hier können wir nur eine Freiheit gewähren: die Freiheit der Zugehörigkeit oder der Nichtzugehörigkeit zu unserer Partei. Wir zwingen niemanden, mit uns in Reih und Glied zu marschieren, tut es aber jemand freiwillig, so müssen wir bei ihm die Zustimmung zu unseren Prinzipien voraussetzen.“  [41]

Die logische Schlussfolgerung aus Kautskys „mangelndem Standpunkt“ war, dass jeder in der Partei  sein und vertreten konnte, was er wollte, dass das Programm verwässert wird, dass die Partei zu einem „Schmelztiegel“ verschiedener Auffassungen wird, nicht zu einer Speerspitze für einen entschlossenen Kampf. Kautskys Haltung zeigte, dass er die Loyalität zu einem Freund der Verteidigung von Klassenpositionen vorzieht. Gleichzeitig wollte er die Pose eines theoretischen „Experten“ einnehmen. Es trifft zu, dass er einige sehr wichtige und wertvolle Büchergeschrieben hat (siehe unten) und dass er die Wertschätzung von Engels genoss. Doch wie Luxemburg in einem Brief an Jogiches bemerkte: „Karl Kautsky beschränkt sich auf die Theorie (..)“[42]Indem er es vorzog, jegliche Beteiligung am Kampf zur Verteidigung der Organisation und ihres Programms zu unterlassen, verlor Kautsky allmählich jegliche kämpferische Haltung, und dies hieß, dass  er das, was er als seine Verpflichtungen gegenüber seinen Freunden ansah, über jegliche moralischen Verpflichtungen gegenüber seiner Organisation und ihren Prinzipien stellte. Dies führte zu einer Abtrennung der Theorie von der praktischen, konkreten Tat: Zum Beispiel war Kautskys wertvolles Buch über die Ethik, einschließlich insbesondere eines Kapitels über den Internationalismus, nicht eingebunden in einer unerschütterlichen Verteidigung des Internationalismus.

Es gibt einen auffälligen Gegensatz zwischen Kautskys Verhalten gegenüber Bernstein und Rosa Luxemburgs Verhalten gegenüber Kautsky. Nach ihrer Ankunft in Berlin unterhielt sie enge Beziehungen zu Kautsky und seiner Familie. Doch schnell spürte sie, dass die große Aufmerksamkeit, die die Familie Kautsky ihr gegenüber zeigte, zu einer Bürde wurde. Schon 1899 hatte sie sich bei Jogiches darüber beklagt: „Ich fange an vor den Schmeicheleien (der Kautskys) zu fliehen“ , denn   „Kautskys betrachten mich als zur Familie gehörig“,  (12.11.1899):  „All diese Liebesbeweise (er ist mir gegenüber wirklich ehrlich wohlwollend, ich sehe das jedesmal) bedrücken mich wie eine Last, statt mich zu freuen. Tatsächlich, jede im Erwachsenenalter eingegangene Freundschaft, und dazu noch so eine halb ‚parteiliche‘ ist eine Last: sie erlegt Pflichten auf, behindert etc. Und gerade diese Seite der Freundschaft behindert mich. Nach jedem Artikel muss ich denken: Nun jetzt wird er enttäuscht sein, und die ‚Freundschaft‘ wird abkühlen.“[43] Sie war sich über die Gefahren eines auf Affinitäten gestützten Verhaltens im Klaren, wo die Rücksichtnahme auf persönliche Verpflichtungen, auf Freundschaften oder gemeinsame Geschmäcker die politische Urteilskraft des Militanten, aber auch das überschattet, was wir seine moralische Urteilskraft hinsichtlich der Frage, ob eine Aktion in Übereinstimmung mit den Organisationsprinzipien steht, nennen könnten. (44)[44] Luxemburg wagte es dennoch, ihn offen zu konfrontieren: „Mit Kautsky hatte ich vorher ein großes grundsätzliches Streitgespräch über unsere ganze Art, die Dinge zu sehen, wobei er mir als Fazit sagte, dass ich in zwanzig Jahren ebenso denken werde wie er, worauf ich entgegnete, dass ich in diesem Falle in zwanzig Jahren eine Schlafmütze sein werde.“ [45]

Auf dem Lübecker Parteitag 1901 wurde Luxemburg beschuldigt, die Positionen anderer Genossen zu verzerren, eine Beschuldigung, die sie als skandalös betrachtete; sie forderte, dass sie öffentlich geklärt wird. Dies im Auge, reichte sie eine Stellungnahme zur Veröffentlichung beim Vorwärts ein.[46] Doch im Namen der Neue(n) Zeit veranlasste Kautsky sie, ihre Forderung nach Veröffentlichung ihrer Stellungnahme zurückzuziehen. Sie antwortete Kautsky: Sie haben erreicht, was Sie wollten, ich entbinde Sie in diesem Falle Ihrer Verpflichtung mir gegenüber. Aber Sie begehen allem Anschein nach dabei noch den Irrtum, dass Sie in allem Ernst glauben, in diesem Falle nur aus Freundschaft und meinem Interesse so gehandelt zu haben. Gestatten Sie mir, Ihnen diese Selbsttäuschung zu zerstören. Als Freund hätten Sie mir ungefähr folgendes sagend müssen: ‚Ich rate Ihnen, unbedingt und um jeden Preis zum Schutze Ihrer schriftstellerischen Ehre aufzutreten, denn größere Schriftsteller und Männer von durch Jahrzehnte begründetem Ruf, wie Marx und Engels, schreiben ganze Broschüren, führten einigen ganzen Federkrieg, wenn ihnen irgend jemand die kleinste ‚Fälschung‘ vorzuwerfen wagte. Um so mehr müssen Sie in solchem Falle peinlich ins Gericht gehen, weil Sie eine junge und sehr angefeindete Schriftstellerin sind‘. So hätten Sie sich als Freund sagen müssen. (…)Der Freund ließ sich aber ganz vom Redakteur der „Neuen Zeit“ beherrschen, und dieser will seit dem Parteitag überhaupt nur eins: Er will seine Ruhe haben, er will zeigen, dass die „Neue Zeit“ nach den erhaltenen Prügeln artig geworden ist und Mault hält.“[47] „Und deshalb mag auch ein gutes Recht des Mitarbeiters der „Neuen Zeit“ auf die Wahrung seiner wichtigsten Interessen, sein Recht auf die Verteidigung gegen öffentliche Verleumdungen, geopfert werden. Mag auch jemand, der für die ‚Neue Zeit‘ – nicht am wenigsten und nicht am schlechtesten – arbeitet, die öffentliche Anschuldigung der Fälschung verschlucken, damit nur in allen Wipfeln Ruh‘ herrscht.

So liegt die Sache, mein Freund! Und nun mit herzlichem Gruß Ihre Rosa.“[48]

 

Hier sehen wir eine junge, entschlossene Revolutionärin und dazu  eine Frau, die darauf bestand, dass die „alte“, „orthodoxe“, erfahrene Autorität persönliche Verantwortung übernehmen soll. Kautsky antwortete auf Luxemburg: „Sehen Sie, man muss die Leute in der Fraktion nicht reizen, man muss nicht den Schein erwecken, als belehre man sie; wenn man ihnen was vorzuschlagen hat, so schreibe man ihnen einen Privatbrief, das wird viel mehr wirken“[49] Doch Rosa Luxemburg versuchte den Kampfgeist in ihm „wiederzubeleben“. „(…) Aber du musst es mit Lust und Freude tun, nicht wie ein lästiges Intermezzo, denn das Publikum fühlt die Stimmung der Kämpfenden immer heraus, und die Freude am Fecht gibt der Polemik einen hellen Klang und eine moralische Überlegenheit“.[50] Diese Haltung, den normalen Betrieb des Parteilebens nicht stören zu wollen, keine Stellung in der Debatte zu beziehen, nicht auf der Klärung von Divergenzen zu drängen, vor der Debatte wegzulaufen und die Revisionisten zu tolerieren, befremdete Luxemburg immer mehr, und es wurde immer offenkundiger, wie sehr der Verlust des Kampfgeistes, der Verlust der Moral, der Verlust der Überzeugung, der Entschlossenheit zum vorrangigen Charakterzug in Kautskys Verhalten geworden war. „Ich habe jetzt seinen [Artikel] ‚Nationalismus und Internationalismus‘ lesen müssen, und es war mir eine Qual, ein Ekel. Ich werde bald nichts von Karl Kautsky mehr lesen können. Mir ist, als lege sich ein ekliges Spinngewebe um mein Hirn.[51] „Kautsky wird mir immer ungenießbarer. Er verschrumpft und vertrocknet innerlich immer mehr, nichts und niemand außer seiner Familie geht ihn menschlich an. Ich fühle mich unbehaglich mit ihnen.“[52]

Dem Verhalten Kautskys diametral entgegengesetzt war die Haltung Luxemburgs und Jogiches‘. Nach ihrer Trennung von Leo Jogiches 1906 (die ihr immense Schmerzen bereitete, wie auch die große Enttäuschung über ihn als Partner) blieben die beiden engste Genossen bis zum Tag ihrer Ermordung. Trotz tiefen persönlichen Grolls, Enttäuschung und Eifersüchteleien – diese tiefen Gefühle wegen ihrer Trennung hinderten sie nie daran, Seite an Seite im politischen Kampf zu stehen.

Man mag einwenden, dass im Falle Kautskys dies den Mangel an Persönlichkeit und Charakter Kautskys widerspiegelte, doch es wäre zutreffender zu sagen, dass er die moralische Verwesung in der Sozialdemokratie in ihrer Gesamtheit versinnbildlichte.

Luxemburg stieß schon früh auf den Widerstand der „alten Garde“. Als sie die revisionistische Politik auf dem Stuttgarter Parteitag 1898 kritisierte, „Vollmar hat es mir zum bitteren Vorwurf gemacht, dass ich als junger Rekrut in der Bewegung die alten Veteranen belehren will (…) Wenn aber Vollmar gegen meine sachlichen Ausführungen ins Feld führt: Du Gelbschnabel, ich könnte ja dein Großvater sein, so ist das für mich ein Beweis, dass er mit seinen logischen Gründen auf dem letzten Loch pfeift“.[53] Was den schwächelnden Kampfgeist der eher zentristischen Veteranen anging, erklärte sie in einem Artikel, den sie nach dem Parteitag 1898 schrieb. “Wir hätten nämlich viel lieber gesehen, dass die Veteranen der Partei gleich am Anfang der Debatte ins Gefecht getreten wären. (…) Wenn die Debatte trotzdem eingeleitet wurde, so geschah es eben nicht dank, sondern trotz dem Verhalten der Parteiführer. (…) Die Debatte zunächst ihrem eigenen Schicksal überlassen, ruhig zwei Tage zusehen, „wie der Hase läuft“, und dann erst eingreifen, als die Wortführer des Opportunismus zur klaren Sprache gezwungen worden waren, dabei noch über die ‚zu scharfe Tonart‘ derjenigen sich abfällig ausdrücken, deren Standpunkt man dann vollkommen aufrechterhält, das ist eine Taktik, die den Parteiführern in einer so wichtigen Frage schlecht steht. Auch die Erklärung Kautskys, wonach er bis jetzt seiner Meinung über die Bernsteinsche Theorie keinen Ausdruck gab, weil er sich vorbehalten hatte, das Schlusswort in der eventuellen Debatte zu sagen, scheint uns wenig entschuldigend zu sein. Im Februar druckt er die Artikel von Bernstein ohne die geringste redaktionelle Note in der ‚Neuen Zeit‘ ab, schweigt dann 4 Monate; im Juni eröffnet er die Diskussion mit einigen Komplimenten an die ‚neuen‘ Standpunkte Bernsteins, diesen neuen Abklatsch des alten Kathedersozialismus, schweigt dann wieder 4 Monate, lässt den Parteitag heranrücken und erklärt endlich im Laufe der Debatte, dass er das ‚Schlusswort‘ sagen wollte. Wir wünschten, dass unser Theoretiker ex officio immer das Wort und nicht das Schlusswort in wichtigen Dingen sagt und dass er nicht den falschen und verwirrenden Eindruck erweckt, als hätte er längere Zeit selbst nicht gewusst, was er sagen sollte.“[54]

So wurden viele aus der alten Garde, die unter den Bedingungen der Sozialistengesetze gekämpft hatten, vom Gewicht des Demokratismus und Reformismus entwaffnet. Sie waren unfähig geworden, die neue Zeit zu verstehen, und begannen stattdessen den Verzicht auf das sozialistische Ziel zu theoretisieren. Statt die Lehren aus dem Kampf unter den Bedingungen der Sozialistengesetze an die neue Generation weiterzureichen, hatten sie ihren Kampfgeist verloren. Und die zentristische Strömung, die sich versteckte und die Auseinandersetzung vermied, indem sie vor einer offenen Feldschlacht gegen die Opportunisten wegrannte, ebnete den Weg für den Aufstieg der Rechten.

Während die Zentristen den Kampf vermieden, zeigte der linke Flügel um Luxemburg seinen Kampfgeist und war bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sie erkannte, dass in Wirklichkeit: „Dass Bebel selbst schon senil geworden ist und die Zügel aus der Hand gleiten lässt,  er ist froh, wenn andere kämpfen, aber er hat selbst weder die Energie noch das Feuer für eine Initiative. K.K. (Karl Kautsky) beschränkt sich auf die Theorie (…) Niemand leitet, niemand fühlt sich verantwortlich“[55]. Der linke Flügel bemühte sich um mehr Einfluss und war von der Notwendigkeit überzeugt, als Speerspitze zu handeln. Luxemburg schrieb an Jogiches: „Nur noch ein Jahr ausdauernder positiver Arbeit, und meine Stellung ist glänzend. Einstweilen kann ich die Schärfe meines Auftretens nicht dämpfen, denn es gilt, den extremsten Standpunkt zu vertreten.“[56] Dieser Einfluss wurde jedoch nicht erlangt, und der Preis war eine Verwässerung von Positionen.

Überzeugt von der Notwendigkeit einer entschlossenen Führung und in Erkenntnis, dass sie auf den Widerstand der Zögerlichen stoßen würde, wollte sie die Partei antreiben.

“Ein Mensch, der nicht zur Sippschaft gehört, der niemandes Protektion hat, sondern  nur die eigenen Ellbogen, ein Mensch, den für die Zukunft nicht nur die Gegner fürchten (Auer & Co.), sondern im Grunde ihres Herzens auch die Bundesgenossen – Bebel, Karl Kautsky, Singer etc., ein Mensch, von dem sie spüren, dass es besser ist, ihn so weit wie möglich wegzuschieben, da er ihnen schnell über den Kopf wachsen könnte. Dabei habe ich gar nicht die Absicht, mich auf die Kritik zu beschränken, im Gegenteil, ich habe die Absicht und Lust positiv zu schieben, nicht Personen, sondern die Bewegung in ihrer Gesamtheit, unsere ganze positive Arbeit zu revidieren, die Agitation, die Praxis, neue Wege aufzuzeigen (sofern sich welche finden lassen, woran ich nicht zweifle) den Schlendrian zu bekämpfen, etc. mit einem Wort, ein ständige Antrieb der Bewegung zu sein (…) Und dann die mündliche und schriftliche Agitation überhaupt, die in alten Formen versteinert ist und fast auf niemanden mehr wirkt, auf eine neue Bahn zu bringen, überhaupt neues Leben in die Presse, die Versammlungen und die Broschüren hineinzubringen. (…) „stets sich selbst zu sein, ganz ohne Ansehen der Umgebung und der anderen…“[57] Im Oktober 1905 bot sich Luxemburg die Gelegenheit, sich an der Redaktionsleitung des Vorwärts zu beteiligen. Sie war kompromisslos in der Frage einer möglichen Zensur ihrer Positionen. „…sollte es wegen meiner Artikel mit der Redaktion oder mit dem Vorstand zu einem Krach kommen, dass man nicht allein, sondern unsere ganze Linke solidarisch aus dem ‚Vorwärts‘ austritt, und dann ist die Redaktion gesprengt.” (Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 2, S. 183, Brief an Leo Jogiches, 6.10.1905). Für eine kurze Weile hatte die Linke einigen Einfluss erlangt.

Der Niedergang des proletarischen Lebens in der SPD

Der Degenerationsprozess der Partei zeichnete sich nicht allein durch die offenen Versuche, auf ihre programmatischen Positionen zu verzichten, und durch den Mangel an Kampfgeist in breiten Bereichen der Partei aus. Unterhalb der Oberfläche befand sich eine ständige Unter-Strömung der kleingeistigen und persönlichen Verunglimpfungen, die sich gegen jene richteten, die die Prinzipien der Organisation am kompromisslosesten vertraten und die Fassade der Einheit störten. Kautskys Verhalten gegenüber der Kritik Luxemburgs an Bernstein war zum Beispiel ambivalent. Trotz seiner freundlichen Beziehungen zu Luxemburg konnte er dennoch Bernstein unverhohlen schreiben: „Der Luxemburg, dem widerlichen Ding, passt der Waffenstillstand bis zum Erscheinen deiner Broschüre nicht, sie bringt jeden Tag einen Nadelstrich ‚zur Taktik‘.“[58] Bisweilen sollte, wie wir sehen werden, diese Unter-Strömung mit verleumderischen Anschuldigungen und persönlichen Angriffen durch die Oberfläche brechen.

Es war vor allem die Rechte, die mit Personalisierungen und der Suche nach Sündenböcken innerhalb der Partei reagierte. Als es einer Klärung der tiefen Divergenzen durch eine offene Konfrontation bedurfte, wich die Rechte zurück und begann stattdessen die prominentesten Mitglieder der Linken zu verleumden.

Ein klares Minderwertigkeitsgefühl auf der theoretischen Ebene an den Tag legend, verbreiteten sie verleumderische Anspielungen besonders über Luxemburg, indem sie sexistische Kommentare und Andeutungen über ihr „unglückliches“ Gefühlsleben und ihre sozialen Beziehungen machten (ihre Beziehung zu Leo Jogiches war der Partei nicht bekannt): „Diese gescheite Giftnudel wird auch nach Hannover kommen. Ich habe Respekt vor ihr und schätze sie viel höher als wie Parvus. Sie aber hasst mich aus tiefstem Herzensgrund.“[59]

Der rechte Parteisekretär Ignaz Auer räumte gegenüber Bernstein ein: „Sind wir auch theoretisch den Gegnern nicht gewachsen, nicht jeder hat das Zeug zum Kirchenvater, so stehen wir gegenüber der Phrase und dem ungezogenen TamTam unseren Mann. Wenn es aber zur ‚reinlichen‘ Scheidung kommen sollte – woran übrigens kein Mensch im Ernste denkt – dann stünden Clara und Rosa allein. Nicht einmal ihre (Liebhaber?) gingen mit ihnen, weder ihre früheren noch die jetzigen.“[60]

Derselbe Auer zögerte nicht, fremdenfeindliche Töne von sich zu geben, als er sagte, dass „diejenigen, welche die Hauptangriffe gegen Bernstein und dessen Anhänger und gegen Schippel geschleudert „nicht deutsche Genossen, nicht aus der deutschen Bewegung hervorgegangen seien. Das Vorgehen einzelner derselben, namentlich der Frau Rosa Luxemburg sei illoyal, sei ‚unter Kameraden‘ nicht schön“[61]Diese Art von fremdenfeindlichen Tönen – besonders gegen Luxemburg, die jüdischer Herkunft war – wurde ein permanentes Muster in der Kampagne der Rechten, die in den Jahren vor dem I. Weltkrieg zunehmend bösartig wurde.[62]

Der rechte Flügel der Partei verfasste sogar satirische Kommentare oder Texte über Luxemburg.[63] Luxemburg und andere Figuren auf der Linken waren bereits in Polen auf besonders niederträchtige Weise zur Zielscheibe geworden. Paul Frölich berichtet in seiner Luxemburg-Biographie, dass viele Verleumdungen sich gegen Leute wie Warski und Luxemburg richteten. Luxemburg wurde beschuldigt, vom Warschauer Polizeioffizier Markgrafski bezahlt worden zu sein, als sie einen Artikel über die Frage der nationalen Autonomie veröffentlichte; sie wurde ebenfalls beschuldigt, eine bezahlte Agentin der Ochrana, der russischen Geheimpolizei, zu sein.[64]

Rosa Luxemburg begann der Atmosphäre in der Partei überdrüssig zu werden. „Jede Annäherung an die Parteibande hinterlässt in mir ein derartiges Unbehagen, dass ich mir jedesmal danach vornehme: drei Seemeilen weit vom tiefsten Stand der Ebbe! (...) Nach dem Zusammensein mit ihnen wittere ich soviel Schmutz, sehe soviel Charakterschwäche, Erbärmlichkeit etc., dass ich zurückeile in mein Mauseloch.“[65]

Dies war im Jahr 1899, doch auch zehn Jahre später  hatte sich ihre Meinung über das Verhalten einiger der führenden Parteifiguren nicht verbessert. „Trotz alledem aber bleibe möglichst ruhig und vergiss nicht, dass es außer Parteivorstand und Kanaillen von der Art der Zietz und Co. Im Leben noch viel Schönes und Reines gibt. Mir ist er außer der unmittelbaren Unmenschlichkeit noch ein schmerzliches Symptom der allgemeinen Misere, in die unsere ‚Führerschaft‘ hinabgesunken ist, ein Symptom erschreckenden geistigen Tiefstands. (…) Andere Zeiten werden diesen stinkenden Tang hoffentlich mit einer schäumenden Welle hinwegfegen.“[66] Und sie drückte des Öfteren ihre Empörung über die erstickende bürokratische Atmosphäre in der Partei aus: „Ach, mir ist manchmal hier schrecklich zumute, und ich möchte am liebsten fort aus Deutschland. In irgendeinem sibirischen Dorf spürt man mehr Menschentum als in der deutschen Sozialdemokratie.“[67] Diese Haltung, nach Sündenböcken zu suchen und die Reputation der Linken zu zerstören, legte die Saat für ihre spätere Ermordung durch die Freikorps, die Luxemburg im Januar 1919 auf Befehl der SPD töteten. Der Tonfall, der gegen sie in der Partei herrschte, bereitete die Pogromatmosphäre gegen Revolutionäre in der revolutionären Welle von 1918–23 vor. Der Rufmord, der allmählich in die Partei sickerte, und der Mangel an Empörung darüber, insbesondere im Zentrum, trug zur moralischen Entwaffnung der Partei bei.

Die Opposition: Zensiert und zum Schweigen gebracht

Zusätzlich zur Sündenbock-Suche, Personalisierung und zu den fremdenfeindlichen Attacken begannen die verschiedenen Instanzen der Partei unter dem Einfluss der Rechten die Artikel der Linken und insbesondere von Luxemburg zu zensieren. Vor allem nach 1905, als die Frage der Massenaktion auf der Tagesordnung stand (s.u.), versuchte die Partei zunehmend, sie mundtot zu machen und die Veröffentlichung ihrer Artikel über die Frage der Massenstreiks und über die russischen Erfahrungen zu verhindern. Zwar waren einige Städte Hochburgen der Linken,[68] jedoch versuchte der gesamte rechte Flügel des Parteiapparates, sie daran zu hindern, ihre Positionen im Zentralorgan der Partei, dem Vorwärts, zu verbreiten: „Leider kann ich Ihre beiden Artikel nicht aufnehmen, da nach einer Vereinbarung zwischen Parteivorstand, geschäftsführendem Ausschuss der preußischen Landeskommission und Redaktion zunächst die Frage des Massenstreiks nicht im ‚Vorwärts‘ erörtert werden soll.“[69]

Wie wir sehen werden, sollten die Konsequenzen des moralischen Niedergangs und des Niedergangs der Solidarität verderbliche Auswirkungen haben, als die imperialistischen Spannungen sich verschärften und die Linke auf der Notwendigkeit bestand, mit Massenaktionen zu antworten.

Franz Mehring, eine wohl bekannte und respektierte Figur der Linken, wurden ebenfalls des Öfteren angegriffen. Doch anders als Rosa Luxemburg war er leicht zu kränken und neigte dazu, sich vom Kampf zurückzuziehen, als er sich ungerechtfertigt angegriffen fühlte. Zum Beispiel kritisierte Mehring vor dem Parteitag in Dresden 1903 die Publizierung von sozialdemokratischen Schriften in der bürgerlichen Presse als unvereinbar mit der Parteimitgliedschaft. Die Opportunisten eröffneten eine Verleumdungskampagne gegen ihn. Mehring bat um ein Parteigericht, das zusammenkam und ein „mildes Urteil“ gegen die Opportunisten verhängte. Doch als er unter den wachsenden Druck der Rechten geriet, neigte Mehring immer mehr dazu, sich aus der Parteipresse zurückzuziehen. Luxemburg pochte darauf, dass er dem Druck der Rechten und ihren Verleumdern Paroli bieten soll: „Jeder anständige Mensch in der Partei, der nicht geistiger Knecht des Parteivorstands ist, wird auf Ihrer Seite stehen. (…) Sie werden sich auch das Gefühl haben, dass wir immer mehr Zeiten entgegengehen, wo die Masse der Partei einer energischen, rücksichtslosen und großzügigen Führung bedarf, und dass unsere führenden Instanzen: Parteivorstand, Zentralorgan, Fraktion – und das ‚wissenschaftliche Organ‘ ohne Sie genau in demselben Verhältnis immer kleinlicher, feiger und parlamentarisch-kretinhafter werden. Wir müssen also offen dieser schönen Zukunft ins Auge blicken, alle Posten besetzen und festhalten, die es ermöglichen, der offiziellen ‚Führerschaft‘ zum Trotz das Recht auf Kritik wahrzunehmen (…) Auf ständige Kämpfe und Reibungen müssen wir ja gefasst sein, namentlichen, wenn man das Allerheiligste: den parlamentarischen Kretinismus so derb schüttelt, wie Sie das getan haben. Aber trotz alledem – keinen Fußbreit nachgeben scheint mir die beste Parole. Die ‚Neue Zeit‘ darf nicht der Senilität und dem Offiziösentum ganz ausgeliefert werden.“[70]

Der Wendepunkt von 1905

Mit Beginn des neuen Jahrhunderts begann das Fundament, auf dem Revisionisten und Reformisten gleichermaßen ihre Theorie und Praxis errichtet hatten, zu zerbröckeln.

Oberflächlich und trotz gelegentlicher Rückschläge schien sich die kapitalistische Wirtschaft in robuster Gesundheit zu befinden und setzte ihre unaufhaltsame Expansion in den letzten Regionen fort, die noch nicht von den imperialistischen Mächten okkupiert worden waren, besonders in Afrika und China. Die Expansion des Kapitalismus über den Globus hatte eine Stufe erreicht, wo die imperialistischen Mächte ihren Einfluss nur noch auf Kosten ihrer Rivalen ausdehnen konnten. Alle Großmächte wurden zunehmend in ei n beispielloses Wettrüsten verwickelt, wobei sich insbesondere Deutschland in einem massiven Programm zur Expansion der Flotte engagierte. Auch wenn es damals nur von Wenigen realisiert worden war, markierte das Jahr 1905 einen Wendepunkt: Eine Auseinandersetzung zwischen zwei Großmächten führte zu einem Großkrieg, und der Krieg führte seinerseits zur ersten massiven revolutionären Welle der Arbeiterklasse.

Bei dem Krieg zwischen Russland und Japan, der 1904 begonnen hatte, ging es um die Kontrolle über koreanische Halbinsel. Russland erlitt eine schmachvolle Niederlage, und die Streiks im Januar 1905 waren eine direkte Reaktion gegen die Auswirkungen des Krieges. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde ein ganzes Land von einer gigantischen Welle von Massenstreiks geschüttelt. Das Phänomen beschränkte sich nicht allein auf Russland. Wenngleich nicht so massiv und vor einem anderen Hintergrund und anderen Forderungen, brachen ähnliche Streikbewegungen in einer Reihe anderer europäischer Länder aus: 1902 in Belgien, 1903 in den Niederlanden, 1905 im Ruhrgebiet in Deutschland. Auch in den Vereinigten Staaten fand zwischen 1900 und 1906 (besonders in den Kohlebergwerken Pennsylvanias) eine Anzahl von massiven, wilden Streiks statt. In Deutschland hatte Rosa Luxemburg sowohl als revolutionäre Agitatorin als auch als Journalistin für die deutsche Partei und Mitglied des Zentralkomitees der SDKPiL[71] die Kämpfe in Russland und Polen aufmerksam verfolgt.[72] Im Dezember 1905 meinte sie, dass sie nicht mehr als bloße Beobachterin in Deutschland bleiben könne, und brach nach Polen auf, um sich direkt an der Bewegung zu beteiligen. Eng in den laufenden Prozess des Klassenkampfes und der revolutionären Agitation eingebunden, erlebte sie die sich neu entfaltende Dynamik der Massenstrikes aus erster Hand.[73] Zusammen mit anderen revolutionären Kräften begann sie die Lehren daraus zu ziehen. Zur gleichen Zeit, als Trotzki sein berühmtes Buch über 1905 schrieb, in dem er die Rolle der Arbeiterräte hervorhob, betonte Luxemburg in ihrem Text Massenstreik, Partei und Gewerkschaften[74] die historische Bedeutung der „Geburt des Massenstreiks“ und ihre Konsequenzen für die internationale Arbeiterklasse. Ihr Text über den Massenstreik war ein erster programmatischer Text der linken Strömungen in der 2. Internationalen, der beabsichtigte, die breiteren Lehren zu ziehen und die Bedeutung autonomer Massenaktionen der Arbeiterklasse zu betonen.[75]

Luxemburgs Theorie des Massenstreiks richtete sich komplett gegen die Vision des Klassenkampfes, so wie sie allgemein in Partei und Gewerkschaften akzeptiert war. Für Letztere war der Klassenkampf fast wie ein Kriegszug, in dem die Konfrontation nur gesucht wurde, sobald die Armee eine überwältigende Stärke aufgebaut hat, während die Partei- und Gewerkschaftsführung als ein Generalstab agieren sollte, auf dessen Befehl die Arbeitermassen manövrieren. Dies war weit weg von Luxemburgs Insistieren auf die kreative Selbstaktivität der Massen; jegliche Vorstellung, dass die ArbeiterInnen unabhängig von der Führung handeln könnten, war ein Gräuel für die Gewerkschaftsbosse, die 1905 sich zum ersten Mal mit der Aussicht konfrontiert sahen, von genau solch einer massiven Welle von autonomen Kämpfen überrannt zu werden. Die Reaktion des rechten Flügels der SPD und der Gewerkschaftsführung war einfach, jegliche Diskussion über dieses Thema zu unterbinden. Auf dem Gewerkschaftskongress in Köln im Mai 1905 lehnten sie jegliche Diskussion über den Massenstreik als „verwerflich“[76] ab und fuhren fort: „Der Kölner Gewerkschaftskongress hatte ja im Jahre 1905 die „Propagierung des Massenstreiks“ in Deutschland untersagt.“. Dies kündigte die Kooperation zwischen der herrschenden Klasse auf der einen und der SPD sowie der Gewerkschaften auf der anderen Seite im Kampf gegen die Revolution an.

Die deutsche Bourgeoisie hatte ebenfalls die Bewegung aufmerksam verfolgt und wollte vor allem die deutschen ArbeiterInnen daran hindern, „das russische Beispiel zu kopieren“. Wegen ihrer Rede über den Massenstreik auf dem SPD-Parteitag in Jena 1905 wurde Rosa Luxemburg der „Aufreizung zur Gewalttätigkeit“ beschuldigt und zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt. In der Zwischenzeit versuchte Kautsky die Bedeutung der Massenstreiks  herunterzuspielen, indem er darauf bestand, dass sie vor allen Dingen ein Produkt primitiver Bedingungen in Russland seien, die nicht auf ein fortentwickeltes Land wie Deutschland angewandt werden könnten. Er „gebraucht die Bezeichnung russische Methode“ als Inbegriff der Unorganisiertheit, der Primitivität, des Chaotischen und Wildem im Vorgehen.“[77] In seinem Buch Der Weg zur Macht behauptete Kautsky, dass „Massenaktionen eine überholte Strategie des Umsturzes“ seien  und setzte ihr seine „Ermattungsstrategie“ entgegen.[78]

Die Massenpartei gegen den Massenstreik

Kautsky weigerte sich, den Massenstreik als eine Perspektive für die Arbeiterklasse überall auf der Welt anzuerkennen und griff Luxemburgs Position dergestalt an, als sei sie bloß eine persönliche Laune. Kautsky schrieb an Luxemburg: „Ich habe nicht die Zeit, Dir die Gründe, die Marx und Engels, Bebel und Liebknecht als stichhaltig anerkannten, auseinanderzusetzen. Genug, was du willst, ist eine völlig neue Agitation, die bisher stets abgelehnt worden war. Diese neue Agitation ist aber der Art, dass es nicht gut angeht, sie öffentlich zu diskutieren. Du würdest mit Deinem Artikel auf eigene Faust, als einzelne Person, eine völlig neue Agitation und Aktion proklamieren, die die Partei stets verworfen hat. In dieser Weise können und dürfen wir nicht vorgehen. Eine einzelne Persönlichkeit, wie hoch sie stehen mag, darf nicht auf eigene Faust ein Fait accompli schaffen, das für die Partei unabsehbare Folgen haben kann.“[79]

Luxemburg lehnte den Versuch ab, die Analyse und Bedeutung des Massenstreiks als eine „persönliche Politik“ darzustellen.[80]

Selbst wenn Revolutionäre die Existenz unterschiedlicher Bedingungen in verschiedenen Ländern zur Kenntnis nehmen müssen, müssen sie vor allem die globale Dynamik wechselnder Bedingungen des Klassenkampfes begreifen, insbesondere jene Tendenzen, die Vorboten der Zukunft sind. Kautsky widersetzte sich den „russischen Erfahrungen“, seien sie doch ein Ausdruck der Rückständigkeit Russlands, verweigerte damit indirekt die internationale Solidarität und verbreitete einen Standpunkt, der durchtränkt war mit nationalen Vorurteilen, die vorgeben, dass die ArbeiterInnen in Deutschland mit ihren mächtigen Gewerkschaften fortgeschrittener und ihre Methoden „überlegen“ seien… d.h. zu einer Zeit, als die Gewerkschaftsführung  bereits den Massenstreik und die autonome Aktion blockierte! Und als Luxemburg wegen ihrer Propagierung des Massenstreiks ins Gefängnis gesteckt wurde, zeigten Kautsky und seine Anhänger kein Anzeichen von Entrüstung und protestierten nicht.

Luxemburg, die durch solche Zensurversuche nicht mundtot gemacht werden konnte, warf der Parteiführung vor, ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Wahlvorbereitungen zu richten. „

„[Will] der  ‚Vorwärts‘ mit einem Delirium der Freude über unsre jetzigen und künftigen Reichstagswahlsiege betäuben? Glaubt der ‚Vorwärts‘ im Ernst, dass der geistigen Vertiefung der breiten Parteikreise mit dieser ewigen Hurrastimmung über Reichstagswahlsiege schon ein, vielleicht anderthalb Jahre vor den Reichstagswahlen sowie durch Erstickung aller Selbstkritik in der Partei ein Dienst erwiesen wird?“[81]

Neben Rosa Luxemburg war Anton Pannekoek der vernehmbarste Kritiker von Kautskys „Ermattungsstrategie“. In seinem Buch „Taktische Differenzen in der Arbeiterbewegung“[82] unternahm Pannekoek eine systematische und fundamentale Kritik an den „alten Werkzeugen“ des Parlamentarismus und des Gewerkschaftskampfes. Pannekoek sollte ebenfalls Opfer der Zensur und Repression innerhalb der Sozialdemokratie und des Gewerkschaftsapparates werden und verlor infolgedessen seinen Job als Parteilehrer. Sowohl Luxemburgs als auch Pannekoeks Artikel wurden zunehmend von der Parteipresse zensiert. Im November 1911 weigerte sich Kautsky zum ersten Mal, einen Artikel von Pannekoek in Neue Zeit zu veröffentlichen.[83]

So zwangen die Massenstreiks von 1905 die SPD-Führung, ihr wahres Gesicht zu zeigen und sich jeglicher Mobilisierung der Arbeiter zu widersetzen, die die „russischen Erfahrungen“ aufzugreifen versuchten. Schon Jahre vor der Entfesselung des Krieges war die Gewerkschaftsführung zu einem Bollwerk für den Kapitalismus geworden. Unter dem Vorwand, die unterschiedlichen Bedingungen des Klassenkampfes zu berücksichtigen, wurden diese in Wahrheit dazu benutzt, internationale Solidarität abzulehnen, wobei die rechten Kräfte in der Sozialdemokratie versuchten, Ängste und selbst nationale Ressentiments gegen den „russischen Radikalismus“ zu schüren. Dies wurde zu einer wichtigen ideologischen Waffe in dem Krieg, der einige Jahre später begann. So wurde nach 1905 das Zentrum, das bisher hin und her geschwankt hatte, allmählich immer mehr zur Rechten gezogen. Die Unfähigkeit und der Unwille des Zentrums, den Kampf der Linken in der Partei zu unterstützen, bedeuteten, dass die Linke immer isolierter innerhalb der Partei wurde. Wie Luxemburg hervorhob: “Der wirkliche Effekt des Auftretens des Genossen Kautsky ist also nur der, dass er eine theoretische Schirmwand für die Elemente in der Partei und in den Gewerkschaften geliefert hat, die sich bei der weiteren rücksichtslosen Entfaltung der Massenbewegung unbehaglich fühlen, sie im Zaume halten und sich am liebsten so schnell wie möglich auf die alten bequemen Bahnen des parlamentarischen und gewerkschaftlichen Alltags zurückziehen möchten. Indem Genosse Kautsky unter Berufung auf Engels und den Marxismus diesen Elementen für ihr Vorgehen eine Gewissensberuhigung gebracht hat, hat er zugleich ein Mittel geliefert, um derselben Demonstrationsbewegung wieder für die nächste Zeit das Genick zu brechen, die er immer machtvoller gestalten möchte.”[84]

Die Kriegsgefahr und die Internationale

Der Stuttgarter Kongress  der Internationalen im Jahr 1907 versuchte, die Lehren aus dem Russisch-japanischen Krieg zu ziehen und das Gewicht der organisierten Arbeiterklasse gegen die wachsende Kriegsgefahr in die Waagschale zu werfen. Etwa 60.000 Menschen nahmen an einer Demonstration teil – mit Rednern aus mehr als einem Dutzend Länder, die vor der Kriegsgefahr warnten. August Bebel schlug eine Resolution gegen die Kriegsgefahr vor, die die Frage des Militarismus als integralen Bestandteil des Kapitalismus umging und mit keinem Wort den Kampf der ArbeiterInnen in Russland gegen den Krieg erwähnte. Die deutsche Partei beabsichtigte, sich nicht an irgendwelchen Rezepte bezüglich ihres Tuns im Falle eines Krieges zu binden, vor allem nicht in Form eines Generalstreiks. Lenin, Luxemburg und Martow schlugen gemeinsam einen robusteren Änderungsantrag zur Resolution vor: „„Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind in den beteiligten Ländern die Arbeiter und ihre parlamentarischen Vertreter verpflichtet, alles aufzubieten, um den Ausbruch des Krieges durch Anwendung entsprechender Mittel zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern und steigern. Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind sie verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, um die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur politischen Aufrüttelung der Volksschichten und zur Beschleunigung des Sturzes der kapitalistischen Klassenherrschaft auszunutzen.“[85] Der Stuttgarter Kongress stimmte einstimmig für diese Resolution, doch anschließend versagte die Mehrheit der 2. Internationalen darin, ihren Widerstand gegen die wachsenden Kriegsvorbereitungen zu stärken. Der Stuttgarter Kongress ging in die Geschichte ein als ein  Beispiel verbaler Deklarationen ohne Taten der meisten der anwesenden Parteien.[86] Doch er war ein wichtiger Moment der Kooperation unter den linken Strömungen, die trotz ihrer Differenzen in vielen anderen Fragen in der Frage des Krieges gemeinsam Stellung bezogen.

Im Februar 1907 veröffentlichte Karl Liebknecht sein Buch Militarismus und Anti-Militarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung, in dem er insbesondere die Rolle des deutschen Militarismus anprangerte. Im Oktober 1907 wurde er zu 18 Monaten Gefängnis wegen Hochverrats verurteilt. Noch im gleichen Jahr erklärte eine führende Figur der Rechten in der SPD, Noske, in einer Rede vor dem Reichstag, dass im Falle eines „Verteidigungskrieges“ die Sozialdemokratie die Regierung unterstützen würde und „Unsere Stellung zum Militärwesen ist gegeben durch unsere Auffassung des Nationalitätenprinzips. Wir fordern die Unabhängigkeit jeder Nation. Aber das bedingt, dass wir auch Wert darauf legen, dass die Unabhängigkeit des deutschen Volkes gewahrt wird. Wir sind selbstverständlich der Meinung, dass es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, dafür zu sorgen, dass das deutsche Volk nicht etwa von irgendeinem anderen Volk an die Wand gedrückt wird.“[87] Es war derselbe Noske, der 1918 zum Bluthund der von der SPD geleiteten Repression gegen die ArbeiterInnen werden sollte.

Den Internationalismus um des Wahlerfolgs willen verschleudern

1911 provozierte die Entsendung des deutschen Zerstörers Panther nach Agadir die zweite Marokko-Krise mit Frankreich. Die SPD-Führung schwor jeglicher antimilitaristischen Aktion ab, um ihren Erfolg bei den anstehenden Wahlen von 1912 nicht zu gefährden. Als Luxemburg dieses Verhalten anprangerte, beschuldigte die SPD-Führung sie, Parteigeheimnisse verraten zu haben. Im August 1911, nach langem Zögern und Versuchen, die Frage zu vermeiden, verteilte die Parteiführung ein Flugblatt, was ein Protest gegen die Marokko-Politik des deutschen Imperialismus sein sollte. Der Inhalt des Flugblatts wurde von Luxemburg in ihrem Artikel „Unser Flugblatt über Marokko“ scharf kritisiert,[88] wobei sie sich nicht bewusst darüber war, dass der Autor des Flugblatts Kautsky war. Kautsky antwortete mit einer personalisierten Attacke. Luxemburg schlug zurück: Kautsky, sagte sie, habe ihre Kritik dargestellt als „hämischer, hinterhältiger Angriff auf seine (Kautskys) Person (…) Den Mut, um jemand nicht offen, Auge in Auge zu kritisieren oder zu bekämpfen, wird mir Genosse Kautsky schwerlich bestreiten. Ich habe noch nie einen Menschen aus dem Hinterhalt angegriffen und weise die Vermutung des Genossen Kautsky, als hätte ich um ihn als den Verfasser gewusst und ihn, ohne ihn zu nennen, treffen wollen, mit den gebührenden Gefühlen zurück. (…) Aber ich hätte mich wohl gehütet, ohne dringende Not mich in eine Polemik mit einem Genossen zu stürzen, der mit dieser Reizbarkeit, mit dieser Flut persönlicher Heftigkeiten, Bitterkeiten und Verdächtigungen auf eine streng sachliche, wenn noch so scharfe Kritik antwortet, der hinter jedem Wort eine persönliche gehässige Absicht wittert.“[89] Auf dem Jenaer Parteitag im September 1911 ließ die Parteiführung eine besondere Broschüre gegen Rosa Luxemburg zirkulieren, die voller Angriffe gegen sie war und die Beschuldigung, die Indiskretion  gebrochen und das Internationale Sozialistische Büro der 2. Internationalen über die interne SPD-Korrespondenz informiert zu haben.

Kautskys Desertion vom Kampf gegen den Krieg

Obgleich Kautsky in seinem Buch Der Weg zur Macht (1909) davor warnte, dass „Der Weltkrieg wird nun in bedrohlichste Nähe gerückt;, sagte er 1911 voraus, dass, wäre der Krieg einmal ausgebrochen,  „jeder wird zu einem Patrioten werden“.  Und dass, wenn die Sozialdemokratie sich dazu entschließe, gegen die Strömung zu schwimmen, sie vom rasenden Mob zerrissen werden würde. Er setzte seine Friedenshoffnungen in die „Länder, die die europäische Zivilisation repräsentieren“ und die Vereinigten Staaten von Europa bilden könnten. Gleichzeitig begann er seine Theorie des „Super-Imperialismus“ zu entwickeln; die Idee zugrunde lag die Vorstellung, dass der imperialistische Konflikt keine unvermeidliche Konsequenz der kapitalistischen Expansion sei, sondern lediglich eine „Politik“, die aufgeklärte kapitalistische Staaten wählen oder ablehnen können. Kautsky dachte bereits, dass der Krieg die Klassenwidersprüche in den Hintergrund drängen würde und die Massenaktion des Proletariats zum Scheitern verurteilt sei, dass – wie er sagte, als der Krieg ausgebrochen war – die Internationale lediglich gut für Friedenszeiten sei. Dieses Verhalten – sich der Kriegsgefahr voll bewusst zu sein, aber sich dem vorherrschenden nationalistischen Druck zu beugen und vor einem entschlossenen Kampf zurückzuscheuen – entwaffnete die Arbeiterklasse und ebnete den Weg für den Verrat an den Interessen des Proletariats. So verharmloste Kautsky einerseits in seiner Theorie des „Super-Imperialismus“ die wirkliche Explosivität der imperialistischen Spannungen herab und scheiterte somit völlig, die Entschlossenheit der herrschenden Klasse, sich auf einen Krieg vorzubereiten, wahrzunehmen, während er andererseits aus Angst um den Wahlerfolg der SPD der nationalistischen Ideologie der Regierung (und in wachsender Weise des rechten Flügels in der SPD) nachgab, statt sie zu konfrontieren. Sein Rückgrat, sein Kampfgeist hatten ihn verlassen.

Als eine entschlossene Anprangerung der Kriegsvorbereitungen vonnöten war und während der linke Flügel sein Bestes gab, um Antikriegstreffen zu organisieren, die Tausende anzogen, mobilisierte die SPD-Führung bis an die Grenzen des Möglichen für die anstehenden Parlamentswahlen 1912. Luxemburg prangerte das selbst aufgezwungene Schweigen über die Kriegsgefahr als einen opportunistischen Versuch an, mehr Parlamentssitze zu erzielen, den Internationalismus zu opfern, um mehr Stimmen zu erringen.

1912 veranlasste die Bedrohung des Friedens, die vom zweiten Balkankrieg ausging, den ISB dazu, einen außerordentlichen Internationalen Kongress zu organisieren, der in Basel, Schweiz, mit dem besonderen Ziel abgehalten wurde, die internationale Arbeiterklasse gegen die akute Kriegsgefahr zu mobilisieren. Luxemburg kritisierte die Tatsache, dass die deutsche Partei den Gewerkschaften, die ein paar zurückhaltende Proteste organisierten und ansonsten argumentierten, dass die Partei als politisches Organ nicht mehr zu tun habe, als Lippenbekenntnisse zur Anprangerung des Krieges abzulegen, lediglich hinterherlief. Während einige Parteien in anderen Ländern energischer reagiert hatten, hatte sich die SPD, die größte Arbeiterpartei in der Welt, im Wesentlichen aus der Agitation zurückgezogen und auf die Mobilisierung weiterer Proteste verzichtet. Der Baseler Kongress, der einmal mehr mit einer Großdemonstration und Friedensappellen endete, übertünchte eigentlich die Fäulnis und den bevorstehenden Verrat durch viele ihrer Mitgliedsparteien.

Am 3. Juni 1913 stimmte die SPD-Reichstagsfraktion für eine militärische Sondersteuer: 37 SPD-Abgeordnete, die sich diesem Votum widersetzt hatten, wurden mit dem Mittel  der Fraktionsdisziplin zum Schweigen gebracht. Der offene Bruch mit dem vorherigen Motto: „diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ bereitete das Votum der Reichstagsfraktion für die Kriegskredite im August 1914 vor.[90] Der moralische Niedergang der Partei wurde auch durch Bebels Reaktion offenbart. 1870/71 hatte sich August Bebel – zusammen mit Wilhelm Liebknecht (Karl Liebknechts Vater) – durch seine entschlossene Opposition gegen den Deutsch-Französischen Krieg ausgezeichnet. Nun, vier Jahrzehnte später, versagte Bebel darin, resoluten Widerstand gegen die Kriegsgefahr zu leisten.[91]

Es wurde zunehmend deutlicher, dass nicht nur die Rechte sich anschickte, offenen Verrat zu begehen, sondern auch dass die schwankenden Zentristen all ihren Kampfgeist verloren hatten und es ihnen nicht gelingen sollte, den Kriegsvorbereitungen auf entschlossene Weise entgegenzutreten. Das Verhalten des berühmtesten Repräsentanten des „Zentrums“, Kautsky, dem zufolge die Partei ihre Position in der Kriegsfrage entsprechend den Reaktionen der Bevölkerung (passive Unterordnung, wenn die Mehrheit des Landes  dem Nationalismus zuneigt, oder ein entschlossener Widerstand, wenn es eine wachsende Opposition gegen den Krieg gibt) anpassen soll, wurde mit der Gefahr „der eigenen Isolation gegenüber der Hauptmasse der Partei“ gerechtfertigt. Als nach 1910 die Strömung um Kautsky behauptete, das „marxistische Zentrum“ im Gegensatz zur (extremistischen, radikalen, unmarxistischen) Linken zu sein, bezeichnete Luxemburg dieses „Zentrum“ als Repräsentant der Feigheit, der Vorsichtigkeit und des Konservatismus.

Ihre Desertion vom Kampf, ihre Unfähigkeit, der Rechten entgegenzutreten und der Linken in ihrem entschlossenen Kampf zu folgen, half mit bei der Entwaffnung der ArbeiterInnen. So war der Verrat vom August 1914 durch Parteiführung keine Überraschung; er wurde Stück für Stück vorbereitet. Die Unterstützung des deutschen Imperialismus wurde in etlichen Abstimmungen im Parlament zur Unterstützung der Kriegskredite, in den Bemühungen, jeglichen Protest gegen den Krieg zu zügeln, in der ganzen Parteinahme für den deutschen Imperialismus und in der Ankettung der Arbeiterklasse an Nationalismus und Patriotismus greifbar. Die Linke mundtot zu machen war ausschlaggebend bei der Preisgabe des Internationalismus und bereitete die Repression gegen die Revolutionäre 1919 vor.

Geblendet von Zahlen

Während die SPD-Führung ihre Aktivitäten auf Parlamentswahlen konzentriert hatte, war die Partei selbst am Wahlerfolg gebunden und verlor das Endziel der Arbeiterbewegung aus den Augen. Die Partei bejubelte den scheinbar ununterbrochenen Zuwachs an Wählerstimmen, an Abgeordneten und an Lesern der Parteipresse. Der Zugewinn war in der Tat beeindruckend: 1907 hatte die SPD 530.000 Mitglieder; um 1913 hatte sich die Zahl auf 1.1 Millionen fast verdoppelt. Eigentlich war die SPD die einzige Massenpartei der 2. Internationalen und die größte einzelne Partei in Europa. Dieses numerische Wachstum erzeugte die Illusion einer großen Stärke. Selbst Lenin war bemerkenswert unkritisch gegenüber den „beeindruckenden Zahlen“ von Mitgliedern, Wählern und dem Einfluss der Partei.[92]

Obwohl es unmöglich ist, eine schematische Beziehung zwischen politischer Unnachgiebigkeit und Wahlergebnissen herzustellen, führten die Wahlen von 1907, als die SPD die barbarische Repression des deutschen Imperialismus gegen den Herero-Aufstand in Südwestafrika noch verurteilt hatte, zu einem „Rückschlag“, als die SPD 38 Parlamentssitze verlor und „nur“ noch 43 Sitze übrigblieben. Trotz der Tatsache, dass der Anteil der SPD an den Gesamtstimmen faktisch gestiegen war, bedeutete dieser Rückschlag in den Augen der Parteiführung, dass die Partei vom Wähler und vor allem von den Wählern aus dem Kleinbürgertum wegen der Anprangerung des deutschen Imperialismus abgestraft worden sei. Die Schlussfolgerung, die sie zogen, lautete: Die SPD müsse vermeiden, sich zu schroff gegen Imperialismus und Nationalismus zu wenden, da dies Wählerstimmen koste. Stattdessen sollte die Partei alle ihre Kräfte auf die Kampagne für die nächsten Wahlen konzentrieren, selbst wenn dies bedeutete, ihre Diskussionen zu zensieren und alles zu vermeiden, was ihrem Wahlergebnis schaden könnte. Bei den Wahlen 1912 erzielte die Partei 4,2 Millionen Stimmen (38,5% aller abgegebenen Stimmen) und gewann 110 Sitze. Sie war zur größten einzelnen parlamentarischen Gruppierung geworden, jedoch nur indem der Internationalismus und die Prinzipien der Arbeiterklasse begraben wurden. In den lokalen Parlamenten hatte sie mehr als 11.000 Abgeordnete. Die SPD konnte 91 Zeitungen und 1,5 Millionen Abonnenten vorweisen. Bei den Wahlen von 1912 ging die Integration der SPD in das Spiel der parlamentarischen Politik noch einen Schritt weiter, als sie zum Vorteil der Freiheitlichen Volkspartei Abgeordnete aus etlichen Wahlbezirken zurückzog, obwohl diese Partei bedingungslos die Politik des deutschen Imperialismus unterstützte. Mittlerweile unterstützten die Sozialistischen Monatshefte (im Prinzip keine Parteipublikation, doch im Endeffekt das theoretische Organ der Revisionisten) offen die Kolonialpolitik Deutschlands und die Ansprüche des deutschen Imperialismus auf eine Neuaufteilung der Kolonien.

Allmähliche Integration in den Staat

Tatsächlich ging die volle Mobilisierung der Partei für die Parlamentswahlen Hand in Hand mit ihrer allmählichen Integration in den Staatsapparat. Die indirekte Zustimmung zum Etat im Juli 1910,[93] die wachsende Kooperation mit bürgerlichen Parteien (die bis dahin ein kein Thema gewesen war), wie der Verzicht auf die Nominierung eigener Kandidaten, um die Wahl von Abgeordneten der bürgerlichen Freiheitlichen Volkspartei zu ermöglichen, die Nominierung eines Kandidaten für die Bürgermeisterwahlen in Stuttgart – dies waren einige der Schritte der SPD auf dem Weg zur direkten Beteiligung an der Leitung der staatlichen Administration.

Dieser ganze Trend in Richtung einer zunehmenden Vernetzung der Parlamentsaktivitäten der SPD und ihre Identifizierung mit dem Staat wurde von der Linken gegeißelt, insbesondere von Anton Pannekoek und Luxemburg. Pannekoek widmete ein ganzes Buch den Taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung. Luxemburg, die äußerst alarmiert war wegen der erstickenden Effekte des Parlamentarismus, drängte auf die Initiative und Aktion der Basis: „Aber der ideale Parteivorstand wird nichts ausrichten können, wird unwillkürlich im bürokratischen Schlendrian  versinken, wenn die natürliche Quelle seiner Tatkraft, der Wille der Partei, sich nicht bemerkbar macht, wenn der kritische Gedanke, die eigene Initiative der Parteimasse schläft. Ja noch mehr. Ist die eigne Energie, das selbständige geistige Leben der Parteimasse nicht rege genug, dann haben ihre Zentralbehörden den ganz natürlich Hang dazu, nicht bloß bürokratisch zu verrosten, sondern auch eine völlig verkehrte Vorstellung von der eignen amtlichen Autorität und Machtstellung gegenüber der Partei zu bekommen. Als frischer Beweis kann der jüngste sogenannte ‚Geheimerlass‘ unsres Parteivorstandes an die Parteiredaktionen dienen, ein Versuch der Bevormundung der Parteipresse, der nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann. Aber auch hier gilt es sich wieder klarzumachen: Gegen Schlendrian wie gegenüber übermäßige Machtillusionen der Zentralbehörden der Arbeiterbewegung gibt es kein andres Mittel als die eigene Initiative, eigne Gedankenarbeit, eignes frisch pulsierendes politisches Leben der großen Parteimasse.“[94] In der Tat beharrte Luxemburg ständig auf die Notwendigkeit, dass die Masse der Parteimitglieder „aufwacht“ und ihre Verantwortung gegen die degenerierende Parteiführung wahrnimmt. „ Die großen Massen müssen sich in einer ihnen eignen Weise betätigen, ihre Massenenergie, ihre Tatkraft entfalten können, sie müssen sich selbst als Masse rühren, handeln, Leidenschaft, Mut und Entschlossenheit entwickeln.“[95]

„Jeder Schritt vorwärts im Emanzipationskampfe der Arbeiterklasse muss zugleich eine wachsende geistige Verselbständigung ihrer Masse, ihre wachsende Selbstbestätigung, Selbstbestimmung und Initiative bedeuten (…) Die Hauptsache für eine normale Entwicklung des politischen Lebens in der Partei, die Lebensfrage der Sozialdemokratie beruht somit darauf, dass der politische Gedanke und der Wille der Masse der Partei stets wach und tätig bleiben, dass sie sie in steigendem Maße zur Aktivität befähigen(…)

Wir haben freilich den jährlichen Parteitag als oberste Instanz, die den Willen der Gesamtpartei periodisch fixiert. Aber es ist klar, dass die Parteitage nur große allgemeine Richtlinien der Taktik für den Kampf der Sozialdemokratie geben können. Die Anwendung dieser Richtlinien in der Praxis erfordert eine ständige, unermüdliche Gedankenarbeit, Schlagfertigkeit und Initiative. (…) Diese ganze Aufgabe der täglichen politischen Wachsamkeit und Initiative einem Parteivorstand zuschieben zu wollen, auf dessen Kommando die bald millionenköpfige Parteiorganisation passiv wartet, ist das Verkehrteste, was es gibt, vom Standpunkt des proletarischen Klassenkampfes. Das ist zweifellos jener verwerfliche ‚Kadavergehorsam‘, den unsere Opportunisten durchaus in der selbstverständlichen Unterordnung aller unter die Beschlüsse der Gesamtpartei suchen wollen.“.[96]

Fraktionsdisziplin erdrosselt individuelle Verantwortung

Am 4. August 1914 stimmte die parlamentarische Fraktion der SPD einmütig für die Kriegskredite. Die Parteiführung und die Parlamentsfraktion hatten „Fraktionsdisziplin“ eingefordert. Die Zensur (staatliche Zensur oder Selbstzensur?) und eine falsche Einheit der Partei folgten ihrer eigenen Logik, dem genauen Gegenteil von persönlicher Verantwortung. Der Degenerationsprozess bedeutete, dass die Fähigkeit zum kritischen Denken und Widerstand gegen die falsche Parteieinheit aufgezehrt war. Die moralischen Werte der Partei wurden auf dem Altar des Kapitals geopfert. Im Namen der Parteidisziplin forderte die Partei die Aufgabe des proletarischen Internationalismus. Karl Liebknecht, dessen Vater es gewagt hatte, eine Unterstützung der Kriegskredite im Jahr 1870 abzulehnen, beugte sich nun dem Druck durch die Partei. Erst einige Wochen später, im Anschluss an eine erste Neugruppierung von Genossen, die dem Internationalismus treu geblieben waren, wagte er es, offen seine Ablehnung der Kriegsmobilisierung durch die SPD-Führung zum Ausdruck zu geben. Doch das Votum der SPD für die Kriegskredite hatte eine Lawine von Demutsgesten gegenüber dem Nationalismus in anderen europäischen Ländern ausgelöst. Mit dem Verrat der SPD unterzeichnete die 2. Internationale ihren eigenen Hinrichtungsbefehl und löste sich auf.

Der Aufstieg der opportunistischen und revisionistischen Strömung, die am deutlichsten in den größten Parteien der 2. Internationalen auftauchte und die das Ziel des Sturzes der kapitalistischen Gesellschaft preisgab, bedeutete, dass das proletarische Leben, der Kampfgeist und die moralische Empörung aus der SPD oder zumindest aus den Reihen ihrer Führung und ihrer Bürokratie gewichen waren. Gleichzeitig war dieser Prozess untrennbar verknüpft mit der programmatischen Degeneration der SPD, was in ihrer Weigerung, die neuen Waffen des Klassenkampfes, den Massenstreik und die Selbstorganisation der ArbeiterInnen, anzuwenden, und in der allmählichen Preisgabe des Internationalismus sichtbar wurde. Der Degenerationsprozess der deutschen Sozialdemokratie, der kein isoliertes Phänomen in der 2. Internationalen war, führte 1914 zu ihrem Verrat. Zum ersten Mal hatte eine politische Organisation der ArbeiterInnen nicht nur die Interessen der Arbeiterklasse verraten, sie wurde darüber hinaus zu einer der wirksamsten Waffen in den Händen der kapitalistischen Klasse, um den Krieg zu entfesseln und die Arbeiterrevolte gegen den Krieg zu zerschmettern. Die Lehren aus der Degeneration der Sozialdemokratie bleiben somit kreuzwichtig für die heutigen Revolutionäre.

Heinrich/Jens

 

 

 

[1] Mit 38,5% der Stimmen errang die SPD 110 Sitze im Reichstag.

[2] Karl Kautsky wurde 1854 in Prag geboren; sein Vater war ein Bühnenbildner und seine Mutter eine Schauspielerin und Schriftstellerin. Die Familie zog nach Wien, als Kautsky sieben Jahre alt war. Er studierte an der Wiener Universität und schloss sich 1875 der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) an. 1880 hielt er sich in Zürich auf und leistete Hilfsdienste beim Schmuggel sozialistischer Literatur nach Deutschland.

[3] August Bebel wurde 1840 in einem heutigen Außenbezirk von Köln geboren. Mit 13 Vollwaise geworden, ging er bei einem Zimmermann in die Lehre und reiste als junger Mann ausgiebig durch Deutschland. Er traf 1865 Wilhelm Liebknecht und war sofort beeindruckt über Liebknechts internationale Erfahrung; in seiner Autobiographie erinnert sich Bebel: „Donnerwetter, von dem kann man was lernen“ (Bebel, Aus meinem Leben, Berlin 1946, zitiert in: James Joll, The Second International). Gemeinsam mit Liebknecht wurde Bebel einer der herausragenden Führer in den frühen Jahren der deutschen Sozialdemokratie.

[4] Dies wird deutlich sichtbar in Lenins Ein  Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, wo er sich mit der Krise in der RSDAP 1903 befasste. Auf die Zukunft der Menschewiki angesprochen, schreibt er: “Die Mentalität des Zirkelwesens und einer erstaunlichen Unreife in Parteidingen, die außerstande ist, den frischen Wind in aller Öffentlichkeit geführter Diskussionen zu ertragen, offenbarte sich hier anschaulich (…) Man stelle sich bloß vor, dass in der deutschen Partei solch ein Unsinn, ein solches Gezänk möglich wäre wie die Beschwerde über eine „falsche Beschuldigung des Opportunismus“! Proletarische Organisation und Disziplin haben dort längst mit der intelligenzlerischen Waschlappigkeit Schluss gemacht (…) Nur das verknöchertste Zirkelwesen mit seiner Logik: Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag‘ ich dir den Schädel ein, konnte wegen einer gegen die Mehrheit der Gruppe “Befreiung der Arbeit“ erhobenen „falschen Beschuldigung des Opportunismus“ zu Hysterie, Gezänk und Parteispaltung führen.“ (Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, j) Die unschuldigen Opfer der falschen Beschuldigung des Opportunismus)

[5] Rosa Luxemburg, Die Krise der deutschen Sozialdemokratie (besser bekannt als Junius-Broschüre), Kapitel 1, in Gesammelte Werke, Band 4, S. 55.  Luxemburgs Broschüre ist eine wichtige Lektüre für jeden, der die grundlegenden Ursachen des Ersten Weltkriegs zu begreifen versucht.

[6] Ebenda, S. 55

[7] Das Zentralorgan der SPD.

[8] Auch bekannt als die Eisenacher Partei, benannt nach der Stadt ihrer Gründung.

[9] 9) Marx, Erste Adresse des Generalrats der IAA über den Bürgerkrieg in Frankreich, https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1870/07/23-adrs1.htm [93]

[10] Eine ähnliche Tendenz überlebte im französischen Sozialismus aus Nostalgie für das Programm der „Nationalwerkstätten“, die der revolutionären Bewegung 1848 gefolgt war.

[11] Vgl. Toni Offermann in Between reform and revolution: German socialism and communism from 1840 to 1990, Berghahn Books, 1998, S. 96.

[12] Es ist heute bekannt unter dem Titel: Kritik des Gothaer Programms.

[13] Marx an Bracke, 5. Mai 1875, MEW 34, S. 137

[14] Engels an Bebel, März 1875, MEW 34, S. 126 ff.

[15] Zitiert in: Georges Haupt, Aspects of international socialism 1871-1914, Cambridge University Press&Editions de la Maison des Sciences de l’Homme.

[16] Die parlamentarische Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 geschah somit in klarer Vergewaltigung der Statuten und Parteitagsbeschlüsse der SPD, wie Rosa Luxemburg betonte.

 

[17] Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs, Marx-Engels-Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 233–235.

[18] Jedoch sollte nicht vergessen werden, dass die russische Autokratie extremer war: Der russische Pendant zum Reichstag, die Staatsduma, wurde erst unter dem Druck der revolutionären Bewegung von 1905 einberufen.

[19] Vgl. JP Nettls bemerkenswerte Biographie über Rosa Luxemburg, S. 81 (Schocken Paperback edition der Kurzfassung der Oxford University Press 1969, mit einem einleitenden Essay von Hannah Arendt). In diesem Artikel haben wir sowohl aus der gekürzten als auch aus der ungekürzten Fassung zitiert.

[20] Es ist bedeutsam, dass, während die Partei den rechten Reformismus tolerierte, die „Jungen“, die vehement die Gewichtsverlagerung zum Parlamentarismus kritisierten, auf dem Erfurter Parteitag aus der Partei ausgeschlossen wurden. Es ist richtig, dass diese Gruppe im Wesentlichen eine intellektuelle und literarische Opposition mit anarchistischen Tendenzen (eine Reihe ihrer Mitglieder schlitterte nach dem Verlassen der SPD in den Anarchismus) war. Es ist dennoch kennzeichnend, dass die Partei viel schroffer auf eine Kritik durch die Linke reagierte als auf die durch und durch opportunistische Praxis der Rechten.

[21] Vgl. Jacques Droz, Histoire générale du socialisme, S. 41, Editions Quadrige/PUF, 1974.

[22] Brief an Kautsky, 1896, zitiert bei Droz, ob. zit., S. 42, Übersetzung IKS.

[23] Bernsteins revisionistische Strömung war keinesfalls eine isolierte Ausnahme. In Frankreich trat der Sozialist Millerand gemeinsam mit General Gallifet, dem Henker der Pariser Kommune, der Regierung von Waldeck-Rousseau bei; eine ähnliche Tendenz existierte in Belgien; die britische Labour-Bewegung wurde völlig dominiert vom Reformismus und von einem engstirnigen nationalistischen Gewerkschaftstum.

[24] „Aber die Kolonialfrage ist viel mehr als bloß eine Menschlichkeitsfrage. Sie ist eine Menschheitsfrage und eine Kulturfrage ersten Ranges. Sie ist die Frage der Ausbreitung der Kultur und, solange es große Kulturunterschiede gibt, der Ausbreitung oder, je nachdem, Behauptung der höheren Kultur. Denn früher oder später tritt es unvermeidlich ein, dass höhere und niedere Kultur auf einander stoßen, und in Hinblick auf diesen Zusammenstoß, diesen Kampf ums Dasein der Kulturen ist die Kolonialpolitik der Kulturvölker als geschichtlicher Vorgang zu werten. Dass sie meist aus anderen Motiven und mit Mitteln, sowie in Formen betrieben wird, die wir Sozialdemokraten verurteilen, wird in den konkreten Fällen uns zu ihrer Ablehnung und Bekämpfung bewegen, kann aber kein Grund sein, unser Urteil über die geschichtliche Notwendigkeit des Kolonisierens zu ändern.“ Eduard Bernstein, Die Kolonialfrage und der Klassenkampf, (November 1907) Quelle: Sozialistische Monatshefte. Sozialistische Monatshefte. - 11 = 13 (November 1907), S. 988–996.

 

[25] Vgl. Nettl, ob. zit., S. 101.

[26] Parvus, ebenfalls als Alexander Helphand bekannt, war eine merkwürdige und kontroverse Figur in der revolutionären Bewegung. Nach einigen Jahren auf der Linken in der Sozialdemokratie in Deutschland, dann in Russland in der Revolution von 1905, zog er in die Türkei, wo er eine Firma aufbaute, die mit Waffen handelte, und verdiente sich an den Erlösen aus den Balkan-Kriegen reich. Gleichzeitig profilierte er sich als finanzieller und politischer Berater der nationalistischen Bewegung der Jungtürken und gab die nationalistische Publikation Turk Yurdu heraus. Während des Krieges wurde Parvus ein offener Anhänger des deutschen Imperialismus, sehr zum Leid Trotzkis, dessen Ideen zur „permanenten Revolution“ er stark beeinflusst hatte (vgl. Deutscher, Trotzki, „Der Krieg und die Internationale“).

[27] Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Gesammelte Werke, Bd. 1/1, S. 441.

[28] „Parteitag der Sozialdemokratie“, Oktober 1898 in Stuttgart, Rosa Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 1/1, S. 241.

[29] Rosa Luxemburg, Parteifragen im „Vorwärts“, 29.9.1899, Gesammelte Werke, Bd. 1/1, S. 565, 1899.

[30] Rosa Luxemburg, ebenda, S. 578.

 

[31] August Bebel,  Dresden, 13-20.1903, zitiert bei Luxemburg, „Nach dem Jenaer Parteitag“, Ges. Werke, Bd. 1/1, S. 351.

[32] „Unser leitendes Zentralorgan“, Leipziger Volkszeitung, 22.9.1899, Rosa Luxemburg in: Ges. Werke, Bd. 1/1, S. 558.

[33] Darüber hinaus hat “Bernstein (…) seine Revision des sozialdemokratischen Programms mit dem Aufgeben der Theorie des kapitalistischen Zusammenbruchs angefangen. Da aber der Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft ein Eckstein des wissenschaftlichen Sozialismus ist, so musste die Entfernung dieses Ecksteins logisch zum Zusammenbruche der ganzen sozialistischen Auffassung bei Bernstein führen.“ (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Zusammenbruch; Gesammelte Werke Bd. 1/1, S. 436).

[34] „Ich bin Ihnen sehr dankbar für die Mitteilungen, die mich über die Lage der Dinge orientieren. Dass Bernstein in seinen bisherigen Ausführungen nicht mehr auf dem Boden unseres Programms steht, war mir natürlich klar, dass man aber auch ganz die Hoffnung auf ihn aufgeben muss, ist sehr schmerzlich. Es wundert mich allerdings, dass Sie und Genosse Kautsky, falls Sie die Sachlage in dieser Weise auffassten, nicht die günstige Stimmung, die durch den Parteitag geschaffen war, zu einer sofortigen energischen Debatte benutzen wollten, sondern erst Bernstein zu einer Broschüre veranlassten, die die Diskussion verschleppen wird“ (Rosa Luxemburg, Ges. Briefe, Bd. 1, Brief an Bebel, 31.10.1898).

[35] Rosa Luxemburg, Ges. Briefe, Bd. 1, S. 289, Brief an Leo Jogiches, 11. März 1899.

[36] Kautsky an Bernstein, 29.7.1899, IISG-Kautsky-Nachlass, C. 227, C. 230, zitiert in: Till Schelz-Brandenburg, Eduard Bernstein und Karl Kautsky, Entstehung und Wandlung des sozialdemokratischen Parteimarxismus im Spiegel ihrer Korrespondenz 1879 bis 1932, Köln, 1992.

[37] Rosa Luxemburg, „Parteifragen im Vorwärts“, Gesammelte Werke, Bd. 1/1, S. 564, 29.9.1899.

[38] Laschitza, Im Lebensrausch, Trotz alledem, S. 104, 27.10.1898, Kautsky-Nachlass C209: Kautsky an Bernstein.

[39] Karl Kautsky an Victor Adler, 20.7.1905, in: Victor Adler, Briefwechsel, a.a.O. S. 463, Zitiert von Till Schelz-Brandenburg, S. 338.

 

[40] Rosa Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 1/1, S. 528, zitierend „Kautsky zum Parteitag in Hannover“. Neue Zeit 18, Stuttgart 1899-1900, 1. Bd., S. 12.

[41] Rosa Luxemburg, Zum kommenden Parteitag (1899), Freiheit der Kritik und der Wissenschaft, Gesammelte Werke, Bd. 1/1, S. 527.

[42] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 279, Brief an Leo Jogiches, 3.3.1899.

[43] Ebenda, Bd. 1, S. 426, Brief an Leo Jogiches, 21.12.1899.

[44] Luxemburg machte es zu einer Frage der Ehre, selbst jenen Parteimitgliedern volle Unterstützung als Agitatorin zu gewähren (sie war sehr gefragt als öffentliche Rednerin), die sie am schärfsten kritisierte, zum Beispiel in der Wahlkampagne des  Revisionisten Max Schippel.

[45] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 491, Brief an Leo Jogiches, 7.7.1890.

[46] Rosa Luxemburg, „Erklärung“, Ges. Werke, Bd. ½, S. 146, 1.10.1901.

[47] Auf dem Lübecker Parteitag wurden die Neue Zeit und Kautsky als ihr Herausgeber von den Opportunisten wegen der Kontroverse über den Revisionismus scharf angegriffen.

[48] JP Nettl, Rosa Luxemburg, Bd. 1, S. 192 (das Zitat hier ist der ungekürzten Fassung entnommen), R. Luxemburg, Brief an Kautsky, 3.10.1901.

[49] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 565, Brief an Jogiches, 12.1.1902.

[50] Zitiert von Nettl, ob. zit., S. 127.

[51] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 3, Brief an Kostja Zetkin, 27.6.1908.

[52] Ebenda, Bd. 3, S. 57, Brief an Kostja Zetkin, 1.8.1909.

 

[53] Rosa Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 1/1, S. 239, 245; „Parteitag der Sozialdemokratie in Stuttgart, Oktober 1898“.

[54] Ebenda, S. 255, „Nachbetrachtungen zum Parteitag 12.-14.Oktober“.

[55] Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 279, Brief an Jogiches, 3.3.1899.

[56] Ebenda, S. 384, Brief an Jogiches, 24.9.1899.

[57] Ebenda, S. 322, Brief an Jogiches, 1.5.1899.

[58] Kautsky an Bernstein, 29.10.1898, IISG, Amsterdam, Kautsky-Nicolas, C210.

[59] Laschitza, ebenda, S. 129 (Ignaz Bauer in einem Brief an Bernstein). In seiner Histoire générale du socialisme beschreibt Jacques Droz Auer wie folgt: „Er war ein ‚Praktiker‘, ein ‚Reformist‘ in der Praxis, der es genoss, nichts über Theorie zu wissen, aber so nationalistisch war, dass er vor sozialistischen Zuhörern die Annexion Elsass-Lothringens pries und sich der Wiederherstellung Polens widersetzte, so zynisch, dass er die Autorität der Internationale ablehnte; in Wahrheit unterstützte er die Linie der  Sozialistischen Monatshefte und ermutigte aktiv die Entwicklung des Reformismus.“ (S. 41)

[60] Laschitza, ebenda, S. 130.

[61] Laschitza, ebenda, S. 136, in: Sächsische Arbeiterzeitung, 29.11.1899.

[62] Rosa Luxemburg war sich über die Feindschaft ihr gegenüber schon sehr früh im Klaren. Auf dem Hannoveraner Parteitag 1899 wollte die Führung sie nicht über die Frage der Zölle sprechen lassen. Sie beschrieb deren Verhalten in einem Brief an Jogiches: „Wir wollen das doch lieber in der Partei abmachen, d.h. in der Sippschaft) So ist es bei ihnen immer: Brennt die Bude, her der Jude, ist der Brand aus, Jude hinaus“ (R. Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 317) Victor Adler schrieb 1910 an Bebel „Ich habe ja Gemeinheit genug in mir um einige Schadenfreude daran zu haben, was Karl jetzt an seiner Freundin erlebt – aber es ist wirklich arg – das giftige Luder wird noch sehr viel Schaden anrichten, um so größeren, weil sie blitzgescheit ist, während ihr jedes Gefühl für Verantwortung vollständig fehlt und ihr einziges Motiv eine geradezu perverse Rechthaberei ist.“ (Nettl, 1, S. 432, ungekürzte Fassung, Victor Adler an August Bebel, 5.8.1910)

[63] 63)Die satirische Wochenzeitung Simplicissimus publizierte ein scheußliches Gedicht, das sich gegen Luxemburg richtete:

“Nur eines gibt es, was ich wirklich hasse:
Das ist der Volksversammlungsrednerin.
Der Zielbewussten, tintenfrohen Klasse.
Ich bin der Ansicht, dass sie alle spinnen.
Sie taugen nichts im Hause, nichts im Bette.
Mag Fräulein Luxemburg die Nase rümpfen,
Auch sie hat sicherlich – was gilt die Wette? –
Mehr als ein Loch in ihren woll’nen Strümpfen
.”

(Laschitza, S. 136, Simplicissimus, 4. Jahrgang, Nr. 33, 1899/1900, S. 263).

[64] Frölich, Paul, „Gedanke und Tat“, Rosa Luxemburg, Dietz-Verlag Berlin, 1990, S. 62.

[65] R. Luxemburg, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 316, Brief an Jogiches, 27. April 1899.

[66] ebenda, Bd. 3, S. 89, Brief an Clara Zetkin, 29.9. 1909.

[67] ebenda, Bd. 3, S. 268, Brief an Kostja Zetkin, 30. 11. 1910. Diese Zeilen wurden von der spießbürgerlichen Reaktion in der Parteiführung  auf einen Artikel provoziert, den sie über Tolstoi verfasst hatte und der sowohl als irrelevant (künstlerische Artikel waren nicht wichtig) als auch als unerwünscht betrachtet wurde, da er einen Künstler pries, der sowohl Russe als auch Mystiker war.

 

[68] Da die Partei eine große Zahl an Zeitungen besaß, von denen die meisten nicht unter ihrer direkten Kontrolle standen, hing es oft von der Haltung der lokalen Redaktionen ab, ob Artikel der linken Strömung veröffentlicht wurden. Der linke Flügel hatte seine größte Leserschaft in Leipzig, Stuttgart, Bremen und Dortmund.

[69] Nettl 1, S. 421 (ungekürzte Fassung).

[70] Ebenda, S. 464 (ungekürzte Fassung).

[71] Sozialdemokratie des Königreichs von Polen und Litauen (Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy – SDKPiL). Die Partei wurde 1893 als Sozialdemokratie des Königreichs Polen (SDKP) gegründet, ihre bekanntesten Mitglieder waren Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Julian Marchlewski und Adolf Warszawski. Sie wurde zur SDKPiL im Anschluss an der Verschmelzung mit der Arbeiterunion in Litauen, die unter anderem von Feliks Dzierżyński angeführt wurde. Eines der wichtigsten charakteristischen Kennzeichen der SDKPiL war ihr unerschütterlicher Internationalismus und ihre Überzeugung gewesen, dass die nationale Unabhängigkeit Polens nicht im Interesse der ArbeiterInnen war und dass die polnische Arbeiterbewegung sich im Gegenteil eng mit der russischen Sozialdemokratie und besonders mit den Bolschewiki verbünden sollte. Dies versetzte sie in einen permanenten Widerspruch zur polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socialistyczna – PPS), die unter der Führung von Josef Pilsudski, der später (ähnlich wie Mussolini) zum Diktator Polens werden sollte, eine immer nationalistischere Orientierung einschlug.

[72] Es sollte daran erinnert werden, dass Polen nicht als eigenständiges Land existierte. Der Hauptteil des historischen Polens war Bestandteil des Zarenreiches, während andere Teile von Deutschland und Österreich-Ungarn geschluckt worden waren.

[73] Sie wurde im März 1906 zusammen mit Leo Jogiches, der ebenfalls nach Polen zurückgekehrt war, inhaftiert. Es gab ernsthafte Sorgen um ihre Sicherheit, wobei die SDKPiL kundtat, dass sie physische Repressalien gegen Regierungsbeamten anwenden würde, falls Luxemburg irgendetwas zustoßen sollte. In einer Mischung aus List  und Hilfe von ihrer Familie gelang es, sie aus den zaristischen  Klauen zu befreien, aus denen sie nach Deutschland zurückkehrte. Jogiches wurde zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt, doch auch ihm gelang es, aus dem Gefängnis zu fliehen.

[74] Den vollständigen Text gibt es auf: marxists.org.

[75] Siehe die Artikelreihe über 1905 (4) in der Internationalen Revue, Nr. 48,49,50.

[76] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 344.

[77] Rosa Luxemburg, „Das Offiziösentum der Theorie“, Ges. Werke, Bd. 3, S. 306, erstmals veröffentlicht in Neue Zeit, 1912.

[78] Die Debatte zwischen Kautsky, Luxemburg und Pannekoek wurde auf Französisch unter dem Titel Socialisme, la voie occidentale, Presses Universitaires de France, veröffentlicht.

[79] Rosa Luxemburg, „Theorie und Praxis“, Ges. Werke, Bd. 2, S. 380, erstmals veröffentlicht in Neue Zeit, 28. Jahrgang, 1909/10, als Antwort auf Kautskys Artikel „Was nun?“

[80] Ebenda, S. 398.

[81] R. Luxemburg, „Die totgeschwiegene Wahlrechtsdebatte“ in: Ges. Werke, Bd. 3, S. 441, 17.8.1910.

[82] Auf Englisch veröffentlicht unter dem Titel Marxist theory and revolutionary tactics (5)

[83] Damals schrieb eine andere wichtige Gestalt der holländischen Linken, Herman Gorter, an Kautsky: „Taktische Differenzen bringen oft auch zwischen Freunden Entfremdung. Bei mir war das nicht der Fall, wie du bemerkt hast. Trotzdem dass du Pannekoek und Rosa, mit denen ich im Allgemeinen übereinstimme, oft scharf kritisiertest (also auch mich), blieb ich dir gegenüber derselbe der ich immer war.“ (Gorter, Brief an Kautsky, Dezember 1914, Kautsky-Archiv IISG, DXI 283, zitiert in: Herman Gorter, Herman de Liagre Böhl, Nijmwegen, 1973, S. 105) Und „Aus alter Liebe und Verehrung unterließen wir es in der ‚Tribune‘ immer so viel wie möglich dich zu bekämpfen“.(ebenda)

[84] 84) Rosa Luxemburg, Ermattung oder Kampf, Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 374.

[85] Nettl, I, S. 401 (ungekürzte Fassung).

[86] Eine Hauptschwäche der militanteren Deklarationen war die Idee simultaner Aktionen. So verabschiedete die sozialistische Jugend Belgiens eine Resolution, in der stand: “Es ist die Pflicht der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften aller Länder, sich dem Krieg entgegenzustellen. Die wirksamsten Mittel dieses Widerstands sind Generalstreik und Erhebung gegen die Kriegsmobilisierung.“ (The danger of war and the Second International, Die Kriegsgefahr und die Zweite Internationale J. Jemnitz, p. 17).Doch diese Mittel wären nur von Nutzen gewesen, wenn sie simultan in allen Ländern angewandt worden wären, mit anderen Worten: kompromissloser Internationalismus und antimilitaristische Aktion waren für jedermann Bedingung, der dieselbe Position teilte.

[87] Dieter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 1869-1917, Dietz-Verlag, Berlin, 1987, S. 120.

[88] R. Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 3, S. 34; erstmals veröffentlicht in: Leipziger Volkszeitung, 30.8.1911.

[89] Ebenda, S. 43.

[90] Ebenda, S. 11.

[91] „Ich bin in einer vollkommen absurden Lage – Ich muss mich verantwortlich verhalten und mich somit zum Schweigen verurteilen, obwohl, wenn ich meinen eigenen Wünschen folgte, ich mich auch gegen die Führung stellen würde.” (J.Jemnitz, S. 73, Brief von Bebel an Kautsky). Bebel starb am 13. August in einem Schweizer Sanatorium an Herzversagen.

[92] In einem Artikel „Partei und breite Schicht“ schrieb er: “In Deutschland gibt es jetzt etwa eine Million Parteimitglieder. Für die Sozialdemokratie werden dort etwa viereinviertel Millionen Stimmen abgegeben, während es etwa 15 Millionen Proletarier gibt. (…)Eine Million gehört der Parteiorganisation an. Viereinviertel Millionen – das ist die „breite Schicht“. Er betonte, dass „In Deutschland beispielsweise ist annähernd einfünfzehntel der Klasse in der Partei organisiert; in Frankreich etwa 1/140. In Deutschland kommen auf ein Parteimitglied 4-5 Sozialdemokraten der „breiten Schicht, in Frankreich 14“.  Lenin fügte hinzu: Die Partei – das ist die bewusste, fortgeschrittenste Schicht der Klasse, ihre Vorhut. Die Kraft dieser Vorhut übersteigt ihre Zahl um das Zehn-, das Hundertfache und mehr. (…) Organisation verzehnfacht die Kräfte“ (Lenin, Wie W. Sassulitsch das Liquidatorentum erledigt, September 1913, Gesammelte Werke, Band 19, S. 396).

[93] Rosa Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 2, S. 378.

[94] R. Luxemburg, „Wieder Masse und Führer“, Ges. Werke, Bd. 3, S. 40, 29.8.1911)erstmals veröffentlicht in: Leipziger Volkszeitung.

[95] R. Luxemburg, Ges. Werke, Bd. 3, S. 253, „Taktische Fragen“, Juni 1913.

[96] „Wieder Masse und Führer“, ebenda, S. 39.

Historische Ereignisse: 

  • Verrat der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg [94]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Angebliche "Arbeiterparteien" [95]

Rubric: 

Erster Weltkrieg – Verrat einer ehemaligen Arbeiterpartei

INTERNATIONALISME Nr. 38 – Oktober 1948: Über das Wesen und die Funktion der politischen Partei des Proletariats

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Einleitung der IKS

Das Dokument, das wir hier publizieren, erschien zum ersten Mal 1948 in der Zeitschrift Internationalisme, dem Organ einer kleinen Gruppe mit dem Namen Französische Kommunistische Linke, auf die sich die IKS seit ihrer Gründung 1975 beruft. Wiederveröffentlicht wurde dieses Dokument in den 1970er Jahren im Studien- und Diskussionsbulletin der Gruppe Révolution International in Frankreich, die später zur französischen Sektion der neugegründeten Internationalen Kommunistischen Strömung (IKS) wurde. Dieses Bulletin war seinerseits Vorläufer des theoretischen Organs der IKS, der Internationalen Revue. Sein Ziel war die Konsolidierung der neuen Gruppe Révolution International und ihrer jungen Militanten durch einen theoretische Denkprozess und eine bessere Kenntnis der Geschichte der Arbeiterbewegung, einschließlich der Geschichte ihrer Konfrontationen mit den neuen theoretischen Fragen, die die Geschichte stellte.

Hauptziel dieses Textes ist die Ergründung der historischen Bedingungen, die den Aufbau und die Aktivitäten der revolutionären Organisationen bestimmen. Die bloße Idee einer solchen Festlegung ist grundlegend. Auch wenn die Gründung und die Aufrechterhaltung einer revolutionären Organisation die Frucht des militanten Willens ist, aktiver Faktor der Geschichte zu sein, ist die Form, die sich dieser Wille gibt, nicht  losgelöst von der gesellschaftlichen Realität und vor allem nicht unabhängig vom Niveau der Kampfbereitschaft und des Bewusstseins in den breiten Arbeitermassen. Die Auffassung, dass die Bildung einer Klassenpartei allein vom „Willen“ der Militanten abhängt, zeichnete den Trotzkismus der 1930er Jahre, aber auch den gegen Ende des Zweiten Weltkrieges neu gebildeten "Partito Comunista Internazionalista" (IKP), dem Vorgänger der zahlreichen bordigistischen Gruppen und der heutigen Internationalen Kommunistischen Tendenz (dem ehemaligen IBRP), aus. Der Artikel von Internationalisme unterstreicht aus unserer Sicht absolut berechtigt, dass es sich hier um zwei grundlegend verschiedene Konzeptionen der politischen Organisation handelt: eine idealistisch-voluntaristische und eine materialistisch-marxistische. Bestenfalls führte die voluntaristische Konzeption zu einem genuinen Opportunismus – so wie es bei der IKP und ihren Nachfolgern der Fall war; schlimmstenfalls führte sie zur Versöhnung mit dem Klassenfeind und zum Übertritt ins Lager der herrschenden Klasse – wie bei den Trotzkisten.

Für die junge Generation nach '68 liegt die Bedeutung der theoretischen und historischen Reflexion über diese Frage auf der Hand. Es ging darum, die IKS vor den Auswirkungen des blinden Aktivismus und der typischen Ungeduld dieser Periode zu schützen (auch wenn wir weit davon entfernt sind, immun dagegen zu sein), die so viele Gruppen und Militanten zum Rückzug aus dem politischen Leben geführt haben.

Wir sind absolut überzeugt, dass dieser Text auch heute für die junge Generation völlig relevant ist, besonders weil er darauf beharrt, dass die Arbeiterklasse nicht lediglich eine soziologische Kategorie ist, sondern eine Klasse, die eine besondere Aufgabe in der Geschichte hat: die Überwindung des Kapitalismus und der Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft. Die Rolle der Revolutionäre hängt auch von der historischen Periode ab. Wenn die Situation es der Arbeiterklasse unmöglich macht, den Verlauf der Ereignisse zu beeinflussen, ist es nicht die Rolle der Revolutionäre, diese Realität zu ignorieren und sich Illusionen zu machen, ihre Intervention könne den Gang der Dinge ändern. Sie muss sich vielmehr einer weitaus weniger spektakulären Aufgabe zuwenden: die Vorbereitung der theoretischen und politischen Bedingungen für eine Intervention, die die zukünftigen Klassenkämpfe beeinflusst.

Einleitung von Internationalisme

Unsere Gruppe hat es sich zur Aufgabe gemacht, die großen Probleme zu untersuchen, die die Notwendigkeit des Wiederaufbaus einer neuen revolutionären Arbeiterbewegung beinhalten. Wir müssen die Evolution der kapitalistischen Gesellschaft zum Staatskapitalismus und der alten Arbeiterbewegung berücksichtigen, die eine Zeit lang die kapitalistische Klasse unterstützten, um die Arbeiterklasse hinter diese zu scharen. Wir müssen ebenfalls untersuchen, wie und was aus dieser alten Arbeiterbewegung von der kapitalistischen Klasse für ihre Ziele genutzt werden kann. Darüber hinaus ist es unsere Aufgabe zu untersuchen, was seit dem Kommunistischen Manifest in der Arbeiterbewegung gültig geblieben ist und was ungültig wurde.

Es war für uns völlig normal, die Probleme zu untersuchen, die von der Revolution und vom Sozialismus gestellt werden. Dies vor Augen, hatten wir bereits eine Arbeit über den Staat nach der Revolution präsentiert und stellen heute die Studie über die Probleme der revolutionären Partei des Proletariates zur Diskussion.

Wir müssen uns bewusst sein, dass diese Frage eine der wichtigsten der revolutionären Arbeiterbewegung ist. Hier standen Marx und die Marxisten den Anarchisten, gewissen demokratisch-sozialistischen und der revolutionär-syndikalistischen Tendenzen gegenüber. Diese Frage stand im Zentrum der Bemühungen von Marx, der sich vor allem gegenüber verschiedenen Organismen kritisch verhielt, die sich „Arbeiterparteien“, „Sozialistische Parteien“, Internationale oder ähnlich genannt hatten. Obwohl er gelegentlich aktiv am Leben einiger dieser Organismen teilgenommen hatte, betrachtete er sie niemals als politische Gruppen, in denen, in Anbindung an einer Äußerung im Kommunistischen Manifest, Kommunisten sich als  „Avantgarde des Proletariats“ ausdrücken konnten. Das Ziel der Kommunisten war es, die Aktivitäten dieser Organismen so weit wie möglich zu treiben und gleichzeitig sich jede Möglichkeit einer Kritik und autonomen Organisierung zu erhalten. Dann erfolgte anlässlich der von Lenin in Was tun? vorgestellten Ideen die Spaltung der sozialdemokratischen Partei Russlands in eine menschewistische und eine bolschewistische Tendenz. Es war dasselbe Problem, das unter den marxistischen Gruppen, die mit der Sozialdemokratie gebrochen hatten, die Rätekommunisten und die KAPD mit der Dritten Internationale entzweiten. Auch in den Divergenzen zwischen der Gruppe von Bordiga und Lenin über die Frage der „Einheitsfront“, die von Lenin und Trotzki vorbereitet und von der 3. Internationale angenommen wurde, ging es um diese Frage. Schlussendlich bleibt dasselbe Problem eine der Hauptmeinungsverschiedenheiten unter den verschiedenen Oppositionsgruppen, zwischen den "Trotzkisten" und den "Bordigisten"; und in der Tat war es ein Diskussionsthema in allen damaligen Gruppen.

Heute müssen wir eine kritische Untersuchung all dieser Ausdrücke der revolutionären Arbeiterbewegung machen. Wir hoffen, aus diesem Prozess - d.h. aus dem Ausdruck unterschiedlicher Denkrichtungen in dieser Frage - eine Strömung herauszuziehen, die unserer Ansicht nach den revolutionären Standpunkt am besten ausdrückt, um somit zu versuchen, das Problem für die zukünftige revolutionäre Arbeiterbewegung zu formulieren.

Wir müssen ebenfalls kritisch die Auffassungen untersuchen, die zur Organisationsfrage entwickelt wurden, um zu bestimmen, was im revolutionären Ausdruck des Proletariats bestehen bleibt, was überholt ist und welche neuen Probleme sich stellen.

Es ist klar, dass eine solche Arbeit nur dann Früchte tragen kann, wenn sie zwischen den Gruppen und innerhalb der Gruppen diskutiert wird, die eine neue revolutionäre Arbeiterbewegung wiederaufzubauen beabsichtigen.

Die Untersuchung, die wir heute vorstellen, ist also ein Beitrag zu dieser Diskussion, sie hat keine anderen Absichten, auch wenn sie in Thesen formuliert ist. Ihr Ziel ist vor allem, die Kritik und Diskussion zu stimulieren und nicht endgültige Lösungen anzubieten. Es ist eine Untersuchungsarbeit, die weniger auf Akzeptanz oder Ablehnung abzielt, sondern schlicht und einfach andere Arbeiten über diese Frage anregen will.

Das Hauptziel dieser Untersuchung ist die „Manifestation des revolutionären Bewusstseins“ im Proletariat. Doch es gibt eine Vielzahl von programmatischen Fragen, welche sich auf die Partei beziehen, die hier nur gestreift werden: organisatorische Probleme, Probleme des Verhältnisses zwischen der Partei und Organismen wie die Arbeiterräte, Probleme bezüglich der Haltung der Revolutionäre angesichts der Formierung etlicher Gruppen, die behaupten,  DIE revolutionäre Partei  zu sein, oder versuchen, eine solche aufzubauen, Probleme, die sich durch die Aufgaben vor und nach der Revolution ergeben, usw.

Daher sollten Militante, die verstehen, dass die Aufgabe der Stunde die Untersuchung dieser mannigfaltigen Probleme ist, aktiv in der Diskussion teilnehmen, entweder mit ihren eigenen Zeitschriften oder - für diejenigen, die zur Zeit nicht über solche Möglichkeiten verfügen - in diesem Bulletin.

Die entscheidende Rolle des Bewusstseins für die proletarische Revolution

1. Die Idee der Notwendigkeit eines politischen Organismus innerhalb des Proletariats scheint eine Errungenschaft in der sozialistischen Arbeiterbewegung zu sein.

Es ist wahr, dass die Anarchisten  stets gegen den Begriff „politisch“ für diesen Organismus  protestiert haben. Doch der Protest der Anarchisten gründete auf der Tatsache, dass sie den Begriff der politischen Aktion immer in einem sehr engen Sinne verstanden haben, war er doch für sie Synonym einer Aktion für gesetzliche Reformen: Beteiligung an den Wahlen und am bürgerlichen Parlament usw. Doch weder die Anarchisten noch irgendeine andere Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung verneinten den Zusammenschluss der sozialistischen Revolutionäre in Assoziationen, die mittels Aktion und Propaganda die Aufgabe übernehmen, in den Arbeiterkämpfen zu intervenieren und sie zu orientieren. Und jede Gruppe, die sich die Aufgabe stellt, den sozialen Kämpfen eine Richtung zu verleihen, ist eine politische Gruppe.

In diesem Sinne ist der Ideenstreit um den politischen oder nicht-politischen Charakter dieser Organisationen nicht mehr als ein Wortgefecht, das im Grunde hinter allgemeinen Phrasen konkrete Divergenzen über die Orientierung, über die Ziele und die dazu notwendigen Mittel verbirgt. Mit anderen Worten: präzise politische Divergenzen.

Wenn heute neue Tendenzen aufkommen, die die Notwendigkeit einer politischen Organisation für das Proletariat in Frage stellen, so ist das eine Folge aus der Degeneration von Parteien, die einst Organisationen des Proletariats gewesen waren, und ihres Übertritts ins Lager des Kapitalismus: die Sozialistischen und Kommunistischen Parteien. Politische Begrifflichkeiten und politische Parteien leiden heute unter einer Diskreditierung, selbst im bürgerlichen Milieu. Doch was zu den erheblichen Schwächen geführt hat, ist nicht die Politik an sich, sondern eine BESTIMMTE Politik. Politik ist nichts anderes als die Orientierung, die sich die Menschen bei der Organisation ihres gesellschaftlichen Lebens geben. Von dieser Tätigkeit abzukehren  bedeutet, jegliche Entschlossenheit aufzugeben, dem gesellschaftlichen Leben eine Orientierung zu geben und es folglich umzuwandeln. Es bedeutet, sich der Gesellschaft, so wie sie besteht, zu unterwerfen und sie zu akzeptieren.

2. Der Begriff der Klasse ist im Wesentlichen ein historisch-politischer Begriff und nicht lediglich eine ökonomische Klassifizierung. Ökonomisch sind alle Menschen Teil desselben Produktionssystems in einer gegebenen Periode. Die Teilung, die sich auf die unterschiedlichen Stellungen stützt, die die Menschen in demselben Produktions- und Verteilungssystem einnehmen und die den Rahmen dieses Systems nicht überschreiten, kann nicht zur Grundlage der  historischen Notwendigkeit seiner Überwindung werden.  Die Trennung in ökonomische Kategorien ist nur ein konstanter innerer Widerspruch, der sich mit diesem System entwickelt, doch sie bleibt innerhalb seiner Grenzen. Die historische Opposition ist sozusagen etwas Äußeres, in dem Sinne wie sie sich dem ganzen System entgegenstellt. Und diese Opposition verwirklicht sich in der Zerstörung des bestehenden Gesellschaftssystems und in dessen Ersatz durch ein anderes System, das auf einer neuen Produktionsweise basiert. Die Klasse ist die Personifizierung dieser historischen Opposition und gleichzeitig die gesellschaftliche, menschliche Kraft zu ihrer Verwirklichung.

Das Proletariat existiert als Klasse im vollen Sinne des Begriffs erst durch die Orientierung, die es seinen Kämpfen gibt, nicht im Hinblick auf eine Verbesserung seiner Lebensbedingungen innerhalb des kapitalistischen Systems, sondern durch seinen Widerstand gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Der Übergang von der Kategorie zur Klasse, von den ökonomischen Kämpfen zum politischen Kampf ist kein evolutionärer Prozess, keine kontinuierliche und inhärente Entwicklung, aus der eine historische Klassenopposition automatisch und natürlich entsteht, nachdem sie aus schon lange in der ökonomischen Stellung der Arbeiter enthalten war. Es gibt einen dialektischen Sprung von dem einen zum anderen. Er besteht in der Bewusstwerdung der historischen Notwendigkeit für das Verschwinden des kapitalistischen Systems. Diese historische Notwendigkeit fällt mit dem Streben des Proletariats nach Befreiung von seiner Ausbeutung zusammen und ist in ihm enthalten.

3. Alle gesellschaftlichen Transformationen in der Geschichte haben als bestimmende Grundlage die Tatsache gemeinsam, dass die Entwicklung der Produktivkräfte mit den restriktiven Strukturen der alten Gesellschaft unvereinbar geworden ist. Der Grund für den Zusammenbruch des Kapitalismus liegt in seiner Unfähigkeit begründet, die von ihm entwickelten Produktivkräfte weiterhin zu beherrschen. Dies ist auch die Bedingung und historische Berechtigung seiner Überwindung durch den Sozialismus.

Doch nebst dieser Bedingung bleiben die Unterschiede zwischen den vergangenen Revolutionen (die bürgerliche inbegriffen) und der sozialistischen Revolution entscheidend und erfordern eine vertiefte Untersuchung durch die revolutionäre Klasse.

Was die bürgerliche Revolution zum Beispiel angeht, so waren die Produktivkräfte, die mit dem Feudalismus unvereinbar geworden waren, immer noch in einem System eingebettet, das auf dem Privateigentum einer besitzenden Klasse basierte. Infolgedessen entwickelte der Kapitalismus seine ökonomische Basis langsam und für eine lange Zeit innerhalb der feudalen Welt. Die politische Revolution folgte den ökonomischen Tatsachen und segnete sie ab. Deshalb unterliegt die Bourgeoisie nicht der zwingenden Notwendigkeit eines Bewusstseins über ihre ökonomische und soziale Bewegung. Ihre Handlungen werden direkt ausgelöst durch den Druck der Gesetze der ökonomischen Entwicklung, die wie blinde Naturkräfte walten und ihren Willen bestimmen. Ihr Bewusstsein ist etwas Zweitrangiges, es kommt nach den Fakten. Es registriert die Ereignisse, statt ihnen eine Richtung zu verleihen. Die bürgerliche Revolution ist noch Teil der Vorgeschichte der Menschheit, in der die Produktivkräfte die Menschen noch dominieren.

Der Sozialismus basiert im Gegenteil dazu auf einer Entwicklung der Produktivkräfte, die unvereinbar sind mit jeglichem individuellen oder gesellschaftlichen Besitz einer Klasse. Daher kann sich der Sozialismus nicht auf ökonomische Fundamente innerhalb des Kapitalismus stützen. Die politische Revolution ist die erste Bedingung für eine sozialistische Orientierung der Ökonomie und der Gesellschaft. Aus diesem Grunde kann sich der Sozialismus nicht anders realisieren als durch das Bewusstsein über die Endziele der Bewegung, das Bewusstsein über die Mittel des Kampfes und den bewussten Willen zur Tat. Das sozialistische Bewusstsein geht der revolutionären Aktion der Klasse voraus und bestimmt sie. Die sozialistische Revolution ist der Beginn der Geschichte, in der die Menschheit berufen ist, die Produktivkräfte, die sie schon weit entwickelt hat, zu beherrschen, und diese Beherrschung ist exakt das Ziel, das sich die sozialistische Revolution setzt.

4. Aus diesem Grunde sind alle Versuche, den Sozialismus durch praktische Projekte innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu realisieren, durch die eigentliche Natur des Sozialismus zum Scheitern verurteilt. Der Sozialismus erfordert zeitlich eine fortgeschrittene Entwicklung der Produktivkräfte und räumlich die gesamte Erde: Seine Vorbedingung ist der bewusste Wille der Menschen. Experimentelle Vorzeigemodelle des Sozialismus innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erreichen im besten Falle das Niveau einer Utopie. Sich auf diese Utopie zu fixieren führt dazu, den Kapitalismus zu konservieren und zu stärken. Sozialismus innerhalb des kapitalistischen Regimes kann nur ein theoretischer Ausdruck sein, seine Materialisierung kann nur die Form einer ideologischen Kraft annehmen, und seine Realisierung kann nur durch den revolutionären Kampf des Proletariats gegen die bestehende Gesellschaftsordnung vonstattengehen.

Und da die Existenz des Sozialismus sich zuallererst nur durch das sozialistische Bewusstsein ausdrücken kann, hat die Klasse, die es in sich trägt und verkörpert, nur durch dieses Bewusstsein eine historische Existenz. Die Bildung des Proletariats als historische Klasse ist nichts anderes als die Bildung seines sozialistischen Bewusstseins. Dies sind zwei Aspekte desselben historischen Prozesses, die getrennt undenkbar sind, da das eine ohne das andere nicht existieren kann.

Das sozialistische Bewusstsein entspringt nicht der ökonomischen Stellung der Arbeiter, es ist keine Widerspiegelung ihrer Bedingungen als Lohnabhängige. Aus diesem Grunde entwickelt sich das sozialistische Bewusstsein nicht simultan und spontan in den Köpfen der Arbeiter oder einzig und allein in ihren Köpfen. Der Sozialismus als Ideologie taucht separat von und parallel zu den ökonomischen Kämpfen der Arbeiter auf. Sie erzeugen einander nicht, obwohl sie sich gegenseitig beeinflussen. Beide sind in der historischen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft verwurzelt.

Die Herausbildung der Klassenpartei in der Geschichte

5. Wenn die Arbeiter nur durch das sozialistische Bewusstsein zu einer „Klasse an sich und für sich“ werden (ein Ausdruck von Marx und Engels), so kann man sagen, dass der Prozess der Konstituierung der Klasse mit dem Prozess der Formierung von Gruppen von revolutionären sozialistischen Militanten identisch ist. Die Partei des Proletariats ist nicht eine Auswahl oder eine „Delegation“ der Klasse, sie ist die Existenz- und Lebensweise der Klasse selbst. Genauso wenig wie man die Materie außerhalb ihrer Bewegung begreifen kann, kann man die Klasse ohne ihre Neigung zur Bildung von politischen Organismen verstehen. „Die Organisation der Proletarier zur Klasse und damit zur politischen Partei“ (Kommunistisches Manifest) ist keine zufällige Formulierung, sondern sie drückt das fundierte Denken von Marx und Engels aus. Ein Jahrhundert an Erfahrung hat meisterlich die Gültigkeit bestätigt, den Begriff der Klasse in dieser Weise zu verstehen.

6. Das sozialistische Bewusstsein wird nicht durch spontane Entstehung erzeugt, sondern reproduziert sich ohne Unterbruch. Und wenn es einmal das Tageslicht erblickt hat, wird es in seinem Gegensatz zur existierenden kapitalistischen Welt zum aktiven Prinzip, das seine eigene Weiterentwicklung durch die Tat bestimmt und beschleunigt. Jedoch wird diese Entwicklung durch die Entwicklung der kapitalistischen Widersprüche geprägt und eingeschränkt. In diesem Sinne ist die These von Lenin über das Bewusstsein, das von der Partei in die Arbeiterklasse injiziert wird, sicherlich exakter als Rosas These über die spontane Entwicklung von Bewusstsein, das im Verlauf einer Bewegung erzeugt wird, die mit den ökonomischen Kämpfen beginnt und im revolutionären sozialistischen Kampf kulminiert. Die „Spontaneitäts“-These birgt trotz ihrer demokratischen Erscheinungsweise im Grunde genommen eine schematische Tendenz, einen rigorosen ökonomischen Determinismus in sich. Sie geht vom Verhältnis zwischen Ursprung und Wirkung aus: Das sozialistische Bewusstsein sei nichts anderes als ein Effekt, das Ergebnis einer vorangegangenen Bewegung, d.h. ökonomischer Kämpfe der Arbeiter. Das sozialistische Bewusstsein ist nach dieser Auffassung etwas grundsätzlich Passives im Verhältnis zu den ökonomischen Kämpfen,  die den aktiven Faktor darstellen. Die Auffassung Lenins basiert auf dem sozialistischen Bewusstsein und der Partei, die ihren Charakter als ein wesentlicher aktiver Faktor und Prinzip materialisiert. Sie trennt die Partei nicht vom Leben und der Bewegung, sondern versteht sie als Teil davon.

7. Die grundsätzliche Schwierigkeit der sozialistischen Revolution liegt in dieser komplexen und widersprüchlichen Situation: Einerseits kann die Revolution nur durch die bewusste Tat der großen Mehrheit der Arbeiterklasse gemacht werden, andererseits trifft dieses Bewusstsein auf die Bedingungen, die der Kapitalismus für die Arbeiter schafft und die permanent das Bewusstsein der Arbeiter für ihre revolutionäre historische Mission  behindern und zerstören. Diese Schwierigkeit kann niemals unabhängig von der historischen Situation, allein durch die theoretische Propaganda überwunden werden. Aber noch weniger als durch die reine Propaganda kann dieses Problem durch die ökonomischen Kämpfe der Arbeiter gelöst werden. Ihrer eigenen Entwicklung überlassen, können die Kämpfe der Arbeiter gegen die kapitalistische Ausbeutung allenfalls zur Explosion von Revolten führen, d.h. zu negativen Reaktionen, die jedoch vollkommen ungenügend sind für die positive Tat der gesellschaftlichen Transformation, die ihrerseits nur durch das Bewusstsein über die Endziele der Bewegung möglich ist. Dieser Faktor kann nur das politische Element der Klasse sein, das seine theoretische Substanz nicht aus den Eventualitäten und dem Partikularismus der ökonomischen Position der Arbeiter bezieht, sondern aus der Bewegung der Möglichkeiten und den historischen Notwendigkeiten. Nur die Intervention dieses Faktors erlaubt es der Klasse, von der Ebene der rein negativen Reaktion auf die der positiven Aktion zu gelangen, von der Revolte zur Revolution.

8. Aber es wäre absolut verfehlt, die Klasse durch diese Organismen, die Ausdruck des Bewusstseins und der Existenz der Klasse sind, zu ersetzen und die Klasse als eine formlose Masse zu betrachten, die dazu bestimmt ist, als Material für diese politischen Organismen zu dienen. Dies hieße, die revolutionäre Konzeption des Verhältnisses zwischen Sein und Bewusstsein und zwischen Partei und Klasse  durch eine militaristische zu ersetzen. Die historische Funktion der Partei ist es nicht, ein Generalsstab zu sein, der die Aktionen einer Klasse anführt, die sowohl des Endziels als auch der unmittelbaren Ziele der Operationen  unkundig ist. Dies hieße, ihre Bewegung als eine Summe von Manövern zu betrachten.

Die sozialistische Revolution ist in keiner Weise mit einer militärischen Aktion vergleichbar. Ihre Umsetzung hängt vom Bewusstsein der Arbeiter ab, das ihre Entscheide und Taten diktiert.

Die Partei handelt nicht anstelle der Klasse. Sie beansprucht nicht das „Vertrauen“ im bürgerlichen Sinne des Wortes, mit anderen Worten: sie will nicht das Schicksal und Los der Gesellschaft überantwortet bekommen. Ihre einzige historische Funktion ist es, so zu handeln, dass die Klasse sich das Bewusstsein über ihre Mission, die Ziele und die Mittel aneignen kann, die das Fundament für ihre revolutionäre Tat bilden.

9. So wie wir das Konzept der Partei als Generalstab bekämpfen müssen, der anstelle der Klasse handelt, müssen wir auch das andere Konzept ablehnen, das ausgehend davon, dass „die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst“ sein muss (Inauguraladresse der Ersten Internationale), jegliche Rolle der Militanten und der revolutionären Partei verneint. Unter dem sehr lobenswerten Vorwand, den Arbeitern nicht ihren Willen aufzwingen zu wollen, drücken sich diese Genossen vor ihrer Aufgabe und individuellen Verantwortung und verbannen die Revolutionäre ans hintere Ende der Arbeiterbewegung.

Erstere stellen sich außerhalb der Klasse, in dem sie sie negieren und an deren Stelle handeln, Letztere stellen sich nicht weniger außerhalb der Klasse, indem sie die eigentliche Funktion der Klassenorganisation, d.h. der Partei, verleugnen, die eigene Existenz als revolutionären Faktor verleugnen und sich selbst ausschließen, indem sie sich jegliche eigene Aktion verbieten.

10. Ein korrektes Verständnis der Bedingungen der sozialistischen Revolution muss von folgenden Elementen ausgehen und sie verkörpern:

a) Der Sozialismus ist nur deshalb eine Notwendigkeit, weil die Entwicklung, die die Produktivkräfte erreicht haben, nicht mehr vereinbar ist mit einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft.

b) Diese Notwendigkeit kann nur durch den Willen und die bewusste Tat der unterdrückten Klasse Wirklichkeit werden, deren die gesellschaftliche Befreiung einhergeht mit der Befreiung der Menschheit von ihrer Entfremdung von den Produktivkräften, der sie bis anhin unterworfen war.

c) Der Sozialismus, der einerseits objektive Notwendigkeit und andererseits subjektiver Wille ist, kann sich letztendlich nur durch die bewusste revolutionäre Tat ausdrücken.

d) Die revolutionäre Tat ist undenkbar ohne revolutionäres Programm. Die Ausarbeitung des Programms ist ihrerseits untrennbar mit der Tat verbunden. Dies, weil die revolutionäre Partei ein „Körper der Lehre und ein Wille zur Tat“ ist (Bordiga), der die umfassendste Konkretisierung des sozialistischen Bewusstseins und das fundamentale Element zu dessen Realisierung ist.

11. Die Tendenz zur Konstituierung der Partei des Proletariats existiert seit der Geburt der kapitalistischen Gesellschaft. Aber solange die historischen Bedingungen für den Sozialismus nicht genügen entwickelt sind, bleiben die Ideen des Proletariats, wie die Entstehung der Partei, nur in einem embryonalen Stadium. Erst mit dem „Bund der Kommunisten“ tauchte zum ersten Mal diese vollendete Form einer politischen Organisation des Proletariats auf.

Wenn man die Entwicklung der Bildung der Klassenparteien näher betrachtet, sticht sofort die Tatsache ins Auge, dass die Organisierung in Parteien nicht in einem konstanten Fluss fortschreitet, sondern im Gegenteil Zeiten der großen Entwicklung kennt, die von Zeiten abgelöst werden, in denen die Partei verschwindet. Die organische Existenz der Partei hängt also nicht einzig vom Willen der Individuen ab, die diese bilden. Ihre Existenz wird von den objektiven Situationen bestimmt. Die Partei, grundlegend ein Organismus der revolutionären Tat der Klasse, kann nur in Situationen existieren, in denen die Klassenaktion sich entfaltet. Wenn die Bedingungen für die Klassenaktionen fehlen (wie in Zeiten wirtschaftlicher und politischer Stabilität des Kapitalismus oder in Folge entscheidender Niederlagen der Arbeiterkämpfe) kann die Partei nicht weiter existieren. Sie löst sich organisch auf, oder sie ist, um zu überleben, d.h. um Einfluss auszuüben, gezwungen, sich den neuen Bedingungen anzupassen, die die revolutionäre Tat ausschließen. So füllt sich die Partei unweigerlich mit einem neuen Inhalt. Sie wird reformistisch, das heißt, sie hört auf, Partei der Revolution zu sein.

Marx hat besser als die meisten die Bedingungen der Existenz der Partei verstanden. Zweimal unternahm er die Auflösung einer großen Organisation: Er sprach sich zuerst 1851 – nach der Niederlage der Revolution und dem Triumpf der Reaktion in Europa -, danach 1873 nach der Niederlage der Pariser Kommune ziemlich offen für die Parteiauflösung aus. Das erste Mal war es der Bund der Kommunisten, das zweite Mal die Erste Internationale.

Die Aufgabe der Stunde für die Revolutionäre

12. Die Erfahrung der Zweiten Internationale bestätigt die Unmöglichkeit für das Proletariat, seine Partei in einer länger anhaltenden Periode aufrechtzuerhalten, die von einer nicht-revolutionären Situation geprägt ist. Die Beteiligung der Parteien der Zweiten Internationale am imperialistischen Krieg von 1914 enthüllte nur die lange Korruption der Organisation. Die stets mögliche Durchlässigkeit der politischen Organisation des Proletariats für die Ideologie der herrschenden kapitalistischen Klasse kann in langen Perioden der Stagnation und des Rückflusses des Klassenkampfs einen solchen Umfang annehmen, dass die Ideologie der Bourgeoisie letztendlich die des Proletariats ersetzt, so dass die Partei zwangsläufig  von all ihrem Klasseninhalt entleert und zum Instrument der feindlichen Klasse wird.

Die Geschichte der Kommunistischen Parteien der Dritten Internationale hat von neuem die Unmöglichkeit, die Partei in einer Zeit des revolutionären Rückflusses zu retten, und ihre unvermeidliche Degeneration in einer solchen Periode aufgezeigt.

13. Aus diesem Grunde sind Parteigründungen, wie die trotzkistische Internationale seit 1935 und die kürzlich erfolgte Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei in Italien, nicht bloß willkürlich: Sie können darüber hinaus lediglich Unternehmungen der Konfusion und des Opportunismus sein. Anstatt Momente in der Bildung der zukünftigen Klassenpartei zu sein, sind diese Gebilde lediglich Hindernisse und durch ihren karikaturistischen Charakter eine Diskreditierung der Klassenpartei. Weit entfernt davon, die Reifung des Bewusstseins und eine Weiterentwicklung des alten Programms auszudrücken, das sie in Dogmen verwandelt haben, reproduzieren sie nur das alte Programm und sind Gefangene dieser Dogmen. Es ist nicht erstaunlich, wenn diese Gebilde die überholten und rückständigen Positionen der alten Partei übernehmen und diese noch verschlimmern, wie z.B. die Taktik des Parlamentarismus, die Arbeit in den Gewerkschaften usw.

14. Aber der Bruch in der organisatorischen Existenz der Partei bedeutet nicht einen Bruch in der Entwicklung der Klassenideologie. Die revolutionären Rückflüsse verkörpern in erster Linie die Unreife des revolutionären Programms. Die Niederlage ist das Signal für eine kritische Überprüfung der bisherigen programmatischen Positionen und für die Verpflichtung, auf der Grundlage der lebendigen Kampferfahrungen über sie hinaus zu gehen.

Diese positive, kritische Arbeit der programmatischen Weiterentwicklung wird von Organismen weitergeführt, die aus der alten Partei hervorgegangen sind. Sie bilden in der Phase des Rückflusses das aktive Element für die Bildung der zukünftigen Partei in einer neuen Periode des revolutionären Aufschwungs. Diese Organismen sind die linken Gruppen oder Fraktionen der Partei, die nach deren Auflösung oder ideologischen Entfremdung aus ihr hervorgegangen sind. Als da waren: die Fraktion von Marx in der Zeit nach der Auflösung des Bundes bis zur Bildung der Ersten Internationale, die linken Strömungen in der Zweiten Internationale (während des Ersten Weltkrieges), die die neuen Parteien und die Dritte Internationale 1919 gründeten; ebenfalls die linken Fraktionen und Gruppen, die die revolutionäre Arbeit nach der Degeneration der Dritten Internationale fortsetzten. Ihre Existenz und ihre Weiterentwicklung sind die Bedingung zur Bereicherung des Programms der Revolution und zur Neugründung der Partei von morgen.

15. Die alte Partei, einmal in den Dienst des Klassenfeindes übergetreten, hört definitiv auf, ein Milieu zu sein, in dem revolutionäres Gedankengut erarbeitet werden kann und in dem sich Militante des Proletariats formieren. Die Erwartung, dass Strömungen aus der Sozialdemokratie oder aus dem Stalinismus als Material für die Bildung der neuen Klassenpartei dienen könnten, bedeutet, das eigentliche Fundament des Parteigedankens zu ignorieren. Die Anhänglichkeit der Trotzkisten gegenüber den Parteien der Zweiten Internationale oder die verlogene Maulwurfsarbeit in diesen Parteien, mit dem Ziel, in diesem anti-proletarischen Milieu „revolutionäre“ Strömungen zu kultivieren, mit denen sie die neue Partei des Proletariates bilden wollen, demonstriert lediglich, dass sie selbst eine tote Strömung sind, ein Ausdruck der vergangenen Bewegung und nicht der Zukunft.

So wie die neue Partei der Revolution  nicht auf der Basis eines durch die Ereignisse überholten Programms gebildet werden kann, kann sie auch nicht mit Elementen aufgebaut werden, die organisch an Organisationen gebunden bleiben, die nie mehr der Arbeiterklasse angehören werden.

16. Die Geschichte der Arbeiterbewegung kannte nie eine düsterere Periode und einen tieferen Rückfluss des revolutionären Bewusstseins als die Gegenwart. Wenn sich die ökonomische Ausbeutung der Arbeiter als absolut ungenügende Bedingung für die Aneignung des Bewusstseins über ihre historische Mission herausstellt, dann zeigt sich damit, dass die Aneignung dieses Bewusstseins viel schwieriger ist, als es sich die revolutionären Militanten bisher vorstellten. Vielleicht muss die Menschheit, damit sich das Proletariat erholen kann, durch die Hölle eines Dritten Weltkriegs gehen, mit all dem Horror einer Welt im Chaos, und das Proletariat fühlbar vor dem sehr handfesten Dilemma stehen:  sterben oder sich durch die Revolution retten, damit es die Bedingungen hat, um sich selbst und sein Bewusstsein zu erholen.

17. Es ist nicht das Ziel dieser Thesen, die genauen Bedingungen herauszuarbeiten, die die Bewusstseinsentwicklung des Proletariats ermöglichen. Auch wollen wir nicht der Frage nachgehen, was die Bedingungen zur Bildung der Einheitsorganisationen sind, die sich das Proletariat für seinen revolutionären Kampf schaffen wird. Was wir auf der Grundlage der Erfahrungen der letzten dreißig Jahre kategorisch sagen können, ist, dass weder die ökonomischen Forderungen noch die ganze Palette der so genannten „demokratischen“ Forderungen (Parlamentarismus, Selbstbestimmungsrecht der Völker usw.), für die historische Tat des Proletariates von Nutzen ist. Was die Organisationsformen angeht, erscheint es noch klarer, dass es nicht die Gewerkschaften mit ihren vertikalen, berufsständischen und korporatistischen Strukturen sein können. All diese Organisationsformen gehören der Vergangenheit der Arbeiterbewegung an und werden ins Museum verbannt werden. Doch sie müssen auch in der Praxis abgeschafft und überwunden werden. Die neuen Organisationen werden einen Einheitscharakter haben, das heißt, den Großteil der Arbeiterklasse einbeziehen und die Trennung durch partikularistische, berufliche Interessen überwinden. Ihr Fundament ist die gesellschaftliche Ebene, ihre Struktur die Örtlichkeit. Die Arbeiterräte, wie sie ab 1917 in Russland und 1918 in Deutschland entstanden waren, sind der neue Typus der Einheitsorganisation der Klasse. In diesem Typus von Arbeiterräten und nicht in einer Auffrischung der Gewerkschaften werden die Arbeiter die geeignetste Form der Organisation finden.

Doch was auch immer die neuen Einheitsorganisationsformen der Klasse sind, sie ersetzen keineswegs die Notwenigkeit eines politischen Organismus, der die Partei ist, und auch nicht die entscheidende Rolle, die diese zu spielen hat. Die Partei bleibt der bewusste Teil der Klassenaktion. Sie ist die unabdingbare ideologische Antriebskraft für die revolutionäre Tat der Arbeiterklasse. In der gesellschaftlichen Aktion spielt sie eine vergleichbare Rolle wie die Energie in der Produktion. Der Wiederaufbau dieses Klassenorganismus hängt vom Erscheinen einer Tendenz innerhalb der Arbeiterklasse ab, mit der kapitalistischen Ideologie zu brechen und sich praktisch im  Kampf gegen das bestehende System zu engagieren, wobei dieser Wiederaufbau gleichzeitig eine Bedingung für die Beschleunigung und Vertiefung dieses Kampfes und die entscheidende Bedingung für dessen Erfolg ist.

18. Das Fehlen der für den Aufbau der Partei erforderlichen Bedingungen in der heutigen Periode sollte nicht zum Schluss führen, dass jede unmittelbare Aktivität der revolutionären Militanten unnütz oder unmöglich ist. Der Militante hat nicht  zu wählen wischen dem heiligen „Aktivismus“ des Parteiaufbaus und der individuellen Isolation, zwischen Abenteurertum und machtlosem Pessimismus, sondern er muss beide als dem revolutionären Geist gleichermaßen feindlich gesinnte Haltungen und als eine Gefahr für die Revolution bekämpfen. Wir müssen sowohl die voluntaristische Konzeption der militanten Aktion, die als alleiniger Faktor präsentiert wird, der die Klassenbewegung determiniert, als auch die schematische Parteiauffassung zurückweisen, die eine bloße passive Widerspiegelung der Bewegung ist. Militante müssen ihre Tätigkeit als ein Faktor verstehen, der im Zusammenspiel mit anderen Faktoren die Klassenaktion bedingt und bestimmt. Diese Auffassung verschafft das Fundament für die Notwendigkeit und den Wert der Aktivitäten des Militanten und setzt gleichzeitig die Grenzen seiner Möglichkeiten und seines Einflusses. Die Aktivitäten an die Bedingungen der gegenwärtigen Zeit anzupassen ist das einzige Mittel, diese Aktivitäten effizient und fruchtbar zu gestalten.

19. Der Versuch, die neue Klassenpartei trotz aller ungünstigen objektiven Umstände in aller Hast und um jeden Preis aufzubauen, entspringt einem voluntaristischen und infantilen Abenteurertum und einer falschen Einschätzung der Situation und ihrer unmittelbaren Perspektiven. Es ist schlussendlich eine völlige Unkenntnis über die Rolle der Partei und über das Verhältnis zwischen Partei und Klasse. Diese Versuche sind also fatalerweise zum Scheitern verurteilt; ihnen gelingt es bestenfalls lediglich, opportunistische Gruppierungen zu schaffen, die im Kielwasser der großen Parteien der Zweiten und Dritten Internationalen dümpeln. Ihre Existenz wird fortan allein durch die Entwicklung eines Geistes einer Kapelle und Sekte gerechtfertigt.

So sind alle diese Organisationen in ihrer positiven Einstellung durch ihren  unmittelbaren „Aktivismus“  nicht nur gefangen in den Zahnrädern des Opportunismus, sie produzieren in ihrer negativen Einstellung einen kleinkrämerischen Geist, der für eine Sekte typisch ist, ein Kirchturmpatriotismus ,wie auch eine ängstliche und abergläubische Anhänglichkeit an „Führer“, eine Karikatur der größeren Organisationen, eine Vergötterung von Organisationsregeln und eine Unterwerfung unter eine „freiwillige“ Disziplin, die in umgekehrter Proportionalität zu den Zahlen, die sie repräsentieren, noch tyrannischer und intoleranter wird.

Durch diesen doppelseitigen Charakter führt die willkürliche und verfrühte Bildung der Partei zur Negation des Aufbaus des politischen Organismus der Klasse, zur Zerstörung der Kader und über kurz oder lang zum unweigerlichen Verlust von Militanten, die verbraucht, ausgezehrt, ins Nichts gefallen und völlig demoralisiert sind.

20. Das Verschwinden der Partei - sei es durch ihre Schrumpfung und ihre organisatorische Verlagerung, wie es bei der Ersten Internationale der Fall war, sei es durch den Übertritt in den Dienst des Kapitalismus, wie bei den Parteien der Zweiten und Dritten Internationale - drückte jeweils das Ende einer Periode von revolutionären Kämpfen des Proletariats aus. Das Verschwinden der Partei ist also unvermeidlich, und weder der Voluntarismus noch die Präsenz eines mehr oder weniger brillanten Führers kann dies vermeiden.

Marx und Engels haben zweimal erlebt, wie die Organisation des Proletariats, in deren Leben sie beide eine wichtige Rolle gespielt hatten, zerbrach und starb. Lenin und Luxemburg mussten ohnmächtig dem Verrat der großen sozialdemokratischen Parteien zuschauen. Trotski und Bordiga konnten die Degeneration der Kommunistischen Parteien und ihre Umwandlung in monströse Apparate des Kapitalismus, wie wir sie seither kennen, nicht aufhalten.

Diese Beispiele zeigen uns nicht, dass die Partei etwas Sinnloses ist, so wie es etwa eine oberflächliche und fatalistische Analyse behaupten würde, sondern nur dass die notwendige Klassenpartei nicht auf der Basis einer einheitlich geradlinigen und ansteigenden Linie existiert, dass ihre eigentliche Existenz nicht immer möglich ist und dass ihre Entwicklung und ihre Existenz in einem Zusammenhang und in enger Verbindung mit dem Klassenkampf des Proletariats steht, der sie hervorbringt und dessen Ausdruck sie ist. Daher hat der Kampf der revolutionären Militanten innerhalb der Partei im Verlauf ihrer Degeneration und vor ihrem Tod als Arbeiterpartei eine revolutionäre Bedeutung, aber nicht die vulgäre Bedeutung, die ihr von den verschiedenen trotzkistischen Oppositionen verliehen wurde. Für Letztere geht es darum, die Partei aufzurichten, und dafür durfte die Organisation und ihre Einheit nicht gefährdet werden. Es geht für sie darum, die Organisation in ihrer alten Pracht zu erhalten, auch wenn die objektiven Bedingungen dies nicht mehr erlauben und wenn die ursprüngliche Pracht der Organisation nur noch zum Preis einer konstanten und wachsenden Veränderung ihres revolutionären Klassencharakters aufrechterhalten konnte. Sie suchen in organisatorischen Maßnahmen nach Heilmitteln, um die Organisation zu retten, ohne zu verstehen, dass der organisatorische Zusammenbruch stets die Widerspiegelung einer Periode des revolutionären Rückflusses ist und oft die bessere Lösung als das Überleben darstellt. Was die Revolutionäre zu retten haben, ist nicht die Organisation, sondern ihre Klassenideologie, die mit der Organisation unterzugehen droht.

Wenn man die objektiven Gründe für den unvermeidlichen Verlusts der alten Partei nicht versteht, dann begreift man auch die Aufgabe der Militanten in dieser Periode nicht. Einige kommen zu dem Schluss, dass, weil es ihnen nicht gelungen war, die alte Klassenpartei zu schützen, es notwendig sei, geradewegs eine neue  auf die Beine zu stellen. Ein solches Unverständnis kann, basierend auf einer voluntaristischen Konzeption der Partei, nur im Abenteurertum enden.

Eine richtige Analyse der Realität macht deutlich, dass der Tod der alten Partei exakt die Unmöglichkeit eines sofortigen Wiederaufbaus der Partei beinhaltet; sie bedeutet, dass die notwendigen Bedingungen für die Existenz jeglicher Partei, ob alte oder neue, gegenwärtig nicht existieren.

In einer solchen Periode können nur kleine revolutionäre Gruppen überleben, die die weniger organisatorische als ideologische Kontinuität sicherstellen. Diese Gruppen konzentrieren in sich die vergangenen Erfahrungen des Klassenkampfes und schaffen eine Verbindung zwischen den Parteien von gestern und jenen von morgen, zwischen dem Höhepunkt der Kämpfe und der Reifung des Klassenbewusstseins in einer Zeit des Aufschwungs sowie ihre Wiederauferstehung auf einer höheren Stufe in einer neuen Aufschwungperiode in der Zukunft.  In diesen Gruppen lebt die Ideologie der Klasse fort durch  die Selbstkritik ihrer Kämpfe, die kritische Überprüfung ihrer vergangenen Ideen, die Ausarbeitung ihres Programms, die Reifung ihres Bewusstseins und die Bildung neuer Kader, neuer Militanter für die nächste Stufe des revolutionären Sturmlaufs.

21. Die gegenwärtige Periode, in der wir leben, ist einerseits das Produkt der Niederlage der ersten großen revolutionären Welle des internationalen Proletariats, die den ersten imperialistischen Weltkrieg beendet hat und ihren Höhepunkt in der Oktoberrevolution von 1917 in Russland und der spartakistischen Bewegung von 1918-19 in Deutschland erreichte, und andererseits das Produkt einer tiefgreifenden Transformation in der polit- ökonomischen Struktur des Kapitalismus, der sich auf  seine ultimative und dekadente Form hin entwickelt: den Staatskapitalismus. Überdies existiert ein dialektisches Verhältnis zwischen dieser Entwicklung des Kapitalismus und der Niederlage der Revolution.

Trotz ihres heroischen Kampfgeistes, trotz der permanenten und unüberwindbaren Krise des kapitalistischen Systems und der beispiellosen Verschlimmerung der Lebensbedingungen der Arbeiter, konnte die Arbeiterklasse und ihre Avantgarde der Gegenoffensive des Kapitalismus nicht die Stirn bieten. Sie standen nicht mehr dem klassischen Kapitalismus gegenüber und wurden von seinen Transformationen überrascht, die sie vor Probleme stellten, auf die sie weder theoretisch noch politisch vorbereitet waren. Das Proletariat und seine Avantgarde, die lange Zeit und häufig den Kapitalismus mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln und den Sozialismus mit der Verstaatlichung gleichgesetzt hatten, wurden von den Tendenzen des modernen Kapitalismus zu staatlicher Konzentration und Wirtschaftsplanung verwirrt und desorientiert. Die große Mehrheit der Arbeiter wurde mit der Vorstellung zurückgelassen, dass diese Entwicklung eine neue gesellschaftliche Transformation vom Kapitalismus zum Sozialismus darstelle. Sie begannen diese Idee zu verinnerlichen, kehrten ihrer historischen Mission den Rücken und wurden die unerschütterlichsten Anhänger der kapitalistischen Gesellschaft.

Dies sind die historischen Gründe, die die gegenwärtige Physiognomie der Arbeiterklasse formen. So lange diese Bedingungen bestehen, solange die staatskapitalistische Ideologie die Köpfe der Arbeiterklasse dominieren, kann es nicht um den Wiederaufbau der Klassenpartei gehen. Nur durch den Verlauf der blutigen Katastrophen, die die Phase des Staatskapitalismus auszeichnen, wird das Proletariat den Unterschied zwischen dem befreienden Sozialismus und dem heutigen monströsen staatskapitalistischen Regime erkennen; nur so wird es eine wachsende Fähigkeit entwickeln, sich selbst von dieser Ideologie zu lösen, die es gegenwärtig und vernichtet. Nur dann wird der Weg wieder offen sein für „die Organisierung des Proletariats als Klasse und damit als politische Partei“. Diese Stufe wird umso schneller erreicht werden, wenn die revolutionären Kerne die notwendige theoretische Anstrengung unternommen haben, die benötigt werden, um auf die neuen Probleme, die durch den Staatskapitalismus gestellt werden, zu antworten und dem Proletariat helfen, seine Klassenlösung und die Mittel zu ihrer Durchsetzung zu finden.

22. In der gegenwärtigen Periode können die revolutionären Militanten nur durch die Bildung kleiner Gruppen überleben, die eine geduldige Propagandaarbeit in einem zwangsläufig limitierten Rahmen ausüben und gleichzeitig unermüdliche Anstrengungen der Untersuchung und theoretischen Klärung unternehmen.

Diese Gruppen werden ihre Aufgabe nur erfüllen können, wenn sie auf der Basis von Kriterien, die durch die Klassengrenzen bestimmt sind, national und international den Kontakt zu anderen Gruppen suchen. Nur diese Kontakte und ihre Vermehrung, mit dem Ziel, Positionen gegenüberzustellen und Probleme zu klären, ermöglichen es den Gruppen und Militanten, physisch und politisch dem schrecklichen Druck des Kapitalismus in der gegenwärtigen Periode zu widerstehen und einen echten Beitrag zum Emanzipationskampf des Proletariats zu leisten.

Die Partei von Morgen

23. Die Partei wird keine einfache Wiederholung der Partei von Gestern sein. Sie kann nicht nach dem alten Modell aus der Vergangenheit wiedererbaut werden. So wie ihr Programm, gründen sich auch ihre organische Struktur und das Verhältnis, das sie zwischen sich selbst und der Gesamtheit der Klasse etabliert hat, auf einer Synthese der vergangenen Erfahrungen und den neuen, fortgeschrittenen Bedingungen der gegenwärtigen Stufe. Die Partei folgt der Evolution des Klassenkampfes und entspricht auf jeder Stufe der Geschichte des Letzteren einer besonderen Form des politischen Organismus des Proletariats.

In den Anfängen des modernen Kapitalismus, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, unternahm die Arbeiterklasse, die sich noch in ihrer Phase der Konstituierung befand, sporadische und lokale Kämpfe und konnte nur  doktrinäre Denkschulen, Sekten und Bündnisse hervorbringen. Der Bund der Kommunisten war der fortschrittlichste Ausdruck dieser Periode, während sein Kommunistisches Manifest mit dem Aufruf: „Proletarier aller Länder – Vereinigt Euch!“ bereits ein Vorbote der kommenden Periode war.

Die Erste Internationale entsprach dem wirkungsvollen Auftritt des Proletariats auf der Bühne der sozialen und politischen Kämpfe in den wichtigsten Ländern Europas. So sammelte sie alle organisierten Kräfte der Arbeiterklasse mit all ihren unterschiedlichen ideologischen Strömungen. Die erste Internationale brachte alle Strömungen und alle anfälligen Aspekte des Klassenkampfes zusammen: ökonomisch, erzieherisch, politisch und theoretisch. Sie war der Gipfel der Einheitsorganisation der Arbeiterklasse in all ihrer Vielfalt.

Die Zweite Internationale markierte eine Stufe der Differenzierung zwischen den ökonomischen Kämpfen der Lohnarbeiter und dem gesellschaftspolitischen Kampf. In dieser Periode, als die kapitalistische Gesellschaft in voller Blüte stand, war die Zweite Internationale die Organisation des Kampfes für Reformen und für politische Eroberungen für die politische Bestätigung des Proletariats. Gleichzeitig markierte sie eine höhere Stufe in der ideologischen Abgrenzung des Proletariats durch die Klärung und Erarbeitung der theoretischen Grundlagen seiner revolutionären historischen Mission.

Der Erste Weltkrieg offenbarte die historische Krise des Kapitalismus und leitete die Epoche seines Niedergangs ein. Die sozialistische Revolution entwickelte sich von der theoretischen Ebene zu einer praktischen Demonstration. In der Hitze der Ereignisse hat sich das Proletariat gewissermaßen gezwungen gesehen, in aller Eile seine revolutionäre Kampforganisation zu gründen. Der monumentale programmatische Beitrag der ersten Jahre der Dritten Internationale erwies sich dennoch als unzureichend, um den riesigen Problemen zu  begegnen, die durch diese letzte Phase des Kapitalismus und durch die Aufgaben der revolutionären Transformation gestellt wurden. Gleichzeitig zeigten die lebendigen Erfahrungen schnell die allgemeine ideologische Unreife der gesamten Klasse. Angesichts dieser beiden Gefahren und unter dem Druck der Ereignisse, die sich in schneller Abfolge häuften, blieb der Dritten Internationale nichts anderes übrig, als mit organisatorischen Maßnahmen zu reagieren: eiserne Disziplin der Militanten, etc.

Dieser organisatorische Aspekt musste die Unvollständigkeit des Programms wettmachen und die Partei die Unreife der Klasse. Infolgedessen endete die Partei damit, die Klassenaktion selbst zu ersetzen, mit dem Resultat, dass sich die Vorstellungen über die Partei und ihr Verhältnis zur Klasse wandelten.

24. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen wird die zukünftige Partei auf der Wiederherstellung dieser Wahrheit gegründet werden: Wenn es in der Revolution ein organisatorisches Problem gibt, so ist das kein Problem der Organisation selbst. Die Revolution ist in erster Linie ein ideologisches Problem der Reifung des Bewusstseins in den breiten Massen des Proletariats.

Keine Organisation und keine Partei kann die Klasse selbst ersetzten, und mehr denn je zuvor gilt: „Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein.“ Die Partei, die die Kristallisierung des Klassenbewusstseins ist, ist weder unterschiedlich von noch synonym mit der Klasse. Die Klassenpartei bleibt zwangsläufig eine kleine Minderheit; sie hat keine Ambition, eine numerisch große Kraft zu sein. In keinem Moment kann sie sich von der lebendigen Tat der Klasse trennen, noch kann sie diese ersetzen. Ihre Funktion ist nach wie vor die ideologische Inspiration innerhalb der Bewegung und der Klassenaktion.

25. Während der aufständischen Periode der Revolution besteht die Rolle der Partei weder darin, die Macht für sich einzufordern, noch darin, die Massen aufzurufen, der Partei zu „vertrauen“. Sie interveniert und entfaltet ihre Aktivitäten zugunsten der Selbstorganisierung der Klasse, innerhalb derer sie den Triumph ihrer Prinzipien und der Mittel für die revolutionäre Tat anstrebt.

Die Mobilisierung der Klasse rund um die Partei, der sie die Führung „anvertraut“ oder die sie vielmehr in die Wüste schickt, ist ein Konzept, das einen Zustand der Unreife der Klasse widerspiegelt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es für die Revolution unter solchen Umständen unmöglich ist, zu siegen, und schnell degeneriert, was in einer Trennung der Klasse und der Partei resultiert. Letztere sieht sich veranlasst, mehr und mehr zu Zwangsmethoden zu greifen, um sich gegen die Klasse selbst durchzusetzen, und endet als ein großes Hindernis gegen den Vormarsch der Revolution.

Die Partei ist keine Organisation der Leitung und Ausführung; diese Funktionen gehören zur Einheitsorganisation der Klasse. Falls Militante der Partei an diesen Funktionen teilnehmen, übernehmen sie diese Aufgaben als Mitglieder der größeren Gemeinschaft des Proletariats.

26. In der post-revolutionären Periode, in der Periode der Diktatur des Proletariats, wird die Partei nicht die Einheitspartei sein, wie es das klassische Markenzeichen totalitärer Regimes ist. Letztere wird charakterisiert durch ihre Identifikation mit und Assimilierung in der Staatsmacht, die ihnen das Monopol überträgt. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die Klassenpartei des Proletariats dadurch aus, dass sie sich vom Staat unterscheidet, der ihre historische Antithese ist. Die totalitäre Einheitspartei tendiert dazu, sich aufzublähen und Millionen von Individuen zu einzuverleiben, was ein physisches Element ihrer Dominanz und Unterdrückung ist. Ganz im Gegenteil dazu bleibt die Partei des Proletariats von Natur aus eine strenge ideologische Auswahl, deren Militante keine materiellen oder sozialen Vorteile zu erlangen oder zu verteidigen haben. Ihr Privileg besteht lediglich darin, zu den klarsten Kämpfern zu gehören, der revolutionäre Sache am stärksten verpflichtet zu sein. So beabsichtigt die Partei nicht, eine große Anzahl von Militanten aufzunehmen, weil, wenn ihre Ideologie zur Ideologie größerer Massen wird, die Notwendigkeit für ihre eigene Existenz zu verschwinden tendiert und die Stunde ihre Auflösung geschlagen hat.

Das interne Regelwerk der Organisation

27. Die organisatorischen Regeln, die das interne Regelwerk der Partei begründen, sind genauso entscheidend wie ihr programmatischer Inhalt. Die vergangenen Erfahrungen, im speziellen die Erfahrungen der Parteien der Dritten Internationale, haben gezeigt, dass die Parteiauffassung aus einem einheitlichen Ganzen zusammensetzt. Organisationsregeln sind ein Aspekt und Ausdruck dieser Konzeption. Die Frage der Organisation ist nicht zu trennen von der Vorstellung, die man von der Rolle und Funktion der Partei und von ihrer Beziehung zur Klasse hat. Keine dieser Fragen existiert an sich, stattdessen bringen sie Elemente zusammen, die ein begründendes Element und Ausdruck des Ganzen sind.

Die Parteien der Dritten Internationale hatten die Regeln oder die innere Ordnung, die sie hatten, weil sie in einer Zeit der offensichtlichen Unreife der Klasse errichtet wurden, die zur Substitution durch die Partei statt der Klasse, zur Organisation statt zum Bewusstsein, zur Disziplin statt zur Überzeugung führte.

Die organisatorischen Regeln der zukünftigen Partei werden sich also auf einer sehr unterschiedlichen Konzeption der Rolle der Partei auf einer weitaus fortgeschritteneren Stufe des Kampfes stützen, basierend auf einer viel größeren ideologischen  Reife der Klasse.

28. Die Frage des demokratischen oder organischen Zentralismus, die einen wichtigen Platz in der Dritten Internationale eingenommen hat, hat ihre Relevanz für die zukünftige Partei verloren. Als die Klassenaktion sich auf die Aktion der Partei verließ, musste die Frage der maximalen praktischen Effizienz zwangsläufig die Partei dominieren und konnte darüber hinaus nur Teillösungen anbieten. 

Die Wirksamkeit der Aktion der Partei liegt nicht in der praktischen Tätigkeit  der Führung und Ausführung, sondern in ihrer ideologischen Aktion. Folglich liegt die Stärke der Partei nicht in der Unterwerfung ihrer Militanten unter die Disziplin, sondern in ihren Kenntnissen, in ihrer größeren ideologischen Entwicklung und in ihrer festen Überzeugung.

Die Regeln der Organisation kommen nicht von abstrakten Auffassungen, die auf den Sockel immanenter oder unanfechtbarer Prinzipien gehoben werden, seien sie demokratisch oder zentralistisch. Solche Prinzipien sind ohne Bedeutung. Wenn mangels einer geeigneteren Methode die Regelung von Entscheidungen der („demokratischen“) Mehrheit aufrechterhalten bleiben muss, bedeutet das auf keinen Fall, dass die Mehrheit per Definition das Monopol auf die Wahrheit und die richtigen Positionen besitzt. Eine richtige Position rührt von der größten Kenntnis des Objektes, vom höchstmöglichen Realitätsbezug her.

Die internen Regeln der Organisation müssen also mit ihren Zielen und so mit der Rolle der Partei korrespondieren. Wie wichtig auch immer die Effizienz ihrer praktischen unmittelbaren Aktion sein mag, die die Grundlage bieten kann, um eine größere Disziplin auszuüben, sie bleibt dennoch weniger wichtig als das maximale Gedeihen der Ansichten seiner Militanten und ist folglich diesem untergeordnet.

So lange wie die Partei ein Schmelztiegels bleibt, in dem die Klassenideologie entwickelt und vertieft wird, darf ihr Leitprinzip nicht nur die größtmögliche Gedankenfreiheit und die Vielfalt an Meinungen im Rahmen der ihrer programmatischen Prinzipien sein: Eine noch größere Sorge sollte sein, pausenlos das Feuerwerk der Gedanken aufrechtzuerhalten und zu erleichtern, indem die Mittel zur Diskussion und Konfrontation von Ideen und Tendenzen innerhalb der Organisation gestellt werden.

29. Betrachten wir die Konzeption der Partei von diesem Standpunkt aus, so liegt ihr nichts ferner als die monströse Vorstellung einer homogenen, monolithischen oder monopolistischen Partei.

Die Existenz von Tendenzen und Fraktionen innerhalb der Partei ist nicht nur etwas, das toleriert werden sollte, ein Recht, das einem zusteht, und damit Gegenstand der Diskussion.

Ganz im Gegenteil, die Existenz von Strömungen innerhalb der Partei ist – im Rahmen der erworbenen und verifizierten Prinzipien – eine der Manifestationen einer gesunden Konzeption der Idee der Partei.

Marco. Juni 1948

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Französische Kommunistische Linke [9]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [92]

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Organisationsfrage

1914: Wie das Blutvergießen begann

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2014: Ein Jahr des Vergessens

Selbst heute ist der Krieg, der im August 1914 begann, als der Große Krieg bekannt, trotz der Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg, der ihm 1939 folgte, mehr als doppelt so viele Menschen tötete, und trotz der Tatsache, dass die nicht enden wollenden Kriege seit 1945 für noch mehr Tote und Zerstörung als der II. Weltkrieg verantwortlich zeichnen.

Um zu verstehen, warum 1914–18 immer noch der „Große Krieg“ ist, muss man nur irgendein Dorf in Frankreich besuchen, und seien es die isoliertesten in seinen Alpenregionen, und die Namensaufrufe der Toten auf den Kriegsdenkmälern lesen: Ganze Familien stehen da – Brüder, Väter, Onkel, Söhne. Diese stummen Zeitzeugen des Schreckens stehen nicht nur in den Städten und Dörfern der europäischen Kriegsteilnehmer, sondern sogar auf der anderen Seite der Welt: Das Denkmal in der winzigen Siedlung von Ross auf der australischen Insel Tasmanien trägt die Namen von 16 Toten und 44 Überlebenden, vermutlich aus der Schlacht von Gallipoli. Der Menschheit war der Krieg nichts Fremdes, doch 1914 stürzte sie sich zum ersten Mal in einen Weltkrieg.

Für die beiden Generationen nach dem Krieg war 1914­–18 das Synonym für sinnloses Gemetzel, angetrieben von der gefühllosen, blinden Dummheit einer herrschenden Klasse von Aristokraten und der zügellosen Habgier imperialistischer Kriegsgewinnler und Waffenproduzenten. Trotz aller offiziellen Zeremonien, des Ablegens von Kränzen und  des Tragens von Mohnblumen am Gedenktag (wie in Großbritannien) ging diese Sicht auf den I. Weltkrieg in die Populärkultur der kriegführenden Nationen ein. In Frankreich hatte Gabriel Chevaliers autobiographischer Roman über das Leben in den Schützengräben, La Peur (Die Angst), 1930 veröffentlicht, solch einen enormen Erfolg, dass die Behörden kurzzeitig das Buch auf den Index setzten. 1937 wurde Jean Renoirs Antikriegsfilm La Grande Illusion (Die große Illusion) im Pariser Kino „Mariveaux“ ununterbrochen von 10 Uhr morgens bis zwei Uhr nachts gespielt; er schlug alle bisherigen Kassenrekorde, in New York wurde er 36 Wochen lang gespielt.[1]

Im Deutschland der 20er Jahre nahmen die satirischen Cartoons eines George Grosz die Generäle, Politiker und Profiteure aufs Korn, die sich am Krieg gütlich getan hatten. 1929 wurde das Buch des Kriegsveteranen Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, veröffentlicht; 18 Monate später waren 2,5 Millionen Exemplare in 22 Sprachen verkauft; die Filmversion der Universal Studios 1930 war ein Riesenerfolg in den USA und gewann einen Oscar für den „Besten Film“.[2]

Einen der größten Antikriegsromane hinterließ das sich auflösende österreichisch-ungarische  Habsburger Reich der Nachwelt: Jaroslav Hašeks Der brave Soldat Schwejk, 1923 veröffentlicht und seither in 58 Sprachen übersetzt – mehr als jedes andere tschechische Werk.

Der Abscheu in der Erinnerung an den 1. Weltkrieg überlebte das noch größere Blutvergießen des II. Weltkriegs. Verglichen mit den Schrecken von Auschwitz und Hiroshima verblasste die Barbarei des preußischen Militarismus und die zaristische Unterdrückung – ganz zu schweigen vom französischen und britischen Kolonialismus –, die die Rechtfertigung für den Krieg 1914 lieferten, nahezu bis zur Unkenntlichkeit, was das Gemetzel in den Schützengräben noch monströser und absurder machte: Der II. Weltkrieg konnte wenn nicht als ein „guter Krieg“, so doch wenigstens als ein gerechter und notwendiger Krieg dargestellt werden. Nirgendwo ist dieser Widerspruch deutlicher als in Großbritannien, wo eine Flut von Filmen über die Helden des „Guten Kriegs“ (Dambuster 1955, 633 Squadron 1964, etc.) in den 50er und 60er Jahren auf den Leinwänden erschien, während gleichzeitig 15-jährige SchülerInnen Antikriegs-Schriften von Poeten wie Wilfred Owen, Siegfried Sassoon und Robert Graves lesen mussten.[3] Die vielleicht schönste Komposition von Benjamin Britten, des bekanntesten britischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, war sein War Requiem (1961), das Owens Poesie in Musik umsetzte, während 1969 zwei sehr unterschiedliche Filme die Kinoleinwände stürmten: Schlacht um England, ein patriotischer Streifen, und die böse Satire Oh what a lovely war! (O welch reizender Krieg), der es gelang, eine musikalische Anprangerung des Ersten Weltkriegs zu bewerkstelligen, indem Original-Soldatenlieder aus den Schützengräben benutzt wurden.

Zwei weitere Generationen später befinden wir uns am Vorabend des 100. Jahrestages des Kriegsausbruchs am 4. August 1914. Angesichts der symbolischen Bedeutung von runden Jahrestagen und mehr noch von Hundertjahrfeiern sind Vorbereitungen im Gange, um des Krieges zu gedenken („feiern“ ist vielleicht nicht das richtige Wort). In Großbritannien und Frankreich wurden Haushaltsmittel von zig Millionen Euros bzw. Pfund abgezweigt; in Deutschland sind aus offensichtlichen Gründen die Vorbereitungen diskreter und haben keinen offiziellen Segen durch die Regierung.[4]

„Wer die Musik bezahlt, bestimmt, was sie spielt“: Was also erhalten die herrschenden Klassen für die zig Millionen, die sie bewilligten, um „des Krieges zu gedenken“?

Ein Blick auf die Websites der für die Gedenkfeiern verantwortlichen Organisationen (in Frankreich eine spezielle Körperschaft, die von der Regierung aufgestellt wurde; in Großbritannien – angemessenerweise – das Imperial War Museum) und die Antwort scheint klar zu sein: Sie kaufen sich dafür eine der teuersten Nebelwände der Geschichte. In Großbritannien widmet sich das Imperial War Museum der Aufgabe, Geschichten von Individuen zusammenzubringen, die während des Krieges lebten, und sie in Podcasts zu verwandeln.[5] Die Website Centenary Project (1914.org) bietet solch wichtigen Vorkommnisse an wie z.B. die museale Zurschaustellung des „Revolvers von J.J.R. Tolkien im Ersten Weltkrieg“ (wir machen keine Witze – wahrscheinlich ist der Hintergedanke dabei, vom Erfolg der Verfilmung von Herr der Ringe zu profitieren) oder die Sammlung von „Bus Stories“ aus dem I. Weltkrieg durch das Londoner Verkehrsmuseum (ernsthaft!). Der BBC hat eine „bahnbrechende“ Dokumentation produziert: „Der Erste Weltkrieg von oben“ – Foto- und Filmmaterial, aufgenommen aus Flugzeugen oder Beobachtungsballons. Auch die Pazifisten kommen mit dem Gedenken an die Kriegsdienstverweigerer nicht zu kurz. Kurz, wir werden in einem Meer von Details und gar Belanglosigkeiten ertränkt. Laut des Generaldirektors des Imperial War Museum ist „unsere Ambition (…), dass viel mehr Leute verstehen werden, dass man die Welt von heute nicht begreifen kann, es sei denn, man versteht die Ursachen, den Verlauf und die Konsequenzen des Ersten Weltkrieges“[6], eine Aussage, der wir 100% zustimmen würden. Doch die Realität ist, dass alles Mögliche unternommen wurde – und der ehrenwerte Generaldirektor macht keine Ausnahme –, um uns daran zu hindern, diese Gründe und Konsequenzen zu verstehen.

In Frankreich verfasste die Hundertjahr-Website den unfehlbaren, offiziellen „Bericht an den Präsidenten über das Gedenken an den Großen Krieg“, datiert vom September 2011[7], der mit folgenden Worten aus der Rede General de Gaulles zum 50. Jahrestag im Jahr 1964 beginnt: „Am 2. August 1914 wurde die Mobilmachung verkündet, das ganze französische Volk stand geschlossen auf. Dies war niemals zuvor geschehen. Alle Regionen, alle Distrikte, alle Kategorien, alle Familien, alle Lebewesen machten mit einem Male gemeinsame Sache. Im Nu verschwanden alle politischen, sozialen, religiösen Streitereien, die das Land gespalten hatten. Von einem Ende der Nation bis zum anderen drückten Worte, Lieder, Tränen und vor allem die Ruhe eine einzige Entschlossenheit aus.“ Und in dem Bericht selbst lesen wir: „Auch wenn die Hundertjahrfeier unter unseren Zeitgenossen Grauen über das Massengemetzel und die immensen Opfer, die damals akzeptiert wurden, auslösen wird, so wird sie auch einen Schauder durch die französische Gesellschaft schicken und uns an die Einheit und den nationalen Zusammenhalt erinnern, die die Franzosen angesichts der Prüfung des I. Weltkrieges an den Tag legten.“ Es erscheint daher unwahrscheinlich, dass die herrschende Klasse Frankreichs beabsichtigt, uns irgendetwas über die brutale Polizeirepression gegen die Antikriegsdemonstration von ArbeiterInnen im Juli 1914 oder über die infame „Carnet B“ (eine Regierungsliste von sozialistischen und syndikalistischen anti-militaristischen Militanten, die zusammengetrieben und interniert bzw. bei Kriegsausbruch an die Front geschickt wurden – die Briten hatten ihr eigenes Äquivalent) mitzuteilen, gar nicht zu sprechen von den Umständen, unter denen der Antikriegs-Sozialist Jean Jaurès am Vorabend des Konfliktes ermordet wurde, oder von den Meutereien in den Schützengräben…[8]

Wie immer können die Propagandisten auf die Unterstützung der gelehrten Herren aus der akademischen Welt zählen, die sie mit Themen und Material für ihre Talkshows und TV-Sendungen versorgen. Wir möchten nur ein Beispiel nennen, das uns sinnbildlich erscheint: The Sleepwalkers von Christopher Clarke von der Cambridge Universität, dessen erste Auflage 2012 und dessen Taschenbuchauflage 2013 veröffentlicht wurde und das bereits ins Französische (Les Somnambules) und ins Deutsche (Die Schlafwandler) übersetzt wurde.[9] Clark ist ein schamloser Empiriker. Und seine Einleitung legt seine Absichten ganz offen dar: „Dieses Buch (…)befasst sich weniger damit, warum der Krieg geschah, sondern vielmehr damit, wie es dazu kam. Fragen nach dem Warum und dem Wie sind logischerweise nicht voneinander zu trennen, aber sie führen uns in unterschiedliche Richtungen. Die Frage nach dem Wie lädt uns dazu ein, näher auf die Abfolge von Wechselwirkungen zu schauen, die bestimmte Ergebnisse zeitigten. Im Gegensatz dazu lädt uns die Frage nach dem Warum dazu ein, uns auf die Suche nach entfernten und kategorischen Ursachen zu begeben: Imperialismus, Nationalismus, Rüstungen, Bündnisse, Hochfinanz, Ideen der nationalen Ehre, die Mechanismen der Mobilisierung.“ (eigene Übersetzung, d. Red.) Was auf Clarks Liste fehlt, ist der „Kapitalismus“. Konnte der Kapitalismus als solcher Krieg generieren? Konnte der Krieg nicht nur „Politik mit anderen Mitteln“ sein (um Clausewitz‘ berühmten Ausspruch zu benutzen), sondern der ultimative Ausdruck der Konkurrenz, die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnt? Oh nein, nein, nein: Gott behüte! Clark macht sich schließlich daran, „die Fakten“ auf dem Weg in den Krieg vor uns auszubreiten, und dies tut er mit unerhörter Gelehrsamkeit und mit enormer Detailkenntnis, bis hin zur Farbe der Straußenfedern auf dem Helm des Erzherzogs Franz Ferdinand am Tage seiner Ermordung (sie waren grün). Wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, die Farbe der Unterwäsche des Attentäters Gavrilo Principe an jenem Tag zu notieren, sie stünde in diesem Buch.

Der Umfang des Buches, seine überwältigende Detailfülle macht ein riesiges Versäumnis noch auffälliger: Obwohl er ganze Abschnitte der „öffentlichen Meinung“ widmet, hat Clark nichts über den einen Teil der „öffentlichen Meinung“ zu sagen, der wirklich von Belang ist – die Stellung, die von der organisierten Arbeiterklasse eingenommen wurde. Clark zitiert ausführlich aus Zeitungen wie den Manchester Guardian, der Daily Mail oder Le Matin, lange nachdem sie verdientermaßen in die Versenkung verschwunden waren, aber nicht ein einziges Mal zitiert er den Vorwärts oder L’Humanité (die Presse der deutschen bzw. französischen sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien) oder La Vie Ouvrière, dem quasi-offiziellen Organ der französischen syndikalistischen CGT[10] oder ihre Bataille Syndicaliste. Dies waren keine unbedeutenden Publikationen: Der Vorwärts war nur eine von 91 Tageszeitungen der SPD, mit einer Gesamtauflage von 1,5 Millionen Exemplaren (im Vergleich dazu gibt die Daily Mail eine Auflage von 900.000 an)[11], und die SPD war die größte politische Partei in Deutschland. Clark erwähnt den Jenaer Parteitag der SPD 1905 und seine Weigerung, im Kriegsfall zum Generalstreik aufzurufen, aber die Antikriegs-Resolutionen auf den Kongressen der Sozialistischen Internationalen in Stuttgart (1907) und Basel (1912) bleiben unerwähnt. Der einzige Führer der SPD, der einer Erwähnung würdig ist, ist Albert Südekum, eine relativ unbedeutende Figur auf der Rechten der SPD, dem am 28. Juli mit seiner Beteuerung gegenüber dem deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg, dass die SPD sich einem „Verteidigungskrieg“ nicht widersetzen werde, eine Nebenrolle zukam.

Über den Kampf zwischen der Linken und der Rechten in der sozialistischen und breiteren Arbeiterbewegung herrscht Stillschweigen. Über die politische Auseinandersetzung von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Anton Pannekoek, Herman Gorter, Domela Nieuwenhuis, Wladimir Ilijitsch Lenin, Pierre Monatte und vielen anderen herrscht Schweigen. Über die Ermordung von Jean Jaurès herrscht Schweigen, Schweigen, Schweigen…

Es ist offenkundig, dass die Proletarier sich nicht wirklich auf die bürgerliche Geschichtsschreibung verlassen können, um die Ursachen und Konsequenzen des Großen Krieges zu verstehen. Wenden wir uns daher zwei herausragenden Mitstreitern der Arbeiterklasse zu: Rosa Luxemburg, wohl die beste Theoretikerin der deutschen Sozialdemokratie, und Alfred Rosmer, einem standhaften Kämpfer der französischen Vorkriegs-CGT. Insbesondere werden wir uns hier auf Luxemburgs Krise der Sozialdemokratie[12] (besser bekannt als „Junius-Broschüre“) und auf Rosmers Le mouvement ouvrier pendant la Première Guerre mondiale („Die Arbeiterbewegung während des Ersten Weltkrieges“)[13] beziehen. Die beiden Werke sind sehr unterschiedlich: Luxemburgs Broschüre wurde 1916 im Gefängnis geschrieben (kein privilegierter Zugang zu Bibliotheken und Regierungsarchiven für sie, um so beeindruckender die Kraft und Klarheit ihrer Analyse); der erste Band[14] von Rosmers Werk, wo er sich mit der Periode befasst, die zum Krieg führte, wurde 1936 veröffentlicht und ist die Frucht sowohl seines gewissenhaften Einsatzes für die historische Wahrheit als auch seiner leidenschaftlichen Verteidigung internationalistischer Prinzipien.

Der I. Weltkrieg: seine Bedeutung und seine Ursachen

Manche mögen sich fragen, ob dies noch wirklich von Belang ist. All dies geschah vor langer Zeit, die Welt hat sich verändert, was können wir wirklich aus diesen Schriften der Vergangenheit lernen?

Wir würden darauf antworten, dass es aus drei Gründen unerlässlich ist, den I. Weltkrieg zu begreifen.

Erstens weil der I. Weltkrieg eine neue historische Epoche eröffnete: Wir leben noch immer in einer Welt, die von den Konsequenzen jenes Krieges geprägt worden ist.

Zweitens weil die ihm zugrundeliegenden Ursachen immer noch sehr präsent und wirkkräftig sind: Es gibt eine allzu auffällige Parallele zwischen dem Aufstieg Deutschlands als neue imperialistische Macht vor 1914 und dem Aufstieg Chinas heute.

Schließlich – und möglicherweise am wichtigsten, weil genau dies die Regierungspropagandisten und die Historiker in der Tat vor uns verbergen möchten – weil es nur eine Kraft gibt, die dem imperialistischen Krieg ein Stoppzeichen setzen kann: die Weltarbeiterklasse. Wie Rosmer sagt: „… die Regierungen wussten sehr gut, dass sie das gefährliche Kriegsabenteuer – vor allem diesen Krieg – nicht unternehmen konnten, es sei denn, sie wussten praktisch die einmütige Unterstützung der öffentlichen Meinung und vor allem der Arbeiterklasse hinter sich; um sie zu erhalten, müssen sie täuschen, übertölpeln, irreführen, provozieren“.[15] Luxemburg zitiert die bekannten Worte des Reichskanzlers von Bülow, „daß man jetzt hauptsächlich aus Angst vor der Sozialdemokratie jeden Krieg möglichst hinauszuschieben trachte.“ Sie zitiert auch aus Bernhardis Vom heutigen Krieg: „Wo aber große, zusammenhängende Massen einmal der Führung aus der Hand gehen (…), da werden solche Massen nicht nur widerstandsunfähig gegen den Feind, sondern sie werden sich selbst und der eigenen Heeresleitung zur Gefahr werden, indem sie die Bande der Disziplin sprengen, den Gang der Operationen willkürlich stören und damit die Führung vor Aufgaben stellen, die sie zu lösen außerstande ist“. Und Luxemburg fährt fort: „So hielten bürgerliche Politiker wie militärische Autoritäten den Krieg mit den modernen Massenheeren für ein ‚gewagtes Spiel‘, und dies war das wirksamste Moment, um die heutigen Machthaber vor der Anzettelung der Kriege zurückzuhalten wie im Falle des Kriegsausbruchs auf dessen rasche Beendigung bedacht zu sein. Das Verhalten der Sozialdemokratie in diesem Kriege, das nach jeder Richtung dahin wirkt, um ‚die ungeheure Spannung‘ zu dämpfen, hat die Besorgnisse zerstreut, es hat die einzigen Dämme, die der ungehemmten Sturmflut des Militarismus entgegenstanden, niedergerissen (…) Und so fallen seit Monaten Tausende von Opfern, welche die Schlachtfelder bedecken, auf unser Gewissen“.[16]

Der Ausbruch des generalisierten, weltweiten imperialistischen Krieges (wir sprechen hier nicht über lokale Konflikte, auch nicht von wichtigen wie den Korea- oder Vietnamkrieg, sondern über die Massenmobilisierung des Proletariats im Herzen des Kapitalismus) wird von zwei einander widersprechenden Kräften bestimmt: das Streben zum Krieg, zu einer Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Großmächten und der Kampf zur Verteidigung ihrer eigenen Existenz durch die Arbeiterklasse, die sowohl das Kanonenfutter als auch die industrielle Armee liefern muss, ohne die der moderne Krieg unmöglich ist. Die Krise der Sozialdemokratie und besonders ihrer mächtigsten Fraktion, der deutschen Sozialdemokratie – eine Krise, die systematisch von den geistlosen Historikern der akademischen Welt ignoriert wird -, ist somit der kritische Faktor, der den Krieg 1914 ermöglichte.

Wir werden in einem späteren Artikel dieser Reihe detaillierter darauf eingehen, doch hier schlagen wir vor, Luxemburgs Analyse der wechselnden imperialistischen Rivalitäten und Bündnisse aufzugreifen, die die Großmächte unaufhaltsam in das Blutbad 1914 hineindrängt hatten.

„Zwei Linien der Entwicklung in der jüngsten Geschichte führen schnurgerade zu dem heutigen Kriege. Eine leitet noch von der Periode der Konstituierung der sogenannten Nationalstaaten, d.h. der modernen kapitalistischen Staaten, vom Bismarckschen Kriege gegen Frankreich her. Der Krieg von 1870, der durch die Annexion Elsaß-Lothringens die französische Republik in die Arme Rußlands geworfen, die Spaltung Europas in zwei feindliche Lager und die Ära des wahnwitzigen Wettrüstens eröffnet hat, schleppte den ersten Zündstoff zum heutigen Weltbrande herbei (…)

So hat der Krieg von 1870 in seinem Gefolge die äußere politische Gruppierung Europas um die Achse des deutsch-französischen Gegensatzes wie die formale Herrschaft des Militarismus der Völker eingeleitet. Diese Herrschaft und jene Gruppierung hat die geschichtliche Entwicklung aber seitdem mit einem ganz neuen Inhalt gefüllt. Die zweite Linie, die im heutigen Weltkrieg mündet und die Marxens Prophezeiung[17] so glänzend bestätigt, führt von Vorgängen internationaler Natur her, die Marx nicht mehr erlebt hat: von der imperialistischen Entwicklung der letzten 25 Jahre.“[18]

Die letzten 30 Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten also eine rapide Expansion des Kapitalismus in der ganzen Welt, aber auch das Entstehen eines neuen, dynamischen, expandierenden und selbstsicheren Kapitalismus im Herzen Europas: das Deutsche Reich, das ausgerufen wurde nach der Niederlage Frankreichs im preußisch-französischen Krieg 1871, in den Preußen als der lediglich stärkste einer Vielzahl von deutschen Zwergstaaten und Fürstentümer eintrat und aus dem es als die dominante Komponente eines neuen, vereinigten Deutschlands heraustrat. „… so konnte man voraussehen“, schreibt Luxemburg, „daß dieser junge, kraftstrotzende, von keinerlei Hemmung beschwerte Imperialismus, der auf die Weltbühne mit ungeheuren Appetiten trat, als die Welt bereits so gut wie verteilt war, sehr rasch zum unberechenbaren Faktor der allgemeinen Beunruhigung werden mußte.“ [19].

Durch eine jener Eigenarten der Geschichte, die es uns erlauben, einen Wechsel in der historischen Dynamik durch ein einziges Datum zu symbolisieren, erlebte das Jahr 1898 drei Ereignisse, die solch einen Wechsel kennzeichnen.

Das erste war die „Faschoda-Krise“, einer Konfrontation zwischen britischen und französischen Truppen um die Kontrolle über den Sudan. Damals schien die Gefahr, dass Frankreich und Großbritannien wegen der Kontrolle über Ägypten und den Suez-Kanal und über die Frage, wer die Vorherrschaft in Afrika ausübt, in den Krieg treten, real zu sein. Stattdessen endete die Krise mit einer Verbesserung der britisch-französischen Beziehungen, die in der „Entente Cordiale“ 1904 formalisiert wurden, und in einer wachsenden Neigung Großbritanniens, Frankreich gegen Deutschland zu stützen, das beide als eine Bedrohung ansahen. Die beiden „Marokko-Krisen“ 1905 und 1911[20] zeigten, dass fortan Großbritannien deutsche Ambitionen in  Nordafrika blockieren würde (auch wenn es bereit war, Deutschland einige Leckerbissen zu überlassen wie Portugals Kolonialbesitztümer).

Das zweite Ereignis war Deutschlands Besitzergreifung vom chinesischen Hafen Tsingtao (heute: Qingdao),[21] die Deutschlands Ankunft auf der imperialistischen Bühne als eine Macht mit weltweiten, nicht bloß europäischen Aspirationen  – Weltpolitik, wie es damals in Deutschland genannt wurde – ankündigte.

Passenderweise war 1898 das Todesjahr von Otto von Bismarck, dem großen Kanzler, der Deutschland durch die Vereinigung und rapide Industrialisierung geleitet hat. Bismarck hat stets den Kolonialismus und den Flottenbau abgelehnt, seine Außenpolitik trug primär dafür Sorge, das Aufkommen von anti-deutschen Bündnissen unter anderen europäischen Mächten zu verhindern, die Deutschland den Aufstieg missgönnten – oder sich davor fürchteten. Doch zurzeit der Jahrhundertwende war Deutschland zu einer erstklassigen Industriemacht mit entsprechenden erstklassigen Ambitionen geworden, die nur von den USA übertroffen wurde. Luxemburg zitiert schließlich Außenminister von Bülow am 11. Dezember 1899: „Wenn die Engländer von einem Greater Britain (größeren Britannien – R.L.), wenn die Franzosen von einem Nouvelle France (neuen Frankreich – R.L.) reden, wenn die Russen sich Asien erschließen, haben auch wir Anspruch auf ein größeres Deutschland (…) Wenn wir nicht eine Flotte schaffen, welche genügt (…), unseren Handel und unsere Landsleute in der Fremde, unsere Missionen und die Sicherheit unserer Küsten zu schützen, so gefährden wir die vitalsten Interessen des Landes (…) In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboß sein.“ (Hervorhebungen von R.L.) Und sie kommentiert: „Streift man die Redefloskeln von dem Küstenschutz, den Missionen und dem Handel ab, so bleibt das lapidare Programm: größeres Deutschland, Politik des Hammers für andere Völker.“

Anfang des 20. Jahrhunderts bedeutete Weltpolitik eine erstklassige Flotte zu haben. Wie Luxemburg sehr deutlich betont, hatte Deutschland keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Bedarf für eine Flotte: Niemand plante, Besitz von seinen Kolonien in China oder Afrika zu ergreifen. Eine Flotte war vor allen Dingen eine Angelegenheit des Prestiges: Um seine Expansion fortzusetzen, musste Deutschland als ernsthafter Mitspieler anerkannt sein, als eine Macht, mit der gerechnet werden muss, und dafür war eine „erstklassige aggressive Flotte“ eine Notwendigkeit. In Luxemburgs unvergesslichen Worten war es eine „Herausforderung nicht bloß an die deutsche Arbeiterklasse, sondern an die übrigen kapitalistischen Staaten, eine gegen niemand im besonderen, aber gegen alle insgesamt ausgestreckte geballte Faust.“

Die Parallele zwischen dem Aufstieg Deutschlands an der Wende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert und dem Aufstieg Chinas 100 Jahre später ist offensichtlich. Wie Bismarck ging es Deng Xiao ping mit seiner Außenpolitik größtenteils darum zu vermeiden, dass Chinas Nachbarn und der Welthegemon, die Vereinigten Staaten, auf den Plan gerufen werden. Doch mit seinem Aufstieg zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht erfordert Chinas Prestige zumindest die Fähigkeit, seine maritimen Grenzen zu kontrollieren und seine Seewege zu schützen: daher die Aufrüstung seiner Flotte, der Aufbau einer U-Boot-Flotte und der Bau eines Flugzeugträgers sowie die jüngste Ausrufung einer „Flugüberwachungszone“ über dem Senkaku/Diaoyu-Eiland.

Die Parallele zwischen  Deutschland 1914 und China heute ist natürlich nicht identisch, und dies besonders aus zwei Gründen: Erstens war Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur die zweitgrößte Industriemacht in der Welt nach den Vereinigten Staaten, es stand auch an der Spitze des technischen Fortschritts und der Innovation (wie dies zum Beispiel an der Zahl deutscher Nobelpreisgewinner und deutscher Innovationen in der Stahl-, Elektro- und Chemieindustrie ermessen werden kann); zweitens konnte Deutschland seine Militärmacht global ausrichten, wie es China nicht kann, zumindest noch nicht.

Und so wie die Vereinigten Staaten heute der Bedrohung ihres eigenen Prestiges und der Sicherheit ihrer Verbündeten (Japan, Südkorea und die Philippinen insbesondere) durch China begegnen müssen, so konnte Großbritannien Deutschlands Flottenbau nur als eine Bedrohung ansehen, noch dazu als eine Bedrohung, die sich gegen die Lebensader der Kanalschifffahrt und gegen seine Küstenverteidigung richtete.[22]

Was immer seine Flottenambitionen waren, die natürliche Expansionsrichtung einer Landmacht wie Deutschland ging nach Osten und besonders zum verfallenden Osmanischen Reich; dies traf um so mehr zu, als seine Ambitionen in Afrika und im westlichen Mittelmeerraum von den Briten und Franzosen blockiert wurden. Geld und Militarismus gingen Hand in Hand, als deutsches Kapital in die Türkei floss[23] und um mehr Ellbogenfreiheit gegenüber seinen französischen und britischen Konkurrenten kämpfte. Ein großer Anteil dieses deutschen Kapitals ging drauf für die Finanzierung der Bagdad-Bahn: Diese war eigentlich ein Liniennetz, das Berlin mit Konstantinopel und schließlich mit dem Süden Anatoliens, mit Syrien und Bagdad, aber auch mit Palästina, dem Hidjas und Mekka verbinden sollte. Zu einer Zeit, in der Truppenbewegungen von Eisenbahnen abhingen, würde dies einer türkischen Armee ermöglichen, Truppen, ausgerüstet mit deutschen Waffen und ausgebildet von deutschen Instrukteuren, mithilfe der Eisenbahn zu mobilisieren, um sowohl die britische Ölraffinerie in Abadan (Persien)[24] als auch die britische Kontrolle über Ägypten und den Suezkanal zu bedrohen: Auch hier gab es eine direkte deutsche Bedrohung gegen vitale strategische Interessen Großbritanniens. Im weitaus größten Teil des 19. Jahrhunderts ging die größte Bedrohung der Sicherheit des britischen Empires von der russischen Expansion nach Zentralasien aus, die bis an die Grenzen Persiens reichte und eine Gefahr für Indien darstellte; durch Russlands Niederlage gegen Japan im Jahr 1905 hatten seine östlichen Ambitionen jedoch einen derartigen Dämpfer erlitten, dass – zumindest eine Zeitlang – die Streitigkeiten zwischen den beiden Ländern in Persien, Afghanistan und Tibet in einer anglo-russischen Konvention 1907 bereinigt wurden. Nun war Deutschland der Rivale, dem es entgegenzutreten galt.

Die deutsche Ostpolitik hatte notwendigerweise ein strategisches Interesse am Balkan, am Bosporus und an den Dardanellen. Die Tatsache, dass die Route der Eisenbahnverbindung Berlin-Konstantinopel durch Wien und Belgrad geplant war, machte die Kontrolle über Serbien oder zumindest die serbische Neutralität zu einer Angelegenheit großer strategischer Bedeutung für Deutschland. Dies konnte umgekehrt nur zu einem Konflikt mit einem Land führen, das zu Bismarcks Zeiten eine Bastion der autokratischen Reaktion und Solidarität und daher ein unerschütterlicher Verbündeter Preußens und des Deutschen Reiches war: Russland.

Spätestens mit der Herrschaft von Katharina der Großen hatte sich Russland (in den 1770er Jahren) als Vormacht an der Schwarzmeerküste etabliert und die Osmanen ersetzt. Die immer wichtigere Bedeutung des Handels über das Schwarze Meer für die russische Industrie und Landwirtschaft stand und fiel mit der freien Passage durch den Bosporus, der von Konstantinopel kontrolliert wurde. Russlands Ambitionen reichten bis zu den Dardanellen und der Kontrolle des Seeverkehrs zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer (Russlands Absichten hinsichtlich der Dardanellen hatten 1853 bereits zu einem Krieg mit Großbritannien und Frankreich auf der Krim geführt). Luxemburg fasst die Dynamiken in der russischen Gesellschaft zusammen, die die imperialistische Politik Russlands antreiben: „Einerseits äußert sich in den Eroberungstendenzen des Zarentums die traditionelle Expansion des gewaltigen Reichs, dessen Bevölkerung heute 170 Millionen Menschen umfaßt und das aus wirtschaftlichen wie strategischen Gründen den Zutritt zum freien Weltmeer, zum Stillen Ozean im Osten, zum Mittelmeer im Süden, zu erlangen sucht. Andererseits spricht hier das Lebensinteresse des Absolutismus mit, die Notwendigkeit, in dem allgemeinen Wettlauf der Großstaaten auf weltpolitischem Felde eine achtungsgebietende Stellung zu behaupten, um sich den finanziellen Kredit im kapitalistischen Auslande zu sichern, ohne den der Zarismus absolut nicht existenzfähig ist (…) Allein auch moderne bürgerliche Interessen kommen immer mehr als Faktor des Imperialismus im Zarenreich in Betracht. Der junge russische Kapitalismus, der unter dem absolutistischen Regime natürlich nicht voll zur Entfaltung gelangen und in großen und ganzen nicht aus dem Stadium des primitiven Raubsystems herauskommen kann, sieht jedoch bei den unermeßlichen Hilfsquellen des Riesenreiches eine gewaltige Zukunft vor sich (…) Es sind die Ahnung dieser Zukunft und die Akkumulationsappetite sozusagen auf Vorschuß, die die russische Bourgeoisie mit einem sehr ausgeprägten imperialistischen Drang erfüllten und bei der Weltverteilung mit Eifer ihre Ansprüche melden lassen.“.[25] Die Rivalität zwischen Deutschland und Russland in der Frage der Kontrolle über den Bosporus stand also unvermeidlich in einem Zusammenhang mit dem Balkan, wo der Aufstieg nationalistischer Ideologien, charakteristisch für den sich entwickelnden Kapitalismus, eine Situation permanenter Spannungen und zeitweiliger blutiger Konflikte zwischen den drei neuen Staaten geschaffen hat, die vom niedergehenden osmanischen Reich abgefallen waren: Griechenland, Bulgarien und Serbien. Diese drei Länder führten den ersten Balkan-Krieg als Verbündete gegen die Osmanen, dann den Zweiten Balkan-Krieg untereinander, um die Beute aus dem Ersten, besonders in Mazedonien und Albanien, neu aufzuteilen.[26]

Der Aufstieg aggressiver neuer Nationen auf dem Balkan konnten der anderen verfallenden Dynastie in dieser Region nicht gleichgültig bleiben: dem Habsburger Reich, das „nicht die politische Organisation eines bürgerlichen Staates, sondern bloß ein lockeres Syndikat einiger Cliquen gesellschaftlicher Parasiten ist, die mit vollen Händen unter Ausnutzung der staatlichen Machtmittel raffen wollen, solange der morsche Bau der Monarchie noch hält“.[27] So konstituiert, stand das Habsburger Reich unter ständiger Bedrohung durch die aufstrebenden neuen Nationen um sich herum; alle von ihnen teilten ethnische Bevölkerungsteile mit dem Habsburgerreich: daher die österreichisch-ungarische Annexion Bosnien-Herzegowinas, die der ständigen Sorge entsprang, Serbien daran zu hindern, Zugang zum Mittelmeer zu erlangen.

Um 1914 hatte sich die Situation in Europa zu einem tödlichen Zauberwürfel entwickelt, dessen verschiedene Teile derart ineinander verschränkt waren, dass die Bewegung eines Teils auch alle anderen Teile verschob.

Die hellwachen Schlafwandler

Bedeutet dies, dass die herrschende Klasse, dass die Regierungen nicht wussten, was sie taten? Dass sie – wie der Titel von Christopher Clarks Buch Die Schlafwandler andeutet – irgendwie in den Krieg hineinschlitterten, dass der I. Weltkrieg nur ein fürchterlicher Fehler war?

Pustekuchen! Sicherlich hielten die historischen Kräfte, die Luxemburg in der wahrscheinlich profundesten Analyse des Kriegsausbruchs, die je geschrieben wurde, schilderte, die Gesellschaft fest in ihrem Griff: In diesem Sinn war der Krieg das unvermeidliche Resultat der miteinander verzahnten imperialistischen Rivalitäten. Doch historische Situationen rufen die Menschen hervor, die sich mit ihnen messen, und die Regierungen, die Europa und die Welt in den Krieg zogen, wussten allzu gut, was sie taten; sie taten es bewusst. Die Jahre zwischen der Jahrhundertwende und dem Kriegsausbruch war von wiederholter Kriegshysterie gekennzeichnet, die von Mal zu Mal schlimmer wurde: die Tanger-Krise 1905, der Agadir-Zwischenfall 1911, der erste und zweite Balkan-Krieg. Jeder dieser Zwischenfälle ließ die Pro-Kriegsfraktion aller herrschenden Klassen mehr in den Vordergrund treten und verstärkte das Gefühl, dass der Krieg unvermeidlich sei. Das Ergebnis war ein irrsinniges Wettrüsten: Deutschland setzte sein Flottenbau-Programm in Gang, und die Briten folgten dem Beispiel; Frankreich verlängerte die Dauer des Militärdienstes auf drei Jahre; riesige französische Anleihen finanzierten die Modernisierung der russischen Eisenbahnen, die dazu bestimmt waren, Truppen zur Westfront zu transportieren, genauso wie die Modernisierung der kleinen, aber effektiven Armee Serbiens. Alle Kontinentalmächte erhöhte die Anzahl der unter Waffen stehenden Männer.

In zunehmendem Maße davon überzeugt, dass der Krieg unvermeidlich sei, ging es für die Regierungen Europas nur noch um das „Wann“. Wann war die militärische Bereitschaft der Nation, verglichen mit ihren Rivalen, auf ihrem höchsten Stand? War doch dieser Moment der „richtige“ Augenblick für den Krieg.

Wenn Luxemburg im aufstrebenden Deutschland den neuen „von keinerlei Hemmung beschwerte(n) Imperialismus“ in der europäischen Gemengelage erblickte, bedeutete dies, dass die Mächte der Dreier-Entente (Großbritannien, Frankreich, Russland) die unschuldigen Opfer der expansionistischen Aggression Deutschlands waren? Dies ist die These von gewissen „revisionistischen“ Historikern heute: Nicht nur dass der Kampf gegen den deutschen Expansionismus 1914 gerechtfertigt wurde, auch wurde im Kern 1914 als der Vorläufer des „guten Krieges“ 1939 betrachtet. Dies ist zweifellos der Fall, doch die Dreier-Entente war alles andere als ein unschuldiges Opfer, und der Gedanke, dass Deutschland allein „expansionistisch“ und „aggressiv“ war, ist lachhaft, wenn wir die Größe des britischen Empires – das Resultat einer aggressiven britischen Expansion – mit jener Deutschlands vergleichen: Irgendwie scheint dies nicht in die Köpfe geistloser britischer Historiker zu gehen.[28]

In der Tat hatte die Dreier-Entente jahrelang eine Politik der Umzingelung Deutschlands betrieben (so wie die USA eine Umzingelungspolitik gegenüber der UdSSR während des Kalten Krieges betrieben hatten und nun dasselbe gegenüber China heute versuchen). Rosmer demonstrierte dies mit kompromissloser Klarheit auf der Grundlage der geheimen diplomatischen Korrespondenz unter den belgischen Botschaftern in den verschiedenen europäischen Hauptstädten.[29]

Im Mai 1907 schreibt der Botschafter in London: „Es liegt auf der Hand, dass das offizielle Großbritannien eine hinterlistige und feindliche Politik verfolgt, die auf die Isolation Deutschlands abzielt, und dass König Edward (d.h. Edward VII.) ohne Zögern seinen eigenen persönlichen Einfluss zugunsten dieser Idee in die Waagschale geworfen hat.“[30] im Februar 1909 lässt der Botschafter in Berlin verlauten: „Der König von England beteuert, dass die Bewahrung des Friedens stets sein Ziel gewesen sei; er hat dies mehrfach wiederholt, seit er seinen erfolgreichen Feldzug begonnen hatte, Deutschland zu isolieren; doch kommt man nicht umhin zu bemerken, dass der Weltfrieden sich niemals in größerer Gefahr befand, seitdem der König von England sich anschickte, ihn zu verteidigen.“[31] Auch im April 1913 vernehmen wir aus Berlin: „… die Arroganz und Geringschätzung, mit denen (die Serben) die Proteste der Regierung in Wien aufnehmen, können  nur mit der Unterstützung erklärt werden, die sie von St. Petersburg erwarten. Der serbische diplomatische Geschäftsträger sagte hier jüngst, dass seine Regierung niemals ein solches Risiko auf sich nehmen würde, von Österreichs Drohungen keine Notiz zu nehmen, wenn sie nicht vom russischen Botschafter, Herrn Hartwig, ermutigt worden wäre…“[32]

In Frankreich wurde dem belgischen Botschafter in Paris (Januar 1914) die bewusste Entwicklung einer aggressiven chauvinistischen Politik völlig klar: „Ich hatte bereits die Ehre gehabt, Sie darüber zu informieren, dass es die Herren Poincaré, Delcassé, Millerand und ihre Freunde sind, die die nationalistische, hurrapatriotische und chauvinistische Politik erfunden hatten, deren Wiedergeburt wir heute erblicken (…) Ich sehe hier die größte Gefahr für den europäischen Frieden (…), weil die von der Barthou-Regierung eingenommene Haltung in meiner Auffassung der ausschlaggebende Grund für die zunehmend militaristischen Tendenzen in Deutschland ist.“[33]

Die Wiedereinführung des dreijährigen Militärdienstes in Frankreich war keine Verteidigungspolitik, sondern eine vorsätzliche Kriegsvorbereitung. Hier noch einmal der Botschafter in Paris (Juni 1913): „Die Kosten des neuen Gesetzes werden so schwer auf der Bevölkerung liegen, die daraus resultierenden Ausgaben so exorbitant sein, dass das Land bald protestieren wird, und Frankreich wird mit dem Dilemma konfrontiert sein: entweder ein Abstieg, den es nicht dulden kann, oder einen Krieg auf kurze Sicht.“[34]

Wie den Krieg erklären

Zwei Faktoren flossen in den Vorkriegsjahren in die Kalkulationen der Staatsmänner und Politiker ein: Der erste war die Einschätzung ihrer eigenen militärischen Vorbereitung und die ihrer Feinde, doch der zweite – gleichermaßen wichtig, selbst im autokratischen zaristischen Russland – war die Notwendigkeit, gegenüber der Welt und der eigenen Bevölkerung, insbesondere den ArbeiterInnen, als die angegriffene Seite aufzutreten, die allein in Selbstverteidigung handelt. Alle Mächte wollten in den Krieg, der allerdings von dem anderen angefangen werden musste: „Das Spiel bestand darin, den Feind dazu zu verleiten, eine Handlung zu begehen, die gegen ihn benutzt werden kann, oder Nutzen aus einer Entscheidung zu ziehen, die er bereits getroffen hatte.“[35]

Die Ermordung von Franz Ferdinand, die den Funken entzündete, um den Krieg auszulösen, war schwerlich das Werk eines isolierten Individuums: Gavrilo Principe feuerte zwar den fatalen Schuss ab, doch er war nur einer aus einer Gruppe von Attentätern, die sich selbst in einem der Netzwerke der ultranationalistischen serbischen Gruppierungen „Schwarze Hand“ und Narodna Odbrana („Nationale Verteidigung“) organisiert hatten und von ihnen bewaffnet wurden; Netzwerke, die geradezu ein Staat im Staate bildeten und deren Aktivitäten der serbischen Regierung und insbesondere ihrem Premierminister Nicolas Pasiĉ zweifellos bekannt waren. Die Beziehungen zwischen der serbischen und der russischen Regierung waren extrem eng, und es gilt als sicher, dass die Serben eine solche Provokation nicht unternommen hätten, wären ihnen nicht die russische Unterstützung im Falle einer österreichisch-ungarischen Reaktion zugesichert worden.

Für die österreichisch-ungarische Regierung erschien das Attentat wie eine Gelegenheit, die man nicht verpassen darf, um Serbien an die Kandare zu nehmen.[36] Die Polizeiuntersuchungen hatten nur wenig Mühe, mit dem Finger auf Serbien zu zeigen, und die Österreicher rechneten mit einem Schock unter den herrschenden Klassen Europas, um deren Unterstützung oder zumindest Neutralität zu erreichen, als sie Serbien angriffen. In der Tat hatte das Habsburger Reich keine andere Wahl, als Serbien zu attackieren oder zu demütigen: Alles darunter wäre ein verheerender Schlag gegen sein Prestige und seinen Einfluss in der kritischen Balkanregion gewesen und hätte sie völlig dem russischen Rivalen überlassen.

Die französische Regierung sah in einem „Balkan-Krieg“ ein ideales Szenario für ihren Angriff gegen Deutschland: Wenn Deutschland in einen Verteidigungskrieg der Habsburger hineingezwungen werden konnte und Russland Serbien zu Hilfe kommen würde, dann konnte die französische Mobilmachung als eine Vorsorgemaßnahme gegen die Drohung eines deutschen Angriffs dargestellt werden. Darüber hinaus war es äußerst unwahrscheinlich, dass Italien, nominell ein Verbündeter Deutschlands, aber mit seinen eigenen Interessen auf dem Balkan, in den Krieg ziehen würde, um die Stellung des Habsburger Reichs in Bosnien-Herzegowina zu verteidigen.

Angesichts des Bündnisses, das sich gegen Deutschland aufstellte, fand sich Letzteres in einer Position der Schwäche wieder, mit den Habsburgern, jenem „lockere(n) Syndikat einiger Cliquen gesellschaftlicher Parasiten“, um Luxemburgs Worte zu benutzen, als einzigen Verbündeten. Die Kriegsvorbereitungen in Frankreich und Russland, der Ausbau ihrer Entente mit Großbritannien führten die deutschen Strategen zunehmend zur Schlussfolgerung, dass der Krieg eher früher denn später ausgefochten werden müsse, bevor seine Gegner vollständig vorbereitet waren. Daher die Bemerkung des Kanzlers Bethmann-Hollweg: „Sollte sich der Konflikt (zwischen Serbien und dem Habsburger Reich) ausbreiten, dann ist es absolut notwendig, dass Russland die Verantwortung tragen muss.“[37]

Die britische Bevölkerung war kaum daran interessiert, in den Krieg zu ziehen, um Serbien oder gar Frankreich zu verteidigen. Großbritannien benötigte daher ebenfalls „einen Vorwand, um den Widerstand eines großen Teils der öffentlichen Meinung zu überwinden. Deutschland lieferte einen exzellenten Vorwand, indem es seine Armeen durch Belgien marschieren ließ.“[38] Rosmer zitiert in diesem Zusammenhang aus Viscount Eshers Tragedy of Lord Kitchener: „Die deutsche Invasion Belgiens bewahrte, obwohl sie keinen wesentlichen Unterschied für den Beschluss ausmachte, der von (Premierminister) Asquith und (Außenminister) Grey bereits gefasst worden war, die Einheit der Nation, wenn nicht sogar die Integrität der Regierung.“[39] In Wirklichkeit waren die britischen Pläne für einen Angriff gegen Deutschland, etliche Jahre lang zusammen mit dem französischen Militär vorbereitet, lange vor der Verletzung der belgischen Neutralität ausgearbeitet worden…

Die Regierungen aller kriegführenden Nationen mussten also ihre „öffentliche Meinung“ zur Annahme verleiten, dass der Krieg, den sie vorbereiteten und den sie jahrelang vorsätzlich angestrebt hatten, ihnen unfreiwillig aufgezwungen worden sei. Das kritische Element in dieser „öffentlichen Meinung“ war die organisierte Arbeiterklasse mit ihren Gewerkschaften und Sozialistischen Parteien, die jahrelang ihre klare Opposition gegen den Krieg erklärt hatten. Der wichtigste Einzelfaktor, der den Weg zum Krieg öffnete, war daher der Verrat durch die Sozialdemokratie und ihre Unterstützung dessen, was die herrschende Klasse fälschlicherweise als „Verteidigungskrieg“ porträtiert hat.

Die tieferliegenden Ursachen dieses monströsen Verrats an der elementarsten internationalistischen Pflicht der Sozialdemokratie werden das Thema eines späteren Artikels sein. Es genügt hier zu sagen, dass die heutige Behauptung der französischen Bourgeoisie, dass „politische, soziale, religiöse Streitereien… im Nu verschwanden“, eine schamlose Lüge ist. Im Gegenteil, Rosmers Bericht über die Tage vor dem Kriegsausbruch handelt von ständigen Arbeiterdemonstrationen gegen den Krieg, die brutal von der Polizei unterdrückt wurden. Am 27. Juli rief die CGT zu einer Demonstration auf, und „von neun Uhr bis Mitternacht (…) strömte eine enorme Menge ohne Pause entlang der Boulevards zusammen. Eine riesige Anzahl von Polizisten wurde mobilisiert (…) Doch die Arbeiter, die von den Außenbezirken ins Stadtzentrum strömten, waren so zahlreich, dass die Polizeitaktiken (der Zersplitterung der ArbeiterInnen) zu einem unerwarteten Resultat führten: Es gab bald so viele Demonstrationen, wie es Straßen gab. Die Polizei scheiterte mit ihrer Gewaltsamkeit und Brutalität, der Kampfkraft der Menge einen Dämpfer zu verpassen; den ganzen Abend hindurch hallte der Ruf ‚Nieder mit dem Krieg‘ von der Oper bis zum Place de la République wider.“[40] Die Demonstrationen wurden am folgenden Tag fortgesetzt und breiteten sich bis zu den größeren Städten in der Provinz aus.

Die französische Bourgeoisie sah sich einem weiteren Problem gegenüber: der Haltung des sozialistischen Führers Jean Jaurès. Jaurès war Reformist zu einem Zeitpunkt in der Geschichte, als der Reformismus zu einem unhaltbaren Mittelweg zwischen Bourgeoisie und Proletariat geworden war, doch Jaurès fühlte sich zutiefst der Verteidigung der Arbeiterklasse verpflichtet (und sein Ruf und Einfluss unter den ArbeiterInnen war aus diesem Grund sehr gut), und er war leidenschaftlich gegen den Krieg. Am 25. Juli, als die Presse von Serbiens Ablehnung des österreichisch-ungarischen Ultimatums berichtete, befand sich Jaurès wegen einer Rede auf einer Wahlveranstaltung in Vaise in der Nähe von Lyon: In seiner Rede widmete er sich nicht den Wahlen, sondern der fürchterlichen Kriegsgefahr. „Niemals in den vergangenen 40 Jahren ist Europa mit einer solch bedrohlichen und tragischen Situation konfrontiert worden (…) Eine fürchterliche Gefahr bedroht Frieden und Menschenleben, wogegen die Proletarier Europas die höchsten Anstrengungen der Solidarität unternehmen müssen, zu denen sie in der Lage sind.“[41]

Zunächst glaubte Jaurès den falschen Zusicherungen der französischen Regierung, dass sie für den Frieden arbeite, doch nach dem 31. Juli war er desillusioniert und rief im Parlament einmal mehr die ArbeiterInnen zum äußersten Widerstand auf. Rosmers greift die Geschichte auf: „… wurden Gerüchte verbreitet, dass der Artikel, den er in Kürze für die Samstagsausgabe der L’Humanité schreiben sollte, ein neues ‚J’accuse‘ (Ich klage an)[42] sein würde und die Intrigen und Lügen anprangern werde, die die Welt an den Rande eines Krieges gebracht hätten. Am Abend (…) führte er eine Delegation der sozialistischen (Parlaments-)Gruppe zum Quai d’Orsay an.[43] (Außenminister) Viviani war abwesend, und die Delegation wurde von Unterstaatssekretär Abel Ferry empfangen. Nachdem er Jaurès hat reden lassen, fragte Ferry, was die Sozialisten in der Situation zu tun gedachten. ‚Unsere Kampagne gegen den Krieg fortsetzen‘, antwortete Jaurès. Worauf Ferry antwortete: ‚Das werden Sie niemals wagen, denn dann würden Sie an der nächsten Straßenecke umgelegt werden.‘[44] Zwei Stunden später wurde Jaurès bei seiner Rückkehr zu seinem L’Humanité-Büro, wo er den gefürchteten Artikel schreiben wollte, von dem Attentäter Raoul Villain niedergeschossen; zwei Revolverschüsse aus nächster Nähe verursachten seinen sofortigen Tod.“[45]

Zweifelsohne überließ die herrschende Klasse Frankreichs nichts dem Zufall, um „Einheit und nationalen Zusammenhalt“ sicherzustellen.

Kein Krieg ohne die ArbeiterInnen

Wenn also die Kränze niedergelegt sind, wenn die Großkopferten während der Gedenkfeiern, für die unsere Herrscher Millionen von Pfund oder Euros ausgegeben haben, ihre Häupter in Trauer gebeugt haben, wenn die Trompeten am Ende dieser pathetischen Zeremonien den letzten Ton von sich gegeben haben, wenn die Dokumentationen sich auf den Fernsehbildschirmen entfaltet und die gelehrten Historiker über all die Gründe für den Krieg außer den einen, auf dem es ankommt, und über all die Faktoren, die den Krieg möglicherweise verhindert hätten außer den einen, der wirklich Gewicht hatte, geredet haben, dann lasst die Proletarier der Welt sich erinnern.

Lasst sie sich daran erinnern, dass der I. Weltkrieg nicht von einem historischen Zufall verursacht wurde, sondern von dem unerbittlichen Walten des Kapitalismus und Imperialismus, dass der Weltkrieg eine neue Epoche in der Geschichte einleitete, eine „Epoche der Kriege und Revolutionen“, wie die Kommunistische Internationale sie nannte. Diese Epoche ist auch heute noch präsent, und dieselben Kräfte, die die Welt 1914 in den Krieg trieben, sind auch heute verantwortlich für die endlosen Massaker im Mittleren/Nahen Osten und Afrika, für die noch gefährlicheren Spannungen zwischen China und dessen Nachbarn im Südchinesischen Meer.

Lasst sie sich daran erinnern, dass Kriege ohne ArbeiterInnen als Kanonenfutter und zur Bemannung der Fabriken nicht ausgefochten werden können. Lasst sie sich daran erinnern, dass die herrschende Klasse die nationale Einheit für den Krieg benötigt und dass sie über Leichen geht, um sie zu bekommen, von polizeilicher Repression bis hin zum blutigen Mord.

Lasst sie sich daran erinnern, dass es eben jene „sozialistischen“ Parteien, die heute an der Spitze jeder pazifistischer Kampagne und jedes humanitären Protestes stehen, sind, die 1914 das Vertrauen unserer Vorfahren verraten hatten und sie unorganisiert und wehrlos zurückließen, statt sich der Kriegsmaschinerie des Kapitalismus entgegenzustellen.

Und lasst sie sich schließlich daran erinnern, dass, wenn die herrschende Klasse solche Anstrengungen unternommen hat, die Arbeiterklasse 1914 zu neutralisieren, dies nur deshalb geschah, weil das Weltproletariat eine wirksame Barriere gegen den imperialistischen Krieg sein kann. Nur das Weltproletariat trägt in sich die Hoffnung, den Kapitalismus und die Kriegsgefahren ein für allemal zu überwinden.

Vor einhundert Jahren stand die Menschheit vor einem Dilemma, dessen Lösung in den Händen allein des Proletariats lag: Sozialismus oder Barbarei. Dieses Dilemma herrscht noch heute.

Jens

 

 

 

[1] Ironischerweise wurde der Filmtitel einem Buch des britischen Ökonomen Norman Angell vor dem Krieg entnommen, in dem argumentiert wird, dass ein Krieg zwischen den entwickelten kapitalistischen Mächten unmöglich geworden sei, weil ihre Ökonomien zu eng miteinander integriert und voneinander abhängig seien – exakt dieselbe Art von Argumentation, die wir heute in Bezug auf China und die Vereinigten Staaten vernehmen.

[2] Überflüssig zu sagen, dass wie alle anderen Werke, die wir erwähnten, Nichts Neues im Westen nach 1933 von den Nazis verboten wurde.

[3] In auffälligem Gegensatz dazu erlebte der in Großbritannien bekannte patriotische Kriegspoet Rupert Brooke faktisch nie die Schlacht, da er erkrankte und unterwegs zum Sturm auf Gallipoli verstarb.

[4] Dies war das Objekt einiger Polemiken in der deutschen Presse gewesen.

[5] Zweifellos ein würdiges, selbstständiges Werk, aber keins, das allzu viel zum Verständnis beitragen wird, warum der Krieg ausbrach.

[6] www.iwm.org.uk/centenary [96]

[7] „Commémorer la Grande Guerre (2014-2020): propositions pour un centenaire international“ von Joseph Zimet der „Direction de la mémoire, du patrimoine et des archives“.

[8] Es fällt auf, dass die große Mehrzahl der Hinrichtungen wegen militärischem Ungehorsam in der französischen Armee in den ersten Monaten des Krieges stattfand, was auf einen Mangel an Begeisterung hindeutet, der von Anbeginn unterdrückt werden musste. Siehe den Bericht an den Minister für die Kriegsveteranen Kadir Arif im Oktober 2013: centenaire.org/sites/default/files/references-files/rapport_fusilles.pdf

[9] Es ist erwähnenswert, dass der Titel Die Schlafwandler Hermann Brochs 1932 verfasste Trilogie desselben Namens entnommen wurde. Broch wurde 1886 in Wien als Spross einer jüdischen Familie geboren, konvertierte jedoch 1909 zum römischen Katholizismus. 1938, nach dem Anschluss Österreichs, wurde er von der Gestapo verhaftet. Doch mit der Hilfe von Freunden (einschließlich James Joyce, Albert Einstein und Thomas Mann) wurde ihm gestattet, in die USA zu emigrieren, wo er bis zu seinem Tod 1951 lebte. Die Schlafwandler ist eine Geschichte von drei Individuen von 1888, 1905 bzw. 1918 und untersucht die Fragen des Werteverfalls und der Unterordnung der Moralität unter die Profitgesetze.

[10] Confédération Générale du Travail. Siehe „Anarcho-syndicalism faces a change in epoch : the CGT up to 1914“, in: Internationale Revue, Nr. 120 (eng., franz., span. Ausgabe).

[11] Siehe Hew Strachan, The First World War, Bd. 1.

[12] Siehe Die Junius-Broschüre, Gesammelte Werke, Bd. 4.

[13] Editions d’Avron, Mai 1993.

[14] Der zweite Band wurde nach dem II. Weltkrieg veröffentlicht und ist weitaus kürzer, da Rosmer während der Nazi-Besetzung aus Paris fliehen musste; seine Archive wurden im Krieg beschlagnahmt und zerstört.

 

[15] Rosmer, S. 84.

[16] Junius, Kapitel 6.

[17] Luxemburg zitiert hier aus einem Brief an den Braunschweiger Ausschuss: „Wer nicht ganz vom Geschrei des Augenblicks übertäubt ist oder ein Interesse hat, das ganze deutsche Volk zu übertäuben, muß einsehen, daß der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland im Schoße trägt wie der Krieg von 1866 den Krieg von 1870. Ich sage notwendig, unvermeidlich, außer im unwahrscheinlichen Falle eines vorherigen Ausbruchs einer Revolution in Rußland. Tritt dieser unwahrscheinliche Fall nicht ein, so muß der Krieg zwischen Deutschland und Rußland schon jetzt als un fait accompli (eine vollendete Tatsache) behandelt werden. Es hängt ganz vom jetzigen Verhalten der deutschen Sieger ab, ob dieser Krieg nützlich oder schädlich. Nehmen sie Elsaß und Lothringen, so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen. Es ist überflüssig, die unheilvollen Folgen zu deuten“.

[18] Junius, Kapitel 3.

[19] Ebenda.

[20] Die erste Marokko-Krise 1905 wurde provoziert vom Besuch des Kaisers in Tanger, den dieser angeblich zur Unterstützung der marokkanischen Unabhängigkeit unternahm, doch der in Wirklichkeit ein Versuch war, dem französischen Einfluss in dem Land entgegenzuwirken. Die militärischen Spannungen waren extrem: Die französischen Militärs strichen allen Urlaub und rückten mit Truppen an die Grenze zu Deutschland vor, während Deutschland begann, alle Reservisten einzuziehen. Am Ende lenkten die Franzosen ein und akzeptierten den deutschen Vorschlag einer multinationalen Konferenz, die in Algeciras 1906 abgehalten wurde. Hier erlebten die Deutschen einen Schock, als sie sich von allen teilnehmenden europäischen Mächten, besonders von den Briten, geschnitten sahen und lediglich die Unterstützung des Habsburger Reichs erlangen konnten. Die zweite Marokko-Krise kam 1911, als eine Rebellion gegen Sultan Abdelhafid Frankreich den Vorwand lieferte, um angeblich zum Schutz europäischer Bürger Truppen in das Land zu schicken. Die Deutschen griffen denselben Vorwand auf, um das Kanonenboot Panther in den Atlantikhafen von Agadir zu entsenden. Dies betrachteten die Briten als das Vorspiel zur Installierung einer deutschen Marinebasis an der Atlantikküste, die Gibraltar direkt bedrohen würde. Die Rede von Lloyd George in seinem Amtssitz (zitiert von Rosmer) war eine kaum verhüllte Erklärung, dass Großbritannien in den Krieg ziehen werde, wenn Deutschland nicht einlenkt. Am Ende erkannte Deutschland im Austausch für ein bisschen Sumpfland an der Kongo-Mündung das französische „Protektorat“ in Marokko an.

 

[21] Die Deutschen etablierte die Brauerei, die mittlerweile das „Tsingtao“-Bier produziert.

 

[22] Der Gedanke, den Clark, aber auch Niall Ferguson in The Pity of War präsentiert, dass Deutschland im maritimen Wettrüsten weit hinter Großbritannien zurückgefallen sei, ist absurd: Die britische Marine musste anders als die deutsche die weltweite Schifffahrt schützen, und es fällt schwer, sich vorzustellen, dass die Briten keine Bedrohung in dem Aufbau einer großen Kriegsflotte sahen, die weniger als 500 Meilen von ihrer Hauptstadt entfernt und noch näher an ihren Küsten ankerte.

[23] Obwohl in damaligen europäischen Texten abwechselnd von der Türkei und vom  „Osmanischen Reich“ die Rede war, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass letztgenannter Begriff genauer ist: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstreckte sich das Osmanische Reich nicht nur auf die Türkei, sondern auch auf das heutige Libyen, Syrien, den Irak, die arabische Halbinsel und auf einen großen Teil Griechenlands und des Balkan.

[24] Diese Raffinerie war vor allem aus militärischen Gründen wichtig: Die britische Flotte musste von kohlebefeuerten auf ölgefeuerte Maschinen umgestellt werden. Doch während Großbritannien Kohle im Überfluss besaß, hatte es kein Öl. Die Suche nach Öl in Persien wurde vor allem von dem Bedürfnis der Royal Navy veranlasst, eine konstante Ölversorgung für die Flotte sicherzustellen.

[25] Junius, Kap. 4.

[26] Der Erste Balkan-Krieg brach 1912 aus, als die Mitglieder des Balkan-Bundes (Serbien, Bulgarien und Montenegro) mit der stilschweigenden Unterstützung Russlands das Osmanische Reich angriffen. Obwohl kein Teil des Balkan-Bundes, schloss sich Griechenland den Kämpfen an, an deren Ende die osmanischen Armeen größtenteils besiegt waren: Das Osmanische Reich verlor zum ersten Mal seit 500 Jahren die meisten seiner europäischen Territorien. Der zweite Balkan-Krieg brach unmittelbar danach, im Jahr 1913, aus, als Bulgarien Serbien angriff, das mit der stillschweigenden Billigung der Griechen einen großen Teil Mazedoniens besetzt hatte, das ursprünglich Bulgarien versprochen worden war.

[27] Junius, Kap. 4.

[28] https://www.theguardian.com/commentisfree/2013/jun/17/1914-18-not-futile-war [97]

 

[29] Diese Dokumente wurden von den Deutschen beschlagnahmt, die beträchtliche Auszüge nach dem Krieg veröffentlichten. Wie Rosmer betont: „Die Einschätzungen der belgischen Repräsentanten in Berlin, Paris und London haben einen besonderen Wert. Belgien ist neutral, und sie können somit unvoreingenommener bei der Beurteilung von Ereignissen sein; darüber hinaus sind sie sich sehr wohl bewusst, dass ihr kleines Land, sollte der Krieg zwischen den beiden gegnerischen Blöcken ausbrechen, sich in ernster Gefahr befindet, insbesondere als Schlachtfeld zu dienen.“ (ebenda, eigene Übersetzung).

[30] Ebenda, S. 69.

[31] Ebenda, S. 70.

[32] Ebenda, S. 71.

[33] Ebenda, S. 73.

[34] Ebenda, S. 72

[35] Rosmer, S. 87.

[36] In der Tat hatte die Regierung bereits versucht, durch das Durchstecken von gefälschten Dokumenten zum Historiker Heinrich Friedjung, die den Anschein erwecken sollten, ein serbisches Komplott gegen Bosnien und Herzegowina zu enthüllen, Druck zu erzeugen (cf. Clark, loc 1890).

[37] Zitiert von Rosmer, S. 87, aus deutschen Dokumenten, die nach dem Krieg veröffentlicht wurden.

[38] Rosmer S. 87.

[39] ia700301.us.archive.org/18/items/tragedyoflordkit00esheutoft/tragedyoflordkit00esheuoft.pdf

 

[40] Rosmer, S. 102.

[41] Ebenda, S. 84.

[42] Eine Referenz an Emile Zolas vernichtende Attacke gegen die Regierung in der Dreyfus-Affäre.

[43] Das Außenministerium.

[44] Rosmer, S.91. Die Unterhaltung wurde in Charles Rappoports Jaurès-Biographie geschildert und von Abel Ferrys eigenen Papieren bestätigt. Vgl. Alexandre Croix, Jaurès et ses détracteurs, Editions Spartacus, S. 313.

[45] Jaurès wurde erschossen, als er im Café du Croissant gegenüber der L’Humanité speiste. Raoul Villain ähnelte in gewisser Weise Gavrilo Principe: labil, emotional fragil, zu politischem oder religiösem Mystizismus neigend – kurz: genau die Art Charakter, die die Geheimdienste als entbehrliche Provokateure benutzen. Nach dem Mord wurde Villain inhaftiert und verbrachte den Krieg im sicheren, wenn auch nicht komfortablen Gefängnis. In seinem Prozess wurde er freigesprochen, und Jaurès Witwe wurde dazu verdonnert, die Gerichtskosten zu tragen.

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Erster Weltkrieg

Der Anarchismus und der imperialistische Krieg: Nationalismus oder Internationalismus?

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"Aber die deutsche Sozialdemokratie war nicht bloß der stärkste Vortrupp, sie war das denkende Hirn der Internationale. Deshalb muss in ihr und an ihrem Fall die Analyse, der Selbstbesinnungsprozess ansetzen. Sie hat die Ehrenpflicht, mit der Rettung des internationalen Sozialismus, das heißt mit schonungsloser Selbstkritik voranzugehen. Keine andere Partei, keine andere Klasse der bürgerlichen Gesellschaft darf die eigenen Fehler, die eigenen Schwächen im klaren Spiegel der Kritik vor aller Welt zeigen, denn der Spiegel wirft ihr zugleich die vor ihr stehende geschichtliche Schranke und das hinter ihr stehende geschichtliche Verhängnis zurück. Die Arbeiterklasse darf stets ungescheut der Wahrheit, auch der bittersten Selbstbezichtigung ins Antlitz blicken, denn ihre Schwäche ist nur eine Verirrung, und das strenge Gesetz der Geschichte gibt ihr die Kraft zurück, verbürgt ihren endlichen Sieg.

Die schonungslose Selbstkritik ist nicht bloß das Daseinsrecht, sie ist auch die oberste Pflicht der Arbeiterklasse."

Das schrieb Rosa Luxemburg 1915 in Die Krise der deutschen Sozialdemokratie, besser bekannt als Junius-Broschüre, in ihrer Untersuchung über den Verrat, den die Mehrheit in der deutschen SPD und anderen sozialistischen Parteien gegenüber der wichtigsten Prüfung, dem imperialistischen Weltkrieg, begangen hatten. In dieser Passage brachte sie klar ein zentrales Element der marxistischen Methode zur Sprache: das Prinzip der permanenten „schonungslosen Selbstkritik“, weil sie sowohl notwendig als auch möglich für den Marxismus ist, weil es das theoretische Produkt der ersten Klasse in der Weltgeschichte ist, die „der Wahrheit stets ungescheut ins Antlitz blicken darf“. Während und nach dem Ersten Weltkrieg war die Absicht, zu den Wurzeln des Zusammenbruchs der Zweiten Internationale zu gehen, eine abgrenzende Eigenschaft der linken Strömungen, die aus den sozialdemokratischen Parteien hervorgegangen waren, die jetzt aber darauf hin arbeiteten, eine neue, ausdrücklich kommunistische Internationale zu gründen. Als ihrerseits die Dritte Internationale nach dem Rückgang der revolutionären Welle, die nach dem Krieg entstanden war, in den Opportunismus hineinschlitterte – ein Rückschritt, der sich symbolisch am stärksten in der Politik der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Verrätern ausdrückte – wurde die gleiche Arbeit der Kritik von den linkskommunistischen Fraktionen innerhalb der Dritten Internationalen geleistet, insbesondere von der deutschen, italienischen und russischen Linken.

1914 geriet auch die anarchistische Bewegung in eine Krise – nach dem Entscheid des viel verehrten Peter Kropotkin und einer Gruppe um ihn, den „Entente-Imperialismus“ gegen den anderen Block, der von Deutschland angeführt wurde, zu unterstützen, und nach der Übernahme der gleichen Politik durch die französische anarchosyndikalistische Gewerkschaft CGT.[1] Innerhalb der anarchistischen Bewegung gab es viele, die dem Internationalismus treu blieben, die auch das Verhalten von Kropotkin und anderen „Schützengraben-Anarchisten“ mutig bekämpften. Vermutlich war es eine Mehrheit der Anarchisten, die sich dem imperialistischen Krieg entgegenstellte. Aber im Unterschied zur marxistischen Linken gab es wenige Anstrengungen von Seiten bedeutender Teile der anarchistischen Bewegung, die Kapitulation von 1914 auf der Grundlage einer theoretischen Analyse zu untersuchen und zu verstehen. Während die marxistische Linke fähig war, die grundlegenden Methoden und Praktiken der sozialdemokratischen Parteien vor der ganzen Periode des Ersten Weltkriegs in Frage zu stellen, hat sich die Fähigkeit, der „schonungslosen Selbstkritik“ bei den Anarchisten nicht entwickelt. Sie wenden nicht die Methode des historischen Materialismus an, sondern stützen sich auf mehr oder weniger zeitlose abstrakte Prinzipien, die durchtränkt sind von der Auffassung, dass man eine Art Familie sei, die vereint für Freiheit und gegen den Autoritarismus kämpfe. Es kann Ausnahmen geben, ernsthafte Versuche, tiefer in die Problematik einzudringen; im Allgemeinen geschieht dies aber bei Anarchisten, die fähig gewesen sind, sich gewisse Elemente der theoretischen Methode des Marxismus anzueignen.

Diese Unfähigkeit, sich wirklich selbst in Frage zu stellen, ist in der Klassennatur des Anarchismus selbst begründet, der durch den Widerstand des Kleinbürgertums entstanden war, insbesondere durch die unabhängigen Handwerker, die sich der Proletarisierung entgegenstellten, die durch die Auflösung der Klassenstrukturen der Feudalgesellschaft im 19. Jahrhundert stattfand. Der französische Anarchist Pierre-Joseph Proudhon war die deutlichste Verkörperung dieser Strömung mit seiner Rückweisung des Kommunismus zu Gunsten einer Gesellschaft von unabhängigen Produzenten, die durch einen Äquivalententausch verbunden waren. Es ist sicher wahr, dass die Proudhonisten auch eine Bewegung darstellten, die sich mit dem Eintritt in die Erste Internationale zum Proletariat hin bewegte. Aber selbst in den ausdrücklichsten proletarischen anarchistischen Strömungen wie bei den Anarchosyndikalisten, die Ende des 19. Jahrhunderts auftauchten, wurde die inkonsequente, idealistische und ahistorische politische Auffassung, die typisch für die kleinbürgerliche Weltanschauung ist, nie ganz überwunden.

Der Preis für dieses Scheitern, keine wahren Lehren aus 1914 gezogen zu haben, wurde in voller Höhe in der neuen Krise bezahlt, die die anarchistische Bewegung infolge der Ereignisse in Spanien von 1936–37 erschütterte. Wichtige Teile der anarchistischen Bewegung, die 1914 nicht verraten hatten – insbesondere die spanische CNT – stürzten sich jetzt in die Unterstützung des imperialistischen Kriegs, in einen Konflikt zwischen zwei kapitalistischen Fraktionen, den Republikanern, die von der bürgerlichen Linken dominiert waren, und den rechten Kräften, die von Franco angeführt wurden. Diese Frontstellung war Teil einer weitaus breiteren imperialistischen Schlacht, am offensten zwischen den faschistischen Staaten Deutschland und Italien und dem neuen aufsteigenden russischen Imperialismus. Unter dem antifaschistischen Einheits-Banner integrierte sich die CNT schnell auf allen Ebenen in den republikanischen Staat, bis hin zur Teilnahme an der katalanischen und der madrilenischen Regierung. Das Wichtigste, die zentrale Rolle der CNT war, die ursprünglich authentische proletarische Antwort auf den frankistischen Staatsstreich, eine Antwort, die die Methode des proletarischen Klassenkampfes anwendete – den Generalstreik, die Verbrüderung der Truppen, Betriebsbesetzungen und die Bewaffnung der Arbeiter – in eine militärische Verteidigung der kapitalistischen Republik umzuwandeln. Angesichts der Stärke der ersten proletarischen Reaktion waren nicht nur die Anarchisten, sondern auch zahlreiche marxistische Strömungen außerhalb des Stalinismus in der einen oder anderen Weise in der Unterstützung der antifaschistischen Front beteiligt. Dies schloss nicht allein die opportunistischsten Tendenzen rund um Trotzki ein, sondern auch Teile der kommunistischen Linken, einschließlich eine Minderheit der Fraktion der Italienischen [kommunistischen] Linken. Andererseits gab es bei den Anarchisten auch gewisse Klassenreaktionen auf den Verrat der CNT, wie die der Freunde Durrutis und der Gruppe um Berneri „Guerra di Classe“. Aber eine wirkliche Klarheit über den Charakter des Kriegs verkörperte allein eine kleine Minderheit der marxistischen Linken, insbesondere die Italienische Fraktion, die die Zeitschrift Bilan herausgab. Letztere waren die Einzigen, welche die Behauptung zurückwiesen, dass der Krieg in Spanien in irgendeiner Weise den Interessen des Proletariats diene: Im Gegenteil war er eine Art Generalprobe für das bevorstehende imperialistische Weltgemetzel. Für Bilan war Spanien ein neues 1914, insbesondere für die anarchistische Bewegung.[2] Und 1939, mit dem neuen Weltkrieg konfrontiert, den Bilan vorausgesagt hatte, ließ sich eine Mehrheit der Anarchisten, die vom Antifaschismus vergiftet waren, in die Kriegsanstrengungen der Alliierten einbinden. Einerseits als Teil der „Resistance“ oder andererseits direkt als offizielle Verbündete der alliierten Armeen: An der Spitze der „Freiheits“-Parade in Paris 1944 fuhr ein Panzerwagen, mit den Fahnen der CNT geschmückt, die mit der freien französischen Armee Division unter General Leclerc gekämpft hatte. Noch einmal, es gab anarchistische Gruppen und einzelne Individuen, die während 1939–45 den internationalistischen Prinzipien treu blieben, aber einmal mehr gibt es wenig Hinweise auf eine systematische Untersuchung über den Verrat einer Mehrheit der Bewegung, zu der man immer noch gehören wollte. Das Resultat war wie nach dem Verrat von 1914, dass man es versäumte, eine Klassengrenze zwischen den Internationalisten und den Anarcho-Patrioten zu ziehen: In vielen Fällen wurden letztere einfach wieder in ihre „Gruppe von Freunden“ integriert, welche die anarchistische Bewegung im Grunde ist, wenn sich die Dinge nach dem Krieg wieder „normalisieren“. Hinter dieser Unfähigkeit, Klassenprinzipien in einer unnachgiebigen Art zu verteidigen, ist nicht nur eine intellektuelle Schwäche, sondern auch eine Schwäche, sich moralisch zu empören: Alles wird verziehen, wenn du innerhalb der Familie bleibst.

Heute steht die Frage des Krieges wieder vor dem Weltproletariat. Kein Weltkrieg zwischen bestehenden Blöcken, sondern ein allgemeinerer, chaotischerer Abstieg in die militärische Barbarei auf dem ganzen Planeten, wie die Kriege in Afrika, im Nahen Osten und in der Ukraine es veranschaulichen. Diese Kriege sind erneut imperialistische Kriege, in denen die größeren kapitalistischen Staaten mittels verschiedener lokaler oder nationaler Gruppierungen gegen ihre Konkurrenten kämpfen, und sie sind alle Ausdrucksformen des zunehmenden Abstiegs in die Selbstzerstörung. Und wieder einmal beteiligt sich ein Teil der anarchistischen Bewegung offen an diesen imperialistischen Konflikten:

·          In Russland und der Ukraine gibt es eine gesteigerte Aktivität von anarchistisch-nationalistischen oder 'ethno-anarchistischen' Gruppen, die offen als 'libertärer' Flügel der Kriegstreiberei im jeweiligen Land funktionieren. Aber auch eine 'respektablere' anarchistische Gruppe, wie die Autonomous Workers‘ Union (Autonome Arbeitergewerkschaft), die Texte auf libcom veröffentlicht und auf der jährlichen anarchistischen Buchmesse (in GB) dieses Jahr ein Treffen abhielt, hat ihre tiefe Unklarheit über den aktuellen Krieg offenbart: In einigen offiziellen Erklärungen scheint sie eine Gegenposition zur ukrainischen Regierung wie auch zu den pro-russischen Separatisten, der NATO und der russischen Föderation einzunehmen, aber Erklärungen einiger führender Mitglieder dieser Gruppierung auf Facebook erzählen eine andere Geschichte, offenbar verteidigen sie die Kiewer Regierung und ihren Krieg gegen die russische Intervention und rufen sogar die NATO zur Unterstützung auf[3].

·          In Rojava oder dem syrischen Kurdistan unterstützen das Kurdish Anarchist Forum (kurdisch-anarchistisches Forum) und die türkische DAF (Devrimci Anarşist Faaliyet - revolutionäre anarchistische Aktivisten) die sogenannte 'Rojava-Revolution', beteiligen sich an ihr und machen Propaganda für sie; sie behaupten, dass sich die lokale Bevölkerung in unabhängigen Kommunen in ihrem Kampf gegen die syrische Regierung und vor allem gegen die brutalen Dschihadisten des Islamischen Staates organisiere. Die DAF bietet ihre Dienste denjenigen an, die sich an den Kämpfen um die belagerte Stadt Kobane, nahe der türkischen Grenze, beteiligen wollen. In Wirklichkeit werden diese Kommunen von der kurdisch-nationalistischen PKK, die sich in den letzten Jahren vom Maoismus distanziert und Richtung "liberalen Kommunalismus" (à la Murray Bookchin)[4] orientiert hat, streng kontrolliert.

·          Anarchistische Leute im Westen werden ebenfalls in die Kampagne zur 'Solidarität mit Kobane' einbezogen, die effektiv eine Kampagne zur Solidarität mit der PKK ist. Der anarchistische Promi, David Graeber, hat für The Guardian einen Artikel geschrieben mit dem Titel: "Warum ignoriert die Welt die revolutionären Kurden in Syrien?"[5], in dem er die PKK-Übungen in 'direkter Demokratie' als eine 'soziale Revolution' beschreibt und sie mit den anarchistischen Kollektiven in Spanien 1936 vergleicht und verlangt, dass die "internationalen Linke" eine Wiederholung der gleichen tragischen Niederlage verhindere. Eine ähnliche Perspektive wird von einem Schreiber verteidigt, der auf libcom als Ocelot zeichnet, auch wenn seine Argumente für den Antifaschismus und für die "revolutionären Kurden" eine verfeinerte Version der gleichen Sache bieten, denn er weiß von dem, was er die "bordigistische Position" zur Frage des Faschismus nennt, und ist vehement dagegen[6]. Vielleicht noch wichtiger ist die Reaktion der etablierten anarchistischen Organisationen. In Frankreich z. B. beteiligt sich die CNT-AIT[7] an Demonstrationen zur 'Solidarität mit Kobane' hinter dem Transparent mit der Parole: "Waffen für den kurdischen Widerstand, Rojava ist die Hoffnung, solidarische Anarchisten" (siehe Foto). Die Fahnen der Französischen Fédération Anarchiste sind hinter dem gleichen Transparent zu sehen, während die Internationale der Anarchistischen Föderationen, in der die französische FA und die Anarchist Federation in Großbritannien zusammen geschlossen sind und welche die DAF und KAF als befreundete Organisationen auflistet, die meisten Artikel der DAF über die Lage in Kobane kommentarlos publiziert.

Natürlich gibt es Leute innerhalb des Anarchismus, die sehr konsequent in ihrer Ablehnung der Unterstützung des Nationalismus gewesen sind. Wir haben bereits die internationalistische Stellungnahme von KRAS, der russischen Sektion der anarchosyndikalistischen Internationalen Arbeiterassoziation gegen den Krieg zwischen Russland und Ukraine veröffentlicht[8], und wir haben darauf hingewiesen, dass ein Mitglied von KRAS, das als foristaruso auftritt, auf libcom einige sehr harte Kritiken an den Positionen der AWU gepostet hat (siehe Fußnote 3). Auf einem der Hauptdiskussionsstränge auf libcom zur Situation im Nahen Osten haben einzelne Genossen nachdrücklich gegen die pro-PKK-Linie argumentiert, insbesondere ein Mitglied der britischen Sektion der IAA (Solidarity Federation), das als AES auftritt. Das Kollektiv, das die libcom-Webseite betreibt, hat zwei Artikel zur PKK und Rojava verlinkt, die aus einer linkskommunistischen Perspektive geschrieben sind: die 'Warnung' der IKS vor dem neuen libertären Facelifting der PKK (siehe Fußnote 4) und der Artikel "Das Blutbad in Syrien: Klassenkrieg oder ethnischer Krieg"[9], geschrieben von Devrim und zuerst auf der Webseite von Internationalistische Kommunistische Tendenz veröffentlicht. In den darauffolgenden Kommentaren finden sich wütende und verleumderische Antworten von Schreibern, die wahrscheinlich Mitglieder oder Anhänger der türkischen DAF sind.

Zum Zeitpunkt des Verfassens des vorliegenden Artikels hat die AF in Großbritannien eine Stellungnahme veröffentlicht, die keine Illusionen über den linksbürgerlichen, nationalistischen Charakter der PKK hat und zeigt, dass die Ausrichtung auf den Bookchinismus und die "föderale Demokratie" von oben durch ihren großen Führer Öcalan initiiert wurde, der schon ähnliche Avancen gegenüber dem Assad-Regime, dem türkischen Staat und gegenüber dem Islam vorgetragen hat[10]. Die AF hat den Mut zuzugeben, dass die von ihr eingenommene Position angesichts der großen Anzahl von Anarchisten, die sich für die Unterstützung der ‚Rojava-Revolution’ mobilisieren lassen, nicht gut ankommen werde. Aber wir sehen hier noch einmal eine totale Inkohärenz innerhalb derselben 'internationalen' Tendenz. Die Stellungnahme der AF enthält keine Kritiken weder an der DAF noch an der IAF, und in ihrer Liste konkret vorgeschlagener Maßnahmen am Ende der Stellungnahme findet sich ein Aufruf zur "humanitären Hilfe zugunsten von Rojava via IFA, die einen direkten Kontakt zur DAF hat". Dies ist ein Zugeständnis an die Logik: "wir müssen jetzt etwas tun", die im anarchistischen Milieu stark verbreitet ist – „etwas zu tun“, auch wenn die Hilfe (ob militärisch oder humanitär), die von einer kleinen Gruppe in der Türkei organisiert wird, zwangsläufig in die Hände von größeren Organisationen wie der PKK spielen wird. Und dies ist denn auch das, was die DAF vorschlägt, indem sie Freiwillige angeboten hat, die in den unter der Kontrolle der PKK stehenden "Volksschutzeinheiten" oder YPG kämpfen wollen. Die AF schreibt auch, dass sie darauf abzielt, "jede unabhängige Aktion der Arbeiter und Bauern in der Rojava-Region zu fördern und zu unterstützen. Gegen jede nationalistische Agitation und für die Vereinigung von kurdischen, arabischen, muslimischen, christlichen und yezidischen Arbeitern und Bauern einzutreten. Solche unabhängigen Initiativen müssen sich von der Kontrolle der PKK/PYD befreien und ebenfalls von der Hilfe der westlichen Alliierten, von deren Klienten wie der Freien Syrischen Armee, von Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans und vom türkischen Staat". Aber diese Ziele sind nicht zu erreichen, wenn nicht auch gegen die Unterstützung der PKK durch die DAF selber argumentiert wird.

Es ist kein Zufall, dass die konsequentesten Antworten auf die Situation in Rojava in der Tradition der kommunistischen Linken geschrieben worden sind. Was die Antwort der Anarchisten im Allgemeinen auszeichnet, ist ihre völlig fehlende Kohärenz. Wenn man die Webseiten der IWA, der CNT-AIT oder der Solidarity Federation anschaut, so stellt man ihre enge Sicht auf unmittelbare und lokale Arbeiterkämpfe fest, in die sie selber einbezogen sind[11] - ziemlich im Stile der ökonomistischen Strömungen, die Lenin vor etwa 100 Jahren kritisiert hat. Die großen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Ereignisse auf der Welt werden kaum erwähnt, und es gibt kein Anzeichen von Debatten über grundsätzliche Fragen zum Internationalismus und zum imperialistischen Krieg, auch wenn es darüber offensichtlich ernsthafte Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Strömung - vom Internationalismus bis zum Nationalismus - gibt. Dieser Mangel an Debatten, diese Vermeidung der Konfrontation der sich widersprechenden Positionen - die wir auch in der IAF beobachten - ist weit gefährlicher als die Krise, die die anarchistischen Bewegung 1914 und 1936 getroffen hat, als es noch eine viel heftigere Reaktion auf den Verrat der Prinzipien in den Reihen der Bewegung gab. Der Anarchismus bleibt eine Familie, die bürgerliche und proletarische Positionen leicht unter einen Hut bringen kann und in diesem Sinne noch die Unbestimmtheit, die Schwankungen der gesellschaftlichen Schichten, die zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft gefangen sind, wiederspiegelt. Diese Atmosphäre ist ein Hindernis für die Klärung und hält selbst die klarsten und entschlossen internationalischen Individuen oder Gruppierungen davon ab, zu den Wurzeln des jüngsten Problems der anarchistischen Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie vorzustoßen. Ihre Positionen bis zu ihren logischen Schlussfolgerungen weiter zu treiben, würde eine gründliche Untersuchung früherer Krisen im anarchistischen Milieu verlangen, vor allem derjenigen von 1936, die nach der Argumentation in den letzten Artikeln unserer Internationalen Revue die fatalen Schwächen des Anarchismus schonungslos enthüllten. In letzter Instanz würde eine solche Untersuchung eine grundsätzliche Kritik des Anarchismus und eine echte Aneignung der marxistischen Methode verlangen.

Amos, 3.12.2014

[1] Siehe in der Serie über die CGT folgende Artikel (auf Englisch, Spanisch oder Französisch):

https://en.internationalism.org/ir/120_cgt.html [101]. Der Link zur ganzen Serie: https://en.internationalism.org/series/271 [102]

Ein anderer Artikel, aber zum gleichen Thema auf Deutsch: https://de.internationalism.org/welt156_anarchistenkrieg [103]

[2] Siehe insbesondere: https://en.internationalism.org/ir/2008/132/spain_1934; [104] https://en.internationalism.org/ir/133/spain_cnt_1936; [105] https://en.internationalism.org/internationalreview/201409/10367/war-spa... [106]. Die Fortsetzung des letzten Artikels über dissidente Anarchisten in Spanien und anderwo wird bald erscheinen.

[3] Vgl. die Threads auf libcom, die foristaruso begonnen hat, ein Mitglied der russischen anarchosyndikalitischen Gruppe KRAS, Sektion der IAA: https://libcom.org/news/about-declaration-awu-confrontation-ukraine-2306... [107] https://libcom.org/news/when-patriotic-anarchists-tell-verity-02072014; [108] https://libcom.org/forums/news/ukrainian-crisis-left-necessary-clarifica... [109]

[4] https://en.internationalism.org/icconline/201304/7373/internationalism-only-response-kurdish-issue [110]

[5] https://www.theguardian.com/commentisfree/2014/oct/08/why-world-ignoring-revolutionary-kurds-syria-isis [111]  

[6] https://www.libcom.org/forums/news/isis-17062014 [112]

[7] AIT steht für Association International des Travailleurs (Internationale Arbeiterassoziation IAA).

[8] https://en.internationalism.org/worldrevolution/201403/9565/internationa... [113]

[9] https://libcom.org/blog/bloodbath-syria-class-war-or-ethnic-war-03112014 [114]

[10] https://www.libcom.org/news/anarchist-federation-statement-rojava-decemb... [115]

[11] Die Foto mit dem CNT-AIT-Transparent ist typisch für den Stil dieser Artikel aus dem anarchosyndikalistischen Milieu, die wenn immer möglich zeigen, welche wesentliche Rolle IAA-Leute bei diesem oder jenem Kampf spielten – folgerichtig mit Blick auf ihr Verständnis, dass sie die Rolle hätten, die Klasse in revolutionären Gewerkschaften zu organisieren.

Aktuelles und Laufendes: 

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Politische Strömungen und Verweise: 

  • "Offizieller" Anarchismus [117]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [82]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die "Einheitsfront" [118]

Rubric: 

Anarchismus und Imperialismus

Internationale Revue – 2016

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Internationale Revue 53

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40 Jahre nach der Gründung der IKS:

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Welche Bilanz, welche Perspektiven für unsere Aktivitäten?

„Der Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewährt“ (Rosa Luxemburg, Antikritik, Ges. Werke, Bd. 5, S.523)

Die IKS hielt im letzten Frühjahr ihren 21. Kongress ab. Er fiel zeitlich zusammen mit der 40-jährigen Existenz unserer Organisation. Aus diesem Grund entschieden wir uns, diesem Kongress einen außerordentlichen Charakter zu geben mit dem zentralen Anliegen, die Grundlagen zu schaffen für eine kritische Bilanz unserer Analysen und Aktivitäten über diese vier Jahrzehnte. Die Arbeit des Kongresses sollte daher ein möglichst klares Licht auf unsere Stärken und Schwächen werfen und feststellen, was in unseren Analysen gültig ist und wo wir uns geirrt haben. Dies mit dem Ziel, uns zu stärken und unsere Schwächen zu überwinden.

Diese kritische Bilanz reiht sich ein in die Kontinuität einer Herangehensweise, die der Marxismus in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer gehabt hat. So waren Marx und Engels durch ihre historische und selbstkritische Methode fähig zu erkennen, dass sich gewisse Abschnitte des Kommunistischen Manifestes als falsch oder durch die geschichtliche Erfahrung überholt herausstellten. Es ist diese Fähigkeit, die eigenen Fehler zu kritisieren, welche es den Marxisten ermöglichte, theoretische Schritte zu machen und weiterhin ihren Beitrag zur revolutionären Perspektive der Arbeiterklasse zu leisten. In derselben Weise, wie Marx die Lehren aus der Erfahrung der Pariser Kommune und ihrer Niederlage ziehen konnte, war die Italienische Linke[1] fähig, die tiefe Niederlage des Weltproletariates Ende der 1920er Jahre zu erkennen und eine „Bilanz“[2] der revolutionären Welle von 1917-23 und der programmatischen Positionen der Dritten Internationale zu ziehen. Diese kritische Bilanz ermöglichte es ihr trotz ihren Schwächen, unschätzbare theoretische Schritte nach vorne zu machen, einerseits auf der Ebene der Analyse der konterrevolutionären Epoche, andererseits auf der Ebene der Organisationsfrage, und so die Rolle einer Fraktion in einer degenerierenden proletarischen Partei als Brücke zu einer zukünftigen Partei zu verstehen, wenn jene ins Lager der Bourgeoisie übergegangen ist.

Dieser außergewöhnliche Kongress der IKS fand im Kontext unserer letzten internen Krise statt, welche vor einem Jahr eine internationale Außerordentliche Konferenz erfordert hatte.[3] Alle Delegationen hatten diesen Kongress mit größter Ernsthaftigkeit vorbereitet und nahmen an den Debatten teil – dies mit klarem Verständnis des Ziels und der Notwendigkeit für alle Generationen von Mitgliedern, diese kritische Bilanz von 40 Jahren IKS zu ziehen. Für alle Genossen (und namentlich für die jüngeren), welche nicht schon seit der Gründung Mitglieder der IKS sind, waren dieser Kongress und seine Vorbereitungstexte ein Moment, um die gesamte Erfahrung der IKS kennenzulernen, indem sie aktiv an der Arbeit des Kongresses durch ihre Stellungnahme in den Debatten teilnahmen.

Die kritische Bilanz unserer Analysen der internationalen Situation

Die Gründung der IKS war ein Resultat des Endes der Konterrevolution und der historischen Wiederaufnahme des Klassenkampfes, welche sich vor allem in der Bewegung vom Mai 68 in Frankreich ausdrückte. Die IKS ist die einzige Organisation der Kommunistischen Linken, welche diese Ereignisse im Rahmen des neuen Ausbruchs der permanenten Krise des Kapitalismus analysierte. Am Ende der „30 Glorreichen Jahre“ nach dem Zweiten Weltkrieg und durch die Aufrüstungsspirale des Kalten Krieges stellte sich von neuem die Alternative „Weltkrieg oder Entfaltung des proletarischen Klassenkampfes“. Der Mai 68 und die Welle von Arbeiterkämpfen, die sich weltweit entwickelten, eröffneten einen neuen historischen Kurs: Nach 40 Jahren Konterrevolution erhob sich das Proletariat von neuem und war nicht bereit, sich unter dem Motto der nationalen Verteidigung für einen dritten Weltkrieg mobilisieren zu lassen.

Der Kongress unterstrich, dass das Auftauchen einer neuen internationalen und internationalistischen Organisation den Rahmen unserer Analyse über den neuen historischen Kurs bestätigt hatte. Mit diesem Konzept gerüstet (sowie auch mit der Analyse, dass der Kapitalismus mit dem Ersten Weltkrieg in seine historische dekadente Phase eingetreten war), hat die IKS seit ihrer Gründung die drei Aspekte der internationalen Situation – die Entwicklung der ökonomischen Krise, des Klassenkampfes und der imperialistischen Konflikte – analysiert, um nicht dem Empirismus zu verfallen, sondern umgekehrt ständig eine Orientierung für ihre Aktivitäten zu erarbeiten. Dennoch versuchte der Kongress so klar wie möglich, die Fehler, die von uns in unseren Analysen begangen wurden, zu erkennen und damit den Rahmen der Analyse zu verbessern.

Auf der Grundlage des Berichts über die Entwicklung des Klassenkampfes seit 1968 unterstrich der Kongress, dass die größte Schwäche der IKS seit ihrer Entstehung in einem Phänomen bestand, das wir Immediatismus nannten, d.h. eine politische Herangehensweise, die durch Ungeduld gekennzeichnet ist, die unmittelbaren Ereignisse zum Maßstab nimmt und die umfassende geschichtliche Perspektive, in der sich diese Ereignisse zutragen, aus den Augen verliert. Auch wenn wir richtigerweise erkannt hatten, dass die Wiederaufnahme des Klassenkampfes Ende der 1960er Jahre einen neuen historischen Kurs eröffnete, so war die Bezeichnung dieses Kurses als „Kurs zur Revolution“ ein Fehler, den wir bald korrigieren mussten, um fortan die Bezeichnung „Kurs zu Klassenkonfrontationen“ zu verwenden. Doch auch diese bessere Bezeichnung ließ aufgrund einer gewissen Offenheit Raum für eine schematische Sichtweise, wonach sich der Klassenkampf linear entwickle und die dazu führte, dass viele GenossInnen in unserer Organisation davor zurück schreckten, die Schwierigkeiten, Niederlagen und Zeiten des Rückflusses des proletarischen Klassenkampfes anzuerkennen.

Die Unfähigkeit der Bourgeoisie, die Arbeiterklasse der zentralen Länder für einen dritten Weltkrieg zu mobilisieren, bedeutete nicht, dass die Wellen von internationalen Klassenkämpfen, die bis 1989 stattfanden, sich in mechanischer und unausweichlicher Weise bis zur Eröffnung einer revolutionären Periode fortsetzen würden. Der Kongress erkannte, dass die IKS das Gewicht des Bruchs der historischen Kontinuität mit der alten Arbeiterbewegung unterschätzt hatte, sowie auch das ideologische Gewicht von 40 Jahren Konterrevolution innerhalb der Arbeiterklasse, welches sich nicht nur in einem Misstrauen gegenüber kommunistischen Organisationen ausdrückt, sondern auch in einer Ablehnung derselben.

Der Kongress unterstrich auch eine andere Schwäche der IKS in ihren Analysen des Kräfteverhältnisses zwischen den gesellschaftlichen Klassen: die Tendenz, das Proletariat andauernd, in jedem Kampf „in der Offensive“ zu sehen, auch wenn diese Kämpfe nur Verteidigungskämpfe seiner unmittelbaren ökonomischen Interessen blieben (so umfangreich und bedeutend sie oft waren) und keine politische Dimension erlangten.

Die Arbeit des Kongresses erlaubte es uns zu verstehen, dass den Schwierigkeiten bei der Analyse der Entwicklung des Klassenkampfes eine falsche Vision der kapitalistischen Produktionsweise zugrunde liegt, die die Tendenz hatte, die Tatsache aus dem Auge zu verlieren, dass das Kapital zuallererst ein soziales Verhältnis ist. Dies bedeutet, dass die Bourgeoisie den Aspekt des Klassenkampfes in ihrer Wirtschaftspolitik und bei den Angriffen gegen die Arbeiterklasse berücksichtigen muss. Der Kongress hob ebenfalls ein mangelhaftes Verständnis in der IKS hinsichtlich der Theorie von Rosa Luxemburg als Erklärung für die Dekadenz des Kapitalismus hervor. Nach Rosa Luxemburg ist der Kapitalismus für die Fortsetzung seiner Akkumulation darauf angewiesen, Absatzmärkte in außerkapitalistischen Bereichen zu finden. Das fortschreitende Verschwinden dieser Bereiche verurteilt den Kapitalismus zu wachsenden Erschütterungen. Unsere Plattform bezieht sich auf diese Analyse (auch wenn eine Minderheit unserer GenossInnen sich auf eine andere Analyse stützt: die des tendenziellen Falls der Profitrate). Das mangelhafte Verständnis der Analyse von Rosa Luxemburg (die im Buch Die Akkumulation des Kapitals zu finden ist) drückte sich in einer „katastrophistischen“ Sichtweise aus, in einer apokalyptischen Vorstellung des Zusammenbruchs der Weltwirtschaft. Der Kongress stellte fest, dass die IKS seit ihrer Gründung den Entwicklungsrhythmus der Wirtschaftskrise immer wieder überschätzte. Aber in den letzten Jahren und vor allem bei der Staatsschuldenkrise waren unsere Analysen vom Grundgedanken getragen, der Kapitalismus könne von sich aus zusammenbrechen, weil die Bourgeoise sich in einer „Sackgasse“ befinde und alle Linderungsmittel ausgeschöpft habe, welche es ihr erlaubt hatten, das Überleben ihres Systems künstlich zu verlängern.

Diese „katastrophistische“ Sichtweise gründet zu einem guten Teil auf einem Mangel an Verständnis unserer Analyse des Staatskapitalismus, auf einer Unterschätzung der eigentlich schon seit langem erkannten Fähigkeiten der Bourgeoisie, aus der Krise der 1930er Jahre ihre Lehren zu ziehen und den Niedergang ihres Systems mit allen möglichen Manipulationen, Tricks mit dem Wertgesetz, mit einer ständigen Staatsintervention in die Wirtschaft zu begleiten. Sie gründet ebenfalls auf einem beschränkten und schematischen Verständnis der ökonomischen Theorie von Rosa Luxemburg und der falschen Idee, der Kapitalismus habe seit 1914 oder seit den 1960er Jahren all seine Fähigkeiten zur Expansion verloren. In Wahrheit liegt, wie Rosa Luxemburg hervorhob, die wirkliche Katastrophe des Kapitalismus in der Tatsache, dass er die Menschheit in einen Niedergang führt, einen langen Todeskampf, in dem die Gesellschaft in eine immer schlimmere Barbarei stürzt.

Dieser Fehler, der darin besteht, jegliche Möglichkeit zur Expansion des Kapitalismus in seiner Niedergangsphase zu negieren, erklärt die Schwierigkeiten der IKS, den Aufstieg und die rasante industrielle Entwicklung Chinas (und anderer peripherer Länder) nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu verstehen. Auch wenn diese industrielle Entwicklung in keiner Weise unsere Analyse der Dekadenz des Kapitalismus in Frage stellt[4], so hat sich die Vision, nach der in der Phase der Dekadenz keinerlei Entwicklung in den Ländern der Dritten Welt stattfinden könne, nicht bestätigt. Dieser Fehler hinderte uns daran, wie der Kongress unterstrichen hat, zu verstehen, dass der Bankrott des alten autarken Modells der stalinistischen Länder neue, bisher eingefrorene Sphären für die kapitalistischen Investitionen eröffnete[5] (inklusive die Integration einer enormen Masse von Arbeitern in die Lohnsklaverei, welche zuvor außerhalb von direkt kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen gelebt hatten und nun einer brutalen Überausbeutung unterworfen werden).

Bezüglich der imperialistischen Spannungen hob der Kongress hervor, dass die IKS im Allgemeinen, sowohl was die Epoche des Kalten Krieges zwischen den rivalisierenden Blöcken als auch was die Situation nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Ostblocks und der UdSSR anbelangt, eine sehr solide Analyse entwickeln konnte. Unsere Analyse des Militarismus, des Zerfalls des Kapitalismus und der Krise der osteuropäischen Länder erlaubte es uns, die Probleme, welche zum Zusammenbruch des Ostblocks führen sollten, zu erkennen. Die IKS war auch die erste Organisation, welche das Verschwinden der beiden Blöcke – der eine dirigiert durch die UdSSR und der andere durch die USA – voraussah wie auch den Niedergang der Hegemonie der USA und die Entwicklung einer Tendenz zum „Jeder gegen Jeden“ auf der imperialistischen Bühne, nachdem die militärischen Blöcke verschwunden waren.[6]

Wenn die IKS fähig war, die Dynamik der imperialistischen Spannungen zu begreifen, dann deshalb, weil sie den spektakulären Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regime als hauptsächlichen Ausdruck des Eintritts des Kapitalismus in seine letzte Phase der Dekadenz analysieren konnte: den Zerfall. Der Rahmen dieser Analyse war der letzte Beitrag, den der Genosse MC[7] der IKS vermachte, damit diese sich einer historischen Situation hat stellen können, welche neu und besonders schwerwiegend gewesen ist. Seit mehr als 20 Jahren bestätigen der Aufstieg des religiösen Fanatismus und Fundamentalismus, die Ausbreitung des Terrorismus und des Nihilismus, die Entfesselung der Barbarei in den bewaffneten Konflikten, das Wiederaufkommen von Pogromen (und im Allgemeinen der Mentalität, nach Sündenböcken zu suchen) diese Analyse aufs Vollste.

Auch wenn die IKS verstanden hat, wie die herrschende Klasse den Zusammenbruch des Ostblocks, diesen Ausdruck des Zerfalls ihres eigenen Systems, hat verwenden können, um Kampagnen gegen die Arbeiterklasse über die „Niederlage des Kommunismus“ zu entfesseln, so haben wir dennoch deren Auswirkungen auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse und auf die Entwicklung ihrer Klassenkämpfe massiv unterschätzt.

Wir haben die Tatsache unterschätzt, wie stark die vergiftende Atmosphäre des sozialen Zerfalls (wie auch die De-Industrialisierung und die Politik der Auslagerung in gewissen zentralen Ländern) zu einer Untergrabung des Selbstvertrauens und der Solidarität in der Arbeiterklasse beiträgt und den Verlust der Klassenidentität verstärkt. Wegen dieser Unterschätzung der Schwierigkeiten in der neuen Periode, die durch den Zusammenbruch des Ostblocks eröffnet wurde, hat die IKS eine Tendenz zur Illusion gehabt, die Zuspitzung der ökonomischen Krise und der Angriffe gegen die Arbeiterklasse würden zwangsläufig und mechanisch „Kampfwellen“ hervorrufen, welche sich mit den gleichen Charakteristiken und in ähnlicher Weise wie in den 1970er und 80er Jahren entwickeln. Insbesondere haben wir, auch wenn wir zu Recht die Bewegung gegen das CPE-Gesetz in Frankreich und der Indignados in Spanien begrüßt haben, die enormen Schwierigkeiten unterschätzt, mit der die junge Generation heute konfrontiert ist, um eine Perspektive in ihren Kämpfen zu entwickeln (vor allem das Gewicht der demokratischen Illusionen, die Angst vor und die Ablehnung des Wortes „Kommunismus“ und die Tatsache, dass diese Generation nicht von der lebendigen Übermittlung der Erfahrungen der Arbeiter, die heute pensioniert sind und an den Kämpfen in den 1970er und 80er Jahren teilgenommen haben, profitieren kann). Diese Schwierigkeiten betreffen nicht nur die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit, sondern auch die jungen Elemente, die heute auf der Suche sind und sich politisch betätigen wollen.

Die Isolation und der vernachlässigbare Einfluss der IKS (wie aller historischer Gruppen der Kommunistischen Linken) innerhalb der Arbeiterklasse seit vier Jahrzehnten und insbesondere seit 1989 zeigen, dass die Perspektive einer weltweiten proletarischen Revolution noch in weiter Ferne liegt. Dass die Arbeiterklasse 40 Jahre später den Kapitalismus noch nicht überwunden hat, hätte sich die IKS bei ihrer Gründung nicht vorstellen können. All dies belegt aber nicht den Irrtum des Marxismus und die Ewigkeit des kapitalistischen Systems. Der Hauptfehler, den wir begangen haben, liegt in der Unterschätzung der Langsamkeit, mit der sich die Wirtschaftskrise seit ihrem Beginn am Ende der Wiederaufbauperiode nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, sowie in der Unterschätzung der Fähigkeiten der herrschenden Klasse, den historischen Niedergang ihrer kapitalistischen Produktionsweise zu begleiten und zu bremsen.

Der Kongress hat ebenfalls gezeigt, wie unsere letzte interne Krise (und die Lehren, die wir daraus gezogen haben) es der IKS erlaubt hat, damit zu beginnen, sich eine fundamentale Errungenschaft der Arbeiterklasse wieder anzueignen, welche schon von Engels beleuchtet wurde: Der Kampf des Proletariats enthält drei Dimensionen. Eine ökonomische, eine politische und eine theoretische Dimension. Es ist diese theoretische Dimension, welche das Proletariat in seinen zukünftigen Kämpfen entwickeln muss, um seine Identität als revolutionäre Klasse wiederzufinden, um dem Gewicht des sozialen Zerfalls etwas entgegenstemmen zu können und um seine eigene Perspektive der gesellschaftlichen Umwälzung voran zu stellen. Wie Rosa Luxemburg es ausdrückte, ist die proletarische Revolution allem voran eine breite „kulturelle Bewegung“, denn die kommunistische Gesellschaft hat nicht nur das Ziel der Befriedigung der vitalen materiellen, sondern auch der sozialen, intellektuellen und moralischen Bedürfnisse der Menschheit. Indem wir uns dieser Lücke in unserem Verständnis des Kampfes der Arbeiterklasse bewusst geworden sind (die sich durch eine „ökonomistische“ und vulgärmaterialistische Tendenz ausdrückte), haben wir nicht nur das Wesen unserer letzten internen Krise begreifen, sondern auch verstehen können, dass diese „moralische und intellektuelle“ Krise, die wir schon anlässlich unserer Außerordentlichen Konferenz 2014 untersucht haben[8], in Wirklichkeit schon seit 30 Jahren existiert. Dies, weil die IKS an einem Mangel an Reflexion und vertieften Diskussionen über die Wurzeln all ihrer organisatorischen Schwierigkeiten gelitten hat, mit welchen sie seit ihrer Gründung und speziell seit Ende der 1980er Jahre konfrontiert gewesen ist.

Die Rolle der IKS: „einer der Fraktion ähnelnde Rolle“

Um eine kritische Bilanz über 40 Jahre IKS ziehen zu können, hat der Kongress nicht nur eine Diskussion über einen allgemeinen Aktivitätsbericht in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch über einen Bericht zur „fraktionsähnlichen“ Rolle der IKS diskutiert.

Unsere Organisation hat nie den Anspruch gehabt, eine Partei zu sein (und noch weniger die Weltpartei der Arbeiterklasse).

Unsere Gründungstexte hoben hervor: „Die Anstrengung unserer Strömung, sich als Umgruppierungspol um Klassenpositionen zu konstituieren, reiht sich in einen Prozess ein, der in Richtung der Formierung der Partei im Moment der intensiven und generalisierten Kämpfe geht. Wir gehen nicht davon aus, eine ‚Partei‘ zu sein.“ (Internationale Revue Nr. 1 (engl./franz./span. Ausgabe) „Bilanz der internationalen Gründungskonferenz der IKS“). Die IKS muss noch immer eine Arbeit leisten, die zahlreiche Ähnlichkeiten zur Fraktion aufweist, auch wenn sie keine Fraktion ist.

Die IKS ist nach einem organischen Bruch mit den früheren kommunistischen Organisationen entstanden und nicht aus einer bereits existierenden Organisation herausgewachsen. Wir haben daher keinerlei organische Kontinuität mit einer bestimmten Gruppe oder Partei. Der einzige Genosse (MC), welcher aus einer Fraktion der Arbeiterbewegung der 3. Internationale kam, konnte nicht die Kontinuität einer Gruppe repräsentieren, er war schlicht die einzige „lebende Verbindung“ mit der früheren Arbeiterbewegung. Weil die IKS nicht einer degenerierten Partei entsprang, welche die proletarischen Prinzipien verraten hatte und ins Lager des Kapitals gewechselt war, wurde sie nicht im Kontext des Kampfes gegen eine solche Degeneration gegründet. Die Hauptaufgabe der IKS ist, wegen des organischen Bruchs und wegen der Tiefe der 40-jährigen Konterrevolution, zuallererst einmal die Wiederaneignung der Positionen der Gruppen der Kommunistischen Linken, die uns vorangegangen sind.

Die IKS musste sich „von Null an“ auf einer internationalen Ebene gründen und entwickeln. Diese neue internationale Organisation musste „an Ort und Stelle“ alles lernen, unter neuen historischen Bedingungen und dies mit einer ersten Generation von jungen unerfahrenen Militanten, welche aus der Studentenbewegung des Mai 68 kamen und stark vom Gewicht des Kleinbürgertums, der Ungeduld, der Atmosphäre des „Konflikts zwischen den Generationen“ und der Angst vor dem Stalinismus, die sich von Beginn weg in einem Misstrauen gegen die Zentralisierung ausdrückte, geprägt waren.

Seit ihrer Gründung hat sich die IKS die Erfahrungen der Organisationen der vergangenen Arbeiterbewegung angeeignet (vor allem des Bundes der Kommunisten, der Ersten Internationale, von BILAN und der Französischen Kommunistischen Linken), um sich Statuten und Prinzipien der Funktionsweise zu geben, die integraler Bestandteil der Plattform sind. Doch anders als die Organisationen der Vergangenheit verstand sich die IKS nie als eine föderalistische Organisation, die aus einer Summe von nationalen Sektionen besteht, von welchen jede ihre lokalen Besonderheiten aufweist. Als von Anbeginn internationale und zentralisierte Organisation gegründet, verstand sich die IKS als einheitlicher internationaler Körper. Ihre Prinzipien der Zentralisierung waren der Garant für die Einheit der Organisation.

„Während es für BILAN und die GCF – aufgrund der Bedingungen der Konterrevolution – unmöglich war, zu wachsen und eine Organisation in mehreren Ländern aufzubauen, hat sich die IKS zum Ziel gesetzt, eine internationale Organisation auf soliden Positionen aufzubauen (…) Als Ausdruck des neuen historischen Kurses, offen in Richtung Klassenkonfrontationen (…), war die IKS seit Beginn international zentralisiert, während die anderen Organisationen der Kommunistischen Linken der Vergangenheit immer auf ein oder zwei Länder beschränkt waren.“ (Bericht für den 21. Kongress über die Rolle der IKS als Fraktion)

Trotz dieser Unterschiede zu BILAN und der GCF unterstrich der Kongress, dass die Rolle der IKS ähnlich einer Fraktion ist: eine Brücke zu bilden zwischen der Vergangenheit (nach einer Periode des Bruchs) und der Zukunft. „Die IKS definiert sich selber nicht als eine Partei, nicht als eine Mini-Partei, sondern in gewissem Sinne als eine Fraktion.“ (ebenda) Die IKS soll ein Bezugspunkt sein, ein Pol für die internationale Umgruppierung und für die Weitergabe der Erfahrungen der früheren Arbeiterbewegung. Sie muss sich auch davor hüten, dogmatische Wege einzuschlagen, indem sie, wenn immer nötig, Kritik an falschen oder überholten Positionen übt, um weiter zu kommen und den Marxismus lebendig zu halten.

Die Wiederaneignung der Positionen der Kommunistischen Linken innerhalb der IKS fand relativ zügig statt, auch wenn von Beginn an von einer großen Heterogenität gezeichnet. „Wiederaneignung hieß nicht, dass wir ein für allemal zur Klarheit und Wahrheit gelangt wären und dass unsere Plattform ‚unveränderlich‘ geworden wäre (…) Die IKS hat ihre Plattform zu Beginn der 1980er Jahre nach einer intensiven Debatte abgeändert“ (ebenda). Auf der Grundlage dieser Wiederaneignung konnte die IKS theoretische Vertiefungen bezüglich der Analyse der internationalen Situation machen (zum Beispiel nach der Niederlage des Massenstreiks in Polen 1980 die Kritik der Theorie Lenins über das „schwächste Glied“[9] und die Analyse des Zerfalls als letzte Phase in der Dekadenz des Kapitalismus, welche den Zusammenbruch der UdSSR ankündigte[10]).                             

Die IKS übernahm von Anbeginn die Haltung von BILAN und der GCF, welche während ihrer gesamten Existenz auf einer internationalen Debatte beharrten (dies sogar unter den Bedingungen der Repression, des Faschismus und des Krieges), um zur Klärung von Positionen unter den Gruppen zu gelangen, welche sich an den Polemiken über politische Grundsatzpositionen beteiligten. Unmittelbar nach der Gründung der IKS im Januar 1975 hatten wir diese Methode wieder aufgenommen, indem wir zahlreiche öffentliche Debatten und Polemiken vorantrieben. Dies nicht mit dem Ziel einer frühzeitigen Umgruppierung, sondern vor allem um den Klärungsprozess zu fördern.

Seit dem Beginn ihrer Existenz hat die IKS immer das Konzept der Existenz eines „politischen proletarischen Milieus“ vertreten, welches durch Prinzipien definiert ist, und versucht, eine dynamische Rolle im Klärungsprozess innerhalb dieses Milieus zu spielen.

Das Vermächtnis der Italienischen Kommunistischen Linken ist vom Anfang bis zum Ende vom Kampf zur Verteidigung der Prinzipien der Arbeiterbewegung und des Marxismus geprägt. Dies ist auch für die IKS für die ganze Zeit ihrer Existenz ein ständiges Anliegen gewesen, das sich in kontroversen öffentlichen Debatten ausdrückt sowie in den politischen Kämpfen, die wir besonders in Situationen der Krise innerhalb der Organisation haben führen müssen.

BILAN und die GCF waren überzeugt, dass ihre Rolle als Fraktion auch in der „Bildung von Kadern“ besteht. Auch wenn dieses Konzept von „Kadern“ sehr fragwürdig ist und Verwirrungen hervorrufen kann, so war das grundsätzliche Anliegen dahinter vollkommen richtig: Es ging darum, eine zukünftige Generation von Militanten auszubilden, an die man die historischen Erfahrungen weiterreicht, damit sie den Stab weitertragen und die Arbeit der vorangegangenen Generation weiterführen.

Die Fraktionen der Vergangenheit sind nicht allein wegen des Gewichts der Konterrevolution verschwunden. Ihre falschen Analysen der historischen Situation haben ebenfalls zu ihrem Verschwinden beigetragen. Die GCF ist nach ihrer Analyse über einen unmittelbaren und unvermeidlichen dritten Weltkrieg – welche sich als falsch herausstellte – verschwunden. Die IKS ist die internationale Organisation mit der längsten Lebensdauer in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Und es gibt sie immer noch, 40 Jahre nach ihrer Gründung. Wir sind von unseren verschiedenen Krisen nicht weggefegt worden. Trotz des Verlusts von zahlreichen Militanten hat es die IKS geschafft, die Mehrheit ihrer Gründungs-Sektionen zu behalten und neue aufzubauen, was uns erlaubt, mit unserer Presse in verschiedenen Sprachen, Ländern und Kontinenten präsent zu sein.

Doch der Kongress hat klar hervorgehoben, dass die IKS seit ihrer Gründung unter der Last der historischen Bedingungen leidet. Aufgrund der schlechten historischen Bedingungen gibt es in unserer Organisation eine „verlorene Generation“ nach 1968 und eine „fehlende Generation“ (dies wegen des langen Einflusses der antikommunistischen Kampagnen nach dem Zusammenbruch des stalinistischen Ostblocks). Diese Situation stellt ein Handicap dar bei der Konsolidierung der Organisation im Hinblick auf ihre langfristige Tätigkeit. Unsere Schwierigkeiten haben sich seit Ende der 1980er Jahre durch das Gewicht des Zerfalls, welches die gesamte Gesellschaft und auch die Arbeiterklasse mit ihren revolutionären Organisationen belastet, noch zugespitzt.

So wie BILAN und die GCF fähig waren, den Kampf „gegen den Strom“ zu führen, muss die IKS heute, um ihre Rolle als Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft zu spielen, denselben Kampfgeist entwickeln, im Wissen darum, dass wir ebenfalls „gegen den Strom“ schwimmen, isoliert und abgeschnitten von der Arbeiterklasse (wie die anderen Organisationen der Kommunistischen Linken). Auch wenn wir uns nicht mehr in einer Phase der Konterrevolution befinden, so verstärkt die historische Situation seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und aufgrund der großen Schwierigkeiten des Proletariats, seine revolutionäre Klassenidentität und Perspektive wiederzufinden, diese Isolation. Dazu kommen all die Kampagnen der herrschenden Klasse gegen die Kommunistische Linke. „Die Brücke, die wir heute bilden müssen, führt über die ‚verlorene Generation‘  nach 1968 und die Wüste des Zerfalls hinweg in Richtung der zukünftigen Generationen.“ (ebenda)

Die Debatten auf dem Kongress unterstrichen, dass die IKS im Verlauf der Zeit (und vor allem seit dem Tod unseres Genossen MC) größtenteils vergessen hat, wie sie die Arbeit der Fraktionen der Kommunistischen Linken fortführen muss. Dies drückte sich in einer Unterschätzung unserer Hauptaufgabe, der theoretischen Vertiefung, aus [11](die wir nicht einigen „Spezialisten“ überlassen dürfen) sowie in der Unterschätzung des Aufbaus der Organisation durch die Bildung neuer Militanter mit der Weitergabe der Kultur der Theorie. Der Kongress hat festgestellt, dass die IKS in den letzten 25 Jahren an der Aufgabe, die Methode der Fraktion an die neuen Genossen weiterzureichen, gescheitert ist. Anstatt sie mit der Methode des langfristigen Aufbaus einer zentralisierten Organisation vertraut zu machen, neigten wir dazu, ihnen das Bild der IKS als einer „Mini-Partei“[12] zu vermitteln, deren Hauptaufgabe die Intervention in den unmittelbaren Kämpfen der Arbeiterklasse sei.

Zurzeit der Gründung der IKS lastete eine enorme Verantwortung auf den Schultern von MC, dem einzigen Genossen, welcher der jungen Generation die marxistische Methode beim Aufbau der Organisation und bei der unnachgiebigen Verteidigung ihrer Prinzipien übermitteln konnte. Es gibt heute in der Organisation viel mehr erfahrene Militante (die schon seit der Gründung der IKS dabei sind), doch es existiert eine permanente Gefahr eines „historischen Bruchs“ angesichts unserer Schwierigkeiten, diese Arbeit der Weitergabe zu leisten.

Tatsächlich waren die Bedingungen, die zurzeit der Gründung der IKS herrschten, ein enormes Handicap für den langfristigen Aufbau der Organisation. Die stalinistische Konterrevolution war die längste und tiefste in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Nie zuvor seit der Zeit des Bundes der Kommunisten gab es eine Diskontinuität, einen organischen Bruch zwischen den Generationen der Militanten. Es gab immer einen lebendigen Faden zwischen den Organisationen, und die Weitergabe der Erfahrung lastete nie auf den Schultern einer einzigen Person. Die IKS ist die einzige Organisation, die mit einer solchen Situation konfrontiert ist. Der organische Bruch, welcher mehrere Jahrzehnte dauerte, war enorm schwer zu überwinden, und er wurde noch durch den Widerstand der jungen Generation des Mai 68 verstärkt, von der älteren Generation zu „lernen“. Der Einfluss der Ideologien des revoltierenden Kleinbürgertums und des aufbegehrenden studentischen Milieus, das stark vom „Generationenkonflikt“ geprägt war (aufgrund der Tatsache, dass es genau die ältere Generation war, die am schlimmsten unter der Konterrevolution gelitten hat), verstärkte das Gewicht des historischen Bruchs mit den lebendigen Erfahrungen der früheren Arbeiterbewegung noch zusätzlich.

Der Tod von MC zu Beginn der Zerfallsperiode des Kapitalismus erschwerte die Überwindung der angeborenen Schwächen der IKS nur noch weiter.

Der Verlust der Sektion in der Türkei zu Beginn des Jahres 2015 war der klarste Ausdruck unseres Fehlers, diese Genossen zu früh und übereilt integriert zu haben, bevor sie wirklich die Statuten und Organisationsprinzipien der IKS verstanden hatten (und obwohl sie eine stark lokalistische und föderalistische Tendenz vertraten, welche die Organisation als Sammelsurium von „nationalen“ Sektionen sieht und nicht als einen einheitlichen zentralisierten Körper auf internationaler Ebene).

Der Kongress unterstrich ebenfalls, dass das Gewicht des Zirkelgeistes (und von clan-ähnlichen Dynamiken)[13], die ebenfalls angeborene Schwächen der IKS sind, es immer wieder erschwert hat, die fraktionsähnliche Arbeit der Aneignung und Weitergabe der Erfahrungen der Vergangenheit an neue Genossen zu verrichten.

Die historischen Bedingungen, unter denen die IKS existiert hat, haben sich seit ihrer Gründung verändert. Während der ersten Jahre unserer Existenz konnten wir in einer Arbeiterklasse intervenieren, die sich auf dem Weg zu bedeutenden Kämpfen befand. Heute, nach 25 Jahren Stagnation im Klassenkampf auf internationaler Ebene, muss sich die IKS einer Aufgabe widmen, die der damaligen von BILAN nahe kommt: die Gründe für das Scheitern der Arbeiterklasse, fast ein halbes Jahrhundert nach der historischen Wiederaufnahme des Klassenkampfes Ende der 1960er Jahre die revolutionäre Perspektive wiederzufinden, zu verstehen.

„Die Tatsache, dass wir fast allein dastehen bei der Untersuchung der gewaltigen Probleme, kann die Resultate beeinflussen, jedoch nicht die Notwendigkeit in Frage stellen, diese Aufgabe zu lösen.“ (BILAN Nr. 22, September 1935, „Resolutionsentwurf über die Probleme der internationalen Beziehungen“)

„Diese Arbeit soll sich nicht auf die Probleme beschränken, die wir heute lösen müssen, um unsere Taktik zu bestimmen, sondern auch auf die Probleme beziehen, die sich morgen der Diktatur des Proletariats stellen.“ (INTERNATIONALISME Nr. 1, Januar 1945, „Resolution über die politischen Aufgaben“)

Die Notwendigkeit einer moralischen und kulturellen „Wiedergeburt“

Die Debatten über die kritische Bilanz von 40 Jahren IKS haben uns gezwungen, der Gefahr der Sklerose und der Degeneration ins Auge zu schauen, welche schon immer die revolutionären Organisationen gedroht hat. Keine revolutionäre Organisation war immun gegenüber dieser Gefahr. Die SPD wurde bis zur totalen Aufgabe jeglicher Grundlagen des Marxismus vom Opportunismus zerfressen, dies vor allem weil sie jede theoretische Arbeit zugunsten der unmittelbaren Aufgaben beiseiteschob, um über die Vergrößerung ihrer Wahlerfolge einen Einfluss auf die Arbeiterklasse zu erlangen. Doch der Degenerationsprozess der SPD hatte schon viel früher als zum Zeitpunkt der Aufgabe der theoretischen Arbeit begonnen. Er begann mit der fortschreitenden Zerstörung der Solidarität unter den Militanten. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes (1878-90) in Deutschland und der Legalisierung der SPD, die nun im Parlament einzog, war die Solidarität zwischen den Genossen nicht mehr eine zwingende Notwendigkeit, da sie nicht mehr der Repression und den Regeln der Untergrundarbeit unterworfen waren. Diese Zerstörung der Solidarität (gefördert durch die „komfortablen“ Bedingungen der bürgerlichen Demokratie) öffnete den Weg zu einer zunehmenden moralischen Verwahrlosung der SPD, welche damals die führende Partei der Arbeiterbewegung war; dies drückte sich beispielsweise darin aus, dass die widerlichsten Gerüchte über die prinzipientreuste Vertreterin des linken Flügels, Rosa Luxemburg, verbreitet wurden.[14] Es ist das Zusammenspiel dieser Faktoren (und nicht allein der Opportunismus und der Reformismus), welches den Weg zu einem langen internen Degenerationsprozess und zum Scheitern der SPD 1914 eröffnete.[15] Lange Zeit ging die IKS die Frage der moralischen Prinzipien nur auf einer empirisch, praktischen Weise an (vor allem während der Organisationskrise 1981, bei der wir zum ersten Mal mit kriminellen Verhaltensweisen konfrontiert waren, als die „Chénier-Tendenz“ uns Material entwendete). Dass die IKS diese Frage nie von einer theoretischen Seite her aufgriff, hat damit zu tun, dass es bei der Gründung unserer Organisation eine ablehnende Haltung und sogar eine gewisse „Phobie“ gegen den Begriff der „Moral“ gab. Die junge Generation, die dem Mai 68 entsprang, wollte (im Gegensatz zu MC) nicht, dass das Wort „Moral“ in den Stauten der IKS vorkommt (auch wenn die Idee einer proletarischen Moral in den Statuten der GCF vertreten war). Die Abneigung gegen die „Moral“ war Ausdruck des Einflusses der studentischen kleinbürgerlichen Ideologie und Verhaltensweise der damaligen Zeit.

Erst als in der Organisationskrise von 2001 es erneut zu kriminellen Verhaltensweisen von Seiten der Ex-Mitglieder gekommen war, die später die IFIKS gründeten, hat die IKS die Notwendigkeit einer theoretischen Wiederaneignung des marxistischen Erbes zur Frage der Moral verstanden. Es dauerte vier Jahrzehnte, bis wir die Notwendigkeit begriffen, diese Lücke zu schließen. Und nun, aufgrund unserer letzten Organisationskrise, hat in der IKS ein Denkprozess begonnen, um endlich zu verstehen, was Rosa Luxemburg meinte, als sie schrieb: „Die Partei des Proletariats ist das moralische Bewusstsein der Revolution“.

Die Arbeiterbewegung insgesamt hat diese Frage unterschätzt. Die Debatte zurzeit der Zweiten Internationale (vor allem über das Buch von Karl Kautsky „Ethik und materialistische Geschichtsauffassung“, 1906) wurde nie genügend entwickelt, und der moralische Verlust war bestimmendes Element ihrer Degeneration. Auch wenn die Gruppen der Kommunistischen Linken den Mut besaßen, die moralischen proletarischen Prinzipien praktisch zu vertreten, so theoretisierten weder BILAN noch die GCF diese Frage in ausreichendem Maße. Die Schwierigkeiten der IKS auf dieser Ebene müssen also im Lichte des Unvermögens der revolutionären Bewegung des 20. Jahrhunderts gesehen werden.

Heute ist das Risiko einer moralischen Degeneration der revolutionären Organisationen durch die Ausdehnung des Zerfalls und der Barbarei der kapitalistischen Gesellschaft  größer  geworden. Diese Frage betrifft nicht nur die IKS, sondern auch die anderen Gruppen der Kommunistischen Linken.

Nach unserer letzten außerordentlichen Konferenz 2014, welche die moralische Dimension der Organisationskrise der IKS erkannte, setzt sich der Kongress nun zum Ziel, auch über die intellektuelle Dimension nachzudenken. In ihrer ganzen Existenz hat die IKS immer wieder ihre Schwierigkeiten auf der Ebene der Vertiefung theoretischer Fragen unterstrichen. Das Abhandenkommen des Verständnisses der Rolle, welche die IKS zu spielen hat, der Immediatismus in unseren Analysen, die aktivistischen und arbeitertümlerischen Tendenzen in unseren Interventionen, die Geringschätzung der theoretischen Arbeit und der Suche nach der Wahrheit haben den schlüpfrigen Boden für diese Organisationskrise gebildet.

Unsere wiederkehrende Unterschätzung der theoretischen Arbeit (und vor allem der Organisationsfragen) hat ihre Wurzeln in den Ursprüngen der IKS: in dem Einfluss der studentischen Revolte mit ihrer akademistischen Komponente (kleinbürgerlicher Natur), der sich eine aktivistische und arbeitertümlerische Tendenz (linksbürgerlicher Färbung) entgegenstemmte, welche anti-akademistisch und misstrauisch gegenüber der Theorie war. All dies fand in einer Atmosphäre des kindischen Protests gegen jegliche „Autorität“ (in der IKS vom „alten“ MC verkörpert) statt. Gegen Ende der 1980er Jahre wurde diese Unterschätzung der theoretischen Arbeit der Organisation nur noch verstärkt durch die destruktive Stimmung des gesellschaftlichen Zerfalls, welche das rationale Denken zugunsten des Glaubens und aufklärungsfeindlicher Vorurteile zerstört, wobei die „Klatschkultur“ die Kultur der Theorie verdrängt.[16] Der Verlust unserer Errungenschaften (und die Gefahr der Sklerose, die damit einhergeht) ist eine direkte Konsequenz aus diesem Mangel an einer wirklichen Kultur der Theorie. Angesichts des Drucks der bürgerlichen Ideologie können die Errungenschaften der IKS (sei es auf der programmatischen Ebene, bei unseren Analysen oder in den Organisationsfragen) nur aufrechterhalten werden, wenn sie ständig durch die Reflexion und die theoretische Debatte bereichert werden.

Der Kongress hob hervor, dass die IKS immer noch von ihrer „Jugendsünde“ gezeichnet ist, dem Immediatismus, der uns wiederholt den historischen Rahmen, in den sich langfristig die Funktion der Organisation einreiht, hat vergessen lassen. Die IKS wurde durch die Umgruppierung junger Genossen gebildet, die sich zum Zeitpunkt einer spektakulären Wiederaufnahme des Klassenkampfes (Mai 68) politisiert hatten. Viele von ihnen hatten die Illusion, dass die Revolution bereits im Gange sei. Die ungeduldigsten und am meisten auf den Moment fixierten von ihnen ließen sich demoralisieren und legten ihr militantes Engagement beiseite. Doch diese Schwäche blieb auch unter denen bestehen, die in der IKS blieben. Der Immediatismus hat uns weiter geprägt und sich bei zahlreichen Gelegenheiten ausgedrückt. Der Kongress begriff, dass diese Schwäche tödlich sein kann, denn gepaart mit dem Verlust von Errungenschaften und einem Misstrauen gegenüber der Theorie führt sie unmittelbar in den Opportunismus, auf einen Weg, welcher die Organisationsgrundlagen immer weiter untergräbt.

Der Kongress rief in Erinnerung, dass der Opportunismus (und seine Variante, der Zentrismus), der durch die permanente Infiltration der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie in die revolutionären Organisationen entsteht, eine andauernde Wachsamkeit und einen konsequenten Kampf dagegen erfordert. Auch wenn die revolutionäre Organisation ein „Fremdkörper“ ist und in einem unversöhnlichen Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft steht, so entsteht und existiert sie inmitten der Klassengesellschaft und ist daher dauernd durch die Infiltration von Ideologien und Verhaltensweisen, die der Arbeiterklasse fremd sind, gefährdet. Dies greift die Errungenschaften des Marxismus und der Arbeiterbewegung an. Während ihrer 40-jährigen Existenz musste die IKS ständig ihre Prinzipien verteidigen und in schwierigen Debatten all diese Ideologien in ihren Reihen bekämpfen, welche sich unter anderem in linksbürgerlichen, modernistischen, anarcho-libertären und rätistischen Abweichungen ausdrückten.

Der Kongress widmete sich ebenfalls den Schwierigkeiten der IKS, eine andere große Geburtsschwäche zu überwinden: den Zirkelgeist und seinen zerstörerischsten Ausdruck, den Clangeist.[17] Dieser Zirkelgeist ist, wie es die gesamte Geschichte der IKS gezeigt hat, eines der gefährlichsten Gifte für die Organisation. Dies aus verschiedenen Gründen. Er beinhaltet die Umwandlung der revolutionären Organisation in einen simplen Zusammenschluss von Freunden, was ihre politische Natur als Produkt und Instrument des Kampfes der Arbeiterklasse entstellt. Durch die Personalisierung von politischen Fragen untergräbt er die Debattenkultur und die Klärung von Meinungsverschiedenheiten, die schlüssige und rationale Konfrontation von Argumenten. Die Bildung von Clans oder Freundeskreisen, die sich der Organisation oder einzelnen Teilen widersetzen, zerstört die kollektive Arbeit, die Solidarität und die Einheit der Organisation. Weil er durch irrationale Gefühle, Machtbeziehungen und  persönliche Abneigungen genährt ist, widersetzt sich der Zirkelgeist der Denkarbeit und der Kultur der Theorie zugunsten von Klatsch, Geschichten hinter den Kulissen „unter Freunden“ und Verleumdungen, welche direkt die Moral der Organisation untergraben.

Die IKS ist es trotz aller Kämpfe, die wir gegen den Zirkelgeist in den 40 Jahren unserer Existenz geführt haben, nicht gelungen, ihn zu überwinden. Die Weiterexistenz dieses Gifts erklärt sich aus der Zeit der Entstehung der IKS, die aus Zirkeln gebildet wurde, in einer „familiären“ Atmosphäre, wo die Beziehungen (persönliche Sympathien oder Antipathien) wichtiger waren als die notwendige Solidarität zwischen Militanten, die für dasselbe Ziel kämpfen und sich um dasselbe Programm scharen. Das Gewicht des sozialen Zerfalls und die Tendenz hin zum „Jeder für sich“ haben diese Gründungsschwäche noch verstärkt. Und vor allem hat es der Mangel an theoretischen Diskussionen und Vertiefungen über Organisationsfragen der Organisation im Ganzen nicht erlaubt, diese „Kinderkrankheit“ der IKS und der Arbeiterbewegung zu überwinden. Der Kongress hob hervor (indem er sich dabei auf die Feststellung Lenins bezog, die dieser schon 1904 in seinem Werk „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ machte), dass der Zirkelgeist im Wesentlichen durch den Druck der kleinbürgerlichen Ideologie portiert wird.

Um all diese Schwierigkeiten anzupacken und angesichts der ernsten Umstände der heutigen Zeit hob der Kongress hervor, dass die Organisation einen starken Kampfgeist gegen den Einfluss der herrschenden Ideologie und gegen das Gewicht des sozialen Zerfalls entfalten muss. Dies bedeutet einen permanenten Kampf gegen den Routinismus, die Oberflächlichkeit, die intellektuelle Faulheit, den Schematismus und erfordert einen kritischen Geist, um mit Klarheit die eigenen Fehler und theoretischen Unzulänglichkeiten zu erkennen.

In dem Maße, wie „das sozialistische Bewusstsein der revolutionären Aktion der Arbeiterklasse vorausgeht und sie bedingt“ (INTERNATIONALISME Nr. 38, „Über das Wesen und die Funktion der politischen Partei des Proletariats“), ist die Entwicklung des Marxismus die zentrale Aufgabe aller revolutionären Organisationen. Der Kongress legte als prioritäre Orientierung für die IKS die Verstärkung der kollektiven Vertiefungsarbeit, der Reflexion fest, damit wir uns die marxistische Kultur der Theorie in unseren internen Debatten wieder aneignen.

Bereits 1903 bedauerte Rosa Luxemburg die mangelhafte Vertiefung der marxistischen Theorie: „Allein, von einem mehr oder weniger ausgearbeiteten Lehrgebäude kann bei Marx nur auf ökonomischem Gebiete die Rede sein. Dagegen, was das Wertvollste seiner Lehre betrifft: die materialistisch-dialektische Geschichtsauffassung, so stellt sie nur eine Forschungsmethode dar, ein paar leitende geniale Gedanken, die den Ausblick in eine ganz neue Welt gestatten (…) Und doch – auch auf diesem Gebiete liegt, ausgenommen einige wenige Leistungen, das Erbe Marxens brach, unbenutzt liegt die herrliche Waffe, und die Theorie selbst des geschichtlichen Materialismus ist heute genauso unausgearbeitet und schematisch, wie sie aus der Hand ihrer Schöpfer gekommen ist. (…) Es ist nichts als eine Illusion, zu denken, die aufstrebende Arbeiterklasse könne durch den Inhalt ihres Klassenkampfes aus freien Stücken auf theoretischem Gebiete ins unermeßliche schöpferisch wirken.“ (Stillstand und Fortschritt im Marxismus, 1903)

Die IKS ist heute in einer Übergangsphase. Dank der kritischen Bilanz, die sie begonnen hat, ihrer Fähigkeit, die eigenen Schwächen zu untersuchen und die Fehler zu erkennen, ist sie dabei, ihre bisherige Sichtweise über die militante Aktivität, über die Beziehungen zwischen den Genossen und das Verhältnis zwischen den Genossen und der Organisation mittels der Richtschnur der moralischen und intellektuellen Dimension im Kampf der Arbeiterklasse einer radikalen Kritik zu unterziehen. Wir müssen im Grunde eine „kulturelle Revolution“ durchmachen, um fähig zu werden zu „lernen“ und um unsere Verantwortung wahrnehmen zu können. Dies ist ein langer und schwieriger Prozess, aber lebenswichtig für die Zukunft.

Die Verteidigung der Organisation angesichts der Angriffe gegen die IKS

Während ihrer gesamten Existenz musste die IKS permanente Kämpfe zur Verteidigung ihrer Prinzipien, gegen den ideologischen Druck der bürgerlichen Gesellschaft, gegen anti-proletarisches Verhalten und gegen Manöver von gewissenlosen Abenteurern führen. Die Verteidigung der Organisation ist eine politische Verantwortung und eine moralische Pflicht. Die revolutionäre Organisation gehört nicht ihren Militanten, sondern dem Proletariat insgesamt. Sie ist Ausdruck seines historischen Kampfes, Waffe seines Kampfes zur Entwicklung des eigenen Bewusstseins im Hinblick auf die revolutionäre Umwandlung der Gesellschaft.

Der Kongress legte den Finger auf die Tatsache, dass die IKS ein „Fremdkörper“ in der Gesellschaft ist, in Widerspruch und Feindschaft zum Kapitalismus. Genau aus diesem Grunde interessiert sich die herrschende Klasse seit unserer Gründung für unsere Aktivitäten. Dies ist keine Paranoia und keine „Verschwörungstheorie“. Die Revolutionäre dürfen nicht die Naivität der Ignoranten gegenüber der Geschichte der Arbeiterbewegung haben und noch weniger dem demokratischen Gesülze der Bourgeoisie (mit ihrer „Meinungsfreiheit“) auf den Leim gehen. Wenn die IKS heute nicht der direkten Repression der kapitalistischen Staates unterworfen ist, dann deshalb, weil unsere Ideen nur von einer sehr kleinen Minderheit der Klasse vertreten werden und für die herrschende Klasse keine unmittelbare Gefahr darstellen. Wie BILAN und die GCF schwimmen wir „gegen den Strom“. Doch auch wenn die IKS heute keinen direkten oder unmittelbaren Einfluss innerhalb der Arbeiterklasse hat, so streuen wir mit der Präsenz unserer Ideen die Saat für die Zukunft. Aus diesem Grunde ist die herrschende Klasse am Verschwinden der IKS interessiert, welche die einzige international zentralisierte Organisation der Kommunistischen Linken ist und Sektionen in verschiedenen Ländern und Kontinenten hat.

Genau dies zieht auch den Hass deklassierter Elemente[18] auf sich, welche immer auf der Suche nach „Anzeichen“ unseres Verschwindens sind. Die herrschende Klasse kann nur frohlocken, wenn ein ganzes Schwadron von Individuen, die behaupten mit der Kommunistischen Linken etwas zu tun zu haben, rund um die IKS agieren (auf Blogs, Foren, Internetseiten, Facebook und anderen sozialen Medien), um Klatsch und Lügen gegen die IKS zu verbreiten und stets aufs Neue widerliche Attacken mit übelsten polizeiähnlichen Methoden gegen einzelne unserer Genossen zu führen.

Der Kongress hat hervorgehoben, dass die Zunahme der Angriffe dieses parasitären Milieus[19] gegen die IKS, welches die militante Arbeit der Gruppen der Kommunistischen Linken entstellen und austilgen will, Ausdruck der verfaulenden bürgerlichen Gesellschaft ist.

Der Kongress hat versucht, die ganze Dimension, welche der Parasitismus seit Beginn der Zerfallsphase des Kapitalismus erreicht hat, zu erfassen. Heute ist das Ziel des parasitären Milieus – bewusst oder nicht –, Unruhe zu stiften, vor allem aber die Kräfte, die sich potenziell rund um die historischen Organisationen der Kommunistischen Linken politisieren, zu lähmen. Es versucht, einen „Sperrgürtel“, einen „cordon sanitaire“ rund um unsere Organisation zu errichten (v.a. mit der Behauptung, das Gespenst des Stalinismus gehe in der IKS um), und will so junge Leute, die auf der politischen Suche sind, von der IKS abschrecken. Diese Sabotagearbeit ergänzt die antikommunistischen Kampagnen, welche die herrschende Klasse seit dem Zusammenbruch des Ostblocks entfesselt hat. Der Parasitismus ist im dekadenten Kapitalismus der engste Verbündete der herrschenden Klasse gegen die revolutionäre Perspektive der Arbeiterklasse.

Weil die Arbeiterklasse enorme Schwierigkeiten hat, ihre Identität als revolutionäre Klasse wiederzufinden und an die eigene Vergangenheit anzuknüpfen, spielen die Lügen, die Angriffe und die üble Mentalität der Leute, die behaupten, etwas mit der Kommunistischen Linken zu tun zu haben, und die IKS verunglimpfen, nichts anderes als das Spiel der herrschenden Klasse, um deren Interessen zu verteidigen. Wenn wir von Verteidigung der Organisation sprechen, so verteidigen wir keineswegs „unsere Kapelle“. Der IKS geht es um die Verteidigung der marxistischen Prinzipien, der revolutionären Klasse und der Kommunistischen Linken, welche Gefahr laufen, durch die Ideologie des „no future“, welche der Parasitismus in sich trägt, verschlungen zu werden.

Die Verstärkung der öffentlichen und unnachgiebigen Verteidigung der Organisation ist eine Orientierung des Kongresses. Die IKS ist sich voll bewusst, dass diese Orientierung im Moment nicht verstanden wird, zuweilen als Mangel an „fair play“ kritisiert wird und deshalb zu einer stärkeren Isolierung der Organisation führen kann. Doch noch schlimmer wäre es, den zerstörerischen Parasitismus gewähren zu lassen, ohne darauf zu reagieren. Der Kongress hob hervor, dass die IKS auch auf dieser Ebene „gegen den Strom schwimmen“ muss, so wie sie den Mut besitzt, eine unerbittliche Kritik ihrer Fehler und Schwächen auf diesem Kongress zu vollziehen und diese auch zu publizieren.

„Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung. (…) Aber wir sind nicht verloren, und wir werden siegen, wenn wir zu lernen nicht verlernt haben. Und sollte die heutige Führerin des Proletariats, die Sozialdemokratie, nicht zu lernen verstehen, dann wird sie untergehen, „um den Menschen Platz zu machen, die einer neuen Welt gewachsen sind.“ (Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie („Junius-Broschüre“, 1916)

IKS, Frühjahr 2015

[1]               Siehe dazu unser Buch „Die Italienische Kommunistische Linke, Ein Beitrag zur Geschichte der revolutionären Bewegung 1926-45“

[2]               BILAN (Bilanz auf Französisch) war der Name der wichtigsten theoretischen Zeitschrift der Italienischen Kommunistischen Linken (im französischen Exil).

[3]               Siehe dazu den Artikel „Außerordentliche internationale Konferenz der IKS: Die Nachrichten über unser Ableben sind stark übertrieben“, Internationale Revue Nr. 52

[4]               Siehe dazu insbesondere unseren Artikel „Gründe, Widersprüche und Grenzen des Wachstums in Asien“ (https://de.internationalism.org/grenzen_des_wachstums_asien [120]).

[5]               Diese Analyse ist nun Gegenstand einer Diskussion und Vertiefung in der IKS.

[6]               Siehe dazu: „Triumpf des Jeder gegen Jeden und die Krise der US-Führungsrolle“, Internationale Revue Nr. 18

[7]               MC (Marc Chirik) war ein Mitglied der Kommunistischen Linken, er kam 1907 in Kischniew (Bessarabien) zur Welt und starb 1990 in Paris. Sein Vater war Rabbiner und sein älterer Bruder Sekretär der bolschewistischen Partei der Stadt. An seiner Seite beteiligte sich Marc an der Revolutionen im Februar und im Oktober 1917. 1919 emigrierte die ganze Familie, auf der Flucht vor antijüdischen Pogromen der rumänischen weißen Armeen nach Palästina, wo Marc als kaum Dreizehnjähriger Mitglied der Kommunistischen Partei Palästinas wurde, die sein Bruder und seine ebenfalls älteren Schwestern gegründet hatten. Sehr schnell regte sich sein Widerspruch gegen die Position der Kommunistischen Internationale zur Unterstützung der nationalen Befreiungskämpfe, was ihm einen ersten Ausschluss aus der Partei 1923 einbrachte. Als 1924 ein Teil der Geschwister nach Russland zurückkehrte, gingen Marc und einer seiner Brüder nach Frankreich. Marc trat dem PCF bei, in dem er sehr schnell den Kampf gegen seine Degenerierung aufnahm und von dem er im Februar 1928 ausgeschlossen wurde. Er wurde dann für eine Zeit lang Mitglied der internationalen Linksopposition um Trotzki, wo er den Kampf gegen ihr opportunistischen Abgleiten führte und sich im November 1933 zusammen mit Gaston Davoust (Chazé) an der Gründung der Union Communiste beteiligte, die die Internationale herausgab. Zur Zeit des Krieges in Spanien, nahm diese Gruppe eine zwiespältige Position gegenüber der Frage des Antifaschismus ein. Nachdem MC einen Kampf gegen diese Position geführt hatte, schloss er sich Anfang 1938 der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken an, mit der er in Kontakt gestanden hatte und die eine vollkommen proletarische und internationalistische Position in dieser Frage verteidigte. Kurze Zeit später nahm er einen neuen Kampf auf, diesmal gegen die Analysen Vercesis, der eine maßgebend aktive Rolle in der Gruppe spielte und davon ausging, dass die verschiedenen militärischen Konflikte der damaligen Zeit nicht eine Vorbereitung auf einen neuen Weltkrieg waren, sondern darauf abzielten, das Proletariat zu schlagen, um es davon abzuhalten, sich in eine neue Revolution zu stürzen. Aus diesem Grund führte der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 zu einer Auflösung in der Kommunistischen Linken. Vercesi stellte eine Theorie des politischen Rückzugs während der Phase des Kriegs auf, während Marc in Südfrankreich die Mitglieder der Fraktion sammelte, die sich weigerten, Vercesi in den Rückzug zu folgen. Unter den schlimmsten Bedingungen setzten Marc und ein kleiner Kern von Militanten die Arbeit, die die Italienische Fraktion seit 1928 geleistet hatte, fort, doch als sie 1945 von der Gründung des Partito comunista internazionalista in Italien vernahmen, der sich auf die Italienische Kommunistische Linke berief, beschlossen sie die Auflösung der Fraktion und den individuellen Beitritt zur neuen Partei. Marc war mit diesem Beschluss nicht einverstanden, der jeder Orientierung zuwider lief, welche die Italienische Fraktion bis dahin ausgezeichnet hatte, und schloss sich der Französischen Fraktion der Kommunistischen Linken an (deren Positionen er schon beeinflusst hatte), die kurz darauf zur Kommunistischen Linken Frankreichs wurde (Gauche communiste de France – GCF).

                Diese Gruppe gab in der Folge 46 Nummern der Zeitschrift Internationalisme heraus und setzte damit die theoretische Reflexion der vorherigen Fraktion fort, insbesondere indem sie sich von den Beiträgen der deutsch-holländischen Kommunistischen Linken beeinflussen ließ. 1952 schätzte die GCF die Lage so ein, dass die Menschheit auf einen neuen Weltkrieg zusteuerte, in dem Europa erneut das Hauptschlachtfeld würde, was zur Vernichtung der ohnehin verschwindend kleinen verbleibenden revolutionären Kräfte hätte führen können, so dass sie sich dazu entschloss, dass verschiedene ihrer Mitglieder sich auf andere Kontinente verteilen sollten – und Marc zog nach Venezuela. Dies war einer der gewichtigsten Fehler, den die GCF und MC beging und der zur Folge hatte, dass die Organisation formell verschwand. Doch ab 1964 sammelte Marc eine gewisse Anzahl sehr junger Leute um sich, mit denen er die Gruppe Internacionalismo gründete. Im Mai 1968, als Marc vom Ausbruch des massenhaften Streiks vernahm, begab er sich zurück in dieses Land, um mit seinen alten Genossen wieder in Kontakt zu treten, und er spielte in der Folge (zusammen mit einem Gefährten, der Mitglied von Internacionalismo in Venezuela gewesen war) eine Schlüsselrolle bei der Gründung der Gruppe Révolution Internationale, die wiederum die internationale Umgruppierung vorantrieb, aus der im Januar 1975 die Internationale Kommunistische Strömung hervorging. Bis zu seinem letzten Atemzug im Dezember 1990 spielte Marc Chirik im Leben der IKS eine wesentliche Rolle, insbesondere bei der Weitervermittlung der organisatorischen Errungenschaften der vergangenen Erfahrung der Arbeiterbewegung und ihrer theoretischen Fortschritte. Für weitere Informationen zum Leben von MC siehe unsere Artikel in der International Review (engl./franz./span. Ausgabe) Nr. 65 und 66 (https://en.internationalism.org/ir/065/marc-01 [121] und https://en.internationalism.org/ir/066/marc-02 [122])

[8]               Vgl. unseren Artikel über diese außerordentliche Konferenz in Internationale Revue Nr. 52.

[9]               gl. unsere in der Internationalen Revue veröffentlichten Dokumente: „Historische Bedingungen der Generalisierung des Klassenkampfes“ in Revue Nr. 7; „Das Proletariat Westeuropas im Zentrum der Generalisierung der Klassenkämpfe“ in der Broschüre Nation oder Klasse; „Debatte: zur Kritik der Theorie des ‚schwächsten Glieds‘“ in International Review Nr. 37 (engl./franz./span. Ausgabe).

[10]             Vgl. in der Internationalen Revue Nr. 13 „Der Zerfall: letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“ (https://de.internationalism.org/Zerfall/13 [123]).

[11]             Vgl. in der Internationalen Revue Nr. 13 „Der Zerfall: letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“ (https://de.internationalism.org/Zerfall/13 [123]).

[12]             Dieser Begriff der „Mini-Partei“ enthält die Idee, dass eine kleine revolutionäre Organisation selbst in Zeiten, in denen die Arbeiterklasse keine bedeutenden Kämpfe führe, einen grundsätzlich gleichartigen Einfluss (wenn auch in kleinerem Maßstab) ausüben könne wie eine Partei im vollen Wortsinn.

[13]             Das bedeutet keineswegs, dass diese Vertiefung in revolutionären Zeiten oder anlässlich wichtiger Bewegungen der Arbeiterklasse nebensächlich würde, wenn die Organisation einen entscheidenden Einfluss auf den Gang der Kämpfe ausüben kann. So hat beispielsweise Lenin sein wichtigstes theoretisches Werk Staat und Revolution während der revolutionären Ereignisse von 1917 geschrieben. Oder Marx veröffentliche Das Kapital 1867, während er ab 1863 voll bei der IAA engagiert war.

[14]             Dieser Begriff der „Mini-Partei“ enthält die Idee, dass eine kleine revolutionäre Organisation selbst in Zeiten, in denen die Arbeiterklasse keine bedeutenden Kämpfe führe, einen grundsätzlich gleichartigen Einfluss (wenn auch in kleinerem Maßstab) ausüben könne wie eine Partei im vollen Wortsinn.

[15]             Vgl. zu dieser Frage insbesondere unseren Text „Dokumente aus dem Organisationsleben: Die Frage der Funktionsweise in der IKS“ in Internationale Revue Nr. 30, besonders Punkt 3.1.e, „Die Beziehungen zwischen den Militanten“ (https://de.internationalism.org/doku [124]).

[16]             Diese hinterhältigen Kampagnen gegen Rosa Luxemburg leisteten ihren Beitrag zur Vorbereitung ihrer Ermordung auf Geheiß der von der SPD angeführten Regierung während der blutigen Woche in Berlin im Januar 1919 und allgemeiner zum Pogrom gegen die Spartakisten, zu dem dieselbe Regierung aufrief.

[17]             Siehe dazu den Orientierungstext 1993: „Die Frage der Funktionsweise der Organisation in der IKS“, Internationale Revue, Nr. 30

[18]             Vgl. unseren Text „Aufbau der revolutionären Organisation – Thesen über den Parasitismus“ in Internationale Revue Nr. 22, insbesondere These 20 (https://de.internationalism.org/ir/22_parasitismus [125]).

[19]             Siehe: „Thesen über den politischen Parasitismus“, Internationale Revue Nr. 22, letzte Fußnote

Historische Ereignisse: 

  • Perspektiven [126]
  • Aktivitäten [127]

Rubric: 

21. Kongress der IKS: 40 Jahre nach der Gründung, Bilanzen und Perspektiven

Bericht über den Klassenkampf

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Seit ihrer Gründung hat die IKS stets versucht, den Klassenkampf in seinem historischen Kontext zu analysieren. Unsere Organisation hatte erkannt, dass sie ihre eigene Existenz nicht allein den Bemühungen vergangener Revolutionäre und jener Militanten verdankten, die als eine Brücke von einer Generation der Revolutionäre zur nächsten handelten, sondern auch einer Änderung im Geschichtsverlauf, die vom weltweiten Wiedererwachen des Proletariats nach 1968 eingeläutet worden war und die die 40-jährige Konterrevolution, die seit den letzten Zuckungen der großen revolutionären Welle 1917–27 geherrscht hatte, beendet hatte. Doch heute, 40 Jahre nach ihrer Gründung, wird die IKS mit der Aufgabe konfrontiert, das ganze Werk dieser beträchtlichen Arbeit neu zu untersuchen, die sie in Hinblick auf dieses historischen Wiedererwachen der Arbeiterklasse und die immensen Schwierigkeiten verrichtet hat, auf die Letztere auf dem Weg zu ihrer Emanzipation gestoßen ist.

Dieser Bericht kann lediglich den Anfang solch einer Nachprüfung machen. Es ist nicht möglich, auf jedes Detail der Kämpfe und der vielfältigen Analysen einzugehen, die über sie angefertigt wurden, ob von etablierten Historikern oder von anderen Elementen in der proletarischen Bewegung. Stattdessen werden wir uns darauf beschränken, was an sich schon eine beängstigende Aufgabe ist: ein Blick zurück, wie die IKS die Entwicklung des Klassenkampfes in ihren eigenen Publikationen analysiert hat, insbesondere in ihrem theoretischen Organ, der Internationalen Revue, die zum überwiegenden Teil die Synthese all dieser Diskussionen und Debatten enthält, welche unsere Organisation in ihrer gesamten Existenz angeregt hatte.

Das historische Wiederaufleben des Proletariats

Bereits vor der IKS, vor dem Mai 1968 häuften sich die Anzeichen einer Krise in der kapitalistischen Gesellschaft: auf der ökonomischen Ebene die Probleme der britischen und US-Währung; auf der sozio-politischen Ebene die Proteste in den USA gegen den Vietnamkrieg und die Rassentrennung; im Klassenkampf die Rebellion chinesischer ArbeiterInnen gegen die so genannte Kulturrevolution, wilde Streiks der US-Automobilarbeiter, etc. (siehe zum Beispiel den Artikel von Accion Proletaria, der im Grunde von einer Streikwelle seit 1965 spricht). Dies war der Kontext, in dem Marc Chiric (MC)[1] und seine jungen GenossInnen in Venezuela ihre (zumindest von uns) oft zitierte Prognose machten: „Weder sind wir Propheten noch können wir behaupten, vorherzusagen, wann und wie die Ereignisse in der Zukunft vonstattengehen werden. Doch über eine Sache sind wir uns bewusst und sicher: Der Prozess, in dem der Kapitalismus heute steckt, kann nicht aufgehalten werden; er führt direkt in die Krise. Und wir sind uns gleichermaßen sicher, dass der umgekehrte Prozess der sich entwickelnden Kampflust, die wir heute erleben, die Arbeiterklasse in einen blutigen und direkten Kampf zur Zerstörung des bürgerlichen Staates führen wird.“(Internationalismo Nr. 8: „1968: eine neue Umwälzung des Kapitalismus  beginnt“)

Hier sind alle Stärken der marxistischen Methode sichtbar, die von der Kommunistischen Linken geerbt wurden: die Fähigkeit, die Hauptänderungen im Werdegang der kapitalistischen Gesellschaft zu erkennen, lange bevor sie so offenkundig werden, dass sie nicht mehr geleugnet werden können. Und so war MC, dessen militantes Leben überwiegend im Schatten der Konterrevolution gestanden hatte, fähig, einen Wechsel des historischen Kurses zu vermelden: Die Konterrevolution war endlich vorüber, der Nachkriegsboom neigte sich dem Ende zu, und am Horizont zeigte sich eine neue Krise des kapitalistischen Weltsystems sowie ein Wiederaufleben des proletarischen Klassenkampfes.

Doch es gibt eine Schlüsselschwäche in der Formulierung, die den Eindruck erwecken könnte, dass wir bereits in eine revolutionäre Periode eingetreten sind – mit anderen Worten: in eine Periode, in der die Weltrevolution unmittelbar auf der Tagesordnung steht, wie dies 1917 der Fall gewesen war. Der Artikel behauptete sicherlich nicht, dass die Revolution vor der Tür steht, und MC hatte sich die Tugend der Geduld unter den aufreibendsten Umständen angeeignet. Folglich beging er auch nicht den Fehler der Situationisten, die tatsächlich davon ausgingen, dass Mai 68 der Beginn der Revolution sei. Dennoch sollte diese Zweideutigkeit für die neue Generation von Revolutionären, aus der sich die IKS zusammensetzte, Konsequenzen haben. In vielen Phasen ihrer weiteren Geschichte wurde die IKS, auch nachdem sie die Unzulänglichkeiten der Formulierung „Kurs in Richtung Revolution“ erkannt und sie auf dem 5. Kongress der IKS durch den Terminus „Kurs in Richtung Klassenkonfrontationen“ ersetzt hatte, von der Tendenz heimgesucht, sowohl die Fähigkeiten des Kapitalismus, sich trotz seiner Dekadenz und seiner offenen Krise aufrechtzuhalten, als auch die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse zu unterschätzen, das Gewicht der vorherrschenden Ideologie abzuwerfen und sich selbst zu einer sozialen Klasse mit eigener autonomer Perspektive zu formen.

Die IKS wurde 1975 auf der Grundlage des Verständnisses gebildet, dass eine neue Ära der Arbeiterkämpfe eröffnet worden ist, die auch eine neue Generation von Revolutionären erzeugt hatte, deren erste Aufgabe es war, sich die politischen und organisatorischen Errungenschaften der Kommunistischen Linken wiederanzueignen und für eine Umgruppierung auf Weltebene einzusetzen. Die IKS war überzeugt, dass sie eine einmalige Rolle in diesem Prozess zu spielen hatte, und definierte sich folglich als „Angelpunkt“ der künftigen kommunistischen Weltpartei („Die Frage der Organisation unserer Internationalen Kommunistischen Strömung“, Internationale Revue, Nr.1 [engl., franz., span. Ausgabe]).

Jedoch fand die Welle von Kämpfen, die von der Massenbewegung in Frankreich im Mai–Juni `68 eingeleitet worden war und die sich allgemeinhin von 1968 bis 1974 erstreckt hatte, mehr oder weniger statt, ehe die IKS gebildet worden war, wenngleich es auch 1976/77 bedeutende Kämpfe in Spanien, Portugal, Holland, etc. gegeben hatte. Da es jedoch keine mechanische Verknüpfung zwischen dem unmittelbaren Kampf und der Entwicklung der revolutionären Organisation gibt, setzte sich das verhältnismäßig schnelle Wachstum der IKS in ihren Anfangstagen trotz des Abflauens der Kämpfe fort. Dennoch war diese Ausweitung zutiefst beeinflusst von der Atmosphäre, die Mai `68 herrschte, als die Revolution vielen Menschen nahezu in Reichweite schien. Sich einer Organisation anzuschließen, die offen für die Weltrevolution einstand, schien damals nicht so ungewöhnlich zu sein.

Dieses Gefühl, dass wir uns bereits in den letzten Tagen des Kapitalismus befinden, dass die Arbeiterklasse nahezu exponentiell an Stärke dazugewinnt, wurde von einem Merkmal der Klassenbewegung damals verstärkt: Es gab nur kurze Unterbrechungen in den von uns identifizierten „Wellen“ des internationalen Klassenkampfes.

1978–81: die zweite Welle

Zu den Faktoren für das Abebben der ersten Welle, die die IKS analysierte, zählte die Gegenoffensive der Bourgeoisie, die 1968 überrumpelt worden war, jedoch bald eine politische Strategie entwickelte, die das Ziel verfolgte, die Arbeiterklasse aus den Tritt zu bringen und mit einer falschen Perspektive abzuspeisen. Dies wurde zusammengefasst in der Strategie der „Linken an der Macht“, die ein schnelles Ende der ökonomischen Kalamitäten versprach, welche damals noch vergleichsweise mild ausfielen.

Das Ende der ersten Welle fiel im Grunde mehr oder weniger mit der Entwicklung einer immer offeneren Wirtschaftskrise nach 1973 zusammen, doch schuf diese Entwicklung zugleich die Bedingungen für neue Ausbrüche der Klassenbewegung. Die IKS sah die „zweite Welle“ 1978 beginnen mit den Kämpfen der Lastwagenfahrer, dem „Winter of Discontent“ und dem Stahlarbeiterstreik in Großbritannien, dem Ölarbeiterstreik im Iran, der durch die „Schoras“ (Basisorgane der Streikenden) organisiert wurde, der großflächigen Streikbewegung in Brasilien, dem Rotterdamer Hafenarbeiterstreik mit seinem unabhängigen Streikkomitee, der militanten Stahlarbeiterbewegung in Longwy-Denain in Frankreich und vor allem mit der riesigen Streikbewegung in Polen 1980.

Die Bewegung, die auf der Danziger Schiffswerft begann, war ein klarer Ausdruck für das Phänomen des Massenstreiks und versetzte uns in die Lage, unser Verständnis dieses Phänomens zu vertiefen, indem wir zur Originalanalyse Rosa Luxemburgs zurückkehrten, die den in der Revolution von 1905 kulminierenden Massenstreiks in Russland folgte (siehe zum Beispiel den Artikel „Bemerkungen zum Massenstreik“ in Internationale Revue, Nr. 27 [engl., franz., span. Ausgabe]). Wir betrachteten die Wiederkehr des Massenstreiks als den Höhepunkt der Kämpfe seit 1968, der viele Fragen beantwortete, die in früheren Kämpfen gestellt wurden, besonders die Fragen der Selbstorganisation und der Ausweitung des Kampfes. Wir argumentierten also – entgegen der Sichtweise von einer Klassenbewegung, die sich stets im Kreis drehen muss, bis die „Partei“ fähig ist, sie zum revolutionären Umsturz zu leiten –, dass die Arbeiterkämpfe einen Werdegang haben, dass es eine Tendenz gab, fortzuschreiten, Lehren zu ziehen, Fragen zu beantworten, die in früheren Kämpfen gestellt worden waren. Andererseits konnten wir sehen, dass das politische Bewusstsein der polnischen ArbeiterInnen dem realen Niveau der Kämpfe hinterherhinkte. Sie formulierten einige allgemeine Forderungen, doch die Herrschaft des Gewerkschaftsgedankens, der Demokratie und Religion war sehr stark und neigte dazu, jeglichen Versuch zu entstellen, auf der dezidiert politischen Ebene voranzukommen. Wir konstatierten auch die Fähigkeit der Weltbourgeoisie, sich gegen die Massenstreiks zu vereinen, besonders durch die Kreation von Solidarnosc.

Doch unsere Anstrengungen, die Manöver der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse zu analysieren, führten zu einer stark empiristischen Tendenz des „gesunden Menschenverstandes“, die am klarsten vom „Chenier“-Clan ausgedrückt wurde (siehe Fußnote 3). Als wir eine neue politische Strategie der Bourgeoisie Ende der 70er – die Aufstellung der Rechten an der Macht, der Linken in der Opposition in den wichtigsten kapitalistischen Ländern – wahrnahmen, sahen wir uns veranlasst, tiefer in die Frage des Machiavellismus der Bourgeoisie einzusteigen. Der Artikel in Internationale Revue, Nr. 31 [engl., franz., span. Ausgabe] über das Bewusstsein und die Organisation der Bourgeoisie untersuchte, wie die Evolution des Staatskapitalismus diese Klasse dazu befähigte, aktive Strategien gegen die Arbeiterklasse zu entwickeln. Die Mehrheit der revolutionären Bewegung hatte weitgehend vergessen, dass die marxistische Analyse des Klassenkampfes eine Analyse beider Hauptklassen in der Gesellschaft und nicht nur der Fortschritte und Rückzüge der Arbeiterklasse ist. Letztere betreibt kein Schattenboxen, sondern tritt gegen die raffinierteste herrschenden Klasse in der Geschichte an, die ungeachtet ihres falschen Bewusstseins die Fähigkeit bewiesen hat, aus historischen Ereignissen zu lernen, vor allem wenn es sich dabei um ihren Todfeind handelt, und die zu endlosen Manipulationen und Täuschungsmanövern imstande ist.  Die Strategien der gegnerischen Klasse zu untersuchen war eine Selbstverständlichkeit für Marx und Engels, doch unsere Versuche, diese Tradition fortzusetzen, wurden von vielen Elementen, die sich von der Erscheinung demokratischer Freiheiten bezirzen ließen, oftmals als „Verschwörungstheorie“ abqualifiziert.

Die Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen bringt uns auch zur Frage des historischen Kurses. Als Antwort auf Konfusionen auf den internationalen Konferenzen und in unseren eigenen Reihen (z.B. die RC/GCI-Tendenz[2]) über einen angeblichen Kurs in Richtung Krieg veröffentlichten wir in derselben Internationalen Revue, in der auch der erste Haupttext über die Linke in der Opposition publiziert wurde (Internationale Revue, Nr. 18 [engl., franz., span. Ausgabe, drittes Quartal 1979, die die Texte des dritten IKS-Kongresses enthielt), einen sehr wichtigen Beitrag über die Frage des historischen Kurses (auf Deutsch in: Internationale Revue, Nr. 5), der ein Ausdruck unserer Fähigkeit war, das Vermächtnis der Kommunistischen Linken fortzusetzen und weiterzuentwickeln. Dieser Text nahm sich vor, einige der geläufigsten Missverständnisse im revolutionären Milieu zu widerlegen, insbesondere die empiristische Idee, dass es den Revolutionären nicht möglich sei, allgemeine Vorhersagen über den Kurs des Klassenkampfes zu machen. Entgegen dieser Vorstellung bekräftigte dieser Text nochmals die Tatsache, dass seine Fähigkeit, eine Perspektive für die Zukunft – und nicht nur die allgemeine Alternative zwischen dem Sozialismus und der Barbarei – zu definieren, eines der prägenden Merkmale des Marxismus ist und immer gewesen war. Noch spezifischer beharrt der Text darauf, dass Marxisten ihre Arbeit stets auf ihre Fähigkeit gestützt haben, das besondere Kräfteverhältnis in einem gegebenen Zeitraum zu erfassen, wie wir auch im ersten Teil dieses Berichts sahen. Umgekehrt zeigt der Text auch, dass die Unfähigkeit, die Ausrichtung des historischen Kurses zu erfassen, frühere Revolutionäre zu ernsten Irrtümern verleitet hatte (zum Beispiel Trotzkis desaströse Abenteuer in den 1930ern).

Eine Erweiterung dieser agnostischen Sicht auf den historischen Kurs war das namentlich vom IBRP (Internationale Büro für die Revolutionäre Partei, das später zur Internationalen Kommunistischen Tendenz werden sollte, zu der wir weiter unten noch zurückkommen werden) vertretene Konzept eines „parallelen“ Kurses zum Krieg und zur Revolution…

Obgleich es vier Jahre dauerte, ehe wir formal unsere Formel „Kurs zur Revolution“ änderten, vor allem weil sie eine Art von unvermeidlichem und sogar linearem Fortschritt hin zu revolutionären Konfrontationen implizierte, verstanden wir bereits, dass der historische Kurs weder statisch noch vorherbestimmt ist, sondern den Veränderungen in der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen unterworfen ist. Daher unsere „Losung“ Anfang der 80er in Reaktion auf die spürbare Verschärfung interimperialistischer Spannungen (besonders die russische Invasion in Afghanistan und die Antwort, die sie im Westen provozierte): die Jahre der Wahrheit. Wahrheit nicht nur in der brutalen Sprache der Bourgeoisie mit ihren neuen rechten Teams, sondern auch Wahrheit im Sinne einer Entscheidung über die Zukunft der Menschheit. Es gab sicherlich Irrtümer in diesem Text: insbesondere die Idee des „totalen Scheiterns“ der Wirtschaft und einer bereits existierenden proletarischen „Offensive“ zu einer Zeit, als die Arbeiterkämpfe noch zwangsläufig auf einem ausgesprochen defensiven Terrain stattfanden. Doch der Text offenbarte auch eine wahre prophetische Kraft: nicht nur weil die polnischen ArbeiterInnen uns schnell einen klaren Beweis lieferten, dass der Weg zum Krieg nicht offen war und dass das Proletariat in der Lage war, eine Alternative zu schaffen, sondern auch weil sich die Ereignisse in den 80ern als entscheidend erwiesen, wenngleich nicht in der Weise, die wir anfangs ins Auge gefasst hatten. Die Kämpfe in Polen waren ein Schlüsselmoment in einem Prozess, der zum Kollaps des Ostblocks und zum endgültigen Auftakt der Zerfallsphase führte, dem Ausdruck eines gesellschaftlichen Patts, in dem keine Klasse fähig ist, ihre historische Alternative durchzusetzen.

Wir sahen, wie die zweite Welle mit der Repression in Polen zu Ende ging; dies beschleunigte auch die Krise im revolutionären Milieu (die Auflösung der internationalen Konferenzen, die Spaltung in der IKS[3], der Kollaps der PCI: siehe Internationale Revue, Nr. 28 und 32 [engl., franz., span. Ausgabe]). Doch wir fuhren fort, unser theoretisches Verständnis zu vertiefen, insbesondere durch die Formulierung des Problems der internationalen Generalisierung als nächsten Schritt im Kampf und durch die Debatte über die Kritik der Theorie des schwächsten Gliedes (siehe Internationale Revue, Nr. 31 und 37 [engl., franz., span. Ausgabe]). Diese beiden miteinander verknüpften Themen waren Teil unserer Bemühungen, die Bedeutung der Niederlage in Polen zu verstehen. Durch diese Diskussionen erkannten wir, dass der Schlüssel zur Weiterentwicklung des weltweiten Klassenkampfes – die wir nicht nur in puncto Selbstorganisation und Ausweitung, sondern auch bezogen auf die internationale Generalisierung und die Politisierung ausgemacht haben – Westeuropa blieb. Die Texte über die Generalisierung und andere Polemiken bekräftigten erneut, dass die besten Bedingungen für die proletarische Revolution nicht vom Krieg geschaffen werden, wie die meisten Gruppen aus der Tradition der italienischen Linken weiterhin meinten, sondern von der offenen Wirtschaftskrise, und dass dies genau der Perspektive entsprach, die sich nach 1968 eröffnet hatte. Schließlich wurden im Anschluss an die Niederlage in Polen einige sehr weitsichtige Analysen der grundlegenden Rigidität der stalinistischen Regimes in Artikeln wie „Osteuropa: Die Wirtschaftskrise und die Waffen der Bourgeoisie gegen das Proletariat“ in Internationale Revue, Nr. 34 [engl., franz., span. Ausgabe] vorgestellt. Diese Analysen waren die Grundlage für unser Verständnis der Mechanismen des Zusammenbruchs des Ostblocks nach 1989.

1983–88: die dritte Welle

Eine neue Welle von Kämpfen wurde von den Streiks des öffentlichen Dienstes in Belgien angekündigt und in den nächsten Jahren durch den Streik der britischen Bergarbeiter, die Kämpfe der Eisenbahn- und Krankenhausangestellten in Frankreich, der Eisenbahn- und Erziehungsangestellten in Italien, die massiven Kämpfe in Skandinavien, erneut in Belgien 1986, etc. bestätigt. Nahezu jede Ausgabe der Internationalen Revue in dieser Periode hatte ein Editorial über den Klassenkampf; zudem veröffentlichten wir etliche Kongressresolutionen über die Frage. Es gab den Versuch, diese Kämpfe in einem etwas allgemeineren Zusammenhang zu platzieren. In Internationale Revue, Nr. 39 und 41 [engl., franz., span. Ausgabe], brachten wir Artikel über die Methode heraus, die nötig ist, um den Klassenkampf zu analysieren, und antworteten damit auf den vorherrschenden Empirismus und den Mangel eines Leitfadens im Milieu, dessen Reaktionen von ernsthafter Unterschätzung bis hin zu plötzlichen und absurden Übertreibungen reichten. Besonders der Text in Internationale Revue, Nr. 41 [engl., franz., span. Ausgabe], bekräftigte erneut einige grundlegende Elemente in der Dynamik des Klassenkampfes – sein ungleicher, „wellenartiger“ Charakter, der der Tatsache geschuldet war, dass die Arbeiterklasse die erste revolutionäre Klasse ist, die eine ausgebeutete Klasse ist und nicht von Sieg zu Sieg eilen kann wie die Bourgeoisie, sondern durch einen Prozess schmerzvoller Niederlagen hindurch muss, die das Sprungbrett für zukünftige Fortschritte im Bewusstsein sein können. Diese zerklüftete Kontur des Klassenkampfes wird in der dekadenten Periode gar noch prononcierter, so dass wir, um die Bedeutung eines besonderen Ausbruchs des Klassenkampfes zu verstehen, ihn nicht bloß in seiner Isolation „fotografieren“ dürfen: Er muss in einem allgemeineren Zusammenhang platziert werden, der uns zurück zur Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, zur Frage des historischen Kurses führt.

Daneben war es die Entwicklung der Debatte über den Zentrismus gegenüber dem Rätismus, die sich zuerst auf der theoretischen Ebene manifestierte – das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Kampf sowie die Frage der unterirdischen Reifung (siehe den Artikel darüber in Internationale Revue, Nr. 43 [engl., franz., span. Ausgabe]). Diese Debatten versetzten die IKS in die Lage, eine wichtige Kritik an der rätistischen Auffassung zu äußern, dass das Bewusstsein sich nur im offenen Kampf entwickelt, und eine Unterscheidung zwischen den Dimensionen des Umfangs und der Tiefe zu erarbeiten(„Bewusstsein der Klasse und Klassenbewusstsein“), eine Unterscheidung, die von der künftigen EFIKS umgehend als „leninistisch“ bezeichnet wurde. Die Polemik gegen die CWO über die Frage der unterirdischen Reifung merkte die Ähnlichkeiten zwischen der rätistischen Auffassung unserer Tendenz und jener der CWO an, die in diesem Punkt offen Kautskys Theorie des Klassenbewusstseins befürwortete (das als etwas verstanden wurde, das von außen, von bürgerlichen Intellektuellen ins Proletariat getragen wird). Der Artikel versuchte, weiterzugehen in der marxistischen Auffassung über das Verhältnis zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten, während er die vulgäre „Alltags“-Vision der CWO kritisierte.

Es gibt ein weiteres Gebiet, auf dem der Kampf gegen den Rätismus nicht zum Abschluss gebracht wurde: Trotz der theoretischen Anerkennung, dass das Klassenbewusstsein sich in der Tat außerhalb von Perioden des offenen Kampfes weiterentwickeln kann, gab es jahrelang die Neigung, darauf zu hoffen, dass angesichts der Tatsache, dass wir nicht mehr in einer Zeit der Konterrevolution leben, die Wirtschaftskrise doch plötzliche Sprünge im Klassenkampf und im Klassenbewusstsein herbeiführen könnte. Dies schmuggelte die rätistische Konzeption einer automatischen Verknüpfung zwischen den Krisen und dem Klassenkampf durch die Hintertür in die Organisation zurück; eine Auffassung, die uns wiederholt heimsuchte, nicht zuletzt in der Zeit nach dem Crash von 2008.

Ein Proletariat in der Offensive? Die Schwierigkeiten der Politisierung

Bei der Anwendung der Analyse, die wir in der Debatte über das schwache Glied entwickelt hatten, wurde in unseren wichtigsten Texten über den Klassenkampf in dieser Periode die Bedeutung einer neuen Entwicklung des Klassenkampfes in den wichtigsten Ländern Europas anerkannt. Die „Thesen über den Klassenkampf“ (1984), die in Internationale Revue, Nr. 37 [engl., franz., span. Ausgabe], veröffentlicht wurden, skizzierten die Merkmale dieser Welle:

„Die Charakteristiken der gegenwärtigen Welle, wie sie sich bereits manifestiert haben und die immer sichtbarer werden, sind folgende:

– eine Tendenz zu sehr breiten Bewegungen, die große Zahlen von ArbeiterInnen einbeziehen, ganze Bereiche oder mehrere Bereiche gleichzeitig in einem Land treffen und so die Grundlage für die geographische Ausweitung des Kampfes legen;

– eine Tendenz zum Ausbruch spontaner Bewegungen, die insbesondere zu Beginn  eine gewisse Umgehung der Gewerkschaften an den Tag legen;

– eine wachsende Simultanität der Kämpfe auf internationaler Ebene, die die Grundlage für die weltweite  Generalisierung der Kämpfe in der Zukunft legt;

– eine fortschreitende Entwicklung des Selbstvertrauens innerhalb des gesamten Proletariats, seines Bewusstseins der eigenen Stärke, seiner Fähigkeit, sich als Klasse gegen die Angriffe der Kapitalisten zur Wehr zu setzen;

– das langsame Tempo in der Entwicklung der Kämpfe in den zentralen Ländern und besonders in seiner Fähigkeit zur Selbstorganisation, ein Phänomen, das aus dem Einsatz eines ganzen Arsenals an Fallen und Mystifikationen durch die Bourgeoisie resultiert, was sich in den jüngsten Konfrontationen erneut gezeigt hat.“

Die wichtigsten „Fallen und Mystifikationen“ waren der Einsatz von Basisgewerkschaftern gegen ganz reale Tendenzen zur Arbeiterselbstorganisation, eine Taktik, die raffiniert genug war, um angebliche Anti-Gewerkschafts-Koordinationen zu gründen, die tatsächlich jedoch als letztes Bollwerk der Gewerkschaften fungierten. Dennoch enthielten die Thesen, obschon nicht blind gegenüber den Gefahren für den Klassenkampf, immer noch, wie der Text über die Jahre der Wahrheit, die Vorstellung einer Offensive des Proletariats und sagten voraus, dass die dritte Welle ein höheres Niveau erreichen würde als die vorherigen zwei, was implizierte, dass sie das notwendige Niveau der internationalen Generalisierung erreicht.

Die Tatsache, dass der Kurs in Richtung Klassenkonfrontationen geht, beinhaltet nicht, dass das Proletariat bereits in der Offensive ist; bis zum Vorabend der Revolution werden seine Kämpfe angesichts der unablässigen Angriffe der herrschenden Klasse zwangsläufig defensiv sein. Solche Irrtümer waren das Produkt eines jahrelangen Hangs zur Überschätzung des Niveaus des Klassenkampfes. Dies geschah häufig in Reaktion auf das Versagen des proletarischen Milieus, über seinen Tellerrand hinauszuschauen, ein Thema, das wir oft in unseren Polemiken und auch in der Resolution über die internationale Lage vom 6. Kongress der IKS 1985, veröffentlicht in Internationale Revue, Nr. 44 [engl., franz., span. Ausgabe], behandelt hatten, die einen langen Abschnitt über den Klassenkampf enthielt. Dieser Abschnitt ist eine exzellente Demonstration der historischen Methode der IKS bei der Analyse des Klassenkampfes, eine weitere Kritik an den Skeptizismus und Empirismus, die das Milieu dominierten. Er identifizierte des Weiteren den Verlust historischer Traditionen und den Riss zwischen der Klasse und ihrer politischen Organisationen als die Schlüsselschwächen des Proletariats. Doch im Rückblick hatte er ein zu großes Gewicht auf die Desillusionierung der Klasse über die Linken, besonders über die Gewerkschaften, und auf das Ansteigen der Arbeitslosigkeit als potenzieller Faktor der Radikalisierung des Klassenkampfes gelegt. Er ignorierte nicht die negativen Seiten dieser Phänomene, doch er konnte noch nicht ermessen, wie in der sich ankündigenden Zerfallsphase sowohl die passive Desillusionierung über die alten „Arbeiter“-Organisationen als auch die Ausbreitung der Arbeitslosigkeit, besonders unter den Jungen, zu einem mächtigen Element bei der Demoralisierung des Proletariats und der Untergrabung seiner Klassenidentität werden konnte. Es ist ebenfalls aufschlussreich, dass wir noch 1988 (siehe Internationale Revue, Nr. 54 [engl., franz., span. Ausgabe]) eine Polemik gegen die Unterschätzung des Klassenkampfes im proletarischen Lager veröffentlichten. Ihre Argumente waren im Allgemeinen korrekt, aber sie zeigte auch einen Mangel an Bewusstsein dafür, was bereits um die Ecke lugte – der Zusammenbruch der Blöcke und der längste Rückfluss des Klassenkampfes, den wir je erlebt hatten.

Doch gegen Ende der 80er Jahre wurde es wenigstens einer Minderheit klar, dass die Vorwärtsbewegung des Klassenkampfes, die wir in vielen Artikeln und Resolutionen zu dieser Zeit analysiert hatten, steckengeblieben war. Es gab eine Debatte darüber auf dem 8. Kongress der IKS (Internationale Revue, Nr. 59 [engl., franz., span. Ausgabe]), insbesondere bezüglich der Frage des Zerfalls und seiner negativen Auswirkungen auf den Klassenkampf. Ein beträchtlicher Teil der Organisation sah die „dritte Welle“ von Erfolg zu Erfolg eilen; die Folgen einiger Niederlagen wurden unterschätzt. Dies traf insbesondere auf den Streik der britischen Bergarbeiter zu, deren Niederlage die Welle zwar nicht stoppte, aber einen längerfristigen Effekt auf das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse nicht nur in Großbritannien haben sollte und die Bemühungen der Bourgeoisie verstärkte, mit der Demontage der „alten“ Industrien fortzufahren. Der 8. Kongress war auch der Kongress, auf dem die Idee aufkam, dass bürgerliche Mystifikationen jetzt „nicht länger als drei Wochen wirkten“.

Die Diskussion über den Zentrismus gegenüber dem Rätismus hatte das Problem der Flucht des Proletariats aus der Politik aufgeworfen, doch waren wir nicht in der Lage, dies auf die Dynamik des Klassenkampfes anzuwenden – insbesondere sein Mangel an Politisierung, seine Schwierigkeiten in der Entwicklung einer Perspektive, auch wenn Kämpfe selbstorganisiert waren und eine Tendenz zur Ausweitung aufwiesen. Wir müssen sogar einräumen, dass die IKS den Einfluss des Ökonomismus und der Arbeitertümelei auf ihre eigenen Reihen nie hinlänglich kritisiert hatte, was uns zur Unterschätzung der Bedeutung jener Faktoren verleitete, die das Proletariat über die Grenzen des Arbeitsplatzes und über unmittelbare Forderungen hinaus führen.

Erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde das volle Gewicht des Zerfalls erfasst; erst dann sahen wir korrekterweise eine Periode neuer Schwierigkeiten für das Proletariat kommen (siehe Internationale Revue, Nr. 60 [engl., franz., span. Ausgabe]). Diese Schwierigkeiten entstammten eben jener Unfähigkeit der Arbeiterklasse, ihre eigene Perspektive zu entwickeln; verschlimmert wurden sie auch von der enormen ideologischen Offensive der herrschenden Klasse rund um das Thema des „Todes des Kommunismus“ und des Endes des Klassenkampfes.

Die Periode des Zerfalls

Das anschließende Abflauen des Klassenkampfes erwies sich angesichts des Gewichts des Zerfalls und der antikommunistischen Kampagnen der herrschenden Klasse als sehr tiefgreifend. Obwohl es Anfang der 90er Jahre und auch gegen Ende des Jahrzehnts einige zaghafte Ausdrücke von Kampfgeist gab, sollte dieser Rückfluss bis ins nächste Jahrhundert andauern, während der Zerfall für alle sichtbar voranschritt (am deutlichsten ausgedrückt durch die Angriffe gegen die Twin Towers und die anschließende Invasion Afghanistans und des Irak). Im Angesicht dieses fortschreitenden Zerfalls wurden wir genötigt, die ganze Frage des historischen Kurses in einem Bericht an den 14. Kongress  erneut auf den Prüfstand zu stellen (siehe Internationale Revue, Nr. 29/30 [dt. Ausgabe]. Weitere beachtenswerte Texte über dieses Thema waren unter anderem „Warum das Proletariat den Kapitalismus noch nicht überwunden hat“ in Internationale Revue, Nr. 103 [engl., franz., span. Ausgabe] und die Resolution über die internationale Lage vom 15. Kongress, Internationale Revue, Nr. 31 [dt. Ausgabe]).

Der Bericht über den historischen Kurs 2001 konzentrierte sich, nachdem er die theoretischen Errungenschaften der vergangenen Revolutionäre und unseren eigenen Rahmen, wie er in dem Dokument vom 3. Kongress entwickelt wurde, bekräftigt hatte, auf die konkreten Änderungen, die durch den Eintritt des Kapitalismus in seine Zerfallsphase bewirkt wurden. Die Tendenz zum Weltkrieg wurde nicht nur durch die Unfähigkeit der Bourgeoisie, das Proletariat zu mobilisieren, blockiert, sondern auch durch die zentrifugale Dynamik des „Jeder für sich selbst“, was bedeutete, dass die Neubildung von imperialistischen Blöcken auf wachsende Schwierigkeiten stieß. Da jedoch der Zerfall das Risiko einer allmählichen Abwärtsspirale ins Chaos und in die irrationale Zerstörung enthält, birgt er immense Gefahren für die Arbeiterklasse. Der Text bekräftigte aufs Neue die Auffassung der ursprünglichen Thesen, wonach die Klasse durch den ganzen Prozess allmählich zermürbt werden könnte, was so weit gehen könnte, dass sie nicht mehr in der Lage ist, sich gegen die fortschreitende Flut der Barbarei zu stemmen. Der Text unterschied auch zaghaft zwischen den materiellen und den ideologischen Elementen, die in dem „Zermürbungs“-Prozess involviert sind: die ideologischen Elemente, die spontan aus dem Humus des kapitalistischen Ruins sprießen, und die bewussten Kampagnen, die von der herrschenden Klasse dirigiert werden, wie die endlose Propaganda über den Tod des Kommunismus. Gleichzeitig identifizierte der Text etwas konkreter materielle Elemente wie die Demontage der alten Industriezentren, die häufig Zentren des Kampfgeistes in den früheren Wellen des Klassenkampfes gewesen waren (Bergwerke, Stahl, Werften, Autofabriken, etc.). Doch auch wenn der Bericht nicht versuchte, die Schwierigkeiten zu verbergen, denen sich die Klasse gegenübersah, so fand er dennoch Indizien, die auf eine Wiedererlangung des Kampfgeistes durch die Klasse und auf die fortgesetzten Schwierigkeiten der herrschenden Klasse hindeuteten, die Arbeiterklasse für ihre Kriegskampagnen zu gewinnen, um daraus zu schließen, dass das Potenzial für eine Wiederbelebung des Klassenkampfes immer noch größtenteils intakt war. Dies sollte sich zwei Jahre später mit der Bewegung rund um die „Rentenreform“ in Österreich und Frankreich bestätigen.

Im „Bericht über den Klassenkampf“ in Internationale Revue, Nr. 33 [dt. Ausgabe], machten wir einen Wendepunkt aus, eine Wiederbelebung des Klassenkampfes, die sich in diesen Bewegungen rund um die Renten und in anderen Ausdrücken manifestierte. Dies wurde durch weitere Bewegungen 2006 und 2007 bestätigt, wie die Bewegungen gegen die CPE in Frankreich und die massiven Kämpfe im Textil- und in anderen Bereichen in Ägypten. Die Studentenbewegung in Frankreich war ein besonders beredtes Zeugnis für eine neue Generation von Proletariern, die sich einer ungewissen Zukunft gegenübersieht (siehe: https://de.internationalism.org/frank06 [128] und auch das Editorial von Internationale Revue, Nr. 37 [dt. Ausgabe]). Diese Tendenz wurde ferner von den Kämpfen der „Jugend“ in Griechenland 2008–09, der Studentenrevolte in Großbritannien 2010 und vor allem vom arabischen Frühling sowie den Bewegungen der Indignados und Occupy 2011–13 bestätigt, die Anlass zu einer Reihe von Artikeln in der Internationalen Revue gaben, insbesondere zum Artikel in Internationale Revue, Nr. 147 [engl., franz., span. Ausgabe]. Es gab eindeutige Errungenschaften in diesen Bewegungen – die Bejahung der Versammlungsform, eine direktere Beteiligung an politischen und moralischen Fragen, ein klares Gespür für den Internationalismus – Elemente, auf deren Bedeutung wir später zurückkommen werden. In unserem Bericht zur Plenarsitzung des Internationalen Büros im Oktober 2013 kritisierten wir die arbeitertümelnd und ökonomistisch begründete Zurückweisung dieser Bewegungen und die Versuchung, den Fokus des weltweiten Klassenkampfes auf die neuen Industriekonzentrationen im Fernen Osten zu lenken. Doch wir versteckten nicht das grundlegende Problem, das in diesen Revolten enthüllt wurde: die Schwierigkeit ihrer jungen Protagonisten, sich selbst als Bestandteil der Arbeiterklasse zu betrachten; das immense Gewicht der Ideologie der Bürgergesellschaft und somit des Demokratismus. Die Fragilität dieser Bewegungen zeigte sich sehr deutlich im Nahen Osten, wo wir offenkundige Rückschritte im Bewusstsein (z.B. in Ägypten und Israel) und in Libyen und Syrien einen fast sofortigen Zusammenbruch und den imperialistischen Krieg sehen konnten. Es hat in der Tat eine echte Tendenz zur Politisierung in diesen Bewegungen gegeben, da sie tiefgehende Fragen über den eigentlichen Charakter des existierenden Gesellschaftssystems stellten. Wie bei früheren Aufwallungen in den Nuller Jahren riefen sie eine winzige Minderheit von suchenden Elementen hervor. Doch innerhalb dieser Minderheit gab es große Schwierigkeiten, sich zu einem revolutionären Engagement durchzuringen. Auch wenn diese Elemente den sichtbaren Ketten der zerfallenden bürgerlichen Ideologie entkommen zu sein schienen, traten sie ihr sehr oft in subtileren oder radikaleren Formen entgegen, die sich im Anarchismus, in „Kommunitarismus“-Theorien und ähnlichen Tendenzen kristallisierten, die alle ein weiterer Beweis dafür sind, dass wir sehr wohl auf der richtigen Spur gewesen waren, als wir in den 80ern den „Rätismus als die Hauptgefahr“ betrachteten, da all diese Strömungen an eben jener Frage der politischen Instrumente des Klassenkampfes, vor allem der revolutionären Organisation, scheiterten.

Eine korrekte Bilanz dieser Bewegungen (und unserer Diskussionen über sie) ist nicht gezogen worden und kann hier nicht nachgeholt werden. Doch es scheint, dass der Zyklus von 2003–2013 seinen Abschluss gefunden hat und wir uns einer neuen Periode voller Probleme gegenübersehen.[4] Dies wird am deutlichsten in Nahost, wo die sozialen Proteste vor der unbarmherzigen staatlichen Repression und der imperialistischen Barbarei zurückgewichen sind; dieser entsetzliche Rückschlag kann nur einen niederdrückenden Effekt auf die ArbeiterInnen überall auf der Welt haben. In jedem Fall ist, wenn wir uns unsere Analyse der ungleichmäßigen Entwicklung des Klassenkampfes in Erinnerung rufen, der Rückfluss aus diesen Aufwallungen unvermeidlich; eine Zeitlang wird dies dazu tendieren, die Klasse noch mehr dem verderblichen Einfluss des Zerfalls auszusetzen.

Die Unterschätzung des Feindes

Die meisten unserer Irrtümer in den vergangenen 40 Jahren scheinen in die Richtung einer Unterschätzung der Bourgeoisie, der Fähigkeit dieser Klasse, ihr verrottendes System aufrechtzuerhalten, und damit der ungeheuren Hindernisse zu gehen, denen sich die Arbeiterklasse bei der Ausübung ihrer revolutionären Aufgaben gegenübersieht. Dies muss bei der Bilanzierung der Kämpfe zwischen 2003 und 2013 ein Schlüsselelement sein.

Der Bericht an den Kongress der Sektion in Frankreich 2014 bekräftigte erneut die Analyse des Wendepunkts: Die Kämpfe im Jahr 2003 brachten das Schlüsselthema der Solidarität auf. Die Anti-CPE-Bewegung 2006 in Frankreich war eine tief greifende Bewegung, die die Bourgeoisie überrumpelte und sie zum Rückzug zwang, da die reale Gefahr einer Ausweitung auf die beschäftigten ArbeiterInnen bestand. Doch im Anschluss daran gab es die Tendenz, die Fähigkeiten der herrschenden Klasse zu vergessen, die sich schnell von solchen Schocks zu erholen pflegt und ihre ideologischen Offensiven und Manöver erneuerte, besonders als es darum ging, den Einfluss der Gewerkschaften wiederherzustellen. Wir haben dies in Frankreich in den 80er Jahren in Gestalt der Koordinationen gesehen, und wir entdeckten es 1995 erneut, jedoch vergaßen wir es, wie der Bericht über den Klassenkampf an den letzten Kongress von Révolution Internationale hervorhebt, in unseren Analysen der Bewegungen in Guadeloupe und der Rentenkämpfe 2010, die das französische Proletariat letztendlich auslaugten und so jegliche ernsthafte Ansteckung durch die Bewegung in Spanien ein Jahr später verhinderten. Und der Bericht an den Kongress der französischen Sektion wies auch darauf hin, dass wir trotz unserer wiederholten Warnungen vor dem enormen Einfluss der antikommunistischen Kampagnen zu schnell vergessen hatten, dass die Kampagnen gegen den Marxismus und Kommunismus immer noch einen beträchtlichen Einfluss auf die neue Generation ausüben, die im vergangenen Jahrzehnt auf der Bildfläche erschienen war.

Wir beginnen gerade, einige der anderen Schwächen in unserer damaligen Analyse zu erkennen.

Bei aller Kritik an der Ideologie der „Anti-Kapitalisten“ der 1990er Jahre, mit ihrer Betonung der Globalisierung als eine völlig neue Phase im Leben des Kapitalismus – und an den Zugeständnissen im proletarischen Milieu gegenüber dieser Ideologie, besonders im Falle des IBRP, das die Dekadenz in Frage zu stellen schien –, erkannten wir nicht den wahren Kern in diesem Mythos: dass die neue Strategie der „Globalisierung“ und des Neoliberalismus die herrschende Klasse in die Lage versetzte, die Rezessionen der 80er zu überstehen und sogar neue Möglichkeiten für die Expansion in Gebieten zu eröffnen, in denen die alten Blockteilungen und semi-autarke Modelle bisher beträchtliche Barrieren gegen die freie Bewegung der Kapitalströme dargestellt hatten. Das offenkundigste Beispiel dieser Entwicklung ist natürlich China, dessen Aufstieg zur „Supermacht“ wir nicht völlig antizipierten, obwohl wir spätestens seit den 1970ern und der chinesisch-russischen Entzweiung erkannt hatten, dass China eine Art Ausnahme von der Regel, nämlich die Unmöglichkeit einer „Unabhängigkeit“ von der Vorherrschaft der beiden Blöcke, war. Wir haben somit erst spät den Einfluss beurteilt, den das Aufkommen riesiger neuer Industriekonzentrationen in einigen dieser Regionen auf die globale Entwicklung des Klassenkampfes ausgeübt hatte. Die theoretischen Gründe für unser Versagen, den Aufstieg des neuen Chinas vorauszusehen, müssen ausführlicher in den Diskussionen rund um unsere Analysen der Wirtschaftskrise ermittelt werden.

Möglicherweise noch bedeutsamer ist, dass wir nicht ausreichend die Rolle untersucht haben, die die Zerschlagung vieler alter Zentren der Klassenmilitanz in den Kernländern bei der Untergrabung der Klassenidentität gespielt hat. Wir waren richtigerweise skeptisch gegenüber rein ideologischen Analysen des Klassenbewusstseins, doch dieveränderte Zusammensetzung der Arbeiterklasse in den Kernländern, der Verlust von Kampftraditionen, die Entwicklung von weitaus atomisierteren Formen der Arbeit haben sicherlich zum Auftreten von Generationen von Proletariern beigetragen, die sich selbst nicht mehr als Bestandteil der Arbeiterklasse betrachten, auch wenn sie sich in Kämpfen gegen die Angriffe des Staates engagieren, wie wir in den Occupy- und Indignados-Bewegungen 2011–13 gesehen haben. Außerordentlich wichtig ist die Tatsache, dass das massive „Outsourcing“, das in den westlichen Ländern stattgefunden hat, oft aus bedeutsamen Niederlagen resultierte – die britischen Bergarbeiter und die französischen Stahlarbeiter waren einschlägige Fälle. Diese Themen wurden, auch wenn sie im Bericht über den historischen Kurs 2001 genannt wurden, nicht wirklich aufgegriffen und erst mit großer Verspätung, nämlich im Bericht über den Klassenkampf 2013, neu untermauert. Wir haben noch immer nicht wirklich dieses Phänomen in unseren eigenen Rahmen eingegliedert, was gewiss eine Antwort zu den mangelhaften Anstrengungen von Strömungen wie die Operaisten und die IKT bei der Theoretisierung der „Neuzusammensetzung“ der Arbeiterklasse erforderlich machen würde.

Gleichzeitig hat das Übergewicht der langfristigen Arbeitslosigkeit und der prekären Beschäftigung die Tendenz zur Atomisierung und zum Verlust der Klassenidentität verschärft. Die autonomen Kämpfe der Arbeitslosen, die in der Lage wären, sich mit den Kämpfen der beschäftigten ArbeiterInnen zusammenzukoppeln, waren von weitaus geringerer Bedeutung, als wir in den 70er und 80er Jahren vorhergesagt hatten (vgl. die Thesen über die Arbeitslosigkeit, Internationale Revue, Nr. 14 [engl., franz., span. Ausgabe] oder die Resolution über die internationale Lage vom 6. Kongress der IKS, auf die sich der vorherige Abschnitt bezog); große Teile der Arbeitslosen und prekär Beschäftigten sind der Verlumpung, der Bandenkultur oder reaktionären politischen Ideologien zum Opfer gefallen. Die Studentenbewegung in Frankreich 2006 und die sozialen Revolten gegen Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert begannen Antworten auf diese Probleme zu liefern, indem sie die Möglichkeit boten, die Arbeitslosen durch Massendemonstrationen und Straßenversammlungen mit einzubeziehen, doch geschah dies in einem Zusammenhang, in dem die Klassenidentität noch sehr schwach ausgeprägt war.

Unsere Hauptbetonung bei der Erklärung des Verlustes der Klassenidentität lag auf der ideologischen Ebene, ob wir über die unmittelbaren Produkte des Zerfalls (Jeder für sich selbst, Bandenkultur, Flucht in die Irrationalität, etc.) oder über den bewussten Gebrauch der Auswirkungen des Zerfalls durch die herrschende Klasse sprachen – am deutlichsten die Kampagnen rund um den Tod des Kommunismus, aber auch die mehr auf den Alltag ausgerichteten ideologischen Angriffe der Medien und der werbeverpackten falschen Revolte, des Kaufrausches und des Promikultes, etc. Dies ist selbstverständlich wichtig, doch in mancherlei Hinsicht haben wir erst begonnen zu ermitteln, wie diese ideologischen Mechanismen im Innersten wirken – eine theoretische Aufgabe, die  wir mit den Thesen zur Moral[5] und unseren Anstrengungen, die marxistische Entfremdungstheorie anzuwenden und weiterzuentwickeln, bereits in Angriff genommen haben.

Die Klassenidentität ist nicht, wie die IKT bisweilen argumentierte, eine Art von rein instinktiven oder halbbewussten Gefühlen der ArbeiterInnen, die sich vom wahren Klassenbewusstsein unterscheiden, das von der Partei bewahrt wird. Sie ist ein integraler Bestandteil des Klassenbewusstseins, Teil des Prozesses, in dem das Proletariat sich selbst als eine eigene Klasse mit einer einmaligen Rolle und einem einmaligen Potenzial in der kapitalistischen Gesellschaft wahrnimmt. Darüber hinaus beschränkt sie sich nicht auf rein ökonomisches Gebiet, sondern besaß von Anfang an starke kulturelle und moralische Elemente: Wie Rosa Luxemburg es formulierte, ist die Arbeiterbewegung nicht auf „Brot- und Butterfragen“ beschränkt, sondern ist eine „große kulturelle Bewegung“. Die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts umfasste also nicht nur Kämpfe für unmittelbare ökonomische und politische Forderungen, sondern auch die Organisation von Bildung, von Debatten über Kunst und Wissenschaft, von Sport und Freizeitaktivitäten und so weiter. Die Bewegung schuf ein ganzes Milieu, in dem Proletarier und ihre Familien außerhalb des Arbeitsplatzes miteinander verkehrten und sich in ihrer Überzeugung bestärkten, dass die Arbeiterklasse der wahre Erbe all der früheren gesunden Ausdrücke der Menschheit ist. Diese Art von Arbeiterbewegung erreichte ihren Höhepunkt in der Ära der Sozialdemokratie, doch war sie auch das Vorspiel ihres Untergangs. Was mit dem großen Verrat 1914 preisgegeben wurde, war nicht nur die Internationale und die alten Formen der politischen und wirtschaftlichen Organisation, sondern auch dieses breite kulturelle Milieu, das nur noch als eine Karikatur  auf den „Volksfesten“ der stalinistischen und linksextremistischen Parteien überlebte. 1914 war der erste einer Reihe von Tiefschlägen gegen die Klassenidentität im gesamten vergangenen Jahrhundert: die politische Auflösung der Klasse in Demokratie und Antifaschismus in den 30ern und 40ern, die Gleichsetzung von Kommunismus und Stalinismus, der Bruch in der organischen Kontinuität mit den Organisationen und Traditionen der Vergangenheit, der von der Konterrevolution verursacht wurde. Schon  lange vor der Entfaltung der Zerfallsphase lasteten diese Traumen schwer auf der Fähigkeit des Proletariats, sich selbst als eine Klasse zu konstituieren, die um ihre Rolle als jene gesellschaftliche Kraft weiß, die in sich „die Auflösung aller Klasse“ birgt. So wird jede Untersuchung dieses Problems des Verlustes der Klassenidentität auf die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung zurückgehen müssen und darf sich nicht auf die letzten paar Jahrzehnte beschränken. Auch wenn dieses Problem in den letzten Jahrzehnten so akut und bedrohlich für die Zukunft des Klassenkampfes geworden ist, ist es lediglich der konzentrierte Ausdruck eines Prozesses mit einer weitaus längeren Geschichte.

Um auf das Problem unserer Unterschätzung der herrschenden Klasse zurückzukehren: der Höhepunkt unserer langjährigen Missachtung des Feindes – die auch die größte Schwäche in unseren Analysen ist – wurde nach dem Finanzcrash von 2007–08 erreicht, als eine alte Tendenz, die stets davon ausging, dass der herrschenden Klasse in den Zentren des Systems mehr oder weniger die Optionen ausgegangen seien, dass die Wirtschaft eine totale Sackgasse erreicht hat, sich zuspitzte. Dies konnte nur Gefühle der Panik erzeugen und steigern; eine häufig vorkommende, aber unausgesprochene Vorstellung war, dass die Arbeiterklasse und die winzige revolutionäre Bewegung entweder nur noch „eine Kugel im Lauf“ oder bereits „den Zug verpasst“ haben. Gewisse Formulierungen über die Dynamik des Massenstreiks speisten sich in diesen Immediatismus (immediate; engl. für: sofort)  ein. Eigentlich lagen wir nicht falsch, als wir in der Studentenbewegung 2006 oder in den Kämpfen der Stahlarbeiter in Spanien im gleichen Jahr, in Ägypten 2007, in Bangladesch und anderswo „Keime“ des Massenstreiks sahen. Unser Fehler lag darin, die Saat mit der Frucht gleichzusetzen und nicht zu verstehen, dass die Keimzeit eine sehr lange sein wird. Es war unübersehbar, dass diese Irrtümer in der Analyse eng mit den aktivistischen und opportunistischen Deformationen in unseren damaligen Interventionen verknüpft waren, obgleich diese Irrtümer auch in der weiter gefassten Diskussion über unsere Rolle als eine Organisation verstanden werden müssen (siehe den Text über die Arbeit als Fraktion in dieser Ausgabe).

Die moralische Dimension des Klassenbewusstseins

„Wenn der Eigentümer der Arbeitskraft heute gearbeitet hat, muß er denselben Prozeß morgen unter denselben Bedingungen von Kraft und Gesundheit wiederholen können. Die Summe der Lebensmittel muß also hinreichen, das arbeitende Individuum als arbeitendes Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten. Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., sind verschieden je nach den klimatischen und andren natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element. Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben.“[6]

Sich dem Kapital anzunähern, ohne wirklich zu begreifen, dass Marx danach strebte, die Mechanismen eines besonderen gesellschaftlichen Verhältnisses zu verstehen, das das Produkt einer jahrtausendelangen Geschichte und wie andere gesellschaftlichen Verhältnisse zum Verschwinden verdammt ist, muss darin enden, behext zu werden  von einer verdinglichten Sichtweise der Welt, die Marx mit seiner Untersuchung zu bekämpfen beabsichtigte. Dies schließt all die akademischen Marxologen mit ein, ob sie sich nun als ungebundene Professoren oder als ultra-radikale Kommunisten betrachten, die dazu neigen, den Kapitalismus als ein sich selbst genügendes System von ewig währenden Gesetzmäßigkeiten zu analysieren, die unter allen historischen Bedingungen, in der Dekadenz des Systems wie in seinem Aufstieg, auf exakt dieselbe Weise wirken. Doch Marx‘ Bemerkungen über den Wert der Arbeitskraft reißen uns heraus aus dieser rein ökonomischen Betrachtungsweise des Kapitalismus und bringen uns zu der Erkenntnis, dass „historische und moralische“ Faktoren eine eminent wichtige Rolle bei der Bestimmung eines zentralen „ökonomischen“ Fundaments dieser Gesellschaft spielen: dem Wert der Arbeitskraft. Mit anderen Worten: im Gegensatz zu den Aussagen von Paul Cardan (alias Castoriadis, dem Gründer der Gruppe Socialisme ou Barbarie), für den das Kapital ein Buch bar jedes Klassenkampfes war, argumentiert Marx, dass die Behauptung der menschlichen Würde durch die ausgebeutete Klasse – eine moralische Dimension par excellence – erklärtermaßen nicht durch eine wissenschaftliche Untersuchung über das Treiben des kapitalistischen Systems ersetzt werden kann. In demselben Satz antwortet Marx auch jenen, die in ihm einen moralischen Relativisten sehen, einen Denker, der jegliche Moral als heuchlerischen Jargon der einen oder anderen herrschenden Klasse abtut.

Heute ist die IKS gezwungen, ihr Verständnis des „historischen und moralischen Elements“ in der Lage der Arbeiterklasse zu vertiefen – historisch nicht nur im Sinne der Kämpfe der letzten 40, 80 oder 100 Jahre oder gar seit den ersten Arbeiterbewegungen in der Morgendämmerung des Kapitalismus, sondern auch im Sinne der Kontinuität und des Bruchs zwischen den Kämpfen der Arbeiterklasse und der früheren ausgebeuteten Klassen und darüber hinaus im Sinne ihrer Kontinuität und ihres Bruchs mit allen früheren Versuchen der menschlichen Spezies –, all die Barrieren gegen die Verwirklichung ihres wahren Potenzials zu überwinden und „ihre schlummernden Kräfte zu wecken“, wie Marx das zentrale Kennzeichen der menschlichen Arbeit an sich definiert. Hier kommen Geschichte und Anthropologie zusammen, und über Anthropologie zu reden heißt, über die Geschichte der Moral zu sprechen. Daher die Bedeutung der „Thesen zur Moral“ und unsere Diskussionen rund um sie…

Ableitend von den Thesen, können wir einige Schlüsselmomente feststellen, die eine Tendenz zur Vereinigung der menschlichen Spezies markierten: den Übergang von der Horde zu einem weiter gefassten primitiven Kommunismus; der Anbruch der „Achsenzeit“, die verbunden war mit einer einsetzenden Generalisierung der Warenbeziehungen und die die Entstehung der meisten Weltreligionen erlebte, Ausdrücke im „Geiste“ der Vereinigung einer Menschheit, die in der Realität noch nicht vereint werden konnte; die globale Expansion des aufsteigenden Kapitalismus, der erstmalig danach strebte, die Menschheit unter der – zugegeben brutalen – Herrschaft einer einzigen Produktionsweise zu vereinen; die erste weltweite revolutionäre Welle, die das Versprechen auf eine materielle menschliche Gemeinschaft enthielt. Diese Vereinigungstendenz erhielt einen fürchterlichen Schlag durch den Triumph der Konterrevolution, und es ist kein Zufall, dass Trotzki 1938, am Rand des barbarischsten Krieges in der Geschichte, bereits von einer „Krise der Menschheit“ sprach. Zweifellos hatte er als Beweis für diese Krise den I. Weltkrieg, das stalinistische Russland, die weltweite Depression und den Marsch in einen zweiten Weltkrieg im Auge, doch es war möglicherweise vor allem das Bild von Nazideutschland (auch wenn er nicht solange gelebt hatte, um Zeuge der schlimmsten Ausdrücke dieses barbarischen Regimes zu werden), das diese Idee bestärkte, diese Idee einer Menschheit, die sich selbst auf den Prüfstand stellt, weil es hier um einen einmaligen Prozess des Rückschritts in einer der Wiegen der bürgerlichen Zivilisation ging: Jene Nationalkultur, die Hegel, Beethoven, Goethe hervorbrachte, war nun der Herrschaft von Schlägern, Okkultisten und Nihilisten erlegen, getrieben von einem Programm, das danach trachtete, den letzten Sargnagel in das mögliche Projekt einer vereinten Menschheit zu treiben.

Im Zerfall wird diese Tendenz zur Regression, werden diese Anzeichen für ein Kollaps des gesamten bisherigen menschlichen Fortschritts zur „Normalität“ auf dem ganzen Planeten. Dies findet vor allem im Fragmentierungsprozess und im Jeder-für-sich-selbst seinen  Ausdruck: Auf einer Stufe, auf der die Produktion und Kommunikation vereinter denn je ist, ist die Menschheit in Gefahr, in Nationen, Regionen, Religionen, Rassen, Banden geteilt und unterteilt zu werden, wobei all dies, vor dem Hintergrund zahlloser Formen des religiösen Fundamentalismus, Nationalismus und Rassismus, von einem gleichermaßen zerstörerischen intellektuellen Rückschritt begleitet wird. Der Aufstieg des „Islamischen Staates“ liefert eine Kurzversion dieses Prozesses auf historischer Ebene: War einst der Islam das Produkt eines moralischen und geistigen Fortschritts für eine ganze Region und darüber hinaus, so ist heute der Islamismus sowohl in seiner sunnitischen als auch in seiner schiitischen Form ein reiner Ausdruck der Negation der Menschheit – des Pogromismus, der Frauenfeindlichkeit und des Todeskults.

Es ist offenkundig, dass die Gefahr dieser Rückwärtsgewandtheit das Proletariat selbst infiziert. Bestimmte Bereiche der Arbeiterklasse in Europa zum Beispiel, die die Niederlage all der Kämpfe in den 70ern und 80ern gegen die Dezimierung der Industrie und ihrer Jobs erlebt haben, werden jetzt mit einigem Erfolg von rassistischen Parteien in Beschlag genommen, die neue Sündenböcke gefunden haben, die sie wegen ihres Elends beschuldigen können – die Massen von Flüchtlingen, die vor den wirtschaftlichen, ökologischen und militärischen Katastrophen in ihren Herkunftsgebieten in die zentralen Länder fliehen. Diese Immigranten sind im Allgemeinen „auffälliger“ als die Juden im Europa der 30er Jahre, und jene unter ihnen, die die islamische Religion verfechten, können direkt mit Kräften in Verbindung gebracht werden, die in imperialistischen Konflikten gegen ihr „Gastgeber“-Land verwickelt sind. Diese Fähigkeit der Rechten, besser als die Linken in Teile der Arbeiterklasse einzudringen (in Frankreich z.B. sind frühere „Bastionen“ der KP an den Front National gefallen), ist ein relevanter Ausdruck des Verlustes der Klassenidentität: Wo wir einst auf ArbeiterInnen weisen konnten, die ihre Illusionen in die Linke aufgrund ihrer Erfahrung mit deren Sabotagerolle im Kampf verloren hatten, ist heute der niedergehende Einfluss der Linken eher eine Widerspiegelung der Tatsache, dass die Bourgeoisie weniger Bedarf an Mystifikationskräften hat, die vorgeben, zugunsten der Arbeiterklasse zu handeln, weil Letztere immer weniger in der Lage ist, sich selbst überhaupt als eine Klasse zu betrachten. Er spiegelt ebenfalls eines der bedeutsamsten Produkte des globalen Zerfallsprozesses und der ungleichen Entwicklung der Weltwirtschaftskrise wider: die Tendenz Europas und Nordamerikas, zu Inseln der relativen „Vernunft“ in einer verrückt gewordenen Welt zu werden. Namentlich Europa gleicht zunehmend einem gut ausgestatteten Bunker, der dem Ansturm der verzweifelten Massen trotzt, die nach einer Zuflucht vor der globalen Apokalypse suchen. Ganz gleich, wie gnadenlos das Regime im Bunker ist, der „gesunde Menschenverstand“ all der Belagerten würde sagen: Schließt die Reihen und sorgt dafür, dass die Tore zum Bunker fest verschlossen bleiben! Der Überlebensinstinkt spaltet sich mithin völlig von jeglichen moralischen Gefühlen und Impulsen ab.

Die Krise der „Vorhut“ kann ebenfalls nur in diesem allgegenwärtigen Prozess lokalisiert werden: der Einfluss des Anarchismus auf die politisierten Minderheiten, die von den Kämpfen 2003–13 generiert wurden, mit der Fixierung auf den unmittelbaren, spezifischen Arbeitsplatz, auf die „Community“; die wachsende Arbeitertümelei à la Mouvement Communiste und ihr entgegengesetzter Pol, die „Kommunisierungs“-Tendenz, die die Arbeiterklasse als Subjekt der Revolution ablehnt; der Sturz der Kommunistischen Linken in den moralischen Bankrott, den wir in anderen Berichten analysieren werden. Zusammengefasst, die Unfähigkeit der revolutionären Vorhut, sowohl die Realität der moralischen und intellektuellen Regression zu begreifen, die über die Welt fegt, als auch gegen sie zu kämpfen.

Dieser Bericht argumentiert nicht nur, dass der Zyklus der Kämpfe, der von 1968 bis 1989 reichte, zu einem Ende gekommen ist, weil das Proletariat nicht in der Lage war, eine Alternative zum Kapitalismus anzubieten, was endgültig die Zerfallsphase einleitete, sondern auch dass der erste wichtige Kampfzyklus in der Zerfallsphase zu Ende gegangen zu sein scheint, und dies größtenteils aus den gleichen Gründen.

Der historische Kurs

Die Situation sieht in der Tat sehr schwerwiegend aus. Macht es noch einen Sinn, über einen historischen Kurs zu Klassenkonfrontationen zu sprechen? Die Arbeiterklasse heute ist so weit von 1968 entfernt wie 1968 vom Beginn der Konterrevolution; hinzu kommt der Verlust ihrer Klassenidentität, was bedeutet, dass ihre Fähigkeit, sich die Lehren aus den Kämpfen, die sich Jahrzehnte zuvor ereignet hatten, anzueignen, verschwunden ist. Gleichzeitig bleiben die Gefahren, die dem Prozess des Zerfalls innewohnen – eine allmähliche Auszehrung der Fähigkeit des Proletariats, sich der kapitalistischen Barbarei zu widersetzen – nicht statisch, sondern tendieren dazu, sich mit dem immer tieferen Sturz des kapitalistischen Gesellschaftssystems in den Verfall zu verstärken.

Der historische Kurs steht nicht in alle Ewigkeit fest, und die Möglichkeit massiver Klassenkonfrontationen in den Schlüsselländern des Kapitalismus ist kein im Voraus arrangierter Zwischenstopp auf der Reise in die Zukunft.

Dennoch denken wir auch weiterhin, dass das Proletariat nicht das letzte Wort gesprochen hat, auch wenn jene, die gesprochen haben, sich wenig bewusst darüber waren, dass sie für das Proletariat gesprochen haben.

In unserer Analyse der Klassenbewegungen 1968–89 bemerkten wir die Existenz gewisser Höhepunkte, die als Inspiration für künftige Kämpfe und als Maßstab für deren Fortschritt dienten. Also: die Bedeutung von `68 in Frankreich bei der Formulierung der Frage nach einer neuen Gesellschaft, der polnischen Kämpfe 1980 für die Bekräftigung der Methoden des Massenstreiks, der Ausweitung und der Selbstorganisation des Kampfes und so weiter. Diese Fragen blieben weitgehend unbeantwortet. Doch wir können auch sagen, dass die Kämpfe der letzten Dekade ebenfalls ihre Höhepunkte hatten, vor allem weil sie die Schlüsselfrage  der Politisierung zu erheben begannen, die wir als eine zentrale Schwäche der Kämpfe im vorherigen Zyklus ausmachten. Mehr noch, die wichtigsten dieser Bewegungen – wie der Kampf der Studenten in Frankreich 2006 und die Revolte der Indignados in Spanien – stellten viele Fragen, die demonstrierten, dass es für das Proletariat in der Politik nicht darum geht, ob das bürgerliche Regierungsteam bleiben oder abserviert werden soll, sondern darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern, dass es sich bei der proletarischen Politik darum handelt, eine neue Moral zu schaffen, die in einen Gegensatz zur Ellenbogengesellschaft des Kapitalismus steht. Mit ihrer Empörung über die Verschwendung menschlichen Potenzials und über die Destruktivität des gegenwärtigen Systems, mit ihren Bemühungen, die am meisten entfremdeten Sektoren der Arbeiterklasse für sich zu gewinnen (der Appell der französischen StudentInnen an die Jugend der banlieues), mit der führenden Rolle, die von jungen Frauen in ihrer Haltung gegenüber der Gewalt und Polizeiprovokation gespielt wurde, mit dem Wunsch nach leidenschaftlicher Debatte in den Versammlungen und mit einem beginnenden Internationalismus, der in vielen Slogans der Bewegung[7] zum Ausdruck kam, boten diese Bewegungen die Stirn gegen die ansteigende Flut des Zerfalls und bekräftigten, dass passives Nachgeben keinesfalls die einzige Möglichkeit ist, dass es immer noch möglich ist, diesem No-future der Bourgeoisie mit ihren pausenlosen Attacken gegen die Perspektive des Proletariats mit  Denkanstößen und Debatten über die Möglichkeit einer anderen Art von gesellschaftlichen Verhältnissen zu begegnen. Und insoweit wie diese Bewegungen gezwungen wurden, Fragen zu jedem Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft zu stellen, von den ökonomischen und politischen bis hin  zu künstlerischen, wissenschaftlichen und Umweltfragen, lieferten sie uns eine Ahnung davon, wie eine neue „große, kulturelle Bewegung“ in der Hitze des Gefechts gegen das kapitalistische System neu entstehen könnte.

Es gab gewiss Momente, in denen wir dazu neigten, uns von der Begeisterung für diese Bewegungen mitreißen zu lassen und ihre Schwächen aus den Augen zu verlieren, was zu einer Wiederverstärkung unserer Tendenzen zum Aktivismus und zu Formen der Interventionen führte, die nicht von einer klaren theoretischen Ausgangslage geprägt waren. Doch wir lagen zum Beispiel 2006 nicht falsch, als wir Elemente des Massenstreiks in der Anti-CPE-Bewegung sahen. Zweifellos neigten wir dazu, dies eher in einer unmittelbaren als langfristigen Perspektive zu betrachten, doch fraglos verstärkten diese Revolten den grundlegenden Charakter des Klassenkampfes in der Dekadenz: Kämpfe, die nicht von permanenten Körperschaften im Voraus organisiert werden, die den Hang haben, sich schnell in der Gesellschaft zu verbreiten, die das Problem neuer Formen der Selbstorganisationen stellen und dazu neigen, die politische in die ökonomische Dimension zu integrieren.

Natürlich bestand die große Schwäche darin, dass sie sich weitgehend nicht als Proletarier, nicht als Ausdrücke des Klassenkrieges sahen. Und wenn diese Schwäche nicht überwunden wird, werden die Stärken solcher Bewegungen zu Schwachpunkten werden: Das Hauptaugenmerk auf moralische Anliegen wird in eine Form des vagen, kleinbürgerlichen Humanismus zerfallen, der schnell einer demokratischen „Bürger“-Politik – also einer offen bürgerlichen Politik – anheimfällt; Versammlungen werden zu bloßen Straßenparlamenten, wo die offene Debatte über die wesentlichen Fragen durch Manipulationen der politischen Elite und durch Forderungen ersetzt wird, die die Bewegung innerhalb des Horizonts bürgerlicher Politik fixieren. Dies war im Kern das Schicksal der sozialen Revolten von 2011–13.

Die Notwendigkeit, die Straßenrevolte mit dem Widerstand der beschäftigten ArbeiterInnen, mit all den vielgestaltigen Produkten der Bewegungen der Arbeiterklasse zu verknüpfen und zu verstehen, dass diese Synthese nur auf einer proletarischen Perspektive für die Zukunft der Gesellschaft fußen kann, beinhaltet umgekehrt, dass die Vereinigung des Proletariats die Wiederherstellung der Verbindungen zwischen der Arbeiterklasse und den Organisationen der Revolutionäre umfassen muss. Dies ist die unbeantwortete Frage, die unerfüllte Perspektive, die sich nicht nur durch die Kämpfe der letzten paar Jahre, sondern in allen Ausdrücken des Klassenkampfes seit 1968 stellte.

Gegen den gesunden Menschenverstand  des Empirismus, der das Proletariat erst erblickt, wenn es ans Tageslicht kommt, wissen Marxisten, dass das Proletariat wie Blakes schlafender Riese Albion ist, dessen Wiedererwachen die Welt auf den Kopf stellt. Auf der Grundlage der Theorie über die unterirdische Bewusstseinsreifung, die die IKS mehr oder weniger auf sich allein gestellt vertritt, wissen wir, dass das riesige Potenzial der Arbeiterklasse zum größten Teil verborgen bleibt; selbst die klarsten Revolutionäre vergessen leicht, dass diese „schlummernde Kraft“ einen riesigen Einfluss auf die gesellschaftliche Realität ausüben kann, auch wenn sie sich von der Bühne zurückgezogen zu haben scheint. Marx war in der Lage wahrzunehmen, dass die Arbeiterklasse die neue revolutionäre Kraft in der Gesellschaft war, und dies auf einer damals noch dürftigen Beweislage, wie ein paar Streiks der französischen Weber, die noch nicht komplett die Handwerksebene hinter sich gelassen hatten. Und trotz all der immensen Schwierigkeiten, denen sich das Proletariat gegenübersah, trotz all unser Überschätzungen des Kampfes und Unterschätzungen des Gegners sind die Klassenbewegungen der vergangenen 40 Jahre Indiz genug, um daraus zu schließen, dass die Arbeiterklasse diese Fähigkeit, der Menschheit eine neue Gesellschaft, eine neue Kultur und eine neue Moral anzubieten, nicht verloren hat…

[1]               Näheres zu Marc Chiric siehe die Fußnote in dem Artikel „Welche Bilanz und Perspektiven für unsere Aktivitäten“ in dieser Ausgabe.

[2]               Mehr über diese Tendenz in: „Die Frage der organisatorischen Funktionsweise der IKS“ in: Internationale Revue, Nr. 30 [dt. Ausgabe] (https://de.internationalism.org/doku [124]).

[3]               Mehr zu dieser Abspaltung siehe den Artikel in Internationale Revue, Nr. 30, „Die Frage der organisatorischen Funktionsweise der IKS“ [dt. Ausgabe], der folgende Passage enthält: „Anlässlich der Krise von 1981 machte sich (mit Unterstützung des dubiosen Elements Chénier, aber nicht nur mit seiner) die Sichtweise breit, dass jede lokale Sektion eine eigene Politik bezüglich der Intervention verfolgen könne, was eine totale Infragestellung des Internationalen Büros (IB) und seines Sekretariats (IS) bedeutete (man warf diesen Organen insbesondere ihre Auffassung über die Linke in der Opposition sowie die Provozierung einer stalinistischen Degeneration vor). Zwar vertrat man die Notwendigkeit von Zentralorganen, doch beschränkte man sie letztlich auf die Rolle bloßer Briefkästen.“ (https://de.internationalism.org/doku [124])

[4]               Diese Frage ist immer noch in der Diskussion in der IKS.

[5]               Ein internes Dokument, das jüngst in der Organisation zur Sprache kam.

[6]               Marx, Das Kapital, Band 1, Kap. 4.3 „Kauf und Verkauf der Arbeitskraft“.

[7]               Wir weisen auf den Ausdruck offener Solidarität zwischen den Kämpfen in den USA und in Europa sowie jenen im Nahen Osten, besonders in Ägypten, hin oder auf die Slogans der Bewegung in Israel, die Netanjahu, Mubarak und Assad als denselben Feind bezeichneten.

Historische Ereignisse: 

  • Historischer Kurs [129]
  • Klassenkampf [130]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Welle 1917-1923 [36]

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21. Kongress der IKS: 40 Jahre nach der Gründung, Bilanzen und Perspektiven

Bericht über die Rolle der IKS als „Fraktion“

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Wie wir im Artikel „40 Jahre nach der Gründung der IKS – Welche Bilanz, welche Perspektiven für unsere Aktivitäten“ geschrieben haben, verabschiedete der

21. Kongress der IKS einen Bericht über die Rolle der IKS als eine „Fraktion“. Dieser Report war in zwei Abschnitte gegliedert, wobei der erste den historischen Kontext wiedergab und an die Fraktion als ein Konzept erinnerte und der zweite eine konkrete Analyse war, wie unsere Organisation ihre Verantwortung in diesem Zusammenhang erfüllt hatte. Wir veröffentlichen unten den ersten Teil des Berichts, der von allgemeinem Interesse über die spezifischen Fragen ist, mit denen die IKS konfrontiert ist.

Der Begriff der Fraktion in der Geschichte der Arbeiterbewegung

Der 21. Internationale Kongress wird eine kritische Einschätzung der 40 jährigen Existenz der IKS in den Mittelpunkt seines Anliegens rücken. Diese kritische Bilanz bezieht sich auf:

– die allgemeinen Analysen, die von der IKS erarbeitet wurden,

– die Art und Weise, wie die IKS ihre Rolle bei der Vorbereitung der zukünftigen Partei angenommen hat.

Die Antwort auf die zweite Frage geht augenscheinlich davon aus, dass die Rolle klar definiert ist, die der IKS in der gegenwärtigen historischen Periode zugefallen ist. Das heißt, in einer Periode, in der die Bedingungen für das Auftauchen einer revolutionären Partei, d.h. einer Organisation, die einen direkten Einfluss auf den Verlauf der Klassenauseinandersetzungen besitzt, noch nicht existieren.

 „Als Teil der allgemeinen Bewegung der Arbeiter-klasse, die sie hervorbringt, entfalten diese politischen Organisationen, die Parteien, sich mit der Entwicklung des Klassenkampfes selber. (…) Die Geschichte der Partei lässt sich nur untersuchen, wenn man sie in den allgemeinen Rahmen der Stufen stellt, den die Klassenbewegung durchläuft, wenn man die Proble-me mit einbezieht, vor denen die Arbeiterklasse steht, und ihre Fähigkeiten berücksichtigt, diese Probleme auf zufriedenstellende Weise zu lösen, die Lehren aus ihrer Erfahrung zu ziehen und daraus ein neues Sprungbrett für die zukünftigen Kämpfe zu machen. Während sie also selbst ein Faktor der Entwicklung der Klasse sind, sind die politischen Parteien aber auch gleichzeitig ein Ausdruck des jeweiligen wirklichen Zu-standes der Arbeiterklasse selbst.“ (Internationale Revue Nr. 9, „Über die Partei und ihre Beziehung zur Klasse“, Punkt 9)

„Die ganze Geschichte hindurch war die Arbeiterklasse dem Gewicht der bürgerlichen Ideologie ausgesetzt, die dazu neigt, proletarische Parteien zu deformieren und zu korrumpieren, ihre eigentliche Funktion zu verfälschen. In Reaktion auf diese Tendenz sind revolutionäre Fraktionen entstanden, die das Ziel verfolgten, kommunistische Positionen zu erarbeiten und zu klären, sie noch präziser zu gestalten. Dies war besonders bei der kommunistischen Linken der Fall, die aus der Dritten Internationalen stammte: Ein jegliches Verständnis der Parteifrage beinhaltete zwangsläufig die Assimilierung der Erfahrungen und Errungenschaften der gesamten internationalen kommunistischen Linken.

Es war jedoch die italienische Fraktion der Kommunistischen Linken, der das besondere Verdienst gebührt, auf die qualitativen Unterschiede in der Organisation von Revolutionären hingewiesen zu haben, die sich daraus ergeben, ob die Periode von zunehmenden Klassenkämpfen oder von der Niederlage und dem Rückzug geprägt ist. Die italienische Fraktion zeigte auf, welche Form die revolutionäre Organisation in beiden Perioden annehmen muss: im ersten Fall die Gestalt der Partei, einer Organisation also, die einen unmittelbaren Einfluss auf den Klassenkampf besitzt; im zweiten Fall die Form einer numerisch beschränkten Organisation mit einem weitaus schwächeren Einfluss im täglichen Leben der Klasse. Diesem zweiten Organisationstyp gab sie den Namen ‚Fraktion‘, die zwischen zwei Perioden in der Entwicklung des Klassenkampfes, d.h. zwischen den beiden Momenten einer existierenden Partei eine Verbindung schafft, eine organische Brücke zwischen der vergangenen und zukünftigen Partei.“ (ebenda, Punkt 10)

In diesem Zusammenhang stellt sich eine Reihe von Fragen:

– Was ist mit diesem Konzept einer Fraktion in den unterschiedlichen Momenten in der Geschichte der Arbeiterbewegung gemeint?

– Bis zu welchem Punkt kann die IKS als eine „Fraktion“ betrachtet werden?

– Was sind die Aufgaben einer Fraktion, die auch für die IKS gültig sind, und was sind nicht ihre Aufgaben?

– Welche besonderen Aufgaben fallen der IKS zu, und welche Aufgaben sind keine Aufgaben der Fraktion?

Im ersten Teil dieses Berichts werden wir uns zuvorderst der ersten dieser vier Fragen zuwenden, um einen historischen Rahmen für unsere Reflexionen abzustecken und uns eine bessere Vorgehensweise bezüglich des zweiten Teils des Berichts zu ermöglichen, der vorschlägt, die oben erwähnte Schlüsselfrage zu beantworten: Welche Bilanz kann man über die Art und Weise ziehen, in der die IKS ihren Part bei der Vorbereitung der zukünftigen Partei spielte?

Um dieses Konzept der Fraktion in den unterschiedlichen Momenten in der Geschichte der Arbeiterbewegung zu untersuchen, werden wir zwischen drei Perioden unterscheiden:

– die Frühperiode der Arbeiterbewegung: der Bund der Kommunisten und die Internationale Arbeiterassoziation (IAA), bekannt als Erste Internationale;

– das Zeitalter ihrer Reifung: die Zweite Internationale;

– die „Periode von Kriegen und Revolutionen“ (um den Ausdruck der Kommunistischen Internationalen zu verwenden).

Doch für den Anfang ist es vielleicht angebracht, kurz an die Geschichte der Parteien des Proletariats zu erinnern, da die Fraktionsfrage uns stets dazu zwingt, die Parteifrage zu stellen, die sowohl den Ausgangspunkt als auch den Endpunkt der Fraktion bildet.

1. Der Begriff der Partei in der Geschichte der Arbeiterbewegung

Der Begriff der Partei war durch die Erfahrungen der Arbeiterbewegung (Bund der Kommunisten, IAA, Parteien der Zweiten Internationalen, kommunistische Parteien) allmählich theoretisch und praktisch erarbeitet worden.

Der Bund, der eine illegale Organisation war, gehörte noch der Periode der Sekten an: „In den Anfängen des modernen Kapitalismus, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, unternahm die Arbeiterklasse, die sich noch in ihrer Phase der Konstituierung befand, sporadische und lokale Kämpfe und konnte nur  doktrinäre Denkschulen, Sekten und Bündnisse hervorbringen. Der Bund der Kommunisten war der fortschrittlichste Ausdruck dieser Periode, während sein Kommunistisches Manifest mit dem Aufruf: ‚Proletarier aller Länder – Vereinigt Euch!‘ bereits ein Vorbote der kommenden Periode war.“ (Internationalisme, Nr. 38, Oktober 1948, „Über das Wesen und die Funktion der politischen Partei des Proletariats“[1], Punkt 23)

Es war eben die Aufgabe der IAA, über das Sektenwesen hinauszugehen und eine breitere Sammlung europäischer ArbeiterInnen sowie einen Klärungsprozess hinsichtlich der vielen Illusionen zu ermöglichen, die auf ihrem Bewusstsein lasteten. Gleichzeitig war sie mit ihrer heterogenen Zusammensetzung (Gewerkschaften, Kooperativen, Propagandagruppen, etc.) noch keine Partei im modernen Sinn, die sie später innerhalb und dank der Zweiten Internationalen wurde. „Die Erste Internationale entsprach dem wirkungsvollen Auftritt des Proletariats auf der Bühne der sozialen und politischen Kämpfe in den wichtigsten Ländern Europas. So sammelte sie alle organisierten Kräfte der Arbeiterklasse mit all ihren unterschiedlichen ideologischen Strömungen. Die erste Internationale brachte alle Strömungen und alle anfälligen Aspekte des Klassenkampfes zusammen: ökonomisch, erzieherisch, politisch und theoretisch. Sie war der Gipfel der Einheitsorganisation der Arbeiterklasse in all ihrer Vielfalt.

Die Zweite Internationale markierte eine Stufe der Differenzierung zwischen den ökonomischen Kämpfen der Lohnarbeiter und dem gesellschaftspolitischen Kampf. In dieser Periode, als die kapitalistische Gesellschaft in voller Blüte stand, war die Zweite Internationale die Organisation des Kampfes für Reformen und für politische Eroberungen für die politische Bestätigung des Proletariats. Gleichzeitig markierte sie eine höhere Stufe in der ideologischen Abgrenzung des Proletariats durch die Klärung und Erarbeitung der theoretischen Grundlagen seiner revolutionären historischen Mission.“ (ebenda)

In der Zweiten Internationalen wurde klar zwischen der allgemeinen Organisation der Klasse (Gewerkschaften) und ihrer spezifischen Organisation, der Partei, unterschieden, die mit der Verteidigung ihres historischen Programms beauftragt ist. Eine Unterscheidung, die völlig  klar war, als die Dritte Internationale (d.h. die Kommunistische Internationale, KI) gegründet wurde, also in dem Moment, als die proletarische Revolution zum ersten Mal in der Geschichte auf der Tagesordnung stand. Für die neue Internationale bestand die allgemeine Klassenorganisation nicht mehr aus Gewerkschaften (die keinesfalls das gesamte Proletariat um sich gruppierten), sondern aus den Arbeiterräten (selbst wenn in der KI hinsichtlich der Frage der Gewerkschaften und der Rolle der Partei Vieles unklar blieb).

Neben all den Unterschieden zwischen den vielen Organisationen gab es auch eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen: Sie hatten einen Einfluss auf den Verlauf des Klassenkampfes, und in diesem Sinn kann man ihnen den Namen „Partei“ zuschreiben. Der Einfluss des Bundes der Kommunisten war zurzeit der Revolutionen von 1848–49 noch schwach, als er im Wesentlichen als linker Flügel der demokratischen Bewegung agierte. So war die Neue Rheinische Zeitung, die von Marx herausgegeben wurde und einen gewissen Einfluss im Rheinland und selbst im restlichen Deutschland hatte, nicht direkt das Organ des Bundes, sondern wurde als ein „Organ der Demokratie“ präsentiert. Wie Engels betonte: „erwies sich der Bund, gegenüber der jetzt losgebrochenen Bewegung der Volksmassen, als ein viel zu schwacher Hebel“ („Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten“, November 1885, MEW, Bd. 21, 218).

Eine der wichtigsten Ursachen dieser Schwäche lag in der Schwäche des Proletariats in Deutschland begründet, wo die industrielle Entwicklung noch nicht begonnen hatte. Jedoch bemerkte Engels auch: „Der Bund war unbedingt die einzige revolutionäre Organisation, die in Deutschland eine Bedeutung hatte“ (ebenda, 221). Der Einfluss der IAA war weitaus größer; sie sollte eine „Macht“ in Europa werden. Doch es war vor allem die Zweite Internationale (tatsächlich die verschiedenen Parteien, aus denen sie sich zusammensetzte), die zum ersten Mal in der Geschichte behaupten konnte, einen ausschlaggebenden Einfluss auf die Arbeiterklasse zu haben.

2. Die Idee der Fraktion zu Beginn der Arbeiterbewegung

Diese Frage wurde bereits zu Lebzeiten Marx‘ gestellt, doch war sie später von weitaus größerer Bedeutung: Was wird aus der Partei, wenn die Vorhut, die das historische Programm der Arbeiterklasse, die kommunistische Revolution, vertritt, keinen unmittelbaren Einfluss auf die Kämpfe des Proletariats besitzt?

Auf diese Frage gab die Geschichte unterschiedliche Antworten. Die erste Antwort ist die Auflösung der Partei, wenn die Bedingungen für ihre Existenz nicht mehr vorhanden sind. Dies war der Fall beim Bund und bei der IAA. In beiden Fällen spielten Marx und Engels eine entscheidende Rolle bei der Auflösung dieser Organisationen.

So riefen Marx und Engels im November 1852, nach dem Kölner Kommunistenprozess, der den Sieg der Konterrevolution in Deutschland besiegelte, den Zentralrat (auch Zentralbehörde genannt) des Bundes dazu auf, seine Auflösung zu verkünden. Es lohnt sich darauf hinzuweisen, dass die Frage der Aktivitäten der revolutionären Minderheit in Zeiten der Reaktion bereits im Herbst 1850 im Bund formuliert wurde. In der Mitte jenes Jahres waren Marx und Engels zu dem Schluss gekommen, dass die revolutionäre Welle infolge der wirtschaftlichen Erholung abebbte: „Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivität der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickelt, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsverhältnissen, miteinander in Widerspruch geraten.“ (Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich, Teil IV, MEW, Bd.7, 98)

Marx und Engels sahen sich also veranlasst, gegen die immediatistische Minderheit von Willich-Schapper zu kämpfen, die trotz des Abebbens die ArbeiterInnen weiterhin zum Aufstand aufrufen wollte: „Gerade in der letzten Debatte über die Frage ‚die Stellung des deutschen Proletariats in der nächsten Revolution‘ sind von den Mitgliedern der Minorität der Z.B. (Zentralbehörde) Ansichten ausgesprochen, die direkt dem letzten Rundschreiben, sogar dem ‚Manifest‘ widersprechen. An die Stelle der universellen Anschauung des ‚Manifestes‘ ist die deutsche nationale getreten und dem Nationalgefühl der deutschen Handwerker geschmeichelt. Statt der materialistischen Anschauung des ‚Manifestes‘ ist die idealistische hervorgehoben worden. Statt der wirklichen Verhältnisse der Wille als Hauptsache in der Revolution hervorgehoben worden. Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15, 20, 50 Jahre Bürgerkrieg durchzumachen, um die Verhältnisse zu ändern, um euch selbst zur Herrschaft zu befähigen, ist stattdessen gesagt worden: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen, oder wir können uns schlafen legen. Wie von den Demokraten das Wort ‚Volk‘, ist jetzt das Wort ‚Proletariat‘ als bloße Phrase gebraucht worden. Um diese Phrase durchzuführen, müsste man alle Kleinbürger als Proletarier erklären, also de facto die Kleinbürger und nicht die Proletarier vertreten. An die Stelle der wirklichen revolutionären Entwicklung müsste man die Phrase der Revolution setzen“ (Marx, in einer Rede auf dem Sitzung der Zentralbehörde vom 15. September 1850[2]).

Auch auf dem Haager Kongress 1872 unterstützten Marx und Engels die Entscheidung, den Generalrat nach New York zu verlegen, um ihn vor dem Einfluss der Bakunisten und Lassalleaner abzuschirmen, der ausgerechnet in dem Augenblick wuchs, als das europäische Proletariat mit der Niederschlagung der Pariser Kommune eine schlimme Niederlage erlitten hatte. Mit dem Umzug des Generalrats wurde beabsichtigt, die IAA sozusagen als Vorspiel zu ihrer Auflösung, die auf dem Philadelphia-Kongress im Juli 1876 schließlich in Kraft trat, ruhen zu lassen.

In  gewissem Sinne war die Auflösung der Partei, als die Bedingungen ihre Existenz nicht mehr gestatteten, viel leichter im Fall des Bundes und der IAA als später. Der Bund war eine kleine, klandestine Organisation (außer in den Revolutionen von 1848–49), die keinen „offiziellen“ Platz in der Gesellschaft besetzt hatte.

Was die IAA anbelangt, bedeutete ihr formelles Verschwinden nicht, dass sich alle ihre Komponenten ebenfalls verflüchtigten. Die englischen Gewerkschaften oder die deutsche Arbeiterpartei (SAP) überlebten die IAA. Was verschwand, waren die formalen Verbindungen zwischen ihren vielfältigen Komponenten.

Danach änderten sich die Dinge. Die Arbeiterparteien verschwanden nicht mehr – sie liefen zum Feind über. Sie wurden zu Institutionen des kapitalistischen Systems, und dies lud den verbleibenden Revolutionären eine neue Verantwortung auf.

Als der Bund sich auflöste, blieb keine formelle Organisation bestehen, die damit beauftragt worden wäre, eine Brücke zur neuen Partei zu schlagen, die irgendwann in der Zukunft auftauchen würde. In dieser Zeit erblickten Marx und Engels die oberste Priorität in der theoretischen Arbeit. Damals waren sie praktisch die Einzigen, die die Theorie, die sie entwickelt hatten, beherrschten; sie benötigten keine formale Organisation, um diese Arbeit fortzuführen. Dennoch blieben sie mit einer Reihe früherer Mitglieder des Bundes im Kontakt, besonders mit jenen im englischen Exil.

1856 kam es gar zu einer Wiederversöhnung zwischen Marx und Schapper. Im September 1864 bat Eccarius, ein früheres Mitglied der Zentralbehörde des Bundes, der enge Kontakte zur englischen Arbeiterbewegung geknüpft hatte, Marx, sich der Plattform des berühmten Treffens am 28. September in der Saint-Martin’s Hall anzuschließen, wo die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) beschlossen wurde.[3]

So wies der Zentralrat der IAA auch eine Reihe von früheren Mitgliedern des Bundes auf: Eccarius, Lessner, Lochner, Pfänder, Schapper und natürlich Marx und Engels.

Nachdem die IAA verschwunden war, blieben, wie wir gesehen haben, Organisationen übrig, die die Keimzelle der späteren Zweiten Internationalen bildeten, namentlich die deutsche Partei, die durch die Vereinigung von 1875 (SAP) zustande kam und deren marxistische Komponente, die Eisenacher (Bebel, Liebknecht), zur IAA gehört hatte.

An dieser Stelle sollten wir hinsichtlich der Rolle, die die beiden erstgenannten Organisationen zur Zeit ihrer Bildung zu erfüllen beabsichtigt hatten, noch folgendes Argument anführen. Aus dem Kommunistischen Manifest geht eindeutig hervor, dass der Bund die proletarische Revolution in naher Zukunft erwartet hatte. Nach der Niederlage der Revolutionen von 1848 begriffen Marx und Engels, dass die historischen Bedingungen noch nicht reif genug waren. Auch zum Zeitpunkt der IAA-Gründung gab es (laut ihrer Statuten) die Vorstellung von einer kurz- oder mittelfristigen „Emanzipation der Arbeiter“ (trotz der Vielfalt von Sichtweisen, die in dieser Formel enthalten waren und die den verschiedenen Komponenten der IAA entsprachen: Mutualisten, Kollektivisten, etc.).

Die Niederlage der Pariser Kommune warf erneut ein Schlaglicht auf die Unreife der Bedingungen für den Sturz des Kapitalismus: Die darauffolgende Periode zeichnete sich durch eine massive kapitalistische Expansion aus, die ihren Ausdruck insbesondere im aufstrebenden Deutschland als Industriemacht fand, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts Großbritannien überholt hatte.

3. Die Fraktionen der Zweiten Internationalen

In diesem Zeitraum[4], als die revolutionäre Perspektive noch in weiter Zukunft lag, erlangten die sozialistischen Parteien eine wichtige Bedeutung innerhalb der Arbeiterklasse (besonders in Deutschland). Dieser wachsende Einfluss in einer Zeit, als die Mehrheit der ArbeiterInnen noch nicht revolutionär beseelt war, ist mit der Tatsache verknüpft, dass die sozialistischen Parteien in ihrem Programm nicht nur der Aussicht auf den Sozialismus ihre Reverenz erwiesen, sondern in ihren Tageszeitungen auch das „Minimalprogramm“ der Reformen in der kapitalistischen Gesellschaft vertraten.

Diese Situation trug ebenfalls bei zum Gegensatz zwischen jenen, für die „das Ziel, was immer es sei, (…) gar nichts, die Bewegung alles“ (Bernstein) ist, und jenen, die sagten: „Da aber das sozialistische Endziel das einzig entscheidende Moment ist, das die sozialdemokratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, so ist die Frage Sozialreform oder Revolution? im Bernsteinschen Sinne für sie Sozialdemokratie zugleich die Frage Sein oder Nichtsein? In der Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen  Anhängern, darüber muss sich jedermann in der Partei klarwerden, handelt es sich nicht um diese oder jene Kampfweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um die ganze Existenz der sozialdemokratischen Bewegung“ (Rosa Luxemburg, Sozial-Reform oder Revolution, Vorwort, Gesammelte Werke, Bd. 1/1, 369).

Trotz der offiziellen Ablehnung der Thesen Bernsteins durch die SPD und die Sozialistische Internationale errang diese Sichtweise die Mehrheit in der SPD (besonders im Parteiapparat) und in der Internationalen. „Die Erfahrung der Zweiten Internationale bestätigt dem Proletariat die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, seine Partei in einer länger anhaltenden Periode aufrechtzuerhalten, die von einer nicht-revolutionären Situation geprägt ist. Die Beteiligung der Parteien der Zweiten Internationale am imperialistischen Krieg von 1914 enthüllte nur die lange Korruption der Organisation. Die stets mögliche Durchlässigkeit der politischen Organisation des Proletariats für die Ideologie der herrschenden kapitalistischen Klasse kann in langen Perioden der Stagnation und des Rückflusses des Klassenkampfs einen solchen Umfang annehmen, dass die Ideologie der Bourgeoisie letztendlich die des Proletariats ersetzt, so dass die Partei zwangsläufig all ihres Klasseninhalts entleert und zum Instrument der feindlichen Klasse wird.“ (Internationalisme, Nr. 38, Oktober 1948, „Über das Wesen und die Funktion der politischen Partei des Proletariats“, Punkt 12).

In diesem Kontext entstanden erstmals reale Fraktionen.

Die erste Fraktion war jene der Bolschewiki, die nach dem Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1903 den Kampf gegen den Opportunismus aufnahm, anfangs in der Frage der Organisation und später in den Fragen der Taktiken bezüglich der Aufgaben des Proletariats in einem halbfeudalen Land wie Russland. Es sollte dabei nicht unerwähnt bleiben, dass bis 1917 Bolschewiki und Menschewiki, obwohl beide Fraktionen ihre Politik unabhängig voneinander fortführten, derselben Partei, der SDAPR, angehörten.

Ab 1907 engagierte sich die marxistische Strömung, die sich in Holland um das Wochenmagazin De Tribune enfaltet hatte (angeführt von Wijnkoop, Van Ravesteyn und Ceton, aber auch unter Beteiligung von Gorter und Pannekoek), in einer ähnlichen Arbeit in der holländischen SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei). Diese Strömung kämpfte gegen das opportunistische Abdriften der Partei, hauptsächlich repräsentiert von Troelstra und der Parlamentsfraktion, die 1908 auf dem Parteitag beantragten, De Tribune zu schließen. Letztendlich setzte sich Troelstra auf dem Außerordentlichen Parteitag von Deventer (Februar 1909) durch, der die Schließung von De Tribune und den Ausschluss ihrer drei Herausgeber aus der Partei beschloss. Diese Politik, die darauf abzielte, die tribunistischen „Führer“ von den Sympathisanten dieser Strömung zu trennen, provozierte in Wirklichkeit eine starke Gegenreaktion Letzterer.

Letztendlich fiel Troelstras Ausschlusspolitik, die vom reformistisch dominierten Internationalen Büro der Sozialistischen Internationalen, welche zur Vermittlung herbeigerufen wurde, gestützt wurde, mit der Absicht der drei Herausgeber zusammen, mit der SDAP zu brechen (ein Wunsch, den Gorter nicht teilte[5]), und veranlasste die „Tribunisten“ im März 1909 dazu, eine neue Partei, die SDP (Sozialdemokratische Partei), zu gründen. Diese Partei blieb bis zum I. Weltkrieg eine kleine Minderheit mit einem unbedeutenden Einfluss bei den Wahlen, doch sie profitierte von der Unterstützung durch die Linke in der Internationalen und insbesondere durch die Bolschewiki, die letztendlich ihre Re-Integration in die Internationale 1910 (nach anfänglicher Weigerung des Büros der Internationalen im November 1909) und die Entsendung von Delegierten (ein Mandat gegen sieben für die SDAP) zu den internationalen Kongressen 1910 in Kopenhagen und 1912 in Basel ermöglichten. Während des Krieges, in dem Holland neutral blieb, der aber dennoch schwer auf der Arbeiterklasse lastete (Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittelkürzungen, etc.), errang die SDP dank ihrer internationalistischen Politik und ihrer Unterstützung von Arbeiterkämpfen einigen Einfluss bei den Wahlen. Schließlich, im November 1918 und noch vor der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), nahm die SDP den Namen „Kommunistische Partei der Niederlande“ (KPN) an.

Die dritte Strömung, die eine entscheidende Rolle als Fraktion in der Zweiten Internationalen spielte, sollte die KPD gründen. Am Abend des 4. August 1914 versammelte sich nach der einstimmigen Zustimmung der sozialistischen Reichstagsabgeordneten zu den Kriegskrediten eine Handvoll von Internationalisten in Rosa Luxemburgs Wohnung, um die Kampfaussichten und die Möglichkeiten zur Sammlung all jener in der Partei einzuschätzen, die die chauvinistische Politik der Führung und Mehrheit bekämpfen wollten. Diese Militanten waren sich einig darin, dass es notwendig war, diese Auseinandersetzung innerhalb der Partei fortzuführen. Immerhin prangerte die Parteibasis in vielen Städten die Zustimmung der Parlamentsfraktion zu den Kriegskrediten an. Selbst Liebknecht wurde dafür kritisiert, dass er sie am 4. August aus Gründen der Parteidisziplin unterstützt hatte.

Bei der zweiten Abstimmung am 2. Dezember war Liebknecht der einzige, der dagegen stimmte, doch in den beiden folgenden Abstimmungen folgten ihm zuerst Otto Rühle und schließlich eine wachsende Zahl von Abgeordneten. Ab dem Winter 1914–15 wurden illegale Flugblätter (eines davon trug den Titel „Der Feind steht im eigenen Land“) verteilt. Im April 1915 wurde die erste und einzige Ausgabe von Die Internationale publiziert, von der schon am ersten Abend bis zu 5.000 Exemplare verkauft wurden und die der Gruppe um Luxemburg, Leo Jogiches, Karl Liebknecht, Franz Mehring und Clara Zetkin vorübergehend den Namen „Internationale“ verlieh. Unter den Bedingungen der Illegalität und der Repression[6] führte diese winzige Gruppierung, die sich zunächst „Spartakusgruppe“ und schließlich „Spartakusbund“ nannte, den Kampf gegen den Krieg und die Regierung wie auch gegen die Rechte und das Zentrum der Sozialdemokratie.

Spartakus war nicht allein. Andere Gruppen, insbesondere in Hamburg und Bremen (wo Pannekoek, Radek und Frölich aktiv waren), vertraten sogar eine noch dezidiertere internationalistische Politik als die Spartakisten. Anfang 1917, als die Führung der SPD die Opposition ausschloss, um die Verbreitung ihrer Positionen innerhalb der Partei zu stoppen, setzten diese Gruppen ihre Aktivitäten autonom fort, während die Spartakisten als Fraktion innerhalb der zentristischen USPD verblieben. Am 31. Dezember 1918 kamen diese unterschiedlichen Gruppierungen anlässlich der Gründung der KPD zusammen, doch es war ersichtlich, dass die Spartakisten das Rückgrat der neuen Partei bildeten.

Etwas später als in Russland, Holland und Deutschland wurde auch in Italien eine linke Fraktion gebildet. Dies war die „Abstentionistische Fraktion“ (abstentionistisch, weil sie eine Enthaltung von den parlamentarischen Wahlen befürwortete) rund um die Zeitung Il Soviet, die von Bordiga und seinen Genossen ab dem Dezember 1918 in Neapel publiziert wurde; formell hatte sie sich als Fraktion auf dem Parteitag der italienischen Sozialistischen Partei (PSI) im Oktober 1919 gebildet. Im Grunde hatte Bordiga bereits 1912 in der Föderation der Jungsozialisten und in der neapolitanischen Föderation der PSI einer kompromisslosen revolutionären Strömung Leben eingehaucht. Die Verspätung der italienischen Linken kann zum Teil mit der Tatsache, dass Bordiga, der von der Armee eingezogen worden war, nicht vor 1917 in das politische Leben eingreifen konnte, aber vor allem damit erklärt werden, dass die Parteiführung sich während des Krieges in den Händen der Linken befand. Bereits auf dem Parteitag von 1912 wurden die reformistische Rechte und 1914 die Freimaurer ausgeschlossen.

Die Zeitung der PSI, Avanti, wurde von Mussolini (der die Ausschlussanträge auf diesen Kongressen präsentiert hatte) betrieben. Er profitierte von dieser Position, als er am 18. Oktober 1914 einen Leitartikel veröffentlichte, der den Titel trug: „Von der absoluten Neutralität zu einer handelnden und aktiven Neutralität“, der den Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente erklärte. Natürlich wurde er von seinem Posten entfernt, doch kaum einen Monat später veröffentlichte er – dank der Geldmittel des französischen sozialistischen Abgeordneten Marcel Cachin (einem künftigen Führer der französischen Kommunistischen Partei) im Auftrag der französischen Regierung und der Entente – die Zeitung Il Popolo d’Italia. Er wurde am 29. November aus der PSI ausgeschlossen. Als anschließend die vom Weltkrieg dominierte Lage zum Klärungsprozess einer Linken, einer Rechten und eines Zentrums drängte, schwankte die Richtung der Partei zwischen der Rechten und der Linken, zwischen einem „maximalistischen“ Standpunkt und einer reformistischen Position.

„Erst 1917, auf dem Parteitag in Rom, verschärfte sich der Gegensatz zwischen den Rechten und Linken. Erstere erhielten 17.000 Stimmen, während Letztere es auf 14.000 brachten. Der Sieg Turatis, Treves‘ und Modiglianis zu einer Zeit, in der die Russische Revolution bereits tobte, führte zur Formation einer ‚kompromisslosen und revolutionären Fraktion‘ in Florenz, Mailand, Turin und Neapel.“ (aus unserem Buch: Die italienische Kommunistische Linke, 25) Erst ab 1920 erlangte die Abstentionistische Fraktion unter dem Diktat der Revolution in Russland, der Bildung der KI (die ihr Beistand leistete) und auch der Arbeiterkämpfe in Italien, insbesondere in Turin, einen gewissen Einfluss in der Partei. Sie kam auch in Kontakt mit der Strömung, die sich rund um die von Gramsci ins Leben gerufene Zeitung Ordine Nuovo versammelt hatte, auch wenn große Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Strömungen herrschten (Gramsci sprach sich zugunsten einer Wahlbeteiligung aus; er vertrat eine Art revolutionäres Gewerkschaftswesen und schreckte davor zurück, mit der Rechten und dem Zentrum zu brechen sowie eine autonome Fraktion zu formen).

„… wurde im Oktober die Vereinigte Kommunistische Fraktion gegründet. Sie gab ein Manifest heraus, das die Bildung einer kommunistischen Partei unter Ausschluss von Turatis rechtem Flügel forderte. Sie gab den Wahlboykott auf und folgte somit den Entscheidungen des II. Kongresses der Komintern.“  (ebenda, 28) Auf dem Parteitag von Imola im Dezember 1920 war die Spaltung im Prinzip entschieden: „Unsere Tätigkeit als Fraktion ist und muss nun beendet sein (…) ein umgehender Rückzug aus der Partei und vom Kongress (des PSI), sobald die Abstimmung uns zur Mehrheit oder Minderheit macht. Daraus folgt… eine Abspaltung vom Zentrum.“ (Zitat von Bodiga, ebenda, 28) Auf dem Parteitag von Livorno, der am 21. Januar 1921 begann, „erhielt der Antrag von Imola ein Drittel der Stimmen: 58.783 von 172.487. Das Ergebnis: Die Kommunistische Partei Italiens, Sektion der Kommunistischen Internationale, wurde gegründet ‚(…)Wir nehmen mit uns die Ehre unserer Vergangenheit‘ schloss (Bordiga) und verließ den Kongress“ (ebenda, 28 f.).

Dieses (sehr kurze) Resümee der Arbeit der Hauptfraktionen, die innerhalb der Parteien der Zweiten Internationalen konstituiert wurden, ermöglicht es, die primäre Rolle zu definieren, die einer Fraktion zufällt: die Verteidigung revolutionärer Prinzipien innerhalb einer degenerierenden Partei:

– anfangs um ein Maximum an Militanten für diese Prinzipien zu gewinnen und um die rechten und zentristischen Positionen aus der Partei zu verbannen;

– dann um sich selbst in eine neue revolutionäre Partei umzuwandeln, wenn die Umstände es erfordern.

Es sollte dabei beachtet werden, dass praktisch alle Strömungen der Linken so lange wie möglich in der Partei zu bleiben versuchten. Die einzigen Ausnahmen bildeten die Tribunisten (auch wenn Gorter und Pannekoek ihre Übereile nicht teilten) und die „Linksradikalen“, die von Radek, Pannekoek und Frölich ins Leben gerufen wurden und (anders als die Spartakisten) sich weigerten, der USPD beizutreten, nachdem die Opposition 1917 aus der SPD ausgeschlossen worden war. Die Trennung der Linken von der alten Partei, die Verrat begangen hatte, resultierte entweder aus ihrem Ausschluss oder aus der Notwendigkeit, eine neue Partei zu gründen, die in der Lage ist, zur Vorhut der revolutionären Welle zu werden.

Es sollte ebenfalls beachtet werden, dass die Linke mit ihren Aktivitäten nicht zum Dasein einer Minderheit in einer degenerierenden Partei verdammt war: Auf dem Parteitag der französischen Sozialistischen Partei (Section  Française de l’Internationale Ouvrière, SFIO) wurde der Antrag der Linken, in dem zum Beitritt in die KI aufgerufen wurde, von der Mehrheit angenommen. Die Kommunistische Partei, die in Tours gegründet wurde, behielt die Zeitung L’Humanité, die von Jaurès gegründet worden war. Leider behielt sie auch Frossard, den Generalsekretär der SFIO, der eine Zeit lang führende Figur der Kommunistischen Partei (PCF) war.

Eine letzte Bemerkung: die Fähigkeit der linken Fraktionen, eine neue Partei aus dem Stand zu gründen, war nur wegen des kurzen Zeitraums zwischen dem erwiesenen Verrat der alten Partei und dem plötzlichen Aufkommen der revolutionären Welle möglich. Danach sollte die Lage eine ganz andere sein.

4. Die Fraktionen, die aus der Kommunistischen Internationalen kamen

Die Kommunistische Internationale wurde im März 1919 gegründet. Zu diesem Zeitpunkt existierten bereits eine Handvoll Kommunistische Parteien (die Kommunistische Partei von Russland, den Niederlanden, Deutschland, Polen und einige andere von geringerer Bedeutung). Und doch tauchte zu diesem Zeitpunkt bereits die erste „linke“ Fraktion (die sich auch als solche ankündigte) in der Hauptpartei auf, in jener Russlands (die erst auf dem 7. Parteitag der RSDAP den Namen „kommunistisch“ annahm): Anfang 1918 gruppierte sich diese Strömung um die Zeitung Kommunist und wurde von Ossinski, Bucharin, Radek und Smirnow ins Leben gerufen. Die größte Meinungsverschiedenheit dieser Fraktion in der Frage der Orientierung der Partei betraf die Verhandlungen in Brest-Litowsk. Die „Linkskommunisten“ waren gegen diese Verhandlungen und empfahlen den „revolutionären Krieg“, der die Revolution mit Waffengewalt in andere Länder „exportiert“. Doch gleichzeitig kritisierte diese Fraktion die autoritären Methoden der neuen proletarischen Macht und bestand auf die breiteste Beteiligung der arbeitenden Massen an dieser Macht, eine Kritik, die jener von Rosa Luxemburg nahe kam (vgl. R. Luxemburg, „Zur russischen Revolution“).

Die Unterschrift unter das Brest-Litowsker Friedensabkommen kündigte das Ende dieser Fraktion an. Nicht lange danach wurde Bucharin Repräsentant des rechten Parteiflügels, doch einige Elemente dieser Fraktion, wie Ossinski, schlossen sich den linken Fraktionen an, die später entstanden. Während also in Westeuropa einige der Fraktionen in den Sozialistischen Parteien, die die Kommunistischen Parteien ins Leben rufen sollten, erst noch gebildet werden mussten (die Abstentionistische Fraktion Bordigas bildete sich erst im Dezember 1918), hatten die russischen Revolutionäre (natürlich auf sehr konfuse Weise) die Auseinandersetzung  gegen die Verirrungen, die die Kommunistische Partei in ihrem Land in Mitleidenschaft zogen, bereits begonnen. Es lohnt sich, darauf hinzuweisen (auch wenn es nicht notwendig ist, um dieses Phänomen hier zu analysieren), dass in einer ganzen Reihe von Fragen die russischen Militanten in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts an der Spitze standen: die Bildung der bolschewistischen Fraktion nach dem Zweiten Parteitag der RSDAP; ihre klare Position gegen den imperialistischen Krieg 1914; führende Linke in Zimmerwald; ihre Einsicht in die Notwendigkeit einer neuen Internationalen; die Gründung der Kommunistischen Partei im März 1918; ihre Anregung zum 1. Kongress der Kommunistischen Internationalen und zu seiner Orientierung.

Und diese „Frühreife“ kann auch bei der Bildung der Fraktionen innerhalb der Kommunistischen Partei beobachtet werden. Im Grunde war die russische Partei wegen ihrer besonderen Rolle als erste (und einzige) Kommunistischen Partei, die an die Macht gelangt war, auch die erste, die unter dem Druck des Hauptelements ihres Ruins (abgesehen natürlich von der Niederlage der weltweiten revolutionären Welle) litt: ihre Integration in den Staat. So begannen angesichts dieses Prozesses der Degeneration der proletarischen Partei sich Formen des Widerstandes, so konfus sie auch gewesen sein mögen, viel früher als anderswo zu manifestieren.

Von da an erlebte die russische Partei das Auftreten einer bedeutenden Zahl von weiteren „linken“ Strömungen:

– 1919 kämpfte der „Demokratische Zentralismus“, eine Gruppe, die von Ossinski und Sapronow gebildet wurde, gegen das Prinzip der „individuellen Autorität“ in der Industrie und vertrat das kollektive oder kollegiale Prinzip als die „wirksamste Waffe gegen die Ressorteritis (departmentalisation) und bürokratische Unterdrückung des Staatsapparates“ (Thesen über das Kollegialitätsprinzip und die individuelle Autorität, eigene Übersetzung);

– Ebenfalls 1919 beteiligten sich etliche Mitglieder des „Demokratischen Zentralismus“ an der „Militärischen Opposition“, die für eine kurze Zeit im März 1919 gebildet wurde, um gegen die Tendenz zu kämpfen, die Rote Armee nach den Kriterien einer traditionellen, bürgerlichen Armee zu gestalten.

Während des Bürgerkriegs wurde wegen der Bedrohung des Regimes durch die Weißen Armeen nur verhaltene Kritik an der Parteipolitik geäußert; doch sobald diese Gefahr durch den Sieg der Roten Armee über die Weißen gebannt war, verdoppelte sich die Kritik an Heftigkeit:

– Anfang 1921 wurde anlässlich des 10. Parteitages und der Debatte über die Gewerkschaftsfrage die „Arbeiteropposition“ gebildet, die von Schljapnikow, Medwedew (beide Metallarbeiter) und vor allem von Alexandra Kollontai, Autorin ihrer Plattform, angeführt wurde. Wie die revolutionären Syndikalisten wollte diese Opposition das Wirtschaftsmanagement den Gewerkschaften statt der Staatsbürokratie anvertrauen.[7] Nach dem Fraktionsverbot, einem Beschluss, der just auf jenen Parteitag gefällt wurde, der während der Erhebung von Kronstadt abgehalten wurde, wurde die Arbeiteropposition aufgelöst; Kollontai wurde später eine treue Anhängerin Stalins.

– Im Herbst 1921 wurde die Gruppe „Arbeiterwahrheit“ gebildet, die sich aus Intellektuellen und Anhängern des „Proletkult“, wie ihr Hauptorganisator Bogdanow, zusammensetzte. Diese Gruppe prangerte zusammen mit den anderen Strömungen der Opposition die Bürokratisierung der Partei und des Staates an, aber nahm gleichzeitig eine halb-menschewistische Position ein und behauptete, dass die Bedingungen der proletarischen Revolution in Russland noch nicht reif seien, dass diese Bedingungen auf der Grundlage eines modernen Kapitalismus erst noch geschaffen werden müssten (eine Position, die später zur Position der „rätekommunistischen“ Strömung werden sollte);

– 1922–23 wurde die „Arbeitergruppe“ gegründet, angeführt von Gabriel Miasnikow, einem Arbeiter aus dem Ural, der sich in der bolschewistischen Partei 1921 dadurch ausgezeichnet hatte, dass er unmittelbar nach dem 10. Parteitag zur „Freiheit der Presse, von den Monarchisten bis zu den Anarchisten“, aufgerufen hatte. Trotz Lenins Bemühungen, eine Debatte über diese Frage anzustrengen, weigerte sich Miasnikow, einen Rückzieher zu machen; er wurde schließlich Anfang 1922 aus der Partei ausgeschlossen. Mit anderen Mitstreitern aus dem Arbeitermilieu konstituierte er die „Arbeitergruppe der russischen Kommunistischen Partei (Bolschewik)“, die ihr Manifest auf dem 12. Parteitag der RKP verteilte. Diese Gruppe begann mit illegaler Arbeit unter den ArbeiterInnen der Partei und schien eine bedeutende Präsenz in den Streikwellen im Sommer 1923 zu haben, als sie zu Massendemonstrationen aufrief und versuchte, eine primär defensive Klassenbewegung zu politisieren. Ihre Aktivitäten in diesen Streiks überzeugten die GPU davon, dass diese Gruppe eine Gefahr darstellte; ihre Führer, einschließlich Miasnikow, wurden ins Gefängnis gesteckt. Die Gruppe führte ihre Aktivitäten in Russland (wie auch im Exil) bis Ende der 20er Jahre illegal fort, als es Miasnikow gelang, das Land zu verlassen und sich im Pariser Exil an der Veröffentlichung der Zeitung L’Ouvrier Communiste zu beteiligen, die KAPD-ähnliche Positionen vertrat.

Von allen Strömungen, die gegen die Degeneration der bolschewistischen Partei kämpften, war sicherlich die Arbeitergruppe politisch am klarsten. Sie stand der KAPD sehr nahe (Letztere veröffentlichte ihre Dokumente und blieb in Kontakt mit ihr). Insbesondere ihre Kritik an der Parteipolitik stützte sich auf eine internationale Sichtweise der Revolution, im Gegensatz zu den anderen Gruppen, die dazu neigten, sich auf Fragen der Demokratie (in der Partei und in der Arbeiterklasse) und auf das Wirtschaftsmanagement zu konzentrieren. Anders als die trotzkistische Strömung, die sich weiterhin auf die ersten vier Kongresse berief, lehnte sie die Politik der Einheitsfront des 3. und 4. Kongresses der KI ab. Es gab jedoch (insbesondere im Exil) Diskussionen zwischen dem linken Flügel der trotzkistischen Strömung und Elementen der Arbeitergruppe.

Die Arbeitergruppe war wahrscheinlich die einzige Strömung innerhalb der bolschewistischen Partei, die konsequent als Fraktion handelte. Doch die fürchterliche Repression, die Stalin gegen die Revolutionäre entfesselte (und die die zaristische Repression weit in den Schatten stellte), machte jede Möglichkeit zunichte, auf diesem Weg weiterzuschreiten. Nach dem II. Weltkrieg beschloss Miasnikow, nach Russland zurückzukehren. Wie vorherzusehen war, verschwand er unmittelbar nach seiner Ankunft, womit die schwachen Kräfte der kommunistischen Linken einen ihrer mutigsten Mitstreiter verloren.

Die Auseinandersetzung der Linksfraktionen in den anderen Ländern nahm zwangsläufig andere Formen als in Russland an; aber wenn wir zu den drei anderen kommunistischen Parteien zurückkehren, die wir oben erwähnt hatten, sehen wir, dass die linken Strömungen ebenfalls sehr früh den Kampf begonnen hatten.

Auf dem Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands besaßen die Positionen der Linken die Mehrheit. In der Gewerkschaftsfrage war Rosa Luxemburg, die das Programm der KPD verfasste und dem Parteitag vorstellte, sehr klar und kategorisch: „Die offiziellen Gewerkschaften haben sich im Verlaufe des Krieges und in der Revolution bis zum heutigen Tage als eine Organisation des bürgerlichen Staates und der kapitalistischen Klassenherrschaft gezeigt. Deshalb ist es selbstverständlich, dass der Kampf um die Sozialisierung in Deutschland sich in erster Linie befassen muss mit der Liquidierung dieser Hindernisse, die die Gewerkschaften der Sozialisierung entgegenstellen“. In der Frage des Parlamentarismus lehnte der Parteitag gegen die Position von führenden Spartakisten (Luxemburg, Liebknecht, Jogiches, etc.) die Teilnahme an den Wahlen ab, die kurz danach abgehalten wurden. Nach der Ermordung dieser Militanten schien die neue Führung (Levi, Brandler) anfangs der Linken (die in der Mehrheit blieb) gegenüber Zugeständnisse in der Gewerkschaftsfrage zu machen. Doch ab August 1919 (Frankfurter Konferenz der KPD) optierte Levi, der eine Annäherung an die USPD anstrebte, für eine Mitarbeit in den Parlamenten wie auch in den Gewerkschaften; und auf dem Heidelberger Parteitag im Oktober gelang es ihm dank eines Manövers, die linke antigewerkschaftliche und antiparlamentarische Mehrheit auszuschließen.

Die Mehrheit der ausgeschlossenen Militanten weigerte sich aufzugeben. Sie wurde von den Mitstreitern der holländischen Linken tatkräftig unterstützt, besonders von Gorter und Pannekoek, die damals ein großes Ansehen in der KI genossen und die auf die Bildung des Amsterdamer Büros drängten, die von der Internationalen angekündigt worden war, um die Arbeit in Westeuropa und Amerika zu koordinieren. Nur sechs Monate später (April 1920) gründeten die Ex-Mitglieder der KPD angesichts der Weigerung des Parteitages der KPD im Februar, die ausgeschlossenen Militanten wiederaufzunehmen, und auch angesichts des versöhnlerischen Verhaltens der KPD gegenüber der SPD während des Kapp-Putsches (13.–17. März) die KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands).

Bestärkt in ihrem Vorgehen wurden sie vom Amsterdamer Büro, das sie unterstützte und im Februar eine Internationale Konferenz organisierte, auf der die Thesen der Linken (über die Fragen der Gewerkschaften und des Parlamentarismus sowie bezüglich der opportunistischen Wende der KI, die besonders im Beharren zum Ausdruck kommt, dass die Kommunisten in Großbritannien der Labour-Partei  beitreten sollten) triumphierten.[8] Der neuen Partei wurde durch die Unterstützung der linken, von Gorter und Pannekoek angeführten Minderheit der Kommunistischen Partei der Niederlande (KPN), die in ihrer Zeitung das auf ihrem Gründungsparteitag verabschiedete KAPD-Programm abdruckte, der Rücken gestärkt. Dies hinderte Pannekoek nicht daran, die KAPD (in seinem Brief vom 5. Juli 1920) zu kritisieren, namentlich ihre Positionen zu den „Arbeiterunionen“ (indem er vor jeglicher Konzession an den revolutionären Syndikalismus warnte) und vor allem wegen der Präsenz der „Nationalbolschewisten“ in ihren Reihen, die er als eine „monströse Verirrung“ betrachtete. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die holländische Linke (und insbesondere Pannekoek) in allen Schlüsselfragen, denen sich das Proletariat gegenübersah (Gewerkschaften, Parlament, die Partei[9], die Haltung gegenüber den sozialistischen Parteien, der Charakter der Revolution in Russland, etc.) an der Spitze der Arbeiterbewegung.

Der Parteitag der KAPD, der zwischen dem 1. und 4. August stattfand, sprach sich für diese Orientierung aus: Dies war der Augenblick, in dem die „Nationalbolschewisten“ die Partei verließen; einige Monate später waren die föderalistischen Elemente an der Reihe, die sich ablehnend gegenüber einem Eintritt in die KI gaben. Pannekoek, Gorter und die KAPD ihrerseits waren entschlossen, in der KI zu verbleiben und gegen deren wachsendes opportunistisches Abdriften zu kämpfen. Aus diesem Grund entsandte die KAPD zwei Delegierte, Jan Appel und Franz Jung, zum Zweiten Kongress der KI in Russland, der am 17. Juli 1920 in Moskau stattfinden sollte.[10] Da jegliche Nachrichten von ihnen ausblieben, entsandte die KAPD zwei weitere Delegierte, von denen der eine Otto Rühle war. Doch angesichts der katastrophalen Lage der Arbeiterklasse in Russland und des Bürokratisierungsprozesses im Regierungsapparat entschlossen sich Letztere, nicht am Parteitag teilzunehmen, obwohl sie aufgefordert wurden, ihre Positionen zu vertreten, und stimmberechtigt waren. In Vorbereitung dieses Parteitages schrieb Lenin Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus. Es sollte angemerkt werden, dass Lenin in dieser Broschüre schrieb, dass „der Fehler des linken Doktrinarismus im Kommunismus gegenwärtig tausendmal weniger gefährlich und weniger folgenschwer als der Fehler des rechten Doktrinarismus“ ist.

Sowohl in der KI und bei den Bolschewiki als auch bei der KAPD bestand der ernsthafte Wille zu einer Annäherung, mit dem Ziel, die KAPD in die Internationale und somit in die KPD zu integrieren. Doch die Verschmelzung Letzterer mit der USPD-Linken im Dezember 1920 zur VKPD, eine Umgruppierung, der sich alle linken Strömungen der KI widersetzten, blockierte diese mögliche Entwicklung. Dennoch erlangte die KAPD den Status einer „mit der KI sympathisierenden Partei“, erhielt eine permanente Repräsentanz in deren Exekutivkomitee und entsandte Delegierte zum Dritten Kongress der KI im Juni 1921. Diese Kooperation wurde in der Zwischenzeit untergraben, besonders durch die „März-Aktion“ (einer abenteuerlichen „Offensive“, die von der VKPD gefördert worden war) und die Unterdrückung des Kronstädter Aufstands (eine Unterdrückung, die die Linke anfangs mitgetragen hatte, glaubte sie doch, dass diese Erhebung tatsächlich das Werk der Weißen sei, wie die Propaganda der Sowjetregierung behauptete). Gleichzeitig betrieb die rechte Führung der KPN (Wijnkoop, der der „holländische Levi“ genannt wurde) mit Unterstützung Moskaus eine Politik der statutenwidrigen Ausschlüsse von linken Mitstreitern. Schließlich gründeten diese Militanten im September nach dem Modell der KAPD eine neue Partei, die KAPN.

Die Einheitsfront-Politik, die auf dem Dritten Kongress der KI angenommen wurde, verschlimmerte alles nur noch, wie auch das Ultimatum, das an die KAPD gerichtet wurde, um sich mit der VKPD zu vereinen. Im Juli 1921 nahm die Führung der KAPD mit Gorters Unterstützung eine Resolution an, in der alle Verbindungen zur KI gekappt wurden und zur Konstituierung einer „Kommunistischen Arbeiter-Internationalen“ (KAI) aufgerufen wurde – dieser Aufruf wurde zwei Monate vor dem für September geplanten Parteitag der KAPD verlautbart. Es war ganz offensichtlich eine voreilige Entscheidung. Auf diesem Parteitag wurde die Frage der Gründung einer neuen Internationalen diskutiert (Mitstreiter aus Berlin und namentlich Jan Appel waren dagegen), und letztendlich beschloss der Parteitag, ein Informationsbüro zu diesem Zweck zu schaffen. Dieses Büro handelte jedoch, als wäre die neue Internationale bereits gebildet worden, obwohl ihre Gründungskonferenz erst im April 1922 stattfinden sollte. Gleichzeitig erlebte die KAPD eine Spaltung zwischen der Mehrheit der „Berliner Tendenz“, die der Bildung einer neuen Internationalen abgeneigt war, und der „Essener Tendenz“, die den Lohnkampf ablehnte.

Nur Letztgenannte nahm an dieser Konferenz teil, zusammen mit Gorter, der der Autor des KAI-Programms war. Die teilnehmenden Gruppierungen waren gering an Zahl und repräsentierten nur sehr beschränkte Kräfte: Abgesehen von der Essener Tendenz gab es die KAPN, die bulgarische kommunistische Linke, die Kommunistische Arbeiterpartei (CWP) von Sylvia Pankhurst, die KAP Österreichs, die von der KAPD in Berlin als „Potemkinsches Dorf“ (d.h. als fingiert) bezeichnet wurde. Letztendlich verflüchtigte sich diese Rumpf-„Internationale“ mit dem Verschwinden bzw. fortschreitenden Rückzug ihrer Bestandteile. Die Essener Tendenz machte etliche Spaltungen durch. Die KAPN löste sich auf, anfangs infolge des Auftretens einer der Berliner Tendenz zugehörigen Strömung, die der Bildung der KAI ablehnend gegenüberstand, schließlich durch innere Konflikte, die eher auf Clankonflikten denn auf politischen Prinzipien beruhten. Im Grunde ist das entscheidende Element, das das teils jämmerliche, teils dramatische Scheitern der KAI erklären kann, im Abebben der revolutionären Welle zu suchen, die einst als Sprungbrett für die Gründung der KI gedient hatte:

„Der Fehler Gorters und seiner Anhänger bestand darin, die KAI willkürlich zu proklamieren, als immer noch Linksfraktionen in der Komintern verblieben, die in eine internationale linkskommunistische Strömung integriert hätten werden können. Dieser Irrtum wog schwer auf der deutschen revolutionären Bewegung (…) Der Niedergang der Weltrevolution, der ab 1921 evident in Europa wurde, gestattete mitnichten die Bildung einer neuen Internationalen. Der Gedanke, dass es immer noch in Richtung Revolution ging entbehrte vor dem Hintergrund der Theorie der ‚Todeskrise des Kapitalismus‘ nicht einer gewissen Logik bei der Proklamation der KAI durch Gorter und die Essener Tendenz. Doch ihre Voraussetzungen waren falsch.“ (aus unserer Broschüre Die deutsch-holländische Linke, 5. Kap. 4.d, https://de.internationalism.org/Gorter/KAI [131])

Das finale Scheitern der KAPD und der KAPN veranschaulicht auf beeindruckende Weise, wie notwendig es für die Revolutionäre ist, eine klare Vorstellung von der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen  Proletariat und Bourgeoisie zu haben.

Wurde die deutsch-holländische Linke sich erst mit großer Verzögerung bewusst, dass die revolutionäre Welle am Abebben war[11], so galt dies nicht für die Bolschewiki, für die Führer der Kommunistischen Internationalen und die Kommunistische Linke Italiens. Doch sie antworteten darauf auf völlig unterschiedliche Weise:

– Für die Bolschewiki und die Mehrheit der KI war es notwendig, „zu den Massen zu gehen“, da die Massen sich nicht mehr in Richtung Revolution bewegten. Dies mündete in eine wachsend opportunistische Politik, besonders gegenüber den „zentristischen“ Sozialistischen Parteien und Strömungen wie auch den Gewerkschaften.

– Im Gegensatz dazu war es für die italienische Linke notwendig,  auch weiterhin dieselbe Kompromisslosigkeit an den Tag zu legen, die die Bolschewiki im Krieg und bis zur Gründung der KI charakterisiert hatte.

In Wirklichkeit drückte der opportunistische Kurs, der von der KI bereits auf dem Zweiten Kongress, aber besonders vom Dritten Kongress an eingeschlagen wurde und der die Klarheit und die Kompromisslosigkeit des Ersten Kongresses in Frage stellte, nicht nur die Schwierigkeiten aus, mit denen es das Weltproletariat zu tun hatte, um seinen revolutionären Kampf fortzusetzen und zu verstärken, sondern auch den unlösbaren Widerspruch, in dem die bolschewistische Partei steckte. Auf der einen Seite waren die Bolschewiki – die faktische Führung der KI – Avantgarde der Weltrevolution gewesen und hatten dieselbe Rolle in der Russischen Revolution gespielt. Sie hatten stets darauf bestanden, dass Letztere nur ein kleiner Schritt in Richtung Weltrevolution sei, und waren sich sehr wohl darüber bewusst, dass eine Niederlage des Weltproletariats den Tod der Revolution in Russland bedeuten würde.

Auf der anderen Seite waren die Bolschewiki als eine Partei, die die Macht über ein ganzes Land in der Hand hielt, den Anforderungen unterworfen, die den Funktionen eines Nationalstaates und vor allem der Notwendigkeit der Sicherung innerer wie äußerer „Sicherheit“ entsprachen. Mit anderen Worten: sie verfolgten eine Außenpolitik im Interesse Russlands und eine Innenpolitik, die die Stabilität der Staatsmacht garantierte. In diesem Sinne waren die Repression der Streiks von Petrograd und die blutige Niederschlagung des Kronstädter Aufstands die andere Seite der Medaille, die Schattenseite der Politik der „offenen Hand“. Unter dem Mantel der „Einheitsfront“ praktizierten die Bolschewiki eine Politik gegenüber den Sozialistischen Parteien, die darauf abzielte, sie dazu zu bewegen, Druck auf ihre Regierungen auszuüben, um deren Außenpolitik in eine der Sowjetunion genehme Richtung zu lenken.

Die Kompromisslosigkeit der italienischen Kommunistischen Linken, die faktisch die Spitze der Kommunistischen Partei Italiens stellte (die „Thesen von Rom“, die auf ihrem Zweiten Parteitag 1922 verabschiedet worden, waren von Bordiga und Terracini verfasst worden), fand einen beispielhaften Ausdruck gegenüber dem im Aufstieg befindlichen Faschismus in Italien im Anschluss an die Niederlage der Klassenkämpfe 1920. Auf der praktischen Ebene drückte sich diese Kompromisslosigkeit in einer Totalverweigerung gegenüber Bündnissen mit den Parteien der Bourgeoisie (liberale oder „sozialistische“) vis-à-vis der faschistischen Bedrohung aus: Die Arbeiterklasse kann den Faschismus nur auf ihrem eigenen Terrain, mit dem ökonomischen Streik und der Organisation von Arbeitermilizen zur Selbstverteidigung, bekämpfen. Auf theoretischer Ebene verdanken wir Bordiga die erste ernsthafte (auch heute noch gültige) Analyse des faschistischen Phänomens, die er den Delegierten des Vierten Kongresses der KI vorstellte und die die Analyse eben jener KI ablehnte:

– „Der Faschismus sei nicht die Bewegung der Mittelklassen und der agrarischen Bourgeoisie. Vielmehr sei er das Produkt der Niederlage, die das Proletariat erlitten habe und die die unentschlossenen kleinbürgerlichen Schichten hinter die faschistische Reaktion gedrängt habe“  (aus unserem Buch Die Italienische Kommunistische Linke, Kap. 1, S. 30 f.)

– „Der Faschismus sei keine ‚feudale‘ Reaktion. Er sei in den großen Industriestädten entstanden, wie in Mailand…“ (ebenda, S. 31) und genieße die Unterstützung der industriellen Bourgeoisie.

– „Der Faschismus sei nicht mit der Demokratie unvereinbar. Er sei ihre unverzichtbare Ergänzung für den Fall, ‚dass der Staat nicht mehr in der Lage ist, die Macht der Bourgeoisie zu verteidigen.‘“ (ebenda)

Diese Kompromisslosigkeit kam auch hinsichtlich der Politik der Einheitsfront, der „ausgestreckten Hand“ gegenüber den Sozialistischen Parteien und ihrer Begleiterscheinungen, des Schlachtrufes der „Arbeiterregierung“, zum Tragen, die „zu einer praktischen Verleugnung des politischen Programms des Kommunismus (führte), d.h. der Notwendigkeit, die Massen für den Kampf für die Diktatur des Proletariats vorzubereiten“ (Bordiga, zitiert in: Die Italienische Kommunistische Linke, Kap. 1, S. 33).

Mit derselben Kompromisslosigkeit widersetzte sie sich der Politik der KI, die Kommunistischen Parteien mit den linken Strömungen der Sozialistischen Parteien oder den „Zentristen“ zu verschmelzen, eine Politik, die zur Bildung der VKPD in Deutschland führte und in Italien im August 1924 in den Eintritt von 2000 „Terzini“ (Partisanen der Dritten Internationalen) in eine Partei mündete, die infolge der Repression und Demoralisierung nur noch 20.000 Mitglieder umfasste.

Schließlich manifestierte sie sich in ihrer Opposition gegen die Politik der „Bolschewisierung“ der KPs, die auf dem Fünften Kongress der KI im Juli 1924 vorgestellt wurde. Diese Politik wurde auch von Trotzki bekämpft. Kurz gesagt, bestand sie darin, die Disziplin in den Kommunistischen Parteien wiederherzustellen, und zwar eine bürokratische Disziplin, deren Absicht es war, den Widerstand gegen ihre Degeneration zum Schweigen zu bringen. Die Bolschewisierung bestand auch darin, eine Organisationsweise der KPs zu fördern, die auf „Fabrikzellen“ basierte, etwas, das die Aufmerksamkeit der ArbeiterInnen auf die Schwierigkeiten in „ihren“ Unternehmen lenkte, ganz offensichtlich zum Nachteil einer allgemeinen Sichtweise und Perspektive des proletarischen Kampfes.

Obwohl die Linke sich immer noch in der Mehrheit innerhalb der Partei befand, erzwang die KI eine rechte Führung (Gramsci, Togliatti), die ihre Politik unterstützte, ein Manöver, das durch den Gefängnisaufenthalt Bordigas zwischen Februar und Oktober 1923 erleichtert wurde. Dennoch stimmten in einer klandestinen Konferenz der italienischen Partei im Mai 1924 35 von 45 Föderationssekretären und vier von fünf interregionalen Sekretären den von Bordiga, Grieco, Fortichiari und Repossi präsentierten Thesen, die sich sehr kritisch über die Politik der KI äußerten, zu. 1925 brach in der KI die Kampagne gegen die Opposition aus; die erste, die an der Reihe war, war Trotzkis Linksopposition. „Im März–April 1925 setzte die Erweiterte Exekutive der Komintern die Eliminierung der ‚bordigistischen‘ Tendenz auf die Tagesordnung des III. Kongresses des PCI. Sie verbat die Veröffentlichung eines Artikels von Bordiga, in dem sich dieser für Trotzki ausgesprochen hatte.“ (Die Italienische Kommunistische Linke, Kap. 1, S. 35)

„Die Bolschewisierung der italienischen Sektion begann mit der Entfernung Fortichiaris von seinem Posten als Gebietssekretär von Mailand. Im April gründete die Linke, mit Damen, Repossi und Fortichiari, ein ‚Bündniskomitee‘, um ihre eigenen Aktivitäten zu koordinieren.

Die Gramsci-Führung griff dieses Komitee gewaltsam an und denunzierte es als eine ‚organisierte Fraktion‘. Tatsächlich aber wollte sich die Linke noch nicht als Fraktion konstituieren; sie wollte keinerlei Vorwand für ihren Ausschluss aus der Partei liefern, während sie noch in der Mehrheit war. Zunächst weigerte sich Bordiga, dem Komitee beizutreten, da er nicht den ihm auferlegten disziplinarischen Rahmen übertreten wollte. Erst im Juni schloss er sich der Position von Damen, Fortichiari und Repossi an. Ihm wurde die Aufgabe zugeteilt, eine ‚Plattform‘ der Linken zu entwerfen, die der erste systematische Angriff auf die Bolschewisierung war.“ (ebenda, S. 35 f.)

„Unter der Drohung des Ausschlusses löste sich das Bündniskomitee auf und beugte sich der Disziplin. Dies war der Anfang vom Ende der italienischen Linken als Mehrheit.“ (ebenda, S. 37)

Auf dem Parteitag im Januar 1926, der wegen der faschistischen Repression im Ausland abgehalten wurde, präsentierte die Linke die „Thesen von Lyon“; sie erhielten lediglich 9,2 Prozent der Stimmen: Die Politik, die Anweisungen der KI bezüglich einer intensiven Rekrutierung junger und kaum politisierter Elemente anzuwenden, trug nun Früchte. Die „Thesen von Lyon“ sollten die Politik der italienischen Linken in der Emigration orientieren.

Bordiga kämpfte noch eine letzte Schlacht auf der 6. Erweiterten Exekutive der KI von Februar bis März 1926. Er prangerte das opportunistische Abdriften der KI an, erwähnte die Fraktionsfrage ohne Rücksicht darauf, ob dies auf der unmittelbaren Tagesordnung stand, und bekräftigte, dass „die Geschichte der Fraktionen die Geschichte Lenins ist“ (ebenda, S. 38); sie sind keine Krankheiten, „sondern das Symptom einer Krankheit. Sie seien das Produkt der ‚Verteidigung gegen den opportunistischen  Einfluss‘.“ (ebenda, S. 38f.)

In einem Brief an Karl Korsch im September 1926 schrieb Bordiga: „Wir sollten nicht die Spaltung der Parteien und der Internationale anstreben. Wir sollten dem Experiment der willkürlichen und mechanischen Disziplin eine Chance geben, indem wir Letztere so weit wie möglich, bis zur totalen Absurdität ihres Verfahrens, respektieren, ohne jedoch auf unsere ideologische und politische Kritik zu verzichten und ohne uns jemals mit der herrschenden Orientierung zu solidarisieren (…) Generell denke ich, dass mehr noch als Organisation und Manöver heute die Erarbeitung einer politischen Ideologie der internationalen Linken zuoberst stehen sollte, die auf den beredten Erfahrungen der Komintern beruht. Da wir noch weit entfernt sind von diesem Punkt, erscheint jede internationale Initiative schwierig.“ (Bordiga, zitiert in: Die Italienische Kommunistische Linke, Kap. 1, S. 41)

Dies waren auch die Grundlagen, auf denen nach der ersten Konferenz im April 1928 die Linksfraktion der Kommunistischen Partei Italiens im Pariser Vorstadtviertel Pantin letztlich gegründet werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt zählte sie vier „Föderationen“: Brüssel, New York, Paris und Lyon, mit Mitstreitern in Luxemburg, Berlin und Moskau.

Diese Konferenz nahm einmütig eine Resolution an, die ihre Perspektiven definierte:

1.  „Konstituierung als linke Fraktion der Kommunistischen Internationale.

2.  (…)

3.  Zweimonatliche Veröffentlichung einer Zeitschrift mit dem Namen Prometeo.

4.  Gründung von Gruppen der Linken, deren Aufgabe der bedingungslose Kampf gegen den Opportunismus und die Opportunisten ist (…)

5.  Inangriffnahme der unmittelbaren Ziele:

– die Reintegration aller aus der Kommunistischen Internationale Ausgeschlossenen, welche sich auf das Kommunistische Manifest und die Thesen des Zweiten Weltkongresses berufen.

– die Einberufung des 6. Weltkongresses unter der Präsidentschaft von Leo Trotzki.

– den Ausschluss all jener auf die Tagesordnung des 6. Weltkongresses stellen, die sich mit den Resolutionen des 15. Allrussischen Kongresses solidarisch erklären.“ (zitiert in: Die Italienischen Kommunistische Linke, S. 78)

Wie ersichtlich:

– begriff sich die Fraktion nicht als „italienisch“, sondern als eine Fraktion der KI;

– meinte sie, dass in der KI noch immer proletarisches Leben existiere und sie immer noch gerettet werden könne;

– meinte sie, dass die russische Partei sich den Beschlüssen des KI-Kongresses unterordnen und „ihr Haus in Ordnung bringen“ müsse, indem sie all jene ausschließt, die offenen Verrat begangen hatten (wie dies schon früher im Zusammenhang mit anderen Parteien der Internationalen praktiziert wurde);

– lud sie sich nicht die Aufgabe einer allgemeinen Intervention gegenüber den ArbeiterInnen auf, sondern konzentrierte sich vorrangig auf die Militanten der KI.

Im Anschluss leistete die Fraktion bis 1945 eine bemerkenswerte Arbeit, eine Arbeit, die von der Gauche Communiste de France bis 1952 fortgeführt wurde. Wir haben in unseren Artikeln, internen Texten und Diskussionen bereits oft auf dieses Werk Bezug genommen, so dass es nicht notwendig ist, hier darauf zurückzukommen.

Einer der wesentlichen Beiträge der italienischen Fraktion und der Kern dieses Berichts ist exakt die Weiterentwicklung des Konzeptes der Fraktion auf der Grundlage der gesamten Erfahrung der Arbeiterbewegung. Dieses Konzept wurde bereits eingangs dieses Berichts in wenigen Worten umrissen. Wir werden uns hier darauf beschränken, eine Passage aus einem Artikel in unserer Presse zu zitieren, wo das Konzept der Fraktion definiert wird. („Die italienische und französische Kommunistische Linke“; Internationale Revue, Nr. 90 [engl., franz., span. Ausgabe][12]):

„In unserer Presse haben wir uns häufig mit der Unterscheidung befasst, die von der italienischen Linken zwischen der Partei und der Fraktion gemacht wurde (siehe besonders unsere Untersuchung ‚Das Verhältnis zwischen Fraktion und Partei in der marxistischen Tradition‘ in der International Review, Nr. 59, 61, 64). Um Klarheit zu schaffen, wollen wir die Hauptlinien der Frage hier in Erinnerung rufen. Die kommunistische Minderheit existiert permanent als ein Ausdruck des revolutionären Schicksals des Proletariats. Jedoch ist ihr Einfluss auf die unmittelbaren Kämpfe der Klasse stark durch ihr Niveau und den Umfang des Bewusstseins der arbeitenden Massen bedingt. Nur in Perioden offener und immer bewussterer proletarischer Kämpfe kann die Minderheit auf einen Einfluss hoffen. Nur unter diesen Bedingungen kann die Minderheit als Partei beschrieben werden. Im Gegensatz dazu ist es in Zeiten, in denen der proletarische Kampf historisch abebbt und die Konterrevolution triumphiert, zwecklos, auf einen bedeutenden und entscheidenden Einfluss revolutionärer Positionen auf die Klasse in ihrer Gesamtheit zu hoffen. In solchen Perioden besteht die einzig mögliche – aber wichtige – Arbeit darin, als Fraktion zu arbeiten: die politischen Bedingungen für die Bildung der künftigen Partei vorzubereiten, wenn das Kräfteverhältnis es erneut ermöglicht, dass kommunistische Positionen Einfluss auf das gesamte Proletariat ausüben.“ (Auszug aus der Fußnote 4)

„Die Linksfraktion ist geschaffen worden, da die proletarische Partei unter dem Einfluss des Opportunismus, mit anderen Worten: ihrer Penetrierung durch die bürgerliche Ideologie, im Begriff ist zu degenerieren. Es ist die Verantwortung der Minderheit, die das revolutionäre Programm aufrechthält, einen organisierten Kampf für seinen Triumph innerhalb der Partei zu führen. Entweder hat die Fraktion Erfolg, ihre Prinzipien triumphieren, und die Partei ist gerettet, oder die Partei degeneriert weiter und endet damit, dass sie die Waffen streckt und ins bürgerliche Lager überläuft. Der Zeitpunkt, in dem die proletarische Partei ins bürgerliche Lager überläuft, ist nicht leicht zu bestimmen. Doch eines der wichtigsten Anzeichen dieses Übergangs ist die Tatsache, dass es innerhalb der Partei kein proletarisches Leben mehr gibt. Es liegt in der Verantwortung der Linksfraktion, den Kampf innerhalb der Partei fortzusetzen, solange die Hoffnung besteht, sie zur Umkehr zu veranlassen. Daher verließen Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre die linken Strömungen nicht die Parteien der KI, sondern sie wurden ausgeschlossen, oftmals mit Mitteln schmutziger Manöver. Davon abgesehen, ist eine Rückkehr unmöglich, sobald eine proletarische Partei ins bürgerliche Lager übergelaufen ist. Das Proletariat muss in diesem Fall eine neue Partei erschaffen, um auf den Weg zur Revolution zurückzukehren, und die Rolle der Fraktion ist es, eine ‚Brücke‘ zwischen der alten Partei, die zum Feind übergelaufen ist, und der zukünftigen Partei zu sein, für die sie ein programmatisches Fundament bauen und deren Gerüst sie werden muss. Die Tatsache, dass, sobald die Partei ins bürgerliche Lager übergelaufen ist, kein proletarisches Leben mehr in ihr existieren kann, bedeutet, dass sie sowohl nutzlos als auch gefährlich für Revolutionäre ist, die den ‚Entrismus‘ betreiben, der stets eine von Trotzkis ‚Taktiken‘ gewesen ist und den die Fraktion stets abgelehnt hat. Versuche, einer bürgerlichen Partei, mit anderen Worten: einer Partei, die jeglicher Klassenposition entblößt ist, proletarisches Leben einzuhauchen, führten noch nie zu einem anderen Resultat als zur Beschleunigung der opportunistischen Degeneration jener Organisationen, die dies versucht hatten, ohne die Partei auch nur im geringsten zur Umkehr zu bringen. Was die ‚Rekrutierung‘ angeht, die durch solche Methoden erzielt wird, so handelte es sich stets um besonders konfuse und vom Opportunismus befallene Elemente, die nie in der Lage gewesen waren, eine Vorhut für die Arbeiterklasse zu formen.

Im Grunde bestand einer der fundamentalen Unterschiede zwischen der italienischen Fraktion und dem Trotzkismus darin, dass, als es zur Umgruppierung revolutionärer Kräfte kam, die Fraktion immer die Notwendigkeit der größten Klarheit und programmatischen Stringenz vorgebracht hat, auch wenn man offen für Diskussionen mit all den anderen Strömungen war, die sich dem Kampf gegen die Degeneration der KI verschrieben hatten. Die trotzkistische Strömung versuchte hingegen, rasch Organisationen zu bilden, ohne jegliche ernsthafte Diskussion oder einen vorherigen Klärungsprozess der politischen Positionen und sich im Kern auf die Übereinkünfte zwischen ‚Persönlichkeiten‘ und der Autorität von Trotzki als einen der wichtigsten Führer der Revolution von 1917 und der frühen KI verlassend.“

Dieser Abschnitt offenbart die Methoden der trotzkistischen Strömung, die wir aus Platzmangel oben nicht erwähnt hatten. Doch es ist bedeutsam, dass zwei der Kennzeichen dieser Strömung, bevor diese sich dem bürgerlichen Lager anschloss, folgende waren:

– Zu keinem Zeitpunkt integrierte sie den Begriff der Fraktion in ihr Konzept; für den Trotzkismus ging es von einer Partei zur nächsten, und so musste in Zeiten des Rückzugs der Klasse, wenn die Revolutionäre eine kleine Minderheit waren, ihre Organisation als eine Art „Mini-Partei“ betrachtet werden, ein Konzept, das Mitte der 30er Jahre auch innerhalb der italienischen Fraktion aufgekommen war und das heute von der IKT verfolgt wird, nennt sich doch ihre Hauptkomponente Partito Comunista Internazionalista.

– Trotzki (aber nicht nur er) hatte das Ausmaß der Konterrevolution absolut nicht begriffen. Sein Unverständnis war so groß, dass er die Streiks von Mai bis Juni 1936 in Frankreich als den „Beginn der Revolution“ betrachtete. In diesem Sinn ist das Konzept des historischen Kurses (ebenfalls abgelehnt von der IKT) fundamental für die Fraktion.

Der Wille zur Klärung, der die italienische Linke stets angetrieben hatte und der eine fundamentale Vorbedingung für die Erfüllung ihrer Rolle ist, kann selbstverständlich nicht von der theoretischen Vertiefung und der permanenten Bereitschaft getrennt werden, Analysen und Positionen, die einst als endgültig erschienen, in Frage zu stellen.

5. Schlussfolgerung

Um diesen Teil des Berichts abzuschließen, müssen wir sehr kurz auf den späteren Werdegang der Strömungen zu sprechen kommen, die die KI verließen. Die Strömung, die aus der deutsch-holländischen Linken entstand, blieb selbst nach dem Verschwinden der KAPD und der KAPN bestehen. Ihr Hauptrepräsentant war die GIK (Gruppe Internationaler Kommunisten) in Holland, eine Gruppe, die einen gewissen Einfluss außerhalb ihres Landes hatte (zum Beispiel auf Living Marxism, eine Gruppe in den USA, die von Paul Mattick animiert wurde). In einem der tragischsten und kritischsten Momente der 30er Jahre, im Spanischen Krieg, vertrat diese Gruppe eine prinzipiell internationalistische Position, ohne jegliches Zugeständnis an den Antifaschismus. Sie stimulierte den Denkprozess innerhalb der Kommunistischen Linken, einschließlich BILAN (die die Position Rosa Luxemburgs und der deutschen Linken über die nationale Frage aufgriff), wie auch der Gauche Communiste de France, die die traditionelle Position der italienischen Linken über die Gewerkschaften ablehnte und stattdessen die Position der deutsch-holländischen Linken übernahm.

Jedoch nahm diese Strömung (GIK etc.) zwei Positionen ein, die sich als fatal erwiesen (und die der KAPD fremd gewesen wären):

– die Charakterisierung der Revolution von 1917 als bürgerlich;

– die Verneinung der Notwendigkeit einer Partei.

Dies führte dazu, eine ganze Reihe von proletarischen Organisationen der Vergangenheit als bürgerlich zu kategorisieren, letztendlich die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Lehren abzulehnen, die sie für die Zukunft in petto hat.

Es führte auch dazu, jegliche Rolle der Fraktion zu verneinen, da deren Aufgabe es ist, einer Organisation den Weg zu ebnen, die die rätekommunistische Strömung nicht will – die Partei.

Als Konsequenz aus diesen beiden Schwächen hat sie sich selbst daran gehindert, eine bedeutende Rolle in dem Prozess zu spielen, der zur zukünftigen Partei und somit zur kommunistischen Revolution führen wird, auch wenn rätekommunistisches Gedankengut durchaus einen Einfluss auf das Proletariat ausübt.

Ein letzter einleitender Punkt zum zweiten Teil des Reports: Kann die IKS als eine Fraktion betrachtet werden? Die Antwort springt geradezu ins Auge: Selbstverständlich nicht, denn unsere Organisation war zu keinem Zeitpunkt innerhalb einer proletarischen Partei konstituiert worden. Doch diese Antwort ist bereits Anfang der 50er Jahre vom Genossen MC in einem Brief an die anderen Mitglieder der Gruppe Internationalisme gegeben worden:

„Die Fraktion stand in direkter, organischer Kontinuität zur alten Organisation, da ihre Existenz von relativ kurzer Dauer war. Oft verblieb sie in der alten Organisation bis zu dem Moment der Spaltung. Die Spaltung war häufig identisch mit der Umwandlung der Fraktion in eine neue Partei (z.B. die bolschewistische Fraktion und der Spartakusbund, wie fast alle Linksfraktionen der alten Internationalen). Heute ist diese organische Kontinuität beinahe nicht mehr existent (…) Weil die Fraktion es nicht mit fundamental neuen Problemen zu tun hatte, wie jene, die sich durch unsere Periode der permanenten Krise und der Entwicklung zum Staatskapitalismus stellten, und nicht in tausend Stücke zerschmettert wurde, war sie fester in ihren erworbenen revolutionären Prinzipienverankert, als wenn sie neue Prinzipien hätte formulieren müssen; sie hatte mehr aufrechtzuerhalten als aufzubauen. Dank dessen und ihrer direkten organischen Kontinuität über einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum war sie die neue Partei in der Reifung.

Auch wenn sie zum Teil die Aufgaben einer Fraktion hat – d.h. die Neu-Untersuchung der vergangenen Erfahrungen und die Formierung neuer Militanter –, muss (unsere Gruppe) auch eine Analyse der jüngst sich entfaltenden Situation und die neue Perspektive erstellen, hat aber dafür nicht das Programm der zukünftigen Partei neu zu formulieren. Sie ist lediglich ein Element der zukünftigen Partei. Aufgrund ihres organisatorischen Charakters kann ihre Funktion, programmatische Beiträge zu liefern, nur eine Teilfunktion sein.“

Heute, nach einer über 40jährigen Existenz, muss die IKS immer noch so vorgehen, wie als sie, 30 Jahre alt geworden, daran erinnerte: „Wir verdanken also die Fähigkeit der IKS, sich in den 30 Jahren ihrer Existenz stets ihrer Verantwortung gestellt zu haben, größtenteils den Beiträgen der italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken. Das Geheimnis hinter der positiven Bilanz, die wir aus den Aktivitäten in dieser Periode ziehen können, liegt in unserer richtig verstandenen Treue zu den Lehren der Fraktion und, allgemeiner, zu der Methode und dem Geist des Marxismus.“ („30 Jahre IKS: Von der Vergangenheit lernen, um die Zukunft zu bauen“, Internationale Revue, Nr. 37[13])

[1]               Wiederveröffentlicht in Internationale Revue, Nr. 52 (https://de.internationalism.org/internationalerevue/internationalisme-nr... [132]).

[2]                MEW, Bd. 8, 598.

[3]               Es sollte angemerkt werden, dass laut eines Briefes von Marx an Engels, der kurz nach diesem Treffen abgeschickt wurde, Marx Eccarius‘ Einladung akzeptierte, weil Marx im Gegensatz zu den vorherigen Versuchen, Organisationen zu konstituieren, zu denen er eingeladen wurde, die er aber als künstlich empfand, diesmal die Bemühungen als ernsthaft betrachtete.

[4]               In diesem und den folgenden Abschnitten fokussieren wir uns auf die Fraktionen in vier verschiedenen Parteien, nämlich jene in Russland, Holland, Deutschland und Italien, ohne die Parteien der beiden Hauptländer Großbritannien und Frankreich näher zu untersuchen. Im Grunde gab es in diesen beiden Parteien keine Linksfraktionen, die diesen Namen verdient hätten, hauptsächlich wegen der extremen Schwäche des marxistischen Denkens in ihnen. So kam zum Beispiel in Frankreich die erste organisierte Reaktion gegen den I. Weltkrieg nicht von einer Minderheit in der Sozialistischen Partei, sondern von einer Minderheit innerhalb der Gewerkschaft CGT, deren Kern sich um Rosmer und Monatte sammelte, die La Vie Ouvrière publizierten.

[5]               „Ich habe unaufhörlich entgegen der Redaktionsleitung von De Tribune gesagt: Wir müssen alles Erdenkliche tun, um die anderen zu uns zu ziehen, doch wenn dies scheitert – nachdem wir bis zum Schluss gekämpft haben und alle Bemühungen gescheitert sind –, dann müssen wir nachgeben (mit anderen Worten: die Unterdrückung von De Tribune akzeptieren)“ (Brief von Gorter an Kautsky, 16. Februar 1909). „Unsere Stärke in der Partei kann wachsen; unsere Stärke außerhalb der Partei kann niemals wachsen.“ Intervention von Gorter auf dem Deventer Parteitag. (Siehe: „Die holländische Linke (1900–1914), Teil 2: „Die ‚tribunistische‘ Bewegung“, Internationale Revue, Nr. 47 [engl., franz., span. Ausgabe]).

[6]                Unter den vielen Militanten, die von der Repression betroffen waren, können wir den Fall von Luxemburg zitieren, die einen Gutteil des Krieges im Gefängnis verbracht hat, den Fall von Liebknecht, der anfangs eingezogen und anschließend in Schutzhaft genommen wurde, nachdem er auf der 1. Mai-Demonstration 1916 den Krieg und die Regierung angeprangert hatte, und den Fall von Mehring, der als über 70-Jähriger ins Gefängnis gesteckt wurde.

[7]               Die zwei anderen Positionen waren Trotzkis Position, der die Gewerkschaften in den Staat integrieren wollte, um sie (nach dem Modell der Roten Armee) zu Kontrollorganen über die ArbeiterInnen zu machen und so die Arbeitsdisziplin zu erhöhen, sowie Lenins Position, der im Gegensatz dazu meinte, dass die Gewerkschaften bei der Verteidigung der ArbeiterInnen gegen den Staat, der „starke bürokratische Verformungen“ enthalte, eine Rolle spielen müssen.

[8]                Wegen der „Gefahr“, dass das Amsterdamer Büro einen Pol der Umgruppierung auf der Linken in der KI konstituieren könnte, verkündete das Exekutivkomitee der KI am 4. Mai 1920 per Radio die Auflösung des Büros.

[9]               Zu jener Zeit war sich die holländische Linke und Pannekoek besonders klar darin, die von Otto Rühle entwickelte Sichtweise, die die Notwendigkeit für die Partei bestritt, zu bekämpfen. Die gleiche Position, die später von den Rätekommunisten und von… Pannekoek übernommen werden sollte.

[10]             Den Delegierten gelang es, nach Russland zu kommen (zu einem Zeitpunkt, als der Bürgerkrieg und die Blockade es fast unmöglich machten, auf dem Landweg in das Land einzureisen), indem sie die Mannschaft eines Handelsschiffes dazu überredeten, zu meutern und das Schiff nach Murmansk umzulenken.

[11]             In seiner letzten Schrift, am Vorabend seines Todes, zeigte Gorter, dass er seine eigenen Fehler begriffen hatte, und ermutigte seine Genossen, dasselbe zu tun: die Lehren aus diesen Irrtümern zu ziehen (siehe Die deutsch-holländische Linke, Ende des 5. Kap. 4.d; https://de.internationalism.org/Gorter/KAI [131]).

[12]             https://en.internationalism.org/internationalreview/201211/5366/italian-... [133]

[13]             https://de.internationalism.org/30Jhr/37 [134]

Aktuelles und Laufendes: 

  • Fraktion [135]
  • fraktionsähnlich [136]
  • IKS [137]

Theoretische Fragen: 

  • Partei und Fraktion [138]

Rubric: 

21. Kongress der IKS: 40 Jahre nach der Gründung, Bilanzen und Perspektiven

Resolution über die internationale Lage

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Wir stützen uns auf die Errungenschaften der Arbeiterbewegung ab

1. Bei der Erarbeitung einer Bilanz über unsere Analysen zur internationalen Lage, welche wir während der letzten 40 Jahren gemacht haben, lassen wir uns vom Kommunistischen Manifest von 1848 inspirieren, der ersten offenen Erklärung der marxistischen Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung. Die Errungenschaften des Kommunistischen Manifests sind bekannt: die Anwendung einer historisch-materialistischen Methode, welche den Übergangscharakter aller sozialen Gesellschaften, die bisher existiert haben, aufzeigt; die Anerkennung, dass der Kapitalismus, auch wenn er eine revolutionäre Rolle spielte, indem er den Weltmarkt vereinigte und die Produktivkräfte entwickelte, Widersprüche in sich birgt, welche sich in den wiederholten Überproduktionskrisen ausdrücken, ebenfalls nur eine Übergangsetappe in der Geschichte der Menschheit ist; die Anerkennung der Arbeiterklasse als Totengräber der bürgerlichen Produktionsweise; die Notwendigkeit für die Arbeiterklasse, ihre Kämpfe auf ein Niveau der politischen Machtergreifung hochzustemmen, um überhaupt die Grundlagen einer kommunistischen Gesellschaft zu legen; die entscheidende Rolle einer kommunistischen Minderheit als Ausdruck und zugleich aktiver Faktor in den Kämpfen der Arbeiterklasse.

2. Diese Erkenntnisse bilden nach wie vor die Grundlage des kommunistischen Programms von heute. Marx und Engels, die einer Methode treu waren, welche historisch und selbstkritisch war, zeigten die Fähigkeit, im Nachhinein einzusehen, dass gewisse Teile des Kommunistischen Manifests überholt waren oder durch die Erfahrung der Geschichte widerlegt worden waren. So folgerten sie nach den Ereignissen der Pariser Kommune 1871, dass die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse die Zerstörung des existierenden bürgerlichen Staates erfordert, und nicht lediglich seine Eroberung. Schon lange zuvor stellten sie in den Debatten, die innerhalb der Liga der Kommunisten nach der Niederlage der Revolutionen von 1848 stattfanden, fest, dass sich das Kommunistische Manifest in der Annahme, der Kapitalismus befinde sich bereits in einer grundlegenden Sackgasse und es stünde nur eine kurze Übergangszeit von der bürgerlichen zu proletarischen Revolution bevor, getäuscht hatte. Gegen die hyper-aktivistische Tendenz um Willich und Schapper unterstrichen sie die Notwendigkeit, für die Revolutionäre, viel tiefer greifende Überlegungen über die Perspektiven der kapitalistischen Gesellschaft, welche sich noch im Aufstieg befand, anzustellen. Doch auch wenn sie diese Irrtümer anerkannten, so stellten sie die grundlegende Methode nicht in Frage – sie kamen vielmehr darauf zurück, um den programmatischen Errungenschaften der Bewegung eine noch solidere Grundlage zu geben.

3. Die Passion für den Kommunismus und der brennende Wunsch, das Ende der kapitalistischen Ausbeutung zu erleben, haben Kommunisten immer wieder dazu verführt, ähnliche Fehler zu begehen wie Marx und Engels 1848. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die gigantische revolutionäre Erhebung in den Jahren 1917–20, die dieser Krieg provozierte, wurden von den Kommunisten berechtigterweise als definitive Bestätigung für das Eintreten des Kapitalismus in eine neue Epoche gesehen – die Epoche seines Niedergangs und deshalb die Epoche der proletarischen Revolution. Die Weltrevolution wurde durch die Machtergreifung des Proletariats in Russland 1917 tatsächlich auch auf die Tagesordnung gesetzt. Doch die klarsten Teile der Kommunisten in der damaligen Zeit tendierten zu einer Unterschätzung der enormen Schwierigkeiten, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert war, denn das Selbstvertrauen und das moralische Rückgrat hatten durch den Verrat der alten Arbeiterorganisationen einen schweren Schlag erlitten. Es war ein Proletariat, erschöpft durch die jahrelangen imperialistischen Massaker, über dem immer noch der Schatten des Reformismus schwebte und das unter dem Einfluss des Opportunismus litt, der in den drei vorangegangenen Jahrzehnten in der Arbeiterbewegung um sich gegriffen hatte. Die Antwort der Führung der Kommunistischen Internationale auf diese Probleme war das Abgleiten in neue Formen des Opportunismus in der Hoffnung, einen Einfluss in den Massen zu gewinnen. So zum Beispiel mit der „Taktik“ der Einheitsfront mit zweifelsfreien Agenten der herrschenden Klasse, die in der Arbeiterbewegung aktiv waren. Dieser opportunistische Kurs brachte die gesunde Reaktion linker Strömungen innerhalb der Kommunistischen Internationale hervor, vor allem die Kommunistische Linke in Italien und Deutschland, doch auch sie waren mit der großen Schwierigkeit konfrontiert, die neuen historischen Bedingungen wirklich zu verstehen. In der Kommunistischen Linken in Deutschland waren die Tendenzen, welche die Theorie der „Todeskrise“ übernommen hatten, unfähig, den Beginn der Dekadenz des Kapitalismus zu erkennen. Da die Dekadenz sich als eine Periode der Krisen und Kriege manifestierte, verstanden diese Tendenzen die Dekadenz als eine Fahrt des Systems gegen die Mauer und sie sprachen ihm jegliche Möglichkeit der Erholung ab. Ein Ergebnis dieser Analyse waren abenteurerische Aktionen mit dem Ziel, die Arbeiterklasse zu einem tödlichen Schlag gegen den Kapitalismus zu provozieren; ein anderes Ergebnis war die Gründung der „Kommunistischen Arbeiter-Internationale“ als Eintagsfliege, gefolgt von einer „rätistischen“ Phase – ein um sich greifender Verzicht auf die Notwendigkeit einer Klassenpartei. Die Unfähigkeit des Großteils der Kommunistischen Linken in Deutschland, auf den Rückfluss der revolutionären Welle zu antworten, war entscheidend für das Auseinanderfallen der Mehrheit ihrer organisatorischen Ausdrücke.

4. Im Gegensatz zur Kommunistischen Linken in Deutschland war die Kommunistische Linke in Italien fähig, die tiefgreifende Niederlage der Arbeiterklasse auf Weltebene Ende der 1920er Jahre zu erkennen und theoretische und organisatorische Antworten für die neue Phase im Klassenkampf zu erarbeiten. Dies beinhaltete das Konzept eines Wechsels im historischen Kurs, die Bildung einer Fraktion und die Notwendigkeit, eine „Bilanz“ der weltrevolutionären Welle und der programmatischen Positionen der Kommunistischen Internationale zu ziehen. Diese Klarheit erlaubte es der italienischen Fraktion, entscheidende programmatischen Schritte zu vollziehen, während sie gleichzeitig die internationalistischen Positionen zu verteidigen hatte, während rund um sie herum alle dem Antifaschismus in die Arme fielen und damit den Weg zum Krieg beschritten. Doch auch die Fraktion war nicht gegen theoretische Krisen und Rückschritte gefeit: 1938 wurde die Zeitschrift BILAN in OCTOBRE umbenannt, dies in der Erwartung einer neuen revolutionären Welle, welche sich aus dem sich abzeichnenden Krieg und einer „Krise der Kriegswirtschaft“, die darauf folgen würde, ergeben würde. In der Nachkriegszeit erlag die Kommunistische Linke in Frankreich – welche aufgrund einer Krise der Fraktion während des Krieges und gegen die übereiligen Haltung, welche 1943 zur Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei geführt hatte, entstanden war und die Fähigkeit zeigte, in einer sehr arbeitsamen Zeit zwischen 1946 und 1952 eine Synthese der wichtigsten Beiträge der Italienischen und Deutschen Kommunistischen Linken zu bilden sowie ein besseres Verständnis der Anpassung des Kapitalismus durch totalitäre und staatliche Formen zu entwickeln – aufgrund eines falschen Verständnisses der Nachkriegsperiode und der Erwartung eines bald ausbrechenden dritten Weltkrieges einer Auflösung.

5. Trotz gravierender Irrtümer bleibt die grundsätzlich eingeschlagene Gangart von BILAN und der Kommunistischen Linken in Frankreich gültig, und sie bildete das Fundament für die Gründung der IKS zu Beginn der 1970er Jahre. Die IKS formierte sich auf der Basis einer Gesamtheit von zentralen Errungenschaften der Kommunistischen Linken. Dies nicht nur auf der Grundlage von Klassenpositionen im Widerstand gegen die nationalen Befreiungskämpfe und alle Kriege im Kapitalismus, der radikalen Kritik an den Gewerkschaften und dem Parlamentarismus, der Entlarvung der kapitalistischen Natur der sog. „Arbeiterparteien“ oder „sozialistischen“ Länder, sondern auch:

– des organisatorischen Erbes, das von BILAN und der Kommunistischen Linken in Frankreich entwickelt worden war. Vor allem auf ihrer Unterscheidung zwischen Fraktion und Partei und der Kritik an rätistischen und substitutionistischen Auffassungen der Rolle der Organisation und zusätzlich der Anerkennung der Fragen der Funktionsweise und des militanten Verhaltens als eigenständige politische Themen;

– einer Gesamtheit von politischen Elementen, die der neuen Organisation eine klare Perspektive für die Epoche, vor der sie steht, geben. Hier vor allem die Frage des historischen Kurses und die Analyse über das globale Kräfteverhältnis zwischen den Klassen; das Konzept der Dekadenz des Kapitalismus und der ökonomischen Widersprüche des Systems, die sich vertiefen; die Tendenz hin zum Krieg und die Frage der Bildung neuer imperialistischer Blöcke; die entscheidende Rolle des Staatskapitalismus bei der Aufrechterhaltung eines Systems trotz seiner historischen Überlebtheit.

Das Verständnis über die heutige Periode

6. Die Frage der Fähigkeit der IKS, das organisatorische Erbe der Kommunistischen Linken aufzunehmen und weiterzuentwickeln, ist in anderen Berichten für den 21. Kongress behandelt. Diese Resolution konzentriert sich auf diejenigen Elemente, welche die Analyse über die internationale Lage seit unserer Gründung leiteten. Hier ist es klar, dass die IKS nicht nur von der Vergangenheit geerbt hat, sondern auch fähig war, verschiedenste Aspekte weiterzuentwickeln:

– Ausgerüstet mit dem Konzept des historischen Kurses war die IKS fähig zu erkennen, dass die Ereignisse im Mai–Juni 1968 in Frankreich und die internationale Welle von Kämpfen, die darauf folgte, das Ende der konterrevolutionären Periode ankündigten und einen neuen Kurs hin zu massiven Klassenkonfrontationen eröffneten. Wir waren ebenfalls fähig, eine Analyse über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und die tatsächlichen Fortschritte und Rückschläge der Klassenbewegung in einem globalen und historischen Rahmen weiterzuentwickeln. Dabei vermieden wir es, lediglich empirisch auf jede Episode des internationalen Klassenkampfes zu antworten.      

– Abgestützt auf die Theorie der Dekadenz des Kapitalismus verstanden die Gruppen, welche sich zusammenschlossen, um die IKS zu gründen – im Gegensatz zur Theorie der Situationisten – , dass diese Kampfwelle nicht durch die Langweile der Konsumgesellschaft provoziert worden war, sondern durch das Wiederaufbrechen der offenen Krise des Kapitalismus. In all den Jahren ihrer Existenz hat die IKS den Verlauf der ökonomischen Krise verfolgt und ihre permanente Verschärfung unterstrichen.

– Im Verständnis, dass das Wiederauftauchen der ökonomischen Krise die Weltmächte dazu treiben kann, in einen Konflikt zu geraten und einen neuen Weltkrieg vorzubereiten, ist die IKS immer von der Notwendigkeit ausgegangen, ihre Analyse über das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Blöcken und zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse weiterzutreiben, denn ein Widerstand gegen die ökonomische Krise bildet auch eine Barriere gegen die Möglichkeiten des Systems, einen neuen generalisierten kriegerischen Holocaust zu entfachen.

– Dank ihrem Konzept des Staatskapitalismus war die IKS in der Lage, eine kohärente Erklärung des Wesens der langandauernden  Krise zu liefern, die Ende der 1960er Jahre ausgebrochen war und die Bourgeoisie dazu nötigte, verschiedenste Mechanismen in Gang zu setzten (Verstaatlichungen, Privatisierungen, massive Kreditvergaben usw.), um das Wertgesetz zu manipulieren und damit die explosivsten Auswirkungen hinauszuschieben oder zu bremsen. Aus demselben Grund war die IKS fähig zu erkennen, an welchem Punkt die Bourgeoisie in der Phase der Dekadenz ihren Staat einsetzt, um alle möglichen Manöver (auf der Ebene der Wahlen, mit gewerkschaftlichen Aktionen, ideologischen Kampagnen usw.) zu vollziehen, um Verwirrung in den Klassenkampf zu streuen und die Entwicklung des Bewusstsein zu verhindern. Derselbe theoretische Rahmen hat es der IKS erlaubt, die Hintergründe der Krise der sog. „sozialistischen Länder“ und des Zusammenbruchs des russischen Blocks 1989 aufzuzeigen.

– Dank ihrem Konzept des historischen Kurses, ihren Analysen der Entwicklung der imperialistischen Konflikte und des Klassenkampfes war die IKS die einzige proletarische Organisation, welche verstand, dass der Zusammenbruch des alten Blocksystems Produkt einer historischen Blockade zwischen den Klassen war, und dass dieser Zusammenbruch den Eintritt des Kapitalismus in eine neue, finale Phase der Dekadenz einleitete – die Phase des Zerfalls –, welche wiederum neue Schwierigkeiten für das Proletariat und neue Gefahren für die Menschheit mit sich bringt.

7. Nebst der Fähigkeit, sich die Errungenschaften der Arbeiterbewegung anzueignen und diese weiter zu entwickeln, ist die IKS wie alle anderen revolutionären Organisationen der Vergangenheit dem mannigfaltigen Druck, den die soziale Ordnung hervorbringt, ausgesetzt, so auch den ideologischen Formen, die dieser Druck beinhaltet –  vor allem dem Opportunismus, dem Zentrismus und dem Vulgärmaterialismus. Vor allem in den Analysen über die internationale Situation verfiel die IKS immer wieder der Ungeduld, der politischen Kurzsichtigkeit und Ausdrücken des mechanistischen Materialismus, was wir bei Organisationen der Vergangenheit schon beobachtet hatten. Diese Schwächen haben sich wegen der Bedingungen, in der unsere Organisation gegründet wurde, in der Geschichte der IKS verstärkt, denn wir litten unter dem historischen Bruch mit den Organisationen der Vergangenheit, unter dem Einfluss der stalinistischen Konterrevolution, welche eine entstellte Vision des proletarischen Kampfes und der proletarischen Moral verkörperte, sowie unter dem starken Einfluss der kleinbürgerlichen Revolte der 1960er Jahre. Das Kleinbürgertum als Klasse ohne Zukunft war per Definition die Verkörperung der politischen Kurzsichtigkeit. Diese Tendenzen haben sich in der Periode des Zerfalls nur noch verstärkt, was ein aktiver Faktor beim Verlust einer Zukunftsperspektive spielt.

Der Klassenkampf

8. Von Beginn weg hat sich die Gefahr der politischen Kurzsichtigkeit in den Arbeiten der IKS über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen manifestiert. Die Periode nach 1968 wurde korrekt als Ende der Konterrevolution eingeschätzt, doch beinhaltete die Charakterisierung des neuen historischen Kurses als „Kurs hin zur Revolution“ eine lineare und schnelle Ausbreitung der unmittelbaren Kämpfe bis hin zur Überwindung des Kapitalismus. Doch selbst, als die IKS diese Formulierung korrigiert hatte, blieb sie auf einer Vision haften, die davon ausging, dass die Kämpfe, die sich zwischen 1978 und 1989 abspielten, trotz aller zeitweiligen Rückschläge eine fast ununterbrochene Offensive der Arbeiterklasse darstellen würden. Die immensen Schwierigkeiten der Klasse, von einer defensiven Bewegung zur Politisierung ihrer Kämpfe und zur Entwicklung einer revolutionären Perspektive zu schreiten, wurden nicht ausreichend betrachtet und analysiert. Auch wenn die IKS fähig war, den Beginn des Zerfalls und die Tatsache, dass der Zusammenbruch der Blöcke einen beträchtlichen Rückschritt des Klassenkampfes zur Folge hatte, zu erkennen, so waren wir dennoch immer sehr stark von der Hoffnung besetzt, die Vertiefung der ökonomischen Krise würde wieder zu „Wellen“ des Kampfes führen wie in den 1970er und 80er Jahren. Auch wenn wir richtig festgestellt hatten, dass es 2003 eine Wende im Rückfluss gab, so haben wir die enormen Schwierigkeiten, mit denen die junge Generation der Arbeiterklasse konfrontiert ist, um überhaupt eine klare Perspektive für ihre Kämpfe zu entwickeln, meist unterschätzt – ein Faktor, der schlussendlich sowohl die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit als auch ihre politisierten Minderheiten betrifft. Die Fehler in der Analyse haben auch gewisse falsche, ja sogar opportunistische Richtungen in der Intervention in den Klassenkämpfen und beim Aufbau der Organisation genährt.

9. Auch wenn die Theorie des Zerfalls (welche im Wesentlichen der letzte Beitrag des Genossen MC war) ein unabdingbarer Kompass zum Verständnis der aktuellen Periode ist, so hat sich die IKS oft schwer getan, alle Konsequenzen davon zu verstehen. Im Besonderen war dies der Fall, als wir die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse in den 1990er Jahren erkennen und erklären mussten. Wir waren zwar fähig zu verstehen, wie die Bourgeoisie die Auswirkungen des Zerfalls nutzte, um enorme ideologische Kampagnen gegen die Arbeiterklasse vom Stapel zu lassen – im Besonderen die Aussaat der Lügen über den „Tod des Kommunismus“ nach dem Zusammenbruch des Ostblocks –, wir haben aber nicht genügend tief untersucht, wie weit der Prozess des Zerfalls dazu tendierte, das Selbstvertrauen und die Solidarität der Arbeiterklasse zu untergraben. Zudem hatten wir Schwierigkeiten, den Einfluss der Auflösung der alten Arbeiterkonzentrationen in gewissen zentralen Ländern des Kapitalismus und die Auslagerungen in zuvor „unterentwickelte Länder“ auf die Klassenidentität zu erkennen. Auch wenn wir über ein Verständnis darüber verfügten, wie entscheidend die Politisierung der Kämpfe der Arbeiterklasse ist, um dem Zerfall entgegenzutreten, so begriffen wir erst sehr spät, dass für die Arbeiterklasse die Wiedererlangung einer Klassenidentität und die Entwicklung einer politischen Perspektive eine entscheidende moralische und kulturelle Dimension beinhaltet.

Die Wirtschaftskrise

10. Die Schwierigkeiten der IKS haben  sich sicher am vehementesten auf der Ebene des Verständnisses der ökonomischen Krise gezeigt. Dies vor allem:

– Auf der allgemeinen Ebene durch eine Tendenz, einer verdinglichten Vision der kapitalistischen Ökonomie zu verfallen, als wäre diese eine Maschine, die lediglich durch objektive Gesetze gesteuert ist, und dabei auszublenden, dass der Kapitalismus zuallererst und vor allem ein soziales Verhältnis ist, wo die Anstrengungen der Menschen – in Form von sozialen Klassen – niemals komplett aus einer Analyse über den Gang der ökonomischen Krise ausgeschlossen werden dürfen. Dies trifft vor allem in der Epoche des Staatskapitalismus zu, in der die herrschende Klasse permanent gezwungen ist, in die Wirtschaft einzugreifen, und sich selbst den „immanenten“ Gesetzten entgegenstemmen muss, wobei sie gleichzeitig die Gefahr des Klassenkampfes als Element ihrer ökonomischen Politik mit einzuberechnen hat.

– Durch ein eingeschränktes Verständnis der ökonomischen Theorie von Rosa Luxemburg, das aus der falschen Übertreibung herrührt, der Kapitalismus habe schon all seine Expansionsmöglichkeiten seit 1914 verloren (oder spätestens seit den 1960er Jahren). In Wirklichkeit hatte Rosa Luxemburg, als sie 1913 ihre Theorie entwickelte, eingeräumt, dass es noch sehr große außerkapitalistische Zonen gibt, welche noch ausgebeutet werden können, auch wenn gleichzeitig die Möglichkeit schwindet, dass dies ohne direkte Konflikte zwischen den imperialistischen Staaten über die Bühne gehen kann.

– Die Anerkennung der realen Tatsache, dass der Kapitalismus mit dem Schwinden dieser Expansionsmöglichkeiten immer mehr dazu genötigt ist, auf die Mittel der Verschuldung zurückzugreifen, wurde manchmal zu einer Art Allerweltserklärung, welche die dahinterliegende Frage der Rolle des Kredits in der Akkumulation ausblendete. Oder noch schlimmer, die Organisation sagte wiederholt voraus, dass die Grenzen des Kredits bereits erreicht seien.

– All diese Aspekte waren Teil einer Sichtweise des automatischen Zusammenbruchs des Kapitalismus, welche zur Zeit der „Kreditkrise“ von 2008 überhandnahm. Verschiedene interne Berichte und Artikel in unserer Presse vertraten den Standpunkt,  der Kapitalismus sei am Ende seiner Möglichkeiten angelangt und steuere auf eine ökonomische Blockade, ja einen brutalen Zusammenbruch zu. In Wahrheit liegt, wie es Rosa Luxemburg schon formuliert hatte, die wirkliche Katastrophe des Kapitalismus darin, die Menschheit in einen Niedergang, eine Agonie über lange Zeit zu führen, welche die Gesellschaft in einer zunehmenden Barbarei versinken lässt. Das „Ende“ des Kapitalismus ist nicht eine rein ökonomische Krise, es drückt sich vielmehr auf der Ebene des Militarismus und des Krieges aus, es sei denn, dieses Ende werde bewusst durch eine proletarische Revolution gesetzt (zusätzlich zu den Voraussagen von Rosa Luxemburg haben wir heute auch noch eine ökologische Zerstörung zu befürchten, welche selbst wieder die Tendenz hin zum Krieg beschleunigt). Die Idee eines plötzlichen und totalen Zusammenbruchs schlug auch unsere eigenen Analysen über die Fähigkeiten der herrschenden Klasse in den Wind, im Rahmen des Staatskapitalismus das System mit allen möglichen politischen und finanziellen Manipulationen hinauszuzögern.

– Das Bestreiten jeglicher Expansionsmöglichkeiten des Kapitalismus in der Phase der Dekadenz in einigen zentralen Texten der IKS hat es der Organisation sehr schwer gemacht, den Aufstieg Chinas oder anderer „neuer Ökonomien“ in der Zeit nach dem Zusammenbruch der alten Blockkonstellation zu erklären. Auch wenn diese Entwicklungen, wie viele behauptet haben, die Dekadenz des Kapitalismus nicht in Frage stellen, sondern selber ein Ausdruck davon sind, so stellen sie dennoch die Position in Frage, nach der es in der Periode der Dekadenz keine industrielle Entwicklung in Regionen der „Peripherie“ geben könne. Selbst wenn wir fähig waren, einige der simpelsten Mythen über die „Globalisierung“ in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Blöcke zu widerlegen (Mythen, die sowohl von der bürgerlichen Rechten gestreut wurden, welche ein neues glorreiches Kapitel im Aufstieg des Kapitalismus sah, als auch von der bürgerliche Linken, die sich ihrer zur Wiederbelebung ihrer alten nationalistischen und staatlichen Lösungen bediente), so waren wir dennoch nicht fähig, den Kern der Wahrheit in der Globalisierungs-Mythologie zu erkennen: die Tatsache, dass das Ende des alten autarken Modells neue kapitalistische Investitionssphären eröffnete, einschließlich die Ausbeutung einer neuen enormen Quelle von Arbeitskräften, die nicht in direkt kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen aufgezogen worden waren.

– Diese Fehler in der Analyse sind mit der Tatsache verbunden, dass die Organisation große Schwierigkeiten hatte, ihr Verständnis über die Frage der Ökonomie in einer assoziierten Weise zu entwickeln. Eine Tendenz, die Fragen der Ökonomie einer Sphäre von „Experten“ zuzuordnen, zeigte sich in der Debatte über die „30 Glorreichen Jahre“, welche wir im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts in der Organisation führten. Auch wenn die IKS ein Bedürfnis hatte zu verstehen und zu erklären, weshalb sie die Idee zurückwies, nach welcher der Wiederaufbau von durch den Krieg zerstörten Ökonomien alleine eine Erklärung für das Überleben des Systems in seiner Dekadenz ist, war diese Debatte in Wirklichkeit ein misslungener Versuch, das wirkliche Problem anzugehen. Diese Debatte ist innerhalb wie außerhalb der Organisation nicht wirklich verstanden worden und hat uns theoretisch orientierungslos zurück gelassen. Diese Frage muss wieder in den Rahmen der gesamten Epoche der Dekadenz gestellt werden und sollte die Frage der Kriegsökonomie und die Bedeutung der Irrationalität des Krieges in der Dekadenz klären.

Die imperialistischen Spannungen

11. Bei den imperialistischen Spannungen hat die IKS im Allgemeinen eine solide Analyse erstellt, welche die verschiedenen Phasen in der Konfrontation der Blöcke in den 1970er und 80er Jahren aufzeigte. Auch wenn wir etwas „überrascht“ waren vom plötzlichen Zusammenbruch des Ostblocks und der UdSSR nach 1989, so hatten wir bereits die theoretische Handhabe entwickelt, um die inneren Schwächen der stalinistischen Regime zu analysieren. Durch die Verknüpfung dieser Situation mit der Frage des Militarismus und mit dem Konzept des Zerfalls, das die IKS in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu entwickeln begonnen hatte, war die IKS die erste Organisation im proletarischen Milieu, die den Zusammenbruch des Blocksystems, den Niedergang der Hegemonie der USA und die schnelle Entwicklung des „Jeder gegen Jeden“ auf imperialistischer Ebene voraussehen konnte. Im Bewusstsein, dass die Tendenz hin zur Formierung von Blöcken nach 1989 nicht verschwunden war, zeigten wir die Schwierigkeiten auf, mit denen selbst der wahrscheinlichste Hauptkandidat, das wiedervereinigte Deutschland, für die Führungsrolle eines Blocks gegen die USA konfrontiert ist: die Schwierigkeit, je wieder seine imperialistischen Ambitionen voll ausleben zu können. Wir hatten aber größere Schwierigkeiten dabei, die Fähigkeit Russlands vorauszusehen, sich als Akteur auf der imperialistischen Bühne wieder aufzurichten. Auch den Aufstieg von China, als neuer bedeutender Akteur in den Rivalitäten der Großmächte, welche sich in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten abspielten, haben wir viel zu spät erkannt, eine Schwäche die direkt mit unserem Problem verbunden ist, den ökonomischen Aufstieg Chinas zu begreifen.

Ein besseres Verständnis der noch gültigen Perspektiven

12. Das Vorhandensein all der Schwächen soll keineswegs Anlass für eine Demoralisierung, sondern vielmehr Ansporn zur Entfaltung eines theoretischen Programms sein, welches die IKS befähigt, all die Aspekte der aktuellen Weltlage besser zu verstehen. Der Beginn einer kritischen Bilanz unserer letzten 40 Jahre, welche die Berichten für den Kongress unternommen haben, die Versuche, zu den Wurzeln unserer Methode bei der Analyse des Klassenkampfes und der ökonomischen Krise vorzudringen, die Neudefinierung unserer Rolle als Organisation in der Periode des Zerfalls des Kapitalismus – das sind Zeichen einer kulturellen Wiedergeburt in der IKS. In der kommenden Phase muss die IKS auch auf grundlegende theoretische Fragen über das Wesen des Imperialismus und über die Dekadenz zurückkommen, um einen solideren Rahmen für unsere Analysen über die internationale Lage zu schaffen.

13. Der erste Schritt in der kritischen Bilanz über unsere Analysen der internationalen Situation in den letzten 40 Jahren ist die Anerkennung unserer Fehler und der Beginn der vertieften Suche nach ihren Ursachen. Es wäre verfrüht zu versuchen, schon alle Konsequenzen für die Analyse der heutigen Weltlage und ihre Perspektive abzustecken. Dennoch können wir sagen, dass trotz unserer Schwächen das Fundament unserer Perspektiven gültig bleibt:

– Auf der Ebene der Wirtschaft gibt es genug Gründe zu erwarten, dass sich die Krise weiter vertieft, und auch wenn es keine finale Apokalypse gibt, so wird es Phasen geben, welche das System tief erschüttern, und ebenso ein Anhalten der Prekarisierung und epidemischen Arbeitslosigkeit, die schon heute schwer auf der Arbeiterklasse lasten.

– Wir dürfen auch die Elastizität dieses Systems und die Entschlossenheit der herrschenden Klasse, es trotz seiner historischen Überlebtheit auf den Beinen zu halten, nicht unterschätzen. Doch wie wir immer hervorgehoben haben, tragen die Mittel, welche das Kapital gegen seine letalen Krankheiten einsetzt und die kurzfristig eine Erholung bringen, auf lange Frist nur zur Verschärfung der Situation bei.

– Auf der Ebene der imperialistischen Spannungen kann man heute eine deutliche Verschärfung des militärischen Chaos feststellen, vor allem in der Ukraine, dem Nahen und Mittleren Osten, in Afrika und in der Region des Chinesischen Meers, was auch die erhöhte Gefahr von „Gegenschlägen“ in den zentralen Ländern beinhaltet (wie die Massaker in Paris und Kopenhagen vor kurzem). Die Bühne der imperialistischen Konflikte vergrößert sich und die Allianzen, die sich formieren, ebenfalls, wie wir es im Fall des Konfliktes zwischen Russland und dem „Westen“ bezüglich der Ukraine oder der verstärkten Kooperation zwischen Russland und China in den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten und anderswo sehen. Doch diese Allianzen bleiben sehr beschränkt und beinhalten nicht die Bedingungen für stabile Blöcke. Die Hauptgefahr, mit der die Menschheit heute konfrontiert ist, ist nicht mehr die eines großen klassischen Weltkriegs, sondern die einer Ausbreitung der regionalen Konflikte und einer unkontrollierbaren Spirale der Zerstörung.

Die Vorboten dieser Spirale sind schon spürbar, und sie haben sehr negative Auswirkungen auf die Arbeiterklasse. Wenn die Arbeiter in den „peripheren“ Ländern sich direkt in die aktuellen Konflikte mobilisieren lassen oder sich darin massakrieren und die Arbeiter in den zentralen Ländern unfähig sind, sich gegen die zunehmende Barbarei zu wehren, dann verstärkt dies lediglich die Tendenz hin zur Atomisierung und Hoffnungslosigkeit. Doch trotz der reellen Gefahren, welche die steigende Flut des Zerfalls in sich trägt, ist das Potential der Arbeiterklasse, auf diese in der Geschichte der Menschheit noch nie gesehene Krise zu antworten, nicht erschöpft, wie uns die Bewegung der Studenten 2006 in Frankreich oder die sozialen Revolten von 2011 zeigten, in denen die Arbeiterklasse, auch wenn sie sich nicht als Klasse erkannt hat, deutliche Zeichen ihrer Fähigkeit gezeigt hat, sich über alle Spaltungen hinweg in den Straßen und Vollversammlungen zu vereinigen. Vor allem die jungen Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in diesen Bewegungen engagiert haben, haben durch die Art und Weise, wie sie begonnen haben, der Brutalität der gesellschaftlichen Verhältnisse entgegenzutreten und die Frage einer neuen Gesellschaft zu stellen, erste scheue Schritte hin zur Bekräftigung der Tatsache gemacht, dass der Klassenkampf nicht nur ein ökonomischer Kampf ist, sondern ein politischer Kampf, dessen Ziel das bleibt, was schon das Kommunistische Manifest von 1848 so kühn hervorhob: die Errichtung der Diktatur des Proletariats und der Beginn einer neuen menschlichen Kultur.

Aktuelles und Laufendes: 

  • Internationale Situation [139]
  • 21. Kongress [140]
  • Resolution [141]

Rubric: 

21. Kongress der IKS: 40 Jahre nach der Gründung, Bilanzen und Perspektiven

Internationale Revue – 2017

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Internationale Revue 54

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Internationale Revue 54 - Editorial

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Nach mehr als einem Jahr ist es uns gelungen, eine weitere Internationale Revue in deutscher Sprache herauszugeben. Die meisten Artikel sind schon seit längerem auf dem Web veröffentlicht. Unter den heutigen historischen Bedingungen geben wir der Veröffentlichung der Texte auf dem Netz Vorrang. Trotzdem ist es wichtig, dass regelmäßig eine gedruckte Presse erscheint. Gerade auch um eine Kontinuität zu erhalten, die für die Presse der Arbeiterklasse immer wichtig war.

Der erste Artikel in dieser Internationalen Revue, Die Trump-Wahl und das Zerbröckeln der kapitalistischen Weltordnung, ist ein Artikel, der kurz nach der Wahl von Trump in den USA geschrieben wurde. Er ist eine Umsetzung auf die konkrete Wirklichkeit der USA, vom thesenartig längeren Artikel Über das Problem des Populismus abgeleitet, der auf mehrere Aspekte des aufkeimenden Populismus in verschiedenen Ländern eingeht. Wer diese Artikel aufmerksam liest, wird feststellen, dass viele der gemachten Einschätzungen sich schon bewahrheitet haben, andere mögen einer Bestätigung harren und zu Widerspruch anregen. Notwendig war es, das Phänomen des Populismus aufzuarbeiten und seine Ursachen zu analysieren. Infolge der linken Regierungen an der Macht in den 90-er-Jahren (13 von 15 Regierungen der damaligen EU waren linke Regierungen), danach durch die Teilnahme an den Koalitionsregierungen haben die klassischen linken Parteien ihre traditionelle Oppositionsrolle im bürgerlichen Parlament weitgehend aufgegeben und verloren. Dies und der Verschleiß der traditionellen Mitteparteien haben eine Erstarkung der populistischen Tendenzen mit sich gebracht, da alle Parteien die Angriffe auf die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum mit sog. neoliberalen Konzepten vorangetrieben haben. Quantitativ ins Gewicht fallende Teile von allen bedeutenden Gesellschaftsklassen - Bourgeoisie, Proletariat und Kleinbürgertum - suchen als Reaktion auf ihre verschlechterten Lebensbedingungen ihr Heil in den populistischen Strömungen. Es ist ein Problem für die „verantwortungsvolleren“ Teile der Bourgeoisie, sie ringt nach Strategien, um die Zerfallserscheinungen ihres Systems zu bekämpfen.

Aufgrund einer weiteren Schwächung der Arbeiterklasse müssen wir uns darauf besinnen, was beim jetzigen Kräfteverhältnis zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse fraktionsartige Arbeit einer revolutionären Organisation bedeutet. Um den fortschreitenden Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft zu bekämpfen, braucht es den Aufschwung des Klassenkampfes. Die revolutionäre Organisation hat zur Stunde die wichtige Aufgabe, die Prinzipien und Verhaltensweisen, die von den Vorgängerorganisationen erarbeitet wurden, für eine zukünftige Generation von Revolutionären aufrechtzuerhalten und weiterzugeben, die sog. Brückenfunktion. Dies ist auch ein Grund für den Schwerpunkt dieser Internationalen Revue, die eine vierteilige Serie einer Polemik von Internationalisme aus dem Jahre 1948 veröffentlicht (Kritik an Pannekoeks Buch Lenin als Philosoph).

Der andere Grund dieses Schwerpunktes ist, dass die bisher weitreichendste Erfahrung einer proletarischen Revolution ihren 100-sten Geburtstag hat – die Russische Revolution.

Der Artikel Russland 1917 und das revolutionäre Gedächtnis ist eine Übersicht über die Artikel, die wir noch über die Russische Revolution veröffentlichen, da es das wichtigste Ereignis für die Arbeiterklasse und die Perspektive der Menschheit darstellt. Das erste Mal in der Menschheitsgeschichte ist es einer unterdrückten Klasse gelungen, mit einem kommunistischen Programm als Leitlinie, die Macht zu erobern. Dieses fast unglaubliche Ereignis, veranlasst die herrschenden Klassen einen Wust an deformierten Darstellungen auf den verschiedenen Medienkanälen zu veröffentlichen, denen wir mit unseren geringen Kräften versuchen entgegenzusteuern, damit das revolutionäre Gedächtnis nicht vollends verloren geht. Ein Hauptangriffspunkt der Bourgeoisie sind die Bolschewiki und vor allem Lenin, der eine Fülle von politischen Orientierungen für die Weltarbeiterklasse auf den Punkt bringen konnte.

Aus diesem Grunde haben wir die Serie Pannekoeks „Lenin als Philosoph“ – eine Kritik von Internationalisme (1948) – ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Die Reduzierung Lenins auf seine angeblich rückständige Philosophie seitens eines Anton Pannekoek wird in diesen Artikeln ins richtige Licht gerückt. In dieser Serie wird an verschiedenen Orten darauf hingewiesen, dass die revolutionäre Organisation zum Hauptberuf die politische Arbeit hat. Das Scheitern der Russischen Revolution auf die philosophische Rückständigkeit der Bolschewiki und insbesondere Lenins zurückzuführen, ist eine völlige Missachtung der bahnbrechenden politischen Errungenschaften der Bolschewiki und Lenins, die im Feuer der Revolution politische Orientierungen entwickeln mussten, die nicht immer richtig waren, aber insgesamt die erste revolutionäre Machtergreifung des Proletariats ermöglichten. Die vier Artikel und das Vorwort vermitteln uns, was die Prioritäten einer revolutionären Organisation sind, sowohl in politischer Hinsicht wie für ihre philosophische Arbeit, die Erarbeitung einer revolutionären Theorie. Die Artikel der Serie sind ein Zeugnis der Zusammenführung von Politik und Theorie, die Pannekoek nicht gelungen war, der vielmehr selber in einen mechanistischen, bürgerlichen Materialismus verfiel, den er Lenin vorwarf. Die Gleichung rückständiger Kapitalismus = rückständige Philosophie war ein Rückfall in Kautskys Kritik an der Russischen Revolution, der behauptete dass die Russische Revolution keine Orientierung sein kann für die westliche Arbeiterklasse, da Russland ökonomisch zu rückständig sei. Somit vergisst er, dass die Bolschewiki am linken Flügel der internationalen, insbesondere dem linken Flügel der dazumal noch halbwegs marxistischen Sozialdemokratie mitkämpften. Wie Engels schon festgehalten hatte, gibt es nicht nur eine dialektische Entwicklung der materiellen Basis sondern auch des Überbaus. Die Serie ist selber eine hervorragende Synthetisierung der besten Beiträge der Arbeiterklasse und ihrer Theoretiker, wie Anton Pannekoek und Lenin. In dem unten zitierten Abschnitt wird die Hauptaufgabe des Proletariat hervorgehoben und die Wechselwirkung zwischen den theoretischen Erarbeitungen und der politischen Intervention:

„Die Arbeiterbewegung ist also durch ihre eigene revolutionäre gesellschaftliche Existenz spezialisiert, durch die Tatsache, dass sie innerhalb des Kapitalismus, gegen die Bourgeoisie und in der rein politischen Sphäre kämpft, die – bis zum Aufstand – den Schwerpunkt im Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat bildet.

Dies gewährleistet, dass – abhängig von dem Fortschritt, den die wirkliche Befreiung des Proletariats macht – die Entwicklung des Wissens innerhalb der Arbeiterbewegung einen dualistischen Aspekt beinhaltet. Auf der einen Seite ist sie politisch, beeinflusst von unmittelbaren und dringenden Fragen. Auf der anderen Seite ist sie theoretisch und wissenschaftlich, entwickelt sich langsamer und (bis jetzt) meist in den Perioden des Rückflusses der Arbeiterbewegung. Dieser Aspekt behandelt Fragen, die gleichermaßen wichtig wie die politischen Probleme sind und sicherlich in einer Wechselbeziehung zu ihnen stehen, aber weniger direkt und drängend sind.“ (siehe diese Internationale Revue: Politik und Philosophie von Lenin bis Harper [Pannekoek] 2. Teil, S. 23)

Wie das obige Zitat vermittelt, ist in Phasen des Rückflusses des Klassenkampfs – und in einer solchen Phase befinden wir uns unbestreitbar – die theoretische und wissenschaftliche Seite der politischen Arbeit im Zentrum. Dass dies im Moment nicht von vielen politisierten Menschen und Proletariern verstanden wird, können wir unmittelbar nicht ändern. Die fraktionsähnliche Arbeit verpflichtet uns aber, genau diese Lehren wachzuhalten und weiterzugeben, auch wenn es im Moment nur wenige politisierte Menschen erreicht. Es wird die Aufgabe der Genossen der zukünftigen revolutionären Organisation sein, dieses Erbe weiterzutragen und mit neuen Erkenntnissen zu bereichern. Wenn eine Phase kommt, in welcher der Klassenkampf ansteigt, sind diese Erkenntnisse unabdingbar, um den Klassenkampf voranzubringen und letzlich den Kapitalismus revolutionär zu überwinden.

Juni 2017, IKS

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  • Internationale Revue Nr. 54 [143]

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Internationale Revue 54

Die Trump-Wahl und das Zerbröckeln der kapitalistischen Weltordnung

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Was kann die Welt von der neuen Trump-Administration in den USA erwarten? Während die traditionellen politischen Eliten auf dem ganzen Globus konsterniert und voller Sorge sind, sehen die russische Regierung sowie die rechten Populisten in Amerika und in ganz Europa die Geschichte auf ihrer Seite. Und während die großen, weltweit operierenden Konzerne (wie die Autoindustrie) Vergeltungsmaßnahmen fürchten, wenn sie nicht in den Vereinigten Staaten produzieren, waren die Börse und die Wirtschaftsinstitute anfangs zuversichtlich und erwarteten steigendes Wachstum in den USA und selbst der Weltwirtschaft unter Trump. Was den Herrn Präsidenten selbst angeht, widerspricht er nicht nur regelmäßig seiner eigenen, neuen Administration, sondern auch sich selbst. Die NATO, der Freihandel oder die Europäische Union können in einem Satz „unerlässlich“ und im nächsten „obsolet“ sein.

Statt dabei mitzumachen, bezüglich der nahen Zukunft der US-Politik in die Glaskugel zu starren, wollen wir hier zuallererst versuchen zu analysieren, warum Trump zum Präsidenten gewählt wurde, obwohl die traditionellen politischen Eliten ihn nicht wollten. Aus diesem Gegensatz zwischen dem, was Trump repräsentiert, und den Interessen der herrschenden Klasse insgesamt in den USA hoffen wir einen festeren Boden zu erreichen, um erste Hinweise darauf zu geben, was man von seiner Präsidentschaft erwarten kann, ohne zu sehr der Spekulation anheimzufallen.

Das Dilemma der Republikanischen Partei

Es ist kein Geheimnis, dass Donald Trump wie ein Fremdkörper in der Republikanischen Partei aussieht, die ihn für die Wahlen zum Weißen Haus nominiert hatte. Er ist weder religiös noch konservativ genug für die christlichen Fundamentalisten, die eine wichtige Rolle in dieser Partei spielen. Seine wirtschaftspolitischen Vorschläge, wie staatlich organisierte Infrastruktur-Programme, Protektionismus oder die Ersetzung von „Obamacare“ durch eine staatlich gestützte Sozialversicherung für jedermann – ein Gräuel für die Neoliberalen, die noch immer in den republikanischen Zirkeln eine wichtige Rolle spielen, wie auch in der Demokratischen Partei. Seine Pläne für eine Annäherung an Putins Russland stehen im Gegensatz zur Doktrin der Militär- und Geheimdienstlobby, die sowohl in der Republikanischen als auch in der Demokratischen Partei sehr stark ist.

Die Präsidentschaftskandidatur Trumps wurde durch eine beispiellose Revolte der republikanischen Mitgiederschaft und Anhänger gegen ihre Führer ermöglicht. Die anderen Kandidaten, ob sie vom Bush-Clan, von den christlichen Evangelisten, den Neoliberalen oder von der Tea Party kamen, waren alle durch ihre Beteiligung in der Bush-Administration, die der Obamas vorausging, oder durch ihre Unterstützung für Letztere diskreditiert. Die Tatsache, dass angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 ein republikanischer Präsident nichts getan hatte, um Millionen von kleinen Hauseigentümern und angehenden kleinen Hausbesitzern – die in vielen Fällen Job, Haus und Ersparnisse auf einen Schlag verloren hatten – zu helfen, während den Banken mit Regierungsgeldern aus der Patsche geholfen wurde, war für traditionelle republikanische Wähler unverzeihlich. Darüber hinaus hatte keiner der anderen Parteikandidaten in wirtschaftlichen Belangen anderes anzubieten als noch mehr von dem, was schon das Desaster von 2008 nicht verhindert konnte.

In der Tat richtete sich die Revolte der traditionellen republikanischen Wähler nicht nur gegen ihre Führung, sondern auch gegen einige der traditionellen „Werte“ der Partei. Somit war die Kandidatur von Trump nicht nur möglich gemacht worden, sie wurde im Grunde der Parteiführung aufgezwungen. Natürlich hätte Letztere dies verhindern können – aber nur mit dem Risiko, sich weiter von ihrer Massenbasis zu entfremden oder gar die Partei zu spalten. Dies erklärt, warum die Versuche, Trumps Kandidatur zu durchkreuzen, nur halbherzig waren und unwirksam blieben. Am Ende war die „Grand Old Party“ gezwungen, einen „Deal“ mit dem Eindringling von der Ostküste abzuschließen.

Das Dilemma der Demokratischen Partei

Eine ähnliche Revolte fand innerhalb der Demokratischen Partei statt. Nach acht Jahren Obama hat der Glaube an das berühmte „Yes we can“ („ja, wir können“ das Leben der Bevölkerung im Allgemeinen verbessern) erheblich nachgelassen. Der Führer dieser Rebellion war Bernie Sanders, der selbsternannte „Sozialist“. Wie Trump auf republikanischer Seite war Sanders ein neues Phänomen in der modernen Geschichte der Demokraten. Nicht dass „Sozialisten“ als solche ein Fremdkörper innerhalb der Partei sind. Doch sie gehören ihr als eine Minderheit unter vielen anderen an, die den Anspruch der Multi-Kulti-Pluralität in der Partei untermauern. Sie werden jedoch als ein fremdes Element betrachtet, wenn sie Ansprüche auf eine Kandidatur für das Oval Office anmelden.  Ob unter Bill Clinton oder Barak Obama, zeitgenössische demokratische Präsidenten kombinieren den sozialen Wohlfahrtstouch mit fundamental „neoliberaler“ Wirtschaftspolitik. Eine direkte, interventionistische, staatliche Wirtschaftspolitik mit einem ausgeprägten „keynesianischen“ Charakter (wie die von F.D. Roosevelt vor und während des II. Weltkrieges) ist für die Demokraten genauso ein Gräuel wie für die Republikaner heute. Dies erklärt, warum Sanders nie ein Geheimnis aus der Tatsache machte, dass seine Politik in einigen Fragen der Politik Trumps näher steht als der Hillary Clintons. Nach der Trump-Wahl bot Sanders ihm sofort seine Unterstützung bei der Umsetzung seiner „Versicherung für alle“ an.

Jedoch wurde im Gegensatz zu den Republikanern die Revolte in der Demokratischen Partei erfolgreich niedergeschlagen und Clinton statt Sanders sicher nominiert. Dies hatte Erfolg, nicht nur weil die Demokratische Partei die besser organisierte und kontrollierte von beiden Parteien ist. Sondern auch weil die Elite dieser Partei weniger diskreditiert worden war als ihr republikanischer Gegenpart.

Doch paradoxerweise ebnete dieser Erfolg der Parteiführung nur den Weg in ihre Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen. Indem Sanders ausgeschaltet wurde, ließen die Demokraten den einzigen Kandidaten links liegen, der gute Aussichten hatte, Trump zu besiegen. Die Demokratische Partei realisierte zu spät, dass Trump der Gegner sein würde, und dann unterschätzten sie sein Wählerpotenzial. Sie unterschätzten auch das Ausmaß, in dem Hillary Clinton diskreditiert war. Dies vor allem wegen ihres Images als Repräsentantin von „Wall Street“, der „Ostküsten-Finanzoligarchie“ – gemeinhin als „Hauptschuldige“ und gleichzeitig als Hauptprofiteure der Finanzkrise betrachtet. Im Grunde wurde sie genauso mit der Katastrophe von 2008 identifiziert wie die republikanische Führung. Die arrogante Selbstgefälligkeit der demokratischen Elite und ihre Blindheit gegenüber dem Ausmaß der Wut und der Ressentiments in der Bevölkerung sollte die ganze Wahlkampagne Clintons kennzeichnen. Ein Beispiel hierfür war das einseitige Vertrauen in die eher traditionellen Massenmedien, während Trumps Wahlkampfteam die Möglichkeiten der neuen Medien bis an die Grenzen des Möglichen ausschöpfte. Weil sie nicht Sanders wollten, bekamen sie Trump. Selbst für jene innerhalb der US-Bourgeoisie, die einen starken Widerwillen gegen neo-keynesianische Wirtschaftsexperimente haben, wäre Sanders zweifellos das geringere Übel gewesen. Sanders wollte – nicht anders als Trump – den Prozess der – wie sie so schön heißt – „Globalisierung“ verlangsamen. Doch er hätte dies weitaus moderater und mit einem größeren Verantwortungssinn gemacht. Mit Trump kann sich die herrschende Klasse der führenden Weltmacht nicht einmal sicher sein, was sie erwartet.

Das Dilemma der etablierten politischen Parteien

Die Vereinigten Staaten sind ein Land, das von Siedlern gegründet und von Einwandererwellen bevölkert worden war. Die Integration der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen und Interessen in eine Nation ist eine historisch gewachsene Aufgabe des herrschenden konstitutionellen und politischen Systems. Eine besondere Herausforderung für dieses System ist der Einbindungsprozess der Führer der verschiedenen Einwanderer-Gemeinschaften in die Regierung, da jede neue Immigranten-Welle zuunterst der gesellschaftlichen Stufenleiter beginnt und „sich nach oben arbeiten“ muss. Der angebliche amerikanische Schmelztiegel ist in Wahrheit ein höchst kompliziertes System (nicht immer) friedlicher Koexistenz zwischen unterschiedlichen Gruppierungen.

Historisch war zusammen mit Institutionen wie den religiösen Organisationen die Bildung krimineller Organisationen für ausgeschlossene Gruppen ein probates Mittel gewesen, um Zugang zur Macht zu erlangen. Die amerikanische Bourgeoisie hat eine lange Erfahrung mit der Integration der besten Schläger aus der Unterwelt in die höheren Ränge. Eine oft wiederholte Familiesaga: der Vater ein Gangster, der Sohn ein Rechtsanwalt oder Politiker (der Enkel ein Philanthrop und Förderer der Künste). Der Vorteil dieses Systems war, dass die Gewalt, auf die es sich stützte, nicht offen politisch war. Dies machte sie kompatibel mit dem herrschenden Zwei-Parteien-Staatssystems. Zu welcher Seite die italienischen, irischen oder jüdischen Stimmen gingen, hing von der entsprechenden Konstellation ab und davon, was Trump „Deals“ nennen würde, die Republikaner und Demokraten den verschiedenen Communities und deren eigennützigen Interessen angeboten haben. In den USA müssen diese Konstellationen zwischen den Communities ständig im Auge behalten werden, nicht nur jene zwischen den verschiedenen Industrien oder Wirtschaftsbranchen beispielsweise.

Doch dieser im Kern nicht-parteipolitische Integrationsprozess, der mit der Stabilität des Parteiapparates vereinbar ist, beginnt angesichts der Forderungen der schwarzen Amerikaner_innen zum ersten Mal zu misslingen. Letztere waren ursprünglich nicht als Siedler, sondern als Sklaven nach Amerika gekommen. Von Anfang an hatten sie die volle Wucht des modernen, kapitalistischen Rassismus zu ertragen. Um Zugang zur bürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetz und zu Macht und Privilegien für eine schwarze Elite zu erlangen, mussten offen politische Bewegungen geschaffen werden. Ohne Martin Luther King, die Bürgerrechtsbewegung, aber auch eine Gewalt ganz neuer Art – die Unruhen in den schwarzen Ghettos in den 1960er Jahren und die Black Panthers -  hätte es keinen Präsidenten Obama gegeben. Der etablierten herrschenden Elite gelang es, diese Herausforderung zu bewältigen, indem die Bürgerrechtsbewegung der Demokratischen Partei angegliedert wurde. Doch auf diese Weise wurde die existierende Unterscheidung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen und den politischen Parteien in Frage gestellt. Die schwarzen Stimmen gehen in der Regel an die Demokratische Partei. Zunächst waren die Republikaner in der Lage, dies zu kompensieren, indem sie einen mehr oder weniger stabilen Anteil an den Stimmen der Latinos erhielt (in erster Linie die kubanische Exil-Community). Was die „weißen“ Stimmen anging, gingen sie nach wie vor an die eine oder andere Seite, abhängig davon, was im Angebot war.

Bis zu den Wahlen 2016. Einer der Faktoren, die Trump ins Weiße Haus brachten, war das Wahlbündnis, das er mit unterschiedlichen Gruppen der „weißen Rechtsextremisten“ einging. Anders als der altbackene Rassismus des KuKluxKlan mit seiner Nostalgie für das Sklavensystem, das in den Südstaaten bis zum amerikanischen Bürgerkrieg regiert hatte, richtet sich der Hass dieser neuen Strömungen gegen die städtischen und ländlichen Schwarzen, aber auch gegen arme Latinos, die zum Dasein von Kriminellen und gesellschaftlichen Parasiten verdammt sind. Obwohl Trump selbst kein Rassist dieser Art sein mag, schufen diese modernen weißen Rechtsextremisten eine Art Wählerblock zu seinem Gunsten. Zum ersten Mal gaben Millionen von weißen Wählern ihre Stimme nicht entsprechend der Empfehlung „ihrer“ unterschiedlichen Communities und nicht für die eine oder andere Partei ab, sondern für jemanden, den sie als den Repräsentanten einer größeren „weißen“ Community betrachteten. Der zugrundeliegende Prozess ist eine wachsende „Kommunitarisierung“ der bürgerlichen Politik in den USA. Ein weiterer Schritt in die Segregration des so genannten Schmelztiegels.

Das Dilemma der amerikanischen herrschenden Klasse und Trumps „Make America great again“

Das Problem aller republikanischen Kandidaten, die versuchten, Trump entgegenzutreten, und schließlich auch Hillary Clintons war nicht nur, dass sie nicht überzeugend waren, sondern auch dass sie selbst davon nicht überzeugt zu sein schienen. Alles, was sie vorschlagen konnten, waren die unterschiedlichen Variationen des „business as usual“. Vor allem hatten sie keine Alternativen zu Trumps „Amerika wieder groß machen“. Hinter diesem Slogan verbirgt sich nicht einfach eine neue Version des alten Nationalismus. Trumps Amerikanismus ist von einer neuen Art. Er enthält das eindeutige Eingeständnis, dass die USA nicht mehr so „groß“ sind wie einst. Wirtschaftlich sind sie unfähig gewesen, den Aufstieg Chinas zu verhindern. Militärisch erlebten sie eine Reihe von mehr oder weniger demütigenden Rückzügen: Afghanistan, Irak, Syrien. Die USA sind eine Macht im Niedergang, selbst wenn sie ökonomisch und vor allem militärisch sowie technologisch das mit Abstand führende Land sind. Aber nicht nur das. Die USA sind keine Ausnahme in einer ansonsten blühenden Welt. Ihr Niedergang ist zum Symbol für den Niedergang des Kapitalismus in seiner Gesamtheit geworden. Das Vakuum, das durch den Mangel an jeglichen Alternativen seitens der etablierten Eliten geschaffen wurde, hat Trump zu seiner Chance verholfen. Nicht dass die USA nicht bereits versucht haben, angesichts ihres historischen Niedergangs zu reagieren. Einige der Änderungen, die von Trump angekündigt wurden, begannen bereits zuvor, namentlich unter Obama. Sie schlossen eine größere Priorität für die Pazifikregion in wirtschaftlicher und vor allem militärischer Hinsicht mit ein, so dass die europäischen NATO-“Partner“ aufgefordert waren, eine größere Last als zuvor zu tragen; oder auf wirtschaftlicher Ebene, wo mit der Krise von 2008 und ihren Nachwirkungen eine dirigistischere Politik Einkehr gehalten hat. Doch dies kann den gegenwärtigen Niedergang nur verlangsamen, wohingegen Trump behauptet, in der Lage zu sein, ihm umzukehren.

Angesichts dieses Niedergangs, angesichts auch wachsender Klassen-, religiöser und ethnischer Spaltungen möchte Trump die kapitalistische Nation hinter ihrer herrschenden Klasse im Namen eines neue Amerikanismus vereinen. Die Vereinigten Staaten waren laut Trump zum Hauptopfer des Restes der Welt geworden. Er behauptet, während die USA sich und ihre Ressourcen für die Aufrechterhaltung der alten Welt ausgezehrt habe, habe der Rest der Welt auf Kosten von „God’s own country“, von dieser Ordnung profitiert. Die Trumpisten denken hier nicht nur an die europäischen und ostasiatischen Staaten, die den US-amerikanischen Markt mit ihre Waren überfluteten. Einer der „Hauptausbeuter“ der Vereinigten Staaten ist, laut Trump, Mexiko, das er beschuldigte, seine Überbevölkerung in das US-amerikanische Wohlfahrtssystem zu exportieren, während es gleichzeitig seine eigene Industrie in einem solchen Umfang ausgebaut hat, dass seine Automobilindustrie die seines nördlichen Nachbarn überholt hat.

Dies bedeutet eine neue und aggressive Form des Nationalismus, der an dem deutschen „Underdog“-Nationalismus nach dem I. Weltkrieg und dem Versailler Vertrag erinnert. Die Ausrichtung dieser Form des Nationalismus ist nicht mehr die Rechtfertigung dafür, eine amerikanische Weltordnung durchzusetzen. Seine Orientierung besteht darin, die herrschende Weltordnung in Frage zu stellen.

Trumps russisches Roulett

Doch die Frage, die sich die Welt stellt, ist, ob Trump ein  wirkliches politisches Angebot in Antwort auf den Niedergang der USA hat. Wenn nicht, wenn seine Alternative rein ideologisch ist, dann wird er sich wahrscheinlich nicht lange halten. Sicherlich hat Trump kein kohärentes Programm für sein nationales Kapital. Niemand ist sich darüber klarer als Trump selbst. Seine Politik, erklärt er wiederholt, ist es, „große Deals“ für die USA (und für ihn selbst) zu machen, wann immer sich eine Gelegenheit ergibt. Das neue Programm für das US-amerikanische Kapital ist, so scheint es, Trump selbst: ein Risiko liebender, einige Male bankrott gegangener Geschäftsmann als Staatsoberhaupt.

Doch dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass Trump keine Chance hat, den Niedergang der USA zumindest zu verlangsamen. Er könnte zumindest teilweise Erfolg haben – aber nur wenn er Glück hat. Hier kommen wir zum Kernpunkt des Trumpismus. Der neue Präsident, der den führenden Staat der Welt betreiben will, als wäre dieser ein kapitalistisches Unternehmen, ist bereit, bei der Verfolgung seiner Ziele unkalkulierbare Risiken in Kauf zu nehmen – Risiken, die kein „konventioneller“, bürgerlicher Politiker eingehen möchte. Wenn sie funktionieren, dann können sie sich als nützlich für den US-Kapitalismus auf Kosten seiner Rivalen erweisen, ohne das System in seiner Gesamtheit allzu stark zu  beschädigen. Doch wenn sie fehlschlagen, dann können die Konsequenzen für die USA und für den Weltkapitalismus katastrophal sein.

Wir können bereits drei Beispiele für die Art von Vanbanque-Spiel geben, das Trump aus der Taufe heben möchte. Eines von ihnen ist seine protektionistische Erpressungspolitik. Sein Ziel ist es nicht, der gegenwärtigen ökonomischen Weltordnung („Globalisierung“) ein Ende zu bereiten, sondern einen besseren Deal innerhalb dieser Ordnung zu erhalten. Die USA sind das einzige Land, dessen innerer Markt so groß ist, dass sie ihre Rivalen mit protektionistischen Maßnahmen solchen Ausmaßes drohen können. Der Gipfel der Rationalität von Trumps Politik ist das Kalkül, dass seine Hauptrivalen weniger verrückt sind als er, d.h. dass sie keinen protektionistischen Handelskrieg riskieren wollen. Doch sollten seine Maßnahmen eine Kettenreaktion auslösen, die aus der Kontrolle gerät, dann könnte das Resultat eine Fragmentierung des Weltmarktes sein, wie es zuletzt während der Großen Depression geschehen war.

Das zweite Beispiel ist die NATO. Schon die Obama-Administration hatte begonnen, die europäischen „Partner“ unter Druck zu setzen, damit sie eine größere Last für die Allianz in Europa und darüber hinaus tragen. Der Unterschied ist nun, dass Trump bereit ist, damit zu drohen, die NATO auszurangieren oder ins Abseits zu stellen, falls Washingtons Wille nicht entsprochen wird. Auch hier spielt Trump mit dem Feuer, ist die NATO doch in erster Linie ein Instrument zum Schutz der Präsenz des US-Imperialismus in Europa.

Unser letztes Beispiel hier ist Trumps Projekt eines „big deals“ mit Putins Russland. Eines der Hauptprobleme der russischen Wirtschaft heute besteht darin, dass sie den Übergang von der stalinistischen Kommandowirtschaft zu einer gut funktionierenden kapitalistischen Ordnung nicht wirklich vollendet hat. Diese Transformation war in einer ersten Phase von der strategischen Priorität des Putin-Regimes blockiert, die da lautete, zu verhindern, dass strategisch wichtige Rohstoffe oder die Rüstungsindustrie von ausländischem Kapital aufgekauft werden. Die notwendige Privatisierung war nur halbherzig, sodass ein großer Teil der russischen Industrie immer noch auf der Grundlage einer administrativen Vergabe von Ressourcen funktioniert. In einer zweiten Phase war es der Plan Putins, die Privatisierung und Modernisierung der Wirtschaft in Zusammenarbeit mit der europäischen Bourgeoisie, in erster Linie mit Deutschland anzugehen. Doch dieser Plan wurde von Washington im Wesentlichen durch seine Politik der Wirtschaftssanktionen gegen Russland erfolgreich vereitelt. Obwohl der Anlass dieser Sanktionen Moskaus Annexionspolitik gegenüber der Ukraine war, zielten sie zusätzlich darauf ab, eine Stärkung der Ökonomien sowohl Russland als auch Deutschlands zu verhindern.

Doch dieser Erfolg – möglicherweise die Haupterrungenschaft der Obama-Präsidentschaft gegenüber Europa – hat negative Konsequenzen für die Weltwirtschaft insgesamt. Die Etablierung von eher klassischem Privateigentum in Russland würde ein Cluster von neuen kreditwürdigen Wirtschaftsakteuren schaffen, die mit Land und Bodenschätzen für ihre Finanzanleihen bürgen könnten. Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Weltwirtschaft heute, wo selbst in China das Wachstum sich verlangsamt – kann der Kapitalismus es sich da leisten, auf solche „Deals“ zu verzichten?

Nein, sagt Trump. Seine Idee ist, dass nicht Deutschland und Europa, sondern die USA selbst zu Putins „Partner in Transformation“ werden. Laut Trump (der natürlich auch auf lukrative Deals für sich selbst hofft) kann die russische Bourgeoisie, die offensichtlich nicht in der Lage ist, ihre Modernisierung selbst in Angriff zu nehmen, zwischen drei möglichen Partnern wählen, von denen der dritte China ist. Da Letzterer die größte Bedrohung für die USA darstellt, ist es lebensnotwendig, dass Washington und nicht China diese Rolle annimmt.

Jedoch hatte keines von Trumps Projekten solch einen erbitterten Widerstand innerhalb der herrschenden Klasse der USA provoziert wie dieses. Die ganze Phase zwischen der Wahl Trumps und seinem Amtsantritt war von den gemeinsamen Versuchen der „Geheimdienst-Community“, der Mainstream-Medien und der Obama-Administration dominiert, die ins Auge gefasste Annäherung an Moskau zu sabotieren. Hier denken sie alle, dass die Risiken, die Trump eingehen möchte, zu hoch sind. Auch wenn es zutrifft, dass der Hauptherausforderer heute China ist, würde ein modernisiertes Russland eine beträchtliche, zusätzliche Gefahr für die USA bilden. Immerhin ist Russland (auch) eine europäische Macht und Europa immer noch das Zentrum der Weltwirtschaft. Und Russland besitzt noch immer das zweitgrößte Nukleararsenal nach den USA. Ein anderes mögliches Problem ist, dass wenn die Sanktionen gegen Russland aufgehoben wären, der Sphinx im Kreml, Wladimir Putin, es durchaus zugetraut wird, Trump auszutricksen, indem die Europäer wieder in seine Pläne einbezogen werden würden (um seine Abhängigkeit von den USA zu begrenzen). Die französische Bourgeoisie zum Beispiel ist bereits in den Startlöchern für diesen Fall: Zwei der Hauptkandidaten für die kommenden Präsidentschaftswahlen dort – Fillon und Le Pen – machen kein Hehl aus ihren Sympathien für Russland. Im Augenblick bleibt der Ausgang dieses Konfliktes innerhalb der US-Bourgeoisie offen. Unterdessen bleibt die Argumentation Trumps einseitig ökonomisch (obgleich es überhaupt nicht ausgeschlossen ist, dass er sein Abenteurertum  auf eine Politik der militärischen Provokation gegen Peking ausweitet). Doch was zutrifft, ist die Tatsache, dass eine wirksame, langfristige Anntwort auf die chinesische Herausforderung eine starke wirtschaftliche Komponente haben muss und nicht allein auf militärischer Ebene stattfinden kann. Es gibt insbesondere zwei Gebiete, auf denen die US-Ökonomie eine weitaus schwerere Last  schultern muss als China und die Trump zu „rationalisieren“ versuchen muss. Eines ist der enorme Militäretat. Was diesen Aspekt angeht, hat die Politik gegenüber Russland auch eine ideologische Dimension, da in den letzten Jahren die Idee, dass Putin die Sowjetunion re-etablieren will, eine der Hauptrechtfertigungen für die fortgesetzten astronomischen „Verteidigungs-“Ausgaben in den USA gewesen war.

Den anderen Etat, den Trump bedeutend reduzieren möchte, ist der Wohlfahrtsetat. Hier, beim Angriff gegen die Arbeiterklasse, kann er jedoch auf die Unterstützung der gesamten herrschenden Klasse zählen.

Trumps Gewaltversprechen

Neben dem Verhalten eines unverantwortlichen Abenteurers ist das andere Hauptmerkmal des Trumpismus die Gewaltandrohung. Eine seiner Spezialitäten ist es, international operierenden Konzernen mit Zwangsmaßnahmen zu drohen, sollten sie nicht tun, was er will. Was er will, sagt er, sind „Jobs für amerikanische Arbeiter“. Seine Art der Schikanierung des Big Business per Tweet ist auch darauf aus, all jene zu beeindrucken, die in ständiger Furcht  leben, weil ihre Existenzen von den Launen solcher gigantischer Konzerne abhängen. Diese Arbeiter_innen sind aufgefordert, sich mit seiner Stärke zu identifizieren, die angeblich nur zu ihren Diensten ist, weil sie gute, gehorsame, ehrliche Amerikaner seien, die hart für ihr Land schuften.

Während seines Wahlkampfes sagte Trump seiner Widersacherin Hillary Clinton, er werde „sie einsperren“. Später erklärte er, dass man Nachsicht mit ihr üben müsse – als ob es von seinen persönlichen Launen abhängt, ob andere Politiker im Gefängnis landen oder nicht. Für illegale Immigranten ist eine solche Nachsicht nicht vorgesehen. Schon Obama deportierte mehr von ihnen als jeder US-amerikanische Präsident zuvor. Trump möchte sie für zwei Jahre ins Gefängnis stecken, ehe sie zwangsweise vertrieben werden. Das Versprechen des Blutvergießens ist die Aura, durch die er eine wachsende Masse von jenen in dieser Gesellschaft anzieht, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen, aber nach Rache dürsten. Leute, die zu seinen Meetings kommen, um zu protestieren, ließ er vor den Augen der Fernsehnation zusammenschlagen. Frauen, Außenseiter, so genannte Untüchtige – ihnen allen wird zu verstehen gegeben, dass sie sich glücklich schätzen können, wenn sie „nur“ seiner verbalen Gewalt ausgesetzt sind. Nicht nur möchte er eine Mauer bauen, um die Mexikaner draußen zu halten – er verspricht darüber hinaus, sie dafür selbst bezahlen zu lassen. Zum Ausschluss kommt noch die Demütigung hinzu.

Diese Drohungen waren ein wohl kalkulierter Teil der Wahlkampagne Trumps, aber nach seiner Amtsübernahme verlor er keine Zeit, um einige „vollendete Tatsachen“ zu schaffen, die beweisen sollten, dass er im Gegensatz zu früheren Politikern, das macht, was er sagt. Die spektakulärste dieser Maßnahmen ist wohl das Dekret – welches große Konflikte sowohl in der herrschenden Klasse wie auch bei der Bevölkerung insgesamt -hervorgerufen hat – über die „Einreisesperre gegen Muslime“, welches besagt, dass Menschen aus bestimmten Ländern mit muslimischer Mehrheit die Einreise oder Wiedereinreise in die USA verwehrt sei. Dies ist vor allem eine Absichtserklärung, Minderheiten aufs Korn zu nehmen und allgemein den Islam dem Terrorismus gleichzusetzen, obwohl Trump behauptet, dass diese Maßnahme nicht spezifisch auf Muslime abziele.

Was Amerika benötige, erzählt er der Welt, seien mehr Waffen und mehr Folter. Unsere moderne bürgerliche Zivilisation lässt es nicht an solchen prahlerischen Schlägertypen und Händelsuchern mangeln, wie sie auch jene bewundert und ihnen applaudiert, die sich nehmen, was immer sie auf Kosten anderer ergattern können. Neu ist, dass Millionen von Menschen in einem der modernsten Länder der Welt solch einen Schlägertypen zum Staatsoberhaupt haben wollen. Trump ist wie sein Vorbild und Möchtegern-Freund Putin nicht trotz, sondern wegen seines rücksichtlosen Benehmens populär.

Im Kapitalismus gibt es stets zwei mögliche Alternativen: entweder Äquivalententausch oder Nicht-Äquivalententausch (Raub). Man kann entweder jemand anders das Äquivalent dafür geben, was man von ihm erhält, oder man kann es lassen. Damit der Markt funktioniert, müssen seine Subjekte auf die Gewalt im Wirtschaftsleben verzichten. Sie tun dies unter der Androhung von Zwangsmaßnahmen, wie das Gefängnis, aber auch auf der Grundlage des Versprechens, dass sich ihr Verzicht langfristig in Bezug auf die Sicherheit ihrer Existenz auszahlt. Jedoch ist die Basis des Wirtschaftslebens im Kapitalismus in der Tat der Raub: der Mehrwert, den der Kapitalist durch die unbezahlte Mehrarbeit der Lohnarbeiter_innen erlangt. Dieser Raub ist in Gestalt des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln legalisiert worden; er wird täglich vom Staat, der der Staatsapparat der herrschenden Klasse ist, erzwungen. Die kapitalistische Ökonomie erfordert ein Gewalttabu auf dem Marktplatz. Kaufen und Verkaufen sollen friedliche Handlungen sein – einschließlich des Kaufens und Verkaufens von Arbeitskraft: Arbeiter_innen sind keine Sklaven. Unter „normalen“ Umständen sind arbeitende Menschen bereit, mehr oder wenig friedlich unter solchen Bedingungen zu leben, auch wenn sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass es eine Minderheit gibt, die sich weigert, dasselbe zu tun. Diese Minderheit setzt sich aus dem kriminellen Milieu, das vom Raub lebt, und dem Staat zusammen, der der größte Räuber von allen ist, sowohl im Verhältnis zu seiner „eigenen“ Bevölkerung (Steuern) als auch im Verhältnis zu anderen Staaten (Krieg). Und obwohl der Staat die Kriminellen zwecks Verteidigung des Privateigentums unterdrückt, neigen in den oberen Rängen die Topgangster und der Räuberstaat eher dazu, miteinander zu kooperieren als sich gegenseitig zu bekämpfen. Doch wenn der Kapitalismus nicht einmal mehr die Illusion einer möglichen Verbesserung der Lebensbedingungen für die Gesellschaft insgesamt glaubwürdig anbieten kann, beginnt die Gesellschaft insgesamt ihre Kooperationsbereitschaft aufzukündigen.

Heute sind wir in eine Periode eingetreten, wo (nicht anders als in den 1930er Jahren) große Sektoren der Gesellschaft sich hintergangen fühlen und nicht mehr glauben, dass sich ihr Gewaltverzicht auszahlt. Jedoch bleiben sie eingeschüchtert von der Drohung der Repression, durch den illegalen Status der kriminellen Welt. Dies ist der Moment, wo die Sehnsucht, Teil jener zu sein, die ohne Furcht rauben können, politisch wird. Die Essenz ihres „Populismus“ ist die Forderung, dass Gewalt gegen bestimmte Gruppen legalisiert oder zumindest inoffiziell toleriert wird. In Hitler-Deutschland beispielsweise war der Kurs zum Weltkrieg eine „normale“ Manifestation des „Räuber-Staats“, der dies mit Stalins Russland, Roosevelts Amerika, etc. teilte. Was neu am Nationalsozialismus war, war der systematische, staatlich organisierte Raub gegen Teile der eigenen Bevölkerung. Die Hatz auf die Sündenböcke und Pogrome wurden legalisiert. Der Holocaust war nicht in erster Linie das Produkt des historischen Antisemitismus oder des Nazismus. Er war das Produkt des modernen Kapitalismus. Die Räuberei wurde zur alternativen wirtschaftlichen Perspektive für die Sektoren der Bevölkerung, die in die Barbarei versanken. Doch diese Barbarei ist die Barbarei des kapitalistischen Systems selbst. Die Kriminalität ist genauso Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft wie die Börse. Raub und Kaufen/Verkaufen sind die beiden Antipoden einer fortgeschrittenen, modernen Gesellschaft, die auf Privateigentum basiert. Die Profession des Räubers kann erst mit der Abschaffung der Klassengesellschaft abgeschafft werden. Wenn der Raub beginnt, das Kaufen und Verkaufen zu ersetzen, ist dies gleichermaßen Selbstverwirklichung und Selbstzerstörung der bürgerlichen Zivilisation. Mangels einer Alternative, einer revolutionären, kommunistischen Perspektive nimmt das Verlangen nach Gewalt gegen Andere zu.

Der Fisch stinkt vom Kopf her

Was geschieht, wenn Teile der herrschenden Klasse, gefolgt von einigen Zwischenschichten der Gesellschaft, das Vertrauen in die Möglichkeit nachhaltigen Wachstums für die Weltwirtschaft zu verlieren beginnen? Oder wenn sie beginnen, die Hoffnung zu verlieren, dass sie selbst von welchem Wachstum auch immer profitieren? Sie werden keinesfalls auf ihre Ansprüche auf einem (größeren) Anteil am Reichtum und an der Macht verzichten. Sollte der verfügbare Reichtum nicht mehr wachsen, können sie trotzdem um einen größeren Anteil auf Kosten des Restes kämpfen. Hier liegt die Verbindung zwischen der ökonomischen Lage und dem wachsenden Durst nach Gewalt. Die Perspektive des Wachstums wird ersetzt durch die Perspektive des Raubs und der Plünderung. Wenn Millionen von illegalen Arbeiter_innen ausgewiesen werden würden, so ihr Kalkül, gäbe es mehr Jobs, Wohnungen, Sozialfürsorge für jene, die bleiben. Dasselbe trifft auf jene zu, die von Sozialhilfe leben, ohne jemals Beiträge geleistet zu haben. Was die ethnischen Minderheiten angeht, haben einige von ihnen Geschäfte, die in die Hände Anderer übergehen könnten. Diese Denkweise sickert aus den Untiefen der bürgerlichen „Zivilgesellschaft“ hervor.

Jedoch beginnt, wie ein altes Sprichwort besagt, der Fisch vom Kopf her zu stinken. Es ist in erster Linie der staatliche und ökonomische Apparat der herrschenden Klasse selbst, der den Fäulnisprozess erzeugt. Die Diagnose, die von den kapitalistischen Medien angestellt wurde, ist, dass die Trump-Präsidentschaft, der Triumph der Brexit-Anhänger in Großbritannien, der Aufstieg des rechten „Populismus“ in Europa das Ergebnis des Protestes gegen die „Globalisierung“ sind. Doch dies ist nur zutreffend, wenn die Gewalt als die Essenz dieses Protestes verstanden wird und wenn die Globalisierung nicht nur als eine wirtschaftliche Option unter anderen verstanden wird, sondern als ein Etikett für die äußerst gewaltsamen Mittel, die einen niedergehenden Kapitalismus in den jüngsten Jahrzehnten am Leben gehalten haben. Das Resultat dieser gigantischen ökonomischen und politischen Offensive der Bourgeoisie (eine Art Krieg der kapitalistischen Klasse gegen den Rest der Menschheit und gegen die Natur) war die Erzeugung von Millionen von Opfern nicht nur in der arbeitenden Bevölkerung des gesamten Planeten, sondern auch innerhalb des Apparates der herrschenden Klasse selbst. Es ist nicht zuletzt dieser Aspekt, der in seinen Dimensionen absolut beispiellos in der modernen Geschichte ist. Beispiellos auch der Umfang, in dem Teile der US-amerikanischen Bourgeoisie und ihres Staatsapparates diesen Verheerungen zum Opfer fielen. Und dies, obwohl die Vereinigten Staaten der Hauptanstifter dieser Politik waren. Es ist, als ob die herrschende Klasse gezwungen war, Teile ihres eigenen Körpers zu amputieren, um den Rest zu retten. Ganze Sektoren der nationalen Industrie wurden geschlossen, weil ihre Produkte anderswo billiger hergestellt werden konnten. Nicht nur diese Industrien mussten dichtmachen – ganze Teile des Landes verödeten in diesem Prozess: Regionale und kommunale Verwaltungen, lokale Konsumgüterhersteller, der lokale Einzelhandel und die Kreditwirtschaft, Zulieferer, die Bauindustrie, etc. – sie alle wurden zertrümmert. Nicht nur Arbeiter_innen, sondern auch große und kleine Unternehmen, öffentliche Bedienstete und lokale Würdenträger waren unter ihren Opfern. Verloren die Arbeiter_innen ihre Lebensgrundlage, so gingen diese bürgerlichen und kleinbürgerlichen Opfer ihrer Macht, ihren Privilegien und ihrer gesellschaftlichen Stellung verlustig.

Dieser Prozess fand in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr oder weniger radikal in allen alten Industrieländern statt. Doch in den USA hat es zusätzlich eine Art Erdbeben innerhalb des militärischen und des „Nachrichtendienst“-Apparates gegeben. Unter Bush jr. und Rumsfeld wurden Teile der bewaffneten und Sicherheitskräfte und sogar der „Nachrichtendienste“ „privatisiert“ – Maßnahmen, die vielen hochrangigen Führern den Job kosteten. Zusätzlich mussten sich die „Nachrichtendienste“ der Konkurrenz der modernen Medienkonzerne wie Google oder Facebook erwehren, die in gewisser Weise genauso gut informiert und genauso wichtig für den Staat sind wie der CIA und das FBI. Im Verlauf dieses Prozesses hat sich das Kräfteverhältnis innerhalb der herrschenden Klasse verändert, einschließlich der ökonomischen Ebene, wo der Kredit- und Finanzsektor („Wall Street“) und die neuen Technologien („Silicon Valley“) nicht nur zu den Hauptprofiteuren der „Globalisierung“ zählen, sondern auch zu ihren Hauptprotagonisten.

Im Gegensatz zu diesen Sektoren, die die Kandidatur Hillary Clintons unterstützten, sind die Anhänger Trumps nicht spezifischen Wirtschaftsfraktionen zuzuordnen, obwohl seine stärksten Unterstützer unter den Kapitänen der alten Industrien zu finden sind, die so zahlreich in den letzten Jahrzehnten niedergegangen sind. Vielmehr können sie hier und da im staatlichen und wirtschaftlichen Machtapparat angetroffen werden. Dies waren die Heckenschützen, die hinter den Kulissen das Kreuzfeuer gegen Clinton als die angebliche Kandidatin von „Wall Street“ produzierten. Sie schlossen Geschäftsleute, frustrierte Publizisten und FBI-Führer mit ein. Für jene unter ihnen, die die Hoffnung verloren haben, sich selbst „wieder groß zu machen“, war die Unterstützung für Trump vor allem eine Art politischer Vandalismus, blinde Rache gegen die herrschende Elite.

Diesen Vandalismus erkennt man auch im Willen einiger Fraktionen der herrschenden Klasse – vor allem derjenigen Teile, die mit der Ölindustrie verbunden sind –, Trumps großspurige Verwerfung des von der Wissenschaft vertretenen Klimawandels zu unterstützen, den er bekanntlich als Falschmeldung der Chinesen bezeichnet. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass bedeutende Teile der Bourgeoisie jegliche Zukunftsvision für die Menschheit verloren haben, dass sie offen bereit sind, ihre („nationalen“) Gewinnmargen über alle Erwägungen gegenüber der natürlichen Umwelt zu stellen und somit die Grundlagen des ganzen menschlichen Lebens in Frage zu stellen. Diesen Krieg gegen die Natur, der im Laufe der „neoliberalen“ Weltordnung wesentlich intensiviert worden ist, werden Trump und seine Vandalenkomplizen noch rücksichtsloser fortsetzen.

Was geschehen ist, ist sehr schwerwiegend. Während die führenden Fraktionen der US-amerikanischen Bourgeoisie immer noch an der herrschenden Weltwirtschaftsordnung festhalten und sich für ihre Aufrechterhaltung einsetzen, hat der Konsens in dieser Frage innerhalb der herrschenden Klasse zu bröckeln begonnen. Dies erstens, weil ein wachsender Teil von ihr sich nicht um diese Weltordnung schert. Zweitens, weil die herrschenden Fraktionen unfähig waren, die Einkehr eines Kandidaten dieser Desperados ins Weiße Haus zu verhindern. Die Erosion sowohl des Zusammenhalts der herrschenden Klasse als auch ihrer Kontrolle über ihren eigenen politischen Apparat konnte sich kaum deutlicher manifestieren. Seit die US-amerikanische Bourgeoisie mit ihrem Sieg im II. Weltkrieg die führende Rolle in der Leitung der Weltwirtschaft insgesamt von ihrem britischen Gegenpart übernommen hatte, hat sie sich kontinuierlich dieser Verantwortung gestellt. Im Allgemeinen ist die Bourgeoisie des führenden nationalen Kapitals in der besten Position, um diese Rolle anzunehmen.  Dies umso mehr, wenn, wie die Vereinigten Staaten, sie über die militärische Macht verfügt, um ihrer Führungskraft zusätzliche Autorität zu verleihen. Es ist daher bemerkenswert, dass heute weder die USA noch ihr Vorgänger Großbritannien in der Lage sind, diese Rolle weiterhin auszufüllen – und dies im Kern aus denselben Gründen. Es ist das Gewicht des politischen Populismus, das London aus den europäischen Wirtschaftsinstitutionen hinausbefördert hat. Es hatte etwas von Verzweiflung, als zu Beginn des neuen Jahres die FINANCIAL TIMES, eine der wichtigen Stimmen der City of London, die deutsche Bundeskanzlerin Merkel aufgefordert hatte, die Führung der Welt zu übernehmen. Trump jedenfalls scheint unwillig und unfähig, diese Rolle anzunehmen, und es gibt keinen anderen Weltführer im Moment, der ihn ersetzen könnte. Eine gefährliche Phase liegt vor dem kapitalistischen System und für die Menschheit.

Die Schwächung des Widerstandes der Arbeiterklasse

Das Ansteigen der Entsolidarisierung zeigt deutlich an, dass der Sieg von Trump nicht nur das Resultat eines Verlustes der Perspektive für die herrschende Klasse ist, sondern auch für die Arbeiterklasse. Infolgedessen sind viel mehr Arbeiter_innen, als es sonst der Fall wäre, negativ beeinflusst sind von dem, was sich Populismus nennt. Es ist beispielsweise bemerkenswert, dass neben den Millionen weißer Arbeiter_innen viele Latinos für Trump gestimmt zu haben scheinen, trotz seiner Hetztiraden gegen sie. Viele von ihnen waren unter den Letzten, die Zugang zu „God’s own country“ erhielten – eben weil sie befürchten, zu den ersten zu gehören, die ausgewiesen werden, sind sie dazu verleitet zu denken, dass sie sicherer wären, wenn das Tor fest hinter ihnen geschlossen werden würde.

Was ist mit der Arbeiterklasse geschehen, mit ihrer revolutionären Perspektive, mit ihrer Klassenidentität und ihren Traditionen der Solidarität? Vor über einem halben Jahrhundert gab es ein Comeback der Arbeiterklasse auf der Bühne der Geschichte, vor allem in Europa (Mai 1968 in Frankreich, heißer Herbst 1969 in Italien, 1970 in Polen, etc.), aber auch darüber hinaus. In der Neuen Welt manifestierte sich diese Wiedergeburt des Klassenkampfes in Lateinamerika (vor allem 1969 in Argentinien), aber auch in Nordamerika, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Es gab wichtige Ausdrücke dieses Wiedererwachens. Einer davon war eine ganze Entwicklung von oftmals großen wilden Streiks und anderen, häufig radikalen Kämpfen auf einem wirtschaftlichem Terrain, für Arbeiterforderungen. Der andere Ausdruck war das Wiederauftreten von politisierten Minderheiten unter der neuen Generation, die sich von der revolutionären, proletarischen Politik angezogen fühlten. Besonders wichtig war die Tendenz, eine kommunistische Perspektive gegen den Stalinismus zu entwickeln, der mehr oder weniger klar als konterrevolutionär erkannt wurde. Die Rückkehr auf die Hauptbühne der Arbeiterkämpfe, die Klassenidentität und -solidarität und eine proletarische, revolutionäre Perspektive gingen Hand in Hand. In den 1960er und 1970er Jahren wurden wahrscheinlich Millionen von jungen Menschen in den alten Industrieländern auf diese Art mehr oder weniger politisiert – Hoffnung und Stärke der Menschheit.

Abseits vom Leid der Arbeiterklasse waren die beiden brennendsten Fragen damals in den Vereinigten Staaten der Vietnamkrieg (die US-Regierung hatte darüber hinaus eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt) sowie der rassistische Ausschluss von und die Gewalt gegen Schwarze(n). Ursprünglich waren diese Fragen zumindest teilweise zusätzliche Faktoren der Politisierung und Radikalisierung. Doch ohne jegliche eigene politische Erfahrung, ohne die Anleitung durch eine in proletarischem Sinne politisierte ältere Generation hegten die jungen Aktivisten enorme Illusionen über die Möglichkeiten einer schnellen gesellschaftlichen Umwandlung. Insbesondere waren die damaligen Klassenbewegungen viel zu schwach, um die Regierung zu zwingen, den Vietnam-Krieg zu beenden, oder um Schwarze oder andere Minderheiten vor Rassismus und Diskriminierung zu schützen (anders als die revolutionäre Bewegung in Russland 1905, die die Revolte gegen den Russisch-japanischen Krieg genauso miteinschloss wie den Schutz der Juden in Russland vor Pogromen). Da Fraktionen innerhalb der US-amerikanischen Bourgeoisie im eigenen Klasseninteresse ihr Engagement in Vietnam beenden und der afroamerikanischen Bourgeosie gestatten wollten, an der Macht teilzuhaben, wurden viele dieser jungen Militanten in die bürgerliche Politik gezogen und kehrten der Arbeiterklasse den Rücken zu. Andere, die zwar der Sache der Arbeiter_innen treu blieben, traten, weil sie von der Ungeduld überwältigt wurden, als linke Kandidaten in staatlichen Wahlen an oder engagierten sich in den Gewerkschaften, in der Hoffnung, etwas Unmittelbares und Spürbares für jene zu erreichen, die sie zu vertreten behaupteten. Hoffnungen, die konstant enttäuscht wurden. Die Arbeiter_innen entwickelten eine immer offenere Feindseligkeit gegen diese Linksextremisten, die zudem sich selbst und den Leumund der Revolution durch ihre Identifizierung mit der brutalen, konterrevolutionäre Linken, namentlich mit den stalinistischen Regimes, und durch ihre bürgerliche, manipulative Annäherung an die Politik diskreditierten. Was diese Militanten selbst anging, so entwickelten sie ihrerseits eine Feindseligkeit gegenüber der Arbeiterklasse, die sich weigerte, ihnen zu folgen – eine Feindseligkeit, die häufig in Hass umschlug. All dies lief auf eine großflächige Zerstörung der politisch-revolutionären Klassenenergie hinaus. Es war die Tragödie nahezu einer ganzen Generation der Arbeiterklasse, die so vielversprechend begonnen hatte. Was folgte, war der Kollaps des Stalinismus 1989 (missverstanden und missinterpretiert als Zusammenbruch des Kommunismus und des Marxismus) und die Schließung ganzer traditioneller Industrien in den alten kapitalistischen Ländern (missverstanden und falsch dargestellt als das Verschwinden der Arbeiterklasse in diesem Teil der Welt). In diesem Kontext war (wie zum Beispiel der französische Soziologe Didier Eribon hervorgehoben hat) die politische Linke (die laut der IKS die Linke des Kapitals, Teil des herrschenden Apparates ist) unter den Ersten, die das Verschwinden der Arbeiterklasse erklärten. Es ist bezeichnend, dass im jüngsten Wahlkampf in den USA die Kandidatin der Demokraten (die einst behaupteten, die „organisierte Arbeit“ zu repräsentieren) sich nie auf so etwas wie die Arbeiterklasse bezog, wohingegen der Multi-Milliardär Donald Trump dies laufend tat. Im Grunde war eines seiner wichtigsten Wahlversprechen, die amerikanische Arbeiterklasse (verstanden nur als Arbeiter im Blaumann), die für ihn ein wesentlicher Bestandteil der amerikanischen Nation war (seine Arbeiterklasse ist eine, von der Kapitalisten träumen: patriotisch, hart arbeitend, gefügig), vor ihrer „Auslöschung“ zu bewahren.

Das momentane Verschwinden einer Arbeiteridentität und Solidarität aus der ersten Reihe der Bühne ist eine Katastrophe für das Proletariat und die Menschheit. Im Angesicht der gegenwärtigen Unfähigkeit beider Hauptklassen der modernen Gesellschaft, eine glaubwürdige Perspektive vorzustellen, kommt der eigentliche Kern der bürgerlichen Gesellschaft deutlicher zum Vorschein: die Entsolidarisierung. Das Prinzip der Solidarität, das das Sicherheitsnetz in mehr oder weniger allen vor-kapitalistischen Gesellschaften war, die auf Naturalwirtschaft und nicht auf die „Marktwirtschaft“ basierten, ist ersetzt worden durch das Sicherheitsnetz des Privateigentums – für jene, die solches besitzen. In der bürgerlichen Gesellschaft muss man in der Lage sein, sich selbst zu helfen, und die Mittel zu diesem Zweck sind nicht die Solidarität, sondern Kreditwürdigkeit und Versicherungen. Viele Jahrzehnte lang wurde der Wohlfahrtsstaat in den wichtigsten Industrieländern – obwohl ein integraler Bestandteil der Kredit- und Versicherungswirtschaft – dazu benutzt, um diese Eliminierung der Solidarität von der gesellschaftlichen „Agenda“ zu kaschieren. Heute wird die Absage an die Solidarität nicht nur nicht kaschiert, sondern sie gewinnt noch dazu an Boden.

Die Herausforderung für die Arbeiterklasse

Die Demonstrationen von Millionen von Menschen, hauptsächlich Frauen, überall in den Vereinigten Staaten gegen den neuen Präsidenten am Tag nach seiner Amtseinführung machten deutlich, dass große Teile der arbeitenden Bevölkerung in den USA weder Trump noch die Tendenz, wofür er steht, unterstützen. Weit entfernt davon, Trumps Nationalismus Paroli zu bieten, tendierten diese Demonstrationen jedoch dazu, Trump auf seinem eigenen Terrain zu antworten, indem sie behaupteten: „Wir sind das wahre Amerika“. Diese Demonstrationen zeigen in Wirklichkeit, dass die populistische Politik des Ausschlusses und der Sündenbocksuche nicht die einzige Gefahr für die Arbeiterklasse ist. Diese junge Generation, die ihren Protest zum Ausdruck bringt, ohne Trump zu verfallen, befindet sich in der Gefahr, stattdessen in die Falle der Verteidigung einer „demokratischen“ und „liberalen“ bürgerlichen Gesellschaft zu tappen. Die herrschenden Fraktionen der Bourgeoisie wären entzückt, die Unterstützung der intelligentesten und großzügigsten Sektoren der Arbeiterklasse für die Verteidigung der aktuellen Version eines Ausbeutungssystems zu gewinnen, das – selbst ohne „Populismus“ – schon seit langem eine Gefahr für die Existenz unserer Spezies  geworden ist und das außerdem selbst der Erzeuger des „Populismus“ ist, den es in Schach halten will. Es ist unbestritten, dass heute vielen Arbeiter_innen in Ermangelung einer revolutionären Alternative, der sie vertrauen können, ein Obama, ein Sanders oder eine Merkel als das geringere Übel erscheint, verglichen mit einem Trump, einem Farrage, einer Le Pen oder der „Alternative für Deutschland“. Doch gleichzeitig sind diese Arbeiter_innen empört darüber, was die „liberale Gesellschaft“ der Menschheit in den vergangenen Jahrzehnten angetan hat. Die Klassenantagonismen bleiben.

Es sollte ebenfalls darauf hingewiesen werden, dass der Widerstand innerhalb der Arbeiterklasse gegen den Populismus in sich selbst kein Beweis dafür ist, dass diese Arbeiter_innen den bürgerlichen Liberalen folgen und bereit sind, ihre eigenen Klasseninteressen zu opfern. Millionen von Arbeiter_innen im Zentrum des globalisierten Systems von Produktion und Austausch sind sich vor allem allzusehr bewusst, dass ihre materielle Existenz von einem weltweiten System von Produktion und Austausch abhängt und dass es keine Umkehr zu einer lokaleren Arbeitsteilung gibt. Sie sind sich ebenfalls bewusst, dass das, was Marx die „Sozialisierung“ der Produktion nannte (die Ersetzung der individuellen durch die assoziierte Arbeit), sie lehrt, mit jedem auf Weltebene zusammenzuarbeiten, und dass nur auf einer solchen Ebene die gegenwärtigen Probleme der Menschheit überwunden werden können. In der aktuellen historischen Lage sucht das revolutionäre Potenzial der zeitgenössischen Gesellschaft mangels einer Klassenidentität und einer Perspektive des Kampfes für eine klassenlose Gesellschaft momentan Zuflucht in den „objektiven“ Bedingungen: die Fortdauer der Klassenantagonismen, die unversöhnliche Natur ihrer Klasseninteressen, die weltweite Zusammenarbeit der Proletarier in der Produktion und in der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens. Allein das Proletariat hat ein objektives Interesse an der Auflösung des Widerspruchs zwischen weltweiter Produktion und privater und nationalstaatlicher Aneignung des Reichtums. Da die Menschheit nicht zurück zur lokalen Marktproduktion gehen kann, kann sie nur vorwärts schreiten, indem sie das Privateigentum abschafft, indem sie den internationalen Produktionsprozess der gesamten Menschheit zur Verfügung stellt.

Auf dieser objektiven Grundlage können sich die subjektiven Bedingungen für die Revolution immer noch erholen, insbesondere durch die Rückkehr des ökonomischen Kampfes des Proletariats in einem bedeutenden Ausmaß und durch die Entfaltung einer neuen Generation von revolutionären, politischen Minderheiten mit dem notwendigen Wagemut, um mehr denn je die Sache der Arbeiterklasse aufzugreifen, und mit der Nachhaltigkeit, die notwendig ist, das Proletariat von seiner eigenen revolutionären Mission zu überzeugen.

Steinklopfer, Ende Januar 2017

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Internationale Revue 54

Über das Problem des Populismus

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Der folgende Artikel ist ein Dokument, das wir in der IKS gegenwärtig diskutieren und im Juni 2016, ein paar Wochen vor der Brexit-Abstimmung in Großbritannien, geschrieben worden ist.

Wir sind gegenwärtig Zeuge einer Welle des politischen Populismus in den alten zentralen Ländern des Kapitalismus. In den Staaten, in denen dieses Phänomen schon länger etabliert ist, wie Frankreich oder die Schweiz, sind die rechten Populisten zur größten politischen Partei in der Wählergunst geworden. Noch auffälliger ist das Vordringen des Populismus in den Ländern, die bis vor kurzem für ihre Stabilität und Effektivität der herrschenden Klasse bekannt waren: die USA, Großbritannien, Deutschland. In diesen Ländern ist es dem Populismus erst jüngst gelungen, einen direkten und ernsthaften Einfluss zu erlangen.

Der aktuelle Aufstieg des rechten Populismus

In den Vereinigten Staaten hat das politische Establishment anfangs die Präsidentschaftskandidatur von Donald Trump in der Republikanischen Partei sträflich unterschätzt. Seine Bewerbung wurde zunächst mehr oder weniger offen sowohl von der etablierten Parteihierarchie als auch von der religiösen Rechten abgelehnt. Sie alle wurden von der Unterstützung überrascht, die er sowohl im bible belt als auch in den alten städtischen industriellen Zentren, insbesondere in Teilen der „weißen“ Arbeiterklasse, genießt. Die anschließenden Medienkampagnen, die dazu bestimmt waren, ihn in seine Schranken zu weisen, und unter anderem vom WALL STREET JOURNAL sowie von den Medien und Finanzoligarchen der Ostküste angeführt wurden, haben Trumps Popularität nur noch weiter gesteigert. Der teilweise Ruin wichtiger Zwischenschichten, aber auch unter den Angehörigen der Arbeiterklasse, von denen viele ihre Ersparnisse und ihr Zuhause durch die Finanz- und Immobilienkrisen 2007-08 verloren hatten, sorgten für Empörung gegen das alte politische Establishment, das schnell intervenierte, um den Bankensektor zu retten, während jene kleinen Sparer, die versucht hatten, zu Eigentümern ihres eigenen Zuhauses zu werden, ihrem Schicksal überlassen wurden.

Das Versprechen Trumps, dass er die kleinen Sparer unterstützen, den öffentlichen Gesundheitsdienst aufrechterhalten, die Börsen und das big business in der Finanzwelt besteuern und keine Immigranten hereinlassen werde, die von Teilen der Armen als potenzielle Konkurrenten gefürchtet werden, ist sowohl unter den christlichen Fundamentalisten als auch unter den eher traditionell linken, demokratischen WählerInnen, die nur ein paar Jahre zuvor sich nicht einmal vorstellen konnten, einem solchen Politiker ihre Stimme zu geben, auf Widerhall gestoßen.

Ein halbes Jahrhundert des bürgerlichen politischen „Reformismus“, in dem linke Kandidaten, ob auf Gemeinde- oder auf lokaler Ebene, ob in Parteien oder Gewerkschaften, gewählt worden waren, um angeblich ArbeiterInneninteressen zu verteidigen, stattdessen aber konsequent die Interessen des Kapitals wahrten, haben den Boden dafür bereitet, dass der sprichwörtliche „Mann auf der Straße“ erwägt, einen Multimillionär vom Schlage eines Trump zu unterstützen, in der Annahme, dass er wenigstens nicht „gekauft“ werden könne von der herrschenden Klasse.

In Großbritannien scheint der Hauptausdruck des Populismus zurzeit nicht ein spezifischer Kandidat oder eine politische Partei zu sein (obwohl die UKIP von Nigel Farage zu einem wichtigen Mitspieler auf der politischen Bühne geworden ist), sondern die Popularität des Ansinnens, die EU zu verlassen, und die Entscheidung darob per Referendum. Die Tatsache, dass diese Option vom Mainstream der Finanzwelt (die City von London) und der britischen Industrie abgelehnt wird, hat auch hier dazu geführt, dass die Popularität des „Brexit“ in Teilen der Bevölkerung gewachsen ist. Abgesehen davon, dass dies ein Ausdruck der Partikularinteressen von Teilen der herrschenden Klasse ist, die viel enger mit den früheren Kolonien verbunden sind (Commonwealth) als mit Kontinentaleuropa, scheint einer der Antriebe für diese Gegnerschaft darin zu bestehen, den neuen rechtspopulistischen Bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Möglicherweise werden Leute wie Boris Johnson und andere „Brexit“-Befürworter unter den Tories im Falle eines eventuellen Austritts diejenigen sein, die dann retten müssen, was noch zu retten ist, und zwar indem sie versuchen, eine Art von engem assoziierten Status gegenüber der Europäischen Union auszuhandeln, mutmaßlich nach Schweizer Muster (wobei dieser Staat normalerweise die EU-Regeln übernimmt, ohne jedoch bei deren Formulierungen etwas zu bestellen zu haben).

Doch ist es auch möglich, dass Politiker der Konservativen Partei selbst von der populistischen Stimmung angesteckt werden, die auch in Großbritannien nach der Finanz- und Immobilienkrise, welche bedeutende Teile der Bevölkerung erfasst hat, schnell an Boden gewonnen hat.

In Deutschland, wo es nach dem II. Weltkrieg der Bourgeoisie bis dato stets gelungen war, die Etablierung parlamentarischer Parteien rechts von den Christdemokraten zu verhindern, trat eine neue populistische Bewegung sowohl auf den Straßen (Pegida) als auch bei den Wahlen (AfD) auf den Plan, nicht als Reaktion auf die „Finanz“krise von 2007-08 (die Deutschland relativ unbeschadet abwetterte), sondern auf die anschließende „Euro“-Krise, die von Teilen der Bevölkerung als eine direkte Bedrohung der Stabilität der gemeinsamen europäischen Währung und somit der Ersparnisse von Millionen von Menschen wahrgenommen wurde.

Doch kaum war diese Krise zumindest für den Augenblick entschärft, begann ein massiver Zustrom von Flüchtlingen, ausgelöst insbesondere durch den syrischen Bürgerkrieg und den imperialistischen Krieg in Syrien und durch den IS im Norden des Irak. Dies wiederum trieb eine populistische Bewegung an, die eigentlich zu straucheln begonnen hatte. Obwohl eine ansehnliche Mehrheit der Bevölkerung immer noch die „Willkommenskultur“ von Bundeskanzlerin Merkel und vielen Führern der deutschen Wirtschaft unterstützt, vervielfachten sich in vielen Teilen des Landes die Angriffe gegen die Flüchtlingsunterkünfte; auf dem Gebiet der ehemaligen DDR breitete sich gar eine regelrechte Pogromstimmung aus.

Das Ausmaß, in dem der Aufstieg des Populismus mit der Diskreditierung des parteipolitischen Establishments verknüpft ist, wird durch die jüngsten Präsidentschaftswahlen in Österreich illustriert, wo in der zweiten Runde, bei den Stichwahlen, ein Kandidat der Grünen gegen den Kandidaten der populistischen Rechten antritt, nachdem sowohl die Sozialdemokraten als auch die Christdemokraten, die zusammen das Land seit dem Ende des II. Weltkrieges regierten, das größte Wahldebakel aller Zeiten erlitten haben.

Als Folge aus den österreichischen Wahlen schlossen politische Beobachter in Deutschland, dass eine Fortsetzung der gegenwärtigen Koalition von Christ- und Sozialdemokraten in Berlin nach den nächsten Wahlen höchstwahrscheinlich den Aufstieg des Populismus weiter begünstigen würde. Gleichgültig, ob Große Koalitionen zwischen linken und rechten Parteien (oder „Kohabitationen“, wie in Frankreich) oder wechselnde rechte und linke Regierungen – nach fast einem halben Jahrhundert der chronischen Wirtschaftskrise und rund 30 Jahren des kapitalistischen Zerfalls glauben große Teile der Bevölkerung nicht mehr daran, dass es einen wesentlichen Unterschied zwischen den etablierten linken und rechten Parteien gibt. Im Gegenteil, diese Parteien werden als eine Art Kartell betrachtet, das seine eigenen Interessen und das der Superreichen verteidigt, auf Kosten der Gesamtbevölkerung und des Staates. Nachdem die Arbeiterklasse es nach 1968 versäumt hatte, ihre Kämpfe zu politisieren und weitere bedeutende Schritte zur Entwicklung ihrer eigenen revolutionären Perspektive zu unternehmen, facht diese Desillusionierung zurzeit vor allem die Flammen des Populismus an. In den westlichen Industrieländern ist der islamistische Terror insbesondere nach 9/11 in den USA zu einem weiteren Faktor geworden, der den Populismus beschleunigt. Gegenwärtig stellt dies insbesondere für die Bourgeoisie in Frankreich ein Problem dar, da das Land zum wiederholten Male im Fokus solcher Angriffe stand. Die Notwendigkeit, den weiteren Aufstieg des Front National zu kontern, war eines der Motive für den antiterroristischen Ausnahmezustand und für die kriegerische Sprache von François Hollande nach den jüngsten Angriffen, der als Führer einer angeblichen internationalen Koalition gegen den IS posiert. Der Verlust des Vertrauens der Bevölkerung in die Entschlossenheit und Fähigkeit der herrschenden Klasse, ihre Bürger auf der Sicherheits- (und nicht nur wirtschaftlichen) Ebene zu schützen, ist einer der Gründe für die gegenwärtige populistische Welle.

Die Wurzeln des zeitgenössischen Rechtspopulismus sind also vielfältig und variieren von Land zu Land. In den einst stalinistisch beherrschten Ländern Osteuropas scheinen sie mit der Rückständigkeit und dem Provinzialismus des politischen und wirtschaftlichen Lebens unter den früheren Regimes wie auch mit der traumatisierenden Brutalität ihres Übergangs in einen effektiveren, westlich geprägten Kapitalismus nach 1989 einherzugehen.

In einem so wichtigen Land wie Polen stellt die populistische Rechte bereits die Regierung, während in Ungarn (ein Zentrum der ersten Welle der proletarischen Weltrevolution 1917-23) das Regime von Victor Orban pogromistische Attacken mehr oder weniger fördert und schützt.

Allgemeiner betrachtet, sind die Reaktionen gegen die „Globalisierung“ ein maßgeblicher Faktor beim Aufstieg des Populismus gewesen. In Westeuropa hat die Stimmung „gegen Brüssel“ und die EU zur Grundnahrung solcher Bewegungen gehört. Doch heute manifestiert sich eine solche Atmosphäre auch in den Vereinigten Staaten, wo Trump nicht der einzige Politiker ist, der damit droht, das Freihandelsabkommen TTIP, das zwischen Europa und Nordamerika ausgehandelt wurde, auf Eis zu legen. Diese Reaktion gegen die „Globalisierung“ sollte nicht mit jener neo-keynesianischen Korrektur der (realen) Exzesse des Neo-Liberalismus verwechselt werden, die von linken Repräsentanten wie ATTAC vorgebracht wird. Während Letztere eine verantwortungsvolle, kohärente alternative Wirtschaftspolitik für das nationale Kapital vorschlagen, stellt die populistische Kritik mehr eine Art politischen und ökonomischen Vandalismus dar, was bereits in den Referenden über das Maastricht-Abkommen in Frankreich, den Niederlanden und Irland manifest wurde, wo sie ein Momentum bei der Ablehnung darstellte.

Die Möglichkeit der Regierungsbeteiligung des heutigen Populismus und das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat

Die populistischen Parteien sind bürgerliche Fraktionen und Bestandteil des totalitären staatskapitalistischen Apparates. Was sie propagieren, sind bürgerliche und kleinbürgerliche Ideologien und Verhaltensweisen, Nationalismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Autoritätsglaube, kultureller Konservatismus. Sie stellen schlichtweg eine Verstärkung der Vorherrschaft durch die herrschende Klasse und ihres Staates über die Gesellschaft dar. Sie erweitern den Spielraum des Parteiapparates der Demokratie und liefern zusätzliche Feuerkraft für sein ideologisches Bombardement. Sie erfüllen die Mystifikation der Wahlen und die Anziehungskraft des Wählens mit neuem Leben, sowohl durch jene WählerInnen, die sie selbst mobilisieren, als auch durch jene, die mobilisiert werden, um gegen sie zu stimmen. Obgleich sie teilweise das Produkt der wachsenden Desillusionierung über die traditionellen Parteien sind, können sie auch helfen, das Image Letzterer zu verbessern, die sich im Gegensatz zu den Populisten als menschlicher und demokratischer darstellen können. In dem Ausmaß, in dem ihr Diskurs dem der Faschisten in den 1930er Jahren ähnelt, neigt ihr Aufschwung dazu, dem Antifaschismus neues Leben einzuhauchen. Dies ist besonders in Deutschland der Fall, wo die Machtübernahme durch die „faschistische“ Partei zur größten Katastrophe in seiner Nationalgeschichte geführt hatte, mit dem Verlust von nahezu der Hälfte seines Territoriums und der Einbüßung seines Status‘ als wichtige Militärmacht, mit der Zerstörung seiner Städte und der praktisch irreparablen Beschädigung seines internationalen Prestiges durch die Verübung von Verbrechen, die als die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschheit in die Geschichte eingegangen sind.

Dennoch haben, wie wir bis jetzt gesehen haben, vor allem in den Kernländern des Kapitalismus die führenden Fraktionen der Bourgeoisie ihr Bestes gegeben, um den Aufstieg des Populismus zu verhindern und insbesondere, falls möglich, seine Regierungsbeteiligung zu vermeiden. Nach Jahren der zumeist erfolglosen Abwehrkämpfe auf dem eigenen Terrain scheinen bestimmte Sektoren der Arbeiterklasse heute zu meinen, dass man die herrschende Klasse statt durch Arbeiterkämpfe eher dadurch unter Druck setzen und ihr Angst einjagen könne, wenn man die populistische Rechte wählt. Die Grundlage für diesen Eindruck besteht darin, dass das „Establishment“ alarmiert auf den Wahlerfolg der Populisten reagiert. Warum diese Zurückhaltung der Bourgeoisie gegenüber „einem der Ihren“?

Bis jetzt haben wir dazu geneigt, davon auszugehen, dass dies vor allem wegen des historischen Kurses (d.h. wegen des noch immer unbesiegten Status‘ der gegenwärtigen Generation des Proletariats) geschieht. Heute ist es notwendig, diesen Rahmen angesichts der Entwicklung der gesellschaftlichen Realität kritisch zu hinterfragen.

Es stimmt, dass die Etablierung populistischer Regierungen in Polen und Ungarn verhältnismäßig unbedeutend ist, verglichen mit dem, was in den alten, westlichen kapitalistischen Kernländern geschieht. Bedeutsamer jedoch ist, dass diese Entwicklung im Augenblick nicht zu einem großen Konflikt zwischen Polen und Ungarn auf der einen sowie der NATO oder der EU auf der anderen Seite geführt hat. Im Gegenteil, Österreich, das anfangs, unter einem sozialdemokratischen Kanzler, der „Willkommenskultur“ von Angela Merkel im Sommer 2015 nachgeeifert hatte, folgte schnell dem Beispiel Ungarns, als es Zäune entlang seiner Grenze errichtete. Und der ungarische Ministerpräsident ist zu einem Lieblingsgesprächspartner der bayrischen CSU geworden, die Bestandteil der Merkel-Regierung ist. Wir können von einem Prozess der gegenseitigen Angleichung zwischen populistischen Regierungen und wichtigen innerstaatlichen Institutionen sprechen. Trotz ihrer anti-europäischen Demagogie gibt es im Augenblick kein Anzeichen dafür, dass diese populistischen Regierungen Polen und Ungarn aus der EU zurückziehen wollen. Im Gegenteil, was sie nun propagieren, ist die Verbreitung des Populismus innerhalb der Europäischen Union. In Bezug auf konkrete Interessen bedeutet dies, dass „Brüssel“ sich weniger in nationale Angelegenheiten einmischen, aber gleichzeitig damit fortfahren soll, dieselben oder gar noch mehr Subventionen nach Warschau und Budapest zu transferieren. Was die EU angeht, so gleicht sie sich diesen populistischen Regierungen an, die sie zuweilen für ihre „konstruktiven Beiträge“ auf komplizierten EU-Gipfeln preist. Und obwohl es auf der Aufrechterhaltung gewisser „demokratischer Mindeststandards“ besteht, hat Brüssel es im Augenblick unterlassen, irgendeine der angedrohten Sanktionen gegen diese Länder zu verhängen.

Was Westeuropa angeht, war Österreich, um noch einmal daran zu erinnern, bereits ein Vorreiter in dieser Politik gewesen, als einst die Partei von Jörg Haider als Juniorpartner in eine Koalitionsregierung einbezogen worden war. Das Ziel dabei – die populistische Partei zu diskreditieren, indem sie dazu gebracht wird, Verantwortung bei der Staatsführung zu übernehmen – gelang zum Teil. Zeitweise. Heute jedoch ist die FPÖ in Sachen Wahlen stärker denn je zuvor und gewann fast die Wahlen zum Bundespräsidenten. Natürlich spielt der Bundespräsident in Österreich eine hauptsächlich symbolische Rolle. Doch dies ist in Frankreich, der zweitstärksten Wirtschaftsmacht mit der zweitgrößten Konzentration des Proletariats im westlichen Kontinentaleuropa, anders. Die Weltbourgeoisie schaut mit Sorge auf die nächsten Präsidentschaftswahlen in diesem Land, wo der FN die führende Partei in der Wählergunst ist. Viele politischen Experten der Bourgeoisie haben aus dem aktuellen Scheitern der Republikanischen Partei in den USA, Trumps Kandidatur zu verhindern, den Schluss gezogen, dass früher oder später die Beteiligung der Populisten an westlichen Regierungen mehr oder weniger unvermeidlich wird und dass es besser ist, sich auf einen solchen Fall vorzubereiten. Diese Debatte ist die erste Reaktion auf die Erkenntnis, dass die Versuche, den Populismus bis dato auszuschließen oder zu begrenzen, nicht nur ihre eigenen Grenzen aufgewiesen bekommen haben, sondern sogar den entgegengesetzten Effekt haben. Die Demokratie ist die Ideologie, die am besten zu den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften passt und die wichtigste Einzelwaffe gegen das Klassenbewusstsein des Proletariats. Doch heute wird die Bourgeoisie mit dem Paradoxon konfrontiert, dass sie, setzt sie die Politik fort, Parteien auf Distanz zu halten, die nicht ihre demokratischen Regeln der political correctness befolgen, eine ernsthafte Beschädigung ihres demokratischen Images riskiert. Wie soll gerechtfertigt werden, dass Parteien mit einem beträchtlichen, wenn nicht sogar mit einem mehrheitlichen Stimmenanteil außen vor gelassen werden, ohne sich selbst zu diskreditieren und in unentwirrbare argumentative Widersprüche zu geraten? Mehr noch, die Demokratie ist nicht nur eine Ideologie, sondern auch ein höchst effizientes Mittel der Klassenherrschaft – nicht zuletzt weil sie in der Lage ist, neue politische Impulse, die aus der Gesellschaft als solche kommen, zu erkennen und zu assimilieren.

In diesem Rahmen stellt die herrschende Klasse die Perspektive einer möglichen populistischen Einbindung in die Regierung ins Verhältnis zum gegenwärtigen Kräfteverhältnis mit dem Proletariat. Die gegenwärtigen Trends deuten an, dass die große Bourgeoisie selbst nicht glaubt, dass eine immer noch unbesiegte Arbeiterklasse zwangsläufig solch eine Option ausschließt. Zunächst einmal würde eine solche Möglichkeit nicht die Abschaffung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie bedeuten, wie dies in Italien, Spanien und Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren nach der Niederlage des Proletariats der Fall war. Selbst in Osteuropa haben die existierenden rechtspopulistischen Regierungen nicht versucht, die anderen Parteien zu verbieten oder ein System von Konzentrationslagern zu etablieren. Solche Maßnahmen würden in der Tat nicht akzeptiert werden von der heutigen Generation von ArbeiterInnen, insbesondere nicht in den westlichen Ländern und vielleicht nicht einmal in Polen und Ungarn.

Außerdem und andererseits ist die Arbeiterklasse, obgleich nicht endgültig und historisch besiegt, gegenwärtig auf der Ebene ihres Klassenbewusstseins, ihres Kampfgeistes und ihrer Klassenidentität geschwächt. Der historische Kontext hierfür ist vor allem die Niederlage der ersten revolutionären Welle Ende des I. Weltkriegs und das Ausmaß sowie die Dauer der Konterrevolution, die ihr folgte.

In diesem Kontext ist die erste Ursache dieser Schwäche die Unfähigkeit der Klasse, eine adäquate Antwort in ihren Abwehrkämpfen auf den gegenwärtigen Zustand des staatskapitalistischen Managements, die „Globalisierung“, zu finden. In ihren Abwehrkämpfen spüren die ArbeiterInnen zu Recht, dass sie direkt mit dem Weltkapitalismus in seiner Gesamtheit konfrontiert sind. Weil heute nicht nur Handel und Verkehr, sondern auch zum ersten Mal die Produktion globalisiert ist, kann die Bourgeoisie auf jeglichen lokalen oder nationalen Widerstand des Proletariats rasch reagieren, indem sie die Produktion verlagert. Diesem scheinbar überwältigenden Instrument zur Disziplinierung der Arbeit kann nur wirksam durch einen internationalen Klassenkampf entgegengewirkt werden, eine Ebene der Auseinandersetzung, die zu erklimmen die Klasse in absehbarer Zukunft noch unfähig ist.

Die zweite Ursache dieser Schwächung ist die Unfähigkeit der Klasse, die Politisierung ihrer Kämpfe nach dem Anfangsimpuls von 1968/69 anzustreben. Daraus resultierte das Ausbleiben jeglicher Entwicklungsperspektive für ein besseres Leben oder eine bessere Gesellschaft: die gegenwärtige Phase des Zerfalls. Insbesondere der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes in Osteuropa schien die Unmöglichkeit einer Alternative zum Kapitalismus zu bekräftigen.

In einer kurzen Zeitspanne, etwa von 2003 bis 2008, gab es zarte, relativ unauffällige erste Anzeichen des Beginns eines zwangsläufig langwierigen und schwierigen Prozesses der proletarischen Erholung von diesen Schlägen. Insbesondere die Frage der Klassensolidarität, nicht zuletzt die zwischen den Generationen, wurde allmählich vorgebracht. Die Anti-CPE-Bewegung 2006 war der Höhepunkt dieser Phase, weil es ihr gelang, die französische Bourgeoisie zum Einlenken zu zwingen und weil das Beispiel dieser Bewegung und ihr Erfolg Bereiche der Jugend in anderen europäischen Ländern, einschließlich Deutschland und Großbritannien, inspirierte.

Jedoch erfroren diese ersten Knospen einer möglichen proletarischen Wiederbelebung infolge einer dritten negativen Welle von Ereignissen historischen Ausmaßes in der Phase nach‚1968, die einen dritten herben Rückschlag für das Proletariat bedeuteten: die wirtschaftlichen Kalamitäten von 2007/08, denen die gegenwärtige Welle von Flüchtlingen und anderen Immigranten folgte – die größte seit Ende des II. Weltkrieges.

Das Besondere an der Krise von 2007/08 war, dass sie als eine Finanzkrise von enormen Ausmaßen begann. Für Millionen von ArbeiterInnen bestand eine der schlimmsten Auswirkungen dieser Krise, in einigen Fällen sogar die Hauptauswirkung, nicht darin, dass ihnen der Lohn gekürzt wurde, die Steuern erhöht wurden oder dass sie ihren Job verloren, Maßnahmen, die von den Arbeitgebern oder dem Staat erzwungen werden, sondern im Verlust des Zuhauses, der Ersparnisse, Versicherungen, etc. Diese Verluste auf finanzieller Ebene erscheinen als Verluste von Staatsbürgern in der bürgerlichen Gesellschaft und nicht als spezifisch proletarisches Los. Ihre Ursachen bleiben unklar, begünstigen Personifizierung und Verschwörungstheorien.

Die Besonderheit der Flüchtlingskrise ist, dass sie im Kontext der „Festung Europa“ (und der Festung Nordamerika) stattfindet. Im Gegensatz zu den 1930er Jahren ist seit 1968 die kapitalistische Weltkrise von einem internationalen staatskapitalistischen Management unter der Leitung der Bourgeoisie der alten kapitalistischen Länder flankiert worden. Als Folge dessen scheinen nach fast einem halben Jahrhundert der chronischen Krise Westeuropa und Nordamerika immer noch als Oasen des Friedens, Wohlstandes und der Stabilität, zumindest im Vergleich mit der „Welt da draußen“. In solch einem Kontext ist es nicht nur die Furcht vor der Konkurrenz der Immigranten, die Teile der einheimischen Bevölkerung alarmieren, sondern auch die Furcht, dass das Chaos und die Gesetzlosigkeit, die als etwas erscheinen, das von draußen kommt, zusammen mit den Flüchtlingen Zutritt zur „zivilisierten“ Welt erhalten. Auf der gegenwärtigen Ebene des Klassenbewusstseins ist es für die meisten ArbeiterInnen zu schwierig zu verstehen, dass sowohl die chaotische Barbarei in der kapitalistischen Peripherie als auch ihr immer näheres Vordringen zu den Kernländern das Resultat des Weltkapitalismus und der Politik der führenden kapitalistischen Länder sind.

Dieser Kontext der „Finanz“-, „Euro“- und Flüchtlingskrise hat zurzeit das erste embryonale Streben nach einer Erneuerung der Klassensolidarität im Keim erstickt. Dies ist möglicherweise zumindest teilweise der Grund, warum der Kampf der Indignados, auch wenn er länger und in gewisser Weise tiefergehend war als die Anti-CPE -Bewegung, darin scheiterte, die Angriffe in Spanien zu stoppen, und so leicht von der Bourgeoisie ausgenutzt werden konnte, um eine neue linke Partei zu gründen: Podemos.

Das politische Hauptresultat dieser neuen Welle der De-Solidarisierung von 2008 bis heute war die Stärkung des Populismus. Letzterer ist nicht nur Symptom einer weiteren Schwächung des proletarischen Klassenbewusstseins und Kampfgeistes, sondern bildet auch einen weiteren treibenden Faktor dafür. Nicht nur, weil der Populismus in die Reihen des Proletariats vordringt; tatsächlich widersetzen sich zentrale Sektoren heftig diesem Einfluss, wie das deutsche Beispiel veranschaulicht. Sondern auch, weil die Bourgeoisie von dieser Heterogenität der Klasse profitiert, um das Proletariat weiter zu spalten und zu verwirren. Heute scheinen wir uns einer Situation anzunähern, die auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeiten mit den 1930er Jahren aufweist. Natürlich ist das Proletariat nicht politisch und physisch besiegt worden, wie dies damals in Deutschland der Fall gewesen war. Infolgedessen kann der Antipopulismus nicht genau dieselbe Rolle spielen wie der Antifaschismus der 30er Jahre. Es scheint auch eine Charakteristik der Zerfallsphase zu sein, dass solche falsche Alternativen weniger scharf konturiert sind als früher. Dennoch: Während in einem Land wie Deutschland vor acht Jahren die ersten Schritte der Politisierung einer kleinen Minderheit von suchenden jungen Leuten unter dem Einfluss der Losung: „Nieder mit dem Kapitalismus, der Nation und dem Staat“ gemacht wurden, werden sie heute vor dem Hintergrund der Verteidigung der Flüchtlinge und der „Willkommenskultur“ in der Konfrontation gegen die Neonazis und Rechtspopulisten gemacht.

In der gesamten Periode im Anschluss an‚ 1968 war das Gewicht des Antifaschismus zumindest durch die Tatsache abgemildert, dass die konkrete faschistischen Gefahr entweder in der Vergangenheit lag oder von mehr oder weniger marginalisierten Rechtsextremisten repräsentiert wurde. Heute verleiht der Aufstieg des Rechtspopulismus als ein potenzielles Massenphänomen der Verteidigung der Demokratie ein neues, griffigeres und wichtiges Ziel, für das sie mobilisieren kann.

Wir möchten diesen Teil mit der Feststellung schließen, dass das gegenwärtige Wachstum des Populismus und seines Einflusses auf die bürgerliche Politik insgesamt auch durch die aktuelle Schwäche des Proletariats ermöglicht wurde.

Die gegenwärtige Debatte in der Bourgeoisie über den Aufstieg des Populismus

Obwohl die bürgerliche Debatte darüber, wie man mit dem wiedererwachenden Populismus verfahren soll, gerade erst begonnen hat, können wir bereits einige Parameter nennen, die vorgestellt wurden. Wenn wir die Debatte in Deutschland betrachten – das Land, wo die Bourgeoisie vielleicht am sensibelsten und am wachsamsten in solchen Fragen ist -, können wir drei Aspekte identifizieren, die vorgebracht wurden.

Erstens, dass es ein Fehler der „Demokraten“ sei, den Populismus zu bekämpfen zu versuchen, indem man seine Sprache und Vorschläge annehme. Laut dieser Argumentation war es eben dieses Kopieren der Populisten, das teilweise das Fiasko der Regierungsparteien in den jüngsten Wahlen in Österreich erklärt und das Scheitern der traditionellen Parteien in Frankreich bei dem Versuch, den Vormarsch des FN zu stoppen, zu erklären hilft. Die Wähler der Populisten, argumentieren sie, zögen das Original jeder Kopie vor. Statt Zugeständnisse zu machen, sagen sie, sei es notwendig, die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen dem „verfassungsgetreuen Patriotismus“ und dem „chauvinistischen Nationalismus“, zwischen Weltoffenheit und Fremdenfeindlichkeit, Toleranz und Autoritätsgläubigkeit, Modernität und Konservatismus, zwischen Humanismus und Barbarei herauszustreichen. Laut dieser Argumentationslinie seien westliche Demokratien heute „reif“ genug, um mit dem modernen Populismus fertigzuwerden, während man gleichzeitig eine Mehrheit für die „Demokratie“ erhalten könne, wenn man seine Positionen „offensiv“ vortrage. Dies ist beispielsweise die Position der gegenwärtigen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Zweitens wird darauf bestanden, dass das Wahlvolk in die Lage versetzt werden sollte, wieder einen Unterschied zwischen Rechts und Links zu erkennen, damit der gegenwärtige Eindruck eines Kartells der etablierten Parteien korrigiert werden könne. Diese Idee, vermuten wir, war bereits die Motivation für die in den vergangenen beiden Jahren von der CDU/SPD-Koalition betriebenen Vorbereitungen für eine mögliche künftige christdemokratisch-grüne Koalition. Der Ausstieg aus der Kernkraft nach der Fukushima-Katastrophe, der nicht in Japan, sondern in Deutschland angekündigt wurde, und die aktuelle Euphorie der Grünen für eine „Willkommenskultur“ gegenüber den Flüchtlingen, die nicht mit der SPD, sondern mit Angela Merkel in Verbindung gebracht wird, waren die bisherigen Hauptschritte in dieser Strategie. Jedoch bedroht der unerwartet schnelle Aufstieg der AfD in der Wählergunst heute die Verwirklichung einer solchen Strategie (der jüngste Versuch, die liberale FDP ins Parlament zurückzubringen, mag eine Reaktion darauf sein, da diese Partei sich eventuell einer „schwarz-grünen“ Koalition anschließen könnte). Im Gegenzug könnte die SPD, jene Partei, die in Deutschland die „neoliberale Revolution“ mit der Agenda 2010 unter Schröder angeführt hatte, dann eine eher „linke“ Haltung einnehmen. Im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern, wo die Rechtskonservativen unter Thatcher und Reagan die notwendigen „neoliberalen“ Maßnahmen durchsetzten, mussten sich in vielen kontinentaleuropäischen Ländern die Linken (als die politischeren, verantwortlicheren und disziplinierteren Parteien) daran beteiligen oder gar ihre Umsetzung in die Hand nehmen.

Heute jedoch ist es offensichtlich geworden, dass die notwendige Stufe der neo-liberalen Globalisierung von Exzessen begleitet wurde, die früher oder später korrigiert werden sollten. Dies war besonders nach 1989 der Fall, als der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes so überwältigend all die ordo-liberalen Thesen über die Ungeeignetheit einer staatskapitalistischen Bürokratie für die Lenkung der Wirtschaft zu bestätigen schien. Solche Exzesse werden nun in wachsender Weise von seriösen Repräsentanten der bürgerlichen Klasse hervorgehoben. Zum Beispiel ist es für das Überleben des Kapitalismus nicht absolut unerlässlich, dass eine winzige Fraktion der Gesellschaft nahezu den gesamten Reichtum besitzt. Dies kann nicht nur sozial und politisch schädlich sein, sondern auch wirtschaftlich, da die Superreichen, statt den Löwenanteil ihres Reichtums auszugeben, vor allem um den Werterhalt ihres Reichtums besorgt sind und daher die Spekulation anheizen und zahlungsfähige Kaufkraft zurückhalten. Gleichermaßen ist es nicht absolut notwendig für den Kapitalismus, dass die Konkurrenz zwischen Nationalstaaten bis zum gegenwärtigen Ausmaß die Form von Steuerkürzungen und Staatsetats annimmt, so dass der Staat notwendige Investitionen nicht mehr sichern kann. Mit anderen Worten, die Idee ist, dass durch ein etwaiges Comeback einer Art neo-keynesianischer Korrektur die Linke, ob in traditioneller Form oder durch neue Parteien wie Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien, eine gewisse materielle Grundlage zurückerlangen kann, um sich selbst als Alternative zu den ordo-liberalen Rechtskonservativen zu profilieren. Es gilt jedoch festzuhalten, dass die heutigen Denkprozesse innerhalb der herrschenden Klasse über eine mögliche künftige Rolle der Linken nicht in erster Linie von der (unmittelbaren) Furcht vor der Arbeiterklasse bestimmt werden. Im Gegenteil, viele Elemente der gegenwärtigen Lage in den kapitalistischen Kernländern deuten darauf hin, dass der Hauptaspekt, der die Politik der herrschenden Klasse bestimmt, gegenwärtig das Problem des Populismus ist.

Der dritte Aspekt ist, dass die CSU, die Schwesterpartei von Merkels CDU, wie die britischen Tories um Boris Johnson denkt, dass Teile des traditionellen Parteiapparates Elemente populistischer Politik anwenden sollten. Wir sollten dabei anmerken, dass die CSU nicht mehr der Ausdruck der traditionell bayrischen, kleinbürgerlichen Rückständigkeit ist. Im Gegenteil, zusammen mit der südlichen Provinz von Baden-Württemberg ist Bayern heute ökonomisch der modernste Teil Deutschlands, das Rückgrat seiner Hightech- und Exportindustrien, die Produktionsbasis von Konzernen wie Siemens, BMW oder Audi.

Diese dritte Option, die natürlich von München propagiert wird, kollidiert mit der erstgenannten, die vor allem von Angela Merkel vorgebracht wird; die jüngsten Frontalzusammenstöße zwischen den beiden Parteien sind nicht nur Wahlmanöver oder (reale) Differenzen zwischen partikularen Wirtschaftsinteressen, sondern auch Unterschiede in der Vorgehensweise. Mit Blick auf die aktuelle Entschlossenheit der Bundeskanzlerin, ihre Auffassung nicht zu ändern, haben einige Repräsentanten der CSU sogar begonnen, „laut darüber nachzudenken“, bei den nächsten Bundestagswahlen ihre eigenen Repräsentanten in anderen Teilen Deutschlands in Opposition zur CDU aufzustellen.

Die Idee der CSU wie von Teilen der britischen Konservativen ist, dass, wenn populistische Maßnahmen unvermeidbar sind, es besser sei, wenn sie von einer erfahrenen und verantwortungsvollen Partei angewendet werden. Auf diese Art könnten solch oftmals unverantwortliche Maßnahmen einerseits begrenzt und andererseits durch begleitende Eingriffe ausgeglichen werden.

Trotz des realen Risses zwischen Merkel und Seehofer, wie zwischen Cameron und Johnson, sollten wir nicht das Element der Arbeitsteilung zwischen ihnen übersehen (ein Teil „offensiv“ demokratische Werte vertretend, der andere die Richtigkeit des „demokratischen Ausdrucks erzürnter Bürger“ anerkennend).

Auf alle Fälle veranschaulicht dieser Diskurs in seiner Gesamtheit, dass die führenden Fraktionen der Bourgeoisie dabei sind, auf gewisse Weise und in einem gewissen Umfang sich mit der Idee einer populistischen Regierungspolitik abzufinden, wie dies bereits teilweise von den Brexit-Tories und der CSU praktiziert wird.

Populismus und Zerfall

Wie wir gesehen haben, hat es eine massive Zurückhaltung der Hauptfraktionen der Bourgeoisie in Westeuropa und Nordamerika gegenüber dem Populismus gegeben (und gibt es immer noch). Was sind die Ursachen? Im Grunde genommen stellen diese Bewegungen den Kapitalismus keineswegs in Frage. Nichts davon, was sie propagieren, ist der bürgerlichen Welt fremd. Anders als der Stalinismus stellt der Populismus nicht einmal die gegenwärtigen Formen des kapitalistischen Eigentums in Frage. Er ist natürlich eine „oppositionelle“ Bewegung. Aber dies waren Sozialdemokratie und Stalinismus in gewisser Weise auch, ohne dass es sie daran hinderte, verantwortungsvolle Mitglieder von Regierungen führender kapitalistischer Staaten zu sein.

Um diese Zurückhaltung zu erklären, ist es notwendig, den fundamentalen Unterschied zwischen dem heutigen Populismus und der Linken des Kapitals zu erkennen. Auch dann, wenn sie keine früheren Organisationen der Arbeiterbewegung repräsentieren (wie die Grünen zum Beispiel), stützen die Linken ihre Anziehungskraft auf die Propagierung früherer oder verzerrter Ideale der Arbeiterbewegung oder zumindest der bürgerlichen Revolution, obwohl sie gleichzeitig die besten Repräsentanten des Nationalismus und die besten Mobilmacher des Proletariats für den Krieg sein können. Mit anderen Worten, so chauvinistisch und sogar antisemitisch sie auch sein mögen, leugnen sie nicht prinzipiell die „Bruderschaft der Menschheit“ und die Möglichkeit, den Zustand der gesamten Welt zu verbessern. Im Grunde behaupten selbst die reaktionärsten neoliberalen Radikalen, dieses Ziel zu verfolgen. Dies ist zwangsläufig der Fall. Von Anbeginn stützte sich der Anspruch der Bourgeoisie, sich der Repräsentanz der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit als würdig zu erweisen, stets auf diese Perspektive.

Nichts von dem bedeutet, dass die Linke des Kapitals als Teil dieser verrotteten Gesellschaft nicht auch rassistisches, antisemitisches Gift verspritzt, das dem der rechten Populisten nicht unähnlich ist!

Im Gegensatz dazu verkörpert der Populismus die Abkehr von solch einem „Ideal“. Was er propagiert, ist das Überleben der Einen auf Kosten der Anderen. All seine Arroganz kreist um diesen „Realismus“, auf den er so stolz ist. Als solcher ist er das Produkt der bürgerlichen Welt und ihrer Weltsicht – vor allem aber ihres Zerfalls.

Zweitens schlägt der linke Flügel des Kapitals dem nationalen Kapital ein mehr oder weniger kohärentes und realistisches ökonomisches, politisches und soziales Programm vor. Im Gegensatz dazu ist der Populismus nicht deswegen so problematisch, weil er keine konkreten Vorschläge macht, sondern weil er mal das eine, mal das andere (und sei es das Gegenteil) vorschlägt, heute die eine Politik, morgen eine andere betreibt. Statt eine politische Alternative zu sein, repräsentiert er den Zerfall der bürgerlichen Politik.

Daher macht es, zumindest im Sinne des Terminus, der hier benutzt wird, wenig Sinn, von der Existenz eines linken Populismus als einem Pendant zum rechten Populismus zu sprechen.

Aller Ähnlichkeiten und Parallelen zum Trotz wiederholt sich die Geschichte niemals. Der Populismus von heute ist nicht dasselbe wie der Faschismus der 1920er und 1930er Jahre. Jedoch haben der Faschismus damals und der Populismus heute in gewissen Hinsichten ähnliche Ursachen. Insbesondere sind beide Ausdruck des Zerfalls der bürgerlichen Welt. Mit der historischen Erfahrung des Faschismus und vor allem des Nationalsozialismus ausgestattet, ist die Bourgeoisie der alten, zentralen kapitalistischen Länder sich sowohl dieser Ähnlichkeiten als auch der potenziellen Gefahren bewusst, die Letztere für die Stabilität der kapitalistischen Ordnung darstellen.

Parallelen zum Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland

Dem Faschismus in Italien und Deutschland waren gemeinsam der Triumph der Konterrevolution und das Delirium der sich in eine mystische Gemeinschaft auflösenden Klassen nach einer vorherigen Niederlage der revolutionären Welle (hauptsächlich durch die Waffen der Demokratie und des linken Flügels des Kapitals). Gemeinsam auch ihre offene Anfechtung der imperialistischen Zerstückelung nach dem I. Weltkrieg und die Irrationalität vieler ihrer Kriegsziele. Doch trotz dieser Ähnlichkeiten (auf welcher Grundlage BILAN die Niederlage der revolutionären Welle und den Wechsel im historischen Kurs erkennen konnte, der die Möglichkeit für die Bourgeoisie schuf, das Proletariat für den Weltkrieg zu mobilisieren) lohnt es sich beim Unterfangen, den zeitgenössischen Populismus besser zu verstehen, einige Besonderheiten von historischen Entwicklungen im damaligen Deutschland näher unter die Lupe zu nehmen, einschließlich derer, die sie vom weitaus weniger irrationalen italienischen Faschismus unterschied. Erstens ging das Beben der etablierten Obrigkeiten der herrschenden Klassen und der Vertrauensverlust der Bevölkerung in ihre traditionelle politische, wirtschaftliche, ideologische und moralische Herrschaft viel tiefer als anderswo (ausgenommen Russland), da Deutschland der Hauptverlierer des Ersten Weltkrieges war und aus ihm in einem Zustand der ökonomischen, finanziellen und gar physischen Erschöpfung hervorging.

Zweitens war in Deutschland weitaus mehr als in Italien eine reale revolutionäre Situation eingetreten. Die Weise, wie die Bourgeoisie in der Lage war, dieses Potenzial schon früh im Keim zu ersticken, sollte uns nicht dazu verleiten, das Ausmaß dieses revolutionären Prozesses und die Intensität der Hoffnungen und Sehnsüchte zu unterschätzen, die von ihm geweckt wurden und ihn begleiteten. Die deutsche und die Weltbourgeoisie brauchten fast sechs Jahre, bis 1923, um alle Spuren dieser überbordenden Lebendigkeit auszulöschen. Heute ist es schwierig, sich das Ausmaß der Enttäuschung, die von dieser Niederlage verursacht wurde, und die Verbitterung vorzustellen, die sie hinterließ. Dem Vertrauensverlust der Bevölkerung in die herrschende Klasse folgte somit schnell die weitaus grausamere Enttäuschung über ihre eigenen (früheren) Organisationen (Sozialdemokratie und Gewerkschaften) und die Enttäuschung über die junge KPD und die Kommunistische Internationale.

Drittens spielten ökonomische Katastrophen eine weitaus zentralere Rolle beim Aufstieg des Nationalsozialismus, als dies beim Faschismus in Italien der Fall war. Die Hyperinflation 1923 in Deutschland (und anderswo in Mitteleuropa) untergrub das Vertrauen in die Währung als universelles Tauschmittel. Die Große Depression, die 1929 begann, fand nur sechs Jahre nach dem Trauma der Hyperinflation statt. Nicht nur, dass die große Depression eine Arbeiterklasse in Deutschland traf, deren Klassenbewusstsein und Kampfgeist längst zertrümmert war. Die Weise, in der die Massen intellektuell und emotional diese neue Episode der Wirtschaftskrise erfuhren, wurde wesentlich durch die Ereignisse von 1923 beeinflusst, sozusagen vorformatiert.

Die Krisen besonders im dekadenten Kapitalismus betreffen jeden Aspekt des wirtschaftlichen (und sozialen) Lebens. Sie sind Krisen der (Über-)Produktion – von Kapital, Waren, von Arbeitskraft – und der Aneignung und „Verteilung“ – finanzielle und Währungsspekulationen sowie den Crash eingeschlossen. Doch anders als der Ausdruck der Krise in der Produktion, wie Entlassungen und Lohnkürzungen, sind die negativen Auswirkungen auf die Bevölkerung auf der finanziellen und monetären Ebene weitaus abstrakter und obskurer. Dennoch können ihre Auswirkungen gleichermaßen verheerend für Teile der Bevölkerung sein; ihre Nachwirkungen können gar weltweit sein und sich sogar schneller verbreiten als das Echo auf ein Ereignis, das näher am Produktionsprozess liegt. Mit anderen Worten, während die letztgenannten Erscheinungen der Krise dazu neigen, die Entwicklung des Klassenbewusstseins zu begünstigen, neigen jene, die aus der finanziellen und monetären Sphäre kommen, eher zum Gegenteil. Ohne die Unterstützung durch den Marxismus ist es nicht leicht, die wahren Verbindungen zwischen z.B. einem finanziellen Crash in Manhattan und der Zahlungsunfähigkeit einer Versicherung oder gar eines Staates auf einem anderen Kontinent zu erkennen. Solch dramatische Systeme der Interdependenz, die blind zwischen Ländern, Völkern, Gesellschaftsklassen geschaffen werden und die hinter dem Rücken der Protagonisten funktionieren, können leicht zu einer Personifizierung und zu gesellschaftlicher Paranoia führen. Dass die jüngste Verschärfung der Krise des Kapitalismus auch eine Finanz- und Bankenkrise war, verknüpft mit den Spekulationsblasen und ihrem Platzen, ist nicht nur bürgerliche Propaganda. Dass ein falsches Spekulationsmanöver in Tokio oder New York den Kollaps einer Bank in Island auslösen oder den Immobilienmarkt in Irland erschüttern kann, ist keine Fiktion, sondern Realität. Nur der Kapitalismus kann solch eine Interdependenz auf Leben und Tod zwischen Menschen schaffen, die einander völlig gleichgültig sind, zwischen Protagonisten, die sich nicht einmal der Existenz des anderen bewusst sind. Es ist äußerst schwer für menschliche Wesen, mit solch einem Grad an Abstraktion, ob intellektuell oder emotional, klar zu kommen. Ein Weg, damit fertig zu werden, ist die Personifizierung, die die realen Mechanismen des Kapitalismus ignoriert: böse Kräfte, die absichtlich ausgesetzt werden, um uns zu schaden. Es ist umso wichtiger, diese Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Angriffen zu begreifen, da nicht mehr hauptsächlich das Kleinbürgertum und die so genannten Zwischenschichten ihre Ersparnisse verloren, wie 1923, sondern ArbeiterInnen, die ihr eigenes Zuhause besaßen oder versuchten, es zu besitzen, die Ersparnisse haben, Versicherungen, etc.

1932 sah sich die deutsche Bourgeoisie, die hauptsächlich gegen Russland in den Krieg zu ziehen plante, mit einem Nationalsozialismus konfrontiert, der zu einer wahren Massenbewegung geworden war. Bis zu einem gewissen Umfang saß die Bourgeoisie in der Falle, war sie Gefangener einer Situation, die größtenteils sie selbst zu verantworten hatte. Sie hätte für einen Krieg unter einer sozialdemokratischen Führung mit Unterstützung durch die Gewerkschaften in einer möglichen Koalition mit Frankreich oder Großbritannien, anfangs sogar als ihr Juniorpartner, optieren können. Aber dies hätte nach sich gezogen, die NS-Bewegung zu konfrontieren oder zumindest zu neutralisieren, die nicht nur zu groß geworden war, um ihrer Herr zu werden, sondern auch jenen Teil der Bevölkerung um sich sammelte, der sich nach einem Krieg sehnte. In dieser Lage machte die deutsche Bourgeoisie den Fehler, zu glauben, sie könne die NS-Bewegung beliebig instrumentalisieren.

Der Nationalsozialismus war nicht einfach ein Regime des Massenterrors, der von einer kleinen Minderheit gegen den Rest der Bevölkerung ausgeübt wurde. Er hatte eine eigene Massenbasis. Er war nicht nur ein Instrument des Kapitals, das der Bevölkerung aufgezwungen wurde. Er war auch das Gegenteil: ein blindes Instrument von atomisierten, pulverisierten und paranoiden Massen, die sich ihrerseits dem Kapital aufzwangen.

Dem Nationalsozialismus wurde daher zu einem bedeutenden Teil durch den Vertrauensverlust großer Bevölkerungsteile in die Autorität der herrschenden Klasse und ihre Fähigkeit , die Gesellschaft effektiv zu leiten und ihren Bürgern ein Minimum an körperlicher und ökonomischer Sicherheit zu gewähren, der Weg geebnet. Diese Erschütterung ihrer Fundamente wurde vom I. Weltkrieg eingeleitet und durch die darauffolgenden ökonomischen Katastrophen, die Hyperinflation, die (auf der Seite der Verlierer) aus dem Weltkrieg resultierte, und die Große Depression der 1930er Jahre verschärft. Das Epizentrum dieser Krise lag in den drei Reichen – das Deutsche, das Österreichisch-Ungarische und das Russische Reich -, die allesamt unter den Schlägen des (verlorenen) Krieges und der revolutionären Welle zusammengebrochen waren.

Anders als in Russland, wo die Revolution anfangs Erfolg hatte, scheiterte die Revolution in Deutschland und im früheren Österreich-Ungarn. Mangels einer proletarischen Alternative gegenüber der Krise der bürgerlichen Gesellschaft ergab sich eine große Leere, die um Deutschland und, sagen wir, Kontinentaleuropa nördlich des Mittelmeerbeckens angesiedelt war, doch weltweite Auswirkungen hatte und Auslöser einer Eskalation von Gewalt und Pogromisierung war, die sich auf Themen des Antisemitismus und Antibolschewismus bezogen und im „Holocaust“ und dem Beginn der Massenliquidierungen ganzer Völker insbesondere auf dem Territorium der UdSSR unter deutscher Besetzung kulminierten.

Die Form, die die Konterrevolution in der Sowjetunion annahm, spielte eine wichtige Rolle in der Entwicklung dieser Situation. Obwohl es nichts Proletarisches am stalinistischen Russland gab, erschreckte insbesondere die gewaltsame Enteignung der Bauernschaft (die „Kollektivierung der Landwirtschaft“ und die „Liquidierung der Kulaken“) nicht nur die kleinen Privateigentümer und Sparer in der restlichen Welt, sondern auch viele große. Dies war besonders in Kontinentaleuropa der Fall, wo diese Privateigentümer (die auch die bescheidensten Hauseigentümer miteinschloss) – anders als ihre britischen und US-amerikanischen Gegenparts ungeschützt durch das Meer und andere Barrieren vom „Bolschewismus“ – nur geringes Vertrauen in die Fähigkeit der existierenden instabilen, „demokratischen“ oder „autoritären“ europäischen Regimes hatten, sie vor der Enteignung durch die Krise oder den „jüdischen Bolschewismus“ zu schützen.

Wir können aus dieser historischen Erfahrung schließen, dass, wenn das Proletariat unfähig ist, seine eigene revolutionäre Alternative gegen den Kapitalismus vorzubringen, der Vertrauensverlust in die Fähigkeiten der herrschenden Klasse, „ihren Job zu machen“, möglicherweise zu einer Revolte führt, einem Protest, einer Explosion ganz anderer Art, eine, die nicht bewusst ist, sondern blind, nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit zugewandt ist, die nicht auf Vertrauen, sondern auf Angst basiert, nicht auf Kreativität, sondern auf Zerstörungswut und Hass.

Eine zweite Krise des Vertrauens in die herrschende Klasse

Dieser Prozess, den wir gerade geschildert haben, war bereits der Zerfall des Kapitalismus. Und es ist mehr als verständlich, dass viele Marxisten und andere scharfsinnige Beobachter der Gesellschaft in den 1930ern erwarteten, dass diese Tendenz schnell die gesamte Welt verschlingen werde. Doch es stellte sich heraus, dass sie nur die erste Phase dieses Zerfalls war, noch nicht seine Endphase.

Namentlich drei Faktoren von weltgeschichtlicher Bedeutung drängten diese Zerfallstendenz zurück.

Erstens der Sieg der Anti-Hitler-Koalition im II. Weltkrieg, der das Prestige der „westlichen“ Demokratie und besonders des amerikanischen Modells auf der einen Seite sowie des „Sozialismus in einem Land“ und des sowjetischen Modells auf der anderen Seite erheblich steigerte.

Zweitens das „Wirtschaftswunder“ nach dem II. Weltkrieg vor allem im westlichen Block.

Diese zwei Faktoren waren der Bourgeoisie zuzuschreiben. Der dritte war der Arbeiterklasse zuzuschreiben: das Ende der Konterrevolution, die Rückkehr des Klassenkampfes auf der Hauptbühne der Geschichte und, mit ihm, (wenn auch konfus und flüchtig) das Wiederaufkommen einer revolutionären Perspektive. Die Bourgeoisie antwortete ihrerseits auf diese veränderte Lage nicht nur mit der Ideologie des Reformismus, sondern auch mit realen (natürlich nur vorübergehenden) Zugeständnissen und Verbesserungen. All dies stärkte unter den ArbeiterInnen die Illusion, dass das Leben sich verbessern ließe. Wie wir wissen, war es im Wesentlichen die Pattsituation zwischen den beiden Hauptklassen, von denen die eine nicht in der Lage ist, einen allgemeinen Krieg auszulösen, und die andere unfähig, sich auf eine revolutionäre Lösung zuzubewegen, welche zur gegenwärtigen Zerfallsphase führte. Nach dem Scheitern der ‚68er Generation, ihre Kämpfe zu politisieren, leiteten die Ereignisse von 1989 somit auf Weltebene die gegenwärtige Zerfallsphase ein. Doch es ist sehr wichtig zu begreifen, dass diese Phase nichts Stagnierendes ist, sondern ein Prozess. 1989 markierte vor allem das Scheitern des ersten Versuchs des Proletariats, seine eigenen revolutionäre Alternative neu zu entwickeln. Nach 20 Jahren der chronischen Krise und der Verschlechterung der Bedingungen für die Arbeiterklasse und für die Weltbevölkerung insgesamt waren auch das Prestige und die Autorität der herrschenden Klasse erodiert, jedoch nicht in dem gleichen Ausmaß. Zur Jahrtausendwende gab es noch immer wichtige Gegentendenzen, die die Reputation der führenden bürgerlichen Eliten aufwerteten. Wir möchten hier drei erwähnen:

Erstens beschädigte der Kollaps des Ostblockstalinismus in keiner Weise das Image der Bourgeoisie des früheren westlichen Blocks. Im Gegenteil, was er zu beweisen schien, war die Unmöglichkeit einer Alternative zum „westlichen, demokratischen Kapitalismus“. Natürlich wurde die Euphorie von 1989, wie die Illusion einer friedlicheren Welt, zum Teil schnell durch die Realität vertrieben. Doch es bleibt richtig, dass seit 1989 das Damoklesschwert der permanenten Bedrohung einer gegenseitigen Auslöschung durch einen nuklearen dritten Weltkrieg zumindest nicht mehr unmittelbar über unseren Häuptern schwebt. Auch konnten nach 1989, im Rückblick betrachtet, sowohl der II. Weltkrieg als auch der darauffolgende Kalte Krieg zwischen Ost und West glaubhaft als das Produkt der „Ideologie“ und des „Totalitarismus“ (also als Fehler des Faschismus und des „Kommunismus“) dargestellt werden. Auf ideologischer Ebene kam es der westlichen Bourgeoisie äußerst gelegen, dass der neue mehr oder weniger offene imperialistische Herausforderer der USA heute nicht mehr (das heutzutage „demokratische“) Deutschland, sondern das „totalitäre“ China ist, und dass viele der zeitgenössischen regionalen Kriege und terroristischen Angriffe dem „religiösen Fundamentalismus“ zugeordnet werden können.

Zweitens macht der aktuelle „Globalisierungs-“Zustand des Staatskapitalismus, der bereits zuvor eingeleitet wurde, im Zusammenhang mit der Phase nach 1989 eine reale Weiterentwicklung der Produktivkräfte in den früheren peripheren Ländern des Kapitalismus möglich. Selbstverständlich bilden die BRIC-Staaten alles andere als ein Modell dafür, wie die ArbeiterInnen in den alten kapitalistischen Ländern leben wollten. Doch andererseits erweckten sie den Eindruck eines dynamischen Weltkapitalismus. Angesichts der Bedeutung der Frage der Immigration für den heutigen Populismus sei anzumerken, dass diese Länder anerkanntermaßen einen bedeutenden Beitrag zur Stabilisierung der Situation leisten, da sie selbst Millionen von Migranten absorbieren, die andernfalls nach Europa und Nordamerika gehen würden.

Drittens finden die wirklich atemberaubenden Weiterentwicklungen auf der technologischen Ebene statt und haben Kommunikation, Bildung, Medizin, das Alltagsleben insgesamt „revolutioniert“, was einmal mehr den Eindruck einer pulsierenden Gesellschaft erweckt (was übrigens unser eigenes Verständnis rechtfertigt, dass die Dekadenz des Kapitalismus nicht einen Stopp der Produktivkräfte oder technologische Stagnation bedeutet).

Diese Faktoren (und es gibt wahrscheinlich noch weitere) konnten zwar nicht die gegenwärtige Zerfallsphase verhindern (und mit ihr eine erste Entwicklung des Populismus), aber doch einige ihrer Auswirkungen abschwächen. Im Gegensatz dazu deutet die zeitgenössische Stärkung desselben Populismus an, dass wir uns gewissen Grenzen dieser abschwächenden Effekte nähern, dass möglicherweise etwas eingeleitet wird, was man die zweite Stufe in der Zerfallsphase nennen könnte. Diese zweite Stufe wird, so meinen wir, gekennzeichnet von einem zunehmenden Vertrauensverlust wachsender Teile der Bevölkerung in die Bereitschaft oder Fähigkeit der herrschenden Klasse, sie zu beschützen. Ein Prozess der Desillusionierung, der zumindest für den Moment nicht proletarisch ist, sondern zutiefst anti-proletarisch. Hinter der Finanz-, Euro- und Flüchtlingskrise, die eher die auslösenden Faktoren denn die Grundursachen sind, ist diese neue Stufe selbstverständlich das Resultat der sich über Jahrzehnte anhäufenden Auswirkungen von tiefer liegenden Faktoren. An erster Stelle die Abwesenheit einer proletarischen, revolutionären Perspektive. Auf der anderen Seite (auf der des Kapitals) gibt es seine chronische Wirtschaftskrise, aber auch die Auswirkungen des immer abstrakteren Charakters der Funktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser dem Kapitalismus innewohnende Prozess erlebte in den vergangenen drei Jahrzehnten mit einer krassen Reduzierung der industriellen und Handarbeit in den alten kapitalistischen Ländern und der körperlichen Arbeit durch die allgemeine Automatisierung und die neuen Medien wie den PC und das Internet eine dramatische Beschleunigung. Parallel dazu ist das Medium des universellen Austausches größtenteils von Metall- und Papiergeld in elektronische Zahlungsmittel umgewandelt worden – Prozesse der Ent-Körperlichung und der Ent-Wirklichung.

Populismus und Gewalt

Auf der Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise gibt es eine sehr spezifische Kombination von zwei Faktoren: die ökonomischen Mechanismen oder „Gesetze“ (der Markt) und die Gewalt. Auf der einen Seite ist die Voraussetzung für den Tausch von Äquivalenten der Verzicht auf Gewalt – Austausch statt Raub. Darüber hinaus ist die Lohnarbeit die erste Form der Ausbeutung, wo die Arbeitsverpflichtung und die Motivation im Arbeitsprozess selbst im Kern eine ökonomische und nicht durch direkte Gewalt erzwungene ist. Auf der anderen Seite stützte sich im Kapitalismus das ganze System des Äquivalententausches ursprünglich auf einen Nicht-Äquivalententausch – die gewaltsame Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln („ursprüngliche Akkumulation“), was die Vorbedingung für das Lohnsystem und im Kapitalismus ein permanenter Prozess ist, da die Akkumulation selbst ein mehr oder weniger gewaltsamer Prozess ist (siehe Luxemburgs „Die Akkumulation des Kapitals“). Diese dauerhafte Präsenz beider Pole des Widerspruchs (Gewalt und Gewaltverzicht) und die Ambivalenz, die dies schafft, durchtränkt das ganze Leben der bürgerlichen Gesellschaft. Sie begleitet jeden Austauschakt, in dem die alternative Option des Raubes ständig präsent ist. In der Tat: Eine Gesellschaft, die radikal auf den Austausch und daher auf Gewaltverzicht basiert, muss diesen Verzicht unter Androhung von Gewalt erzwingen, wobei es nicht bei der bloßen Androhung bleibt – ihre Gesetze, ihr Justizapparat, Polizei, Gefängnisse, etc. stehen im Einsatz. Diese Zweideutigkeit ist im Austausch zwischen Lohnarbeit und Kapital, wo der ökonomische Zwang von physischer Gewalt ergänzt wird, stets präsent. Er ist besonders da präsent, wo das Gewaltmittel par excellence in der bürgerlichen Gesellschaft direkt involviert ist – im Staat. In seinem Verhältnis zu seinen eigenen Bürgern (Zwang und Erpressung) und zu anderen Staaten (Krieg) ist das Instrument der herrschenden Klasse, um Raub und chaotische Gewalt zu unterdrücken, selbst gleichzeitig der verallgemeinerte, heilig gesprochene Raub.

Einer der zentralen Punkte dieses Widerspruchs und dieser Zweideutigkeit zwischen Gewalt und ihrem Verzicht in der bürgerlichen Gesellschaft liegt in jedem seiner individuellen Subjekte. Heutzutage ein normales Leben zu leben erfordert den Verzicht auf die Überfülle, auf eine ganze Welt von körperlichen, emotionalen, intellektuellen, moralischen, künstlerischen, kreativen Bedürfnissen. Sobald der reife Kapitalismus von der Stufe der formalen zur Stufe der realen Vorherrschaft übergegangen war, wurde dieser Verzicht nicht mehr in erster Linie durch eine äußere Gewalt durchgesetzt. Im Grunde ist jedes Individuum mehr oder weniger bewusst vor die Wahl gestellt, entweder die abstrakte Funktionsweise dieser Gesellschaft zu adaptieren oder ein „Verlierer“ zu sein, der gegebenenfalls in der Gosse landet. Disziplin ist zur Selbstdisziplinierung geworden, aber in solch einer Weise, dass jedes Individuum zum Unterdrücker der eigenen, vitalen Bedürfnisse wird. Natürlich enthält dieser Prozess der Selbstdisziplinierung auch ein Potenzial für die Emanzipation, und zwar für das Individuum und vor allem für das Proletariat als Gesamtheit (als selbstdisziplinierte Klasse par excellence), um das eigene Schicksal zu meistern. Doch im Augenblick, im „normalen“ Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft, ist diese Selbstdisziplin wichtig für die Verinnerlichung kapitalistischer Gewalt. Weil dies der Fall ist – zusätzlich zur proletarischen Option der Umwandlung dieser Selbstdisziplin in ein Mittel zur Verwirklichung, zur Revitalisierung menschlicher Bedürfnisse und der Kreativität -, lauert auch eine andere Option, jene der blinden Umlenkung der verinnerlichten Gewalt nach außen. Die bürgerliche Gesellschaft benötigt stets einen „Außenseiter“ und bietet ihn auch an, um die (Selbst-)Disziplin jener aufrechtzuerhalten, die vermeintlich dazugehören. Daher richtet sich die blinde Wieder-Veräußerlichung von Gewalt durch bürgerliche Subjekte „spontan“ (d.h. prädisponiert oder „geformt“, um so handeln) gegen solche Außenseiter (Pogromisierung).

Wenn die offene Krise der kapitalistischen Gesellschaft eine bestimmte Intensität erreicht hat, wenn die Autorität der herrschenden Klasse beschädigt ist, wenn bürgerliche Subjekte anfangen, die Fähigkeit und Entschlossenheit der Obrigkeiten anzuzweifeln, ihren Job zu machen und insbesondere sie vor einer Welt voller Fährnisse zu schützen, und wenn eine Alternative – die allein eine Alternative des Proletariats sein kann – ausbleibt, dann beginnen Teile der Bevölkerung gegen ihre herrschenden Eliten zu protestieren und gar zu revoltieren, jedoch nicht mit dem Ziel, ihre Herrschaft anzufechten, sondern um sie zu zwingen, ihre eigenen „gesetzestreuen“ Bürger gegen die „Auswärtigen“ zu beschützen. Diese Gesellschaftsschichten erleben die Krise des Kapitalismus als einen Konflikt zwischen diesen beiden ihm zugrundeliegenden Prinzipien: zwischen dem Markt und der Gewalt. Der Populismus ist die Option für die Gewalt, um die Probleme, die der Markt nicht zu lösen vermag, und gar die Probleme des Marktes an sich zu lösen. Wenn beispielsweise der Weltarbeitsmarkt die Arbeitsmärkte der alten kapitalistischen Länder mit einer Welle von Habenichtsen zu überfluten droht, besteht die Lösung darin, Grenzzäune zu errichten, Polizei an die Grenzen postieren und auf jeden zu schießen, der sie ohne Genehmigung zu übertreten versucht. Hinter der populistischen Politik lauert die Mordlust. Das Pogrom ist das Geheimnis seiner Existenz.

Steinklopfer, 8. Juni 2016

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Internationale Revue 54

Russland 1917 und das revolutionäre Gedächtnis

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Für alle jene, die immer noch meinen, dass die größte Hoffnung der Menschheit der revolutionäre Umsturz des Weltkapitalismus sei, ist es unmöglich, den Beginn des Jahres 2017 zu begrüßen, ohne daran zu erinnern, dass es der 100. Jahrestag der Russischen Revolution ist. Und wir wissen, dass auch all jene, die darauf beharren, dass es keine Alternative zum gegenwärtigen gesellschaftlichen System gibt, sich auf ihre Weise daran erinnern werden.

Viele von ihnen ignorieren sie natürlich oder spielen ihre Bedeutung herunter, indem sie uns erzählen, dass dies uralte Geschichte sei. Alles habe sich seither verändert – und was soll es bezwecken, über eine Arbeiter_innenrevolution zu sprechen, wenn die Arbeiterklasse gar nicht mehr existiere oder dergestalt heruntergekommen sei, dass der Begriff „Arbeiter_innenrevolution“ sogar auf die Protestwähler_innen aus den alten, von der Globalisierung dezimierten Industriezentren zugunsten von Brexit und Trump angewandt werden könne?

Und wenn die Erhebung, die 1917 die Welt erschütterte, doch Erwähnung findet, dann wird sie in der Mehrheit der Fälle als eine Art Horrorstory ausgemalt, jedoch eine mit einer eindeutigen „Moral“: Denk‘ daran, dies geschieht, wenn du das gegenwärtige System herausforderst, wenn du auf den Irrglauben hereinfällst, dass eine höhere Gesellschaftsform möglich sei. Du erntest Terror, Gulag, den allgegenwärtigen, totalitären Staat. Es habe mit Lenin und seiner fanatischen Bande der Bolschewisten begonnen, deren Staatsstreich im Oktober 1917 der heranwachsenden Demokratie Russlands den Garaus gemacht habe; und es habe mit Stalin und einer Gesellschaft geendet, die in ihrer Gänze in ein Zwangsarbeitslager umgewandelt wurde. Und schließlich sei es kollabiert, was ein für alle Mal demonstriert habe, dass es unmöglich sei, eine moderne Gesellschaft anders als mit den Methoden des Kapitalismus zu organisieren.

Wir haben nicht die Illusion, dass es im Jahr 2017 eine leichte Angelegenheit ist zu erklären, was die Russische Revolution wirklich bedeutete. Dies ist eine Zeit größter Schwierigkeiten für die Arbeiterklasse und ihre kleinen revolutionären Minderheiten, eine Zeit, die von Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und des Verlustes jeglicher Zukunftsperspektive dominiert wird, vom unheimlichen Ansteigen von Nationalismus und Rassismus, die dazu dienen, die Arbeiterklasse zu spalten, von der hasserfüllten Demagogie der Rechtspopulisten und den lärmenden Appellen der Linken, die „Demokratie“ gegen diesen neuen Autoritarismus zu verteidigen.

Doch dies ist für uns auch der Moment, uns das Werk unserer politischen Vorfahren, der linkskommunistischen Fraktionen in Erinnerung zu rufen, die die fürchterlichen Niederlagen der revolutionären Bewegungen überlebt hatten, welche von den Ereignissen in Russland 1917 ausgelöst worden waren. Sie versuchten, aus der resultierenden Degeneration und dem Untergang der kommunistischen Parteien, welche gebildet worden waren, um den Weg zur Revolution zu weisen, zu lernen. Indem sie sowohl dem offenen Terror der Konterrevolution in ihren stalinistischen und faschistischen Formen als auch den etwas versteckteren Irreführungen der Demokratie trotzten, begannen die klarsten linkskommunistischen Strömungen, wie jene rund um die Zeitschrift BILAN in den 1930er Jahren und INTERNATIONALISME in den 40er Jahren, eine „Bilanz“ der Revolution zu ziehen. Entgegen all ihrer Miesmacher versicherten sie sich zunächst einmal dessen, was in der Russischen Revolution wichtig und positiv gewesen war. Insbesondere bestanden sie darauf, dass:

–     die „Russische“ Revolution nur eine Bedeutung besaß als ein erster Sieg der Weltrevolution und dass ihre einzige Hoffnung die Ausweitung der proletarischen Macht auf den Rest der Welt gewesen war;

–    sie die Fähigkeit der Arbeiterklasse bestätigte, den bürgerlichen Staat niederzureißen und neue Organe der politischen Macht (am bemerkenswertesten die Sowjets oder Räte der Arbeiterdelegierten) zu schaffen;

–    sie die Notwendigkeit für eine revolutionäre politische Organisation demonstrierte, die die Prinzipien des Internationalismus und der Arbeiterautonomie vertritt.

Gleichzeitig begannen die Revolutionäre der 30er und 40er Jahre auch die schmerzvolle Analyse der fatalen Irrtümer der Bolschewiki angesichts einer beispiellosen Lage für jegliche Arbeiterpartei, insbesondere:

–     die wachsende Tendenz der Partei, sich an die Stelle der Sowjets zu setzen und die Fusion der Partei mit dem post-revolutionären Staat, was nicht nur die Macht der Sowjets, sondern auch die Kapazität der Partei untergrub, die Klasseninteressen der ArbeiterInnen auch in Opposition gegen den neuen Staat zu verteidigen;

–     die Zuflucht in die „Rote Armee“ in Reaktion auf den Weißen Terror der Konterrevolution – ein Prozess, der zur Verwicklung der Bolschewiki in der Unterdrückung proletarischer Bewegungen und Organisationen führte;

–     die Tendenz, den Staatskapitalismus als eine Übergangsstufe zum Sozialismus zu betrachten und sich sogar mit ihm zu identifizieren.

Die IKS hat von Anbeginn ihrer Existenz versucht, dieses Werk fortzuführen, die Lehren aus der Russischen Revolution und aus der internationalen revolutionären Welle 1917–23 zu ziehen. Wir haben über die Jahre eine beachtliche Sammlung von Artikeln und Broschüren erarbeitet, die sich mit dieser absolut entscheidenden Ära in der Geschichte unserer Klasse befassen. Im Verlaufe dieses Jahres und darüber hinaus werden wir sicherstellen, diese Texte unseren Leser_innen besser zugänglich zu machen, indem wir ein auf den neuesten Stand gebrachtes Dossier unserer wichtigsten Artikel über die Russische Revolution und die internationale revolutionäre Welle erstellen. Laufend werden wir Artikel zuoberst auf die Webseite stellen, die am direktesten entweder der chronologischen Entwicklung des revolutionären Prozesses entsprechen oder Antworten auf die wichtigsten Fragen enthalten, die sich angesichts der Attacken der bürgerlichen Propaganda oder in Diskussionen im und um das proletarische(n) politische(n) Milieu stellen. In diesem Sinne machen wir darauf aufmerksam, dass wir letzthin auf unserer Startseite einen Artikel über die Februarrevolution wiederveröffentlichen, der 1997 erstmals veröffentlicht worden ist. Ihm folgen Artikel über Lenins Aprilthesen, die Juli-Tage, den Oktoberaufstand und so weiter. Wir beabsichtigen, diesen Prozess über einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten, eben weil dieses Drama der Revolution und der Konterrevolution eine Reihe von Jahren angedauert und sich keinesfalls auf Russland beschränkt hat, sondern sein Echo überall auf dem Globus hatte, von Berlin bis nach Schanghai, von Turin bis nach Patagonien und von der Clydeside bis nach Seattle.

Gleichzeitig streben wir an, dieser Sammlung auch neue Artikel hinzuzufügen, die sich mit Themen befassen, die wir noch nicht ausführlich untersucht haben (wie den Angriff gegen die Revolution durch die damalige herrschende Klasse, den „Roten Terror“ und so weiter); Artikel, die auf die gegenwärtigen Kampagnen des Kapitalismus gegen das revolutionäre Gedächtnis der Arbeiterklasse antworten, und Artikel, die nach den heutigen Bedingungen für die proletarische Revolution schauen – darauf, was sie mit der Zeit der Russischen Revolution gemeinsam haben, aber auch und vor allem darauf, welche bedeutende Änderungen in den letzten 100 Jahren eingetreten sind.

Ziel dieses Projekts ist es nicht einfach, längst vergangene historische Ereignisse zu „feiern“ oder „ihrer zu gedenken“. Ziel ist es vielmehr, die Auffassung zu verteidigen, dass die proletarische Revolution heute sogar noch notwendiger ist, als sie es 1917 war. Angesichts des Horrors des ersten imperialistischen Weltkrieges zogen die damaligen Revolutionäre den Schluss, dass der Kapitalismus in die Epoche seines Niedergangs eingetreten war, was die Menschheit vor die Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei stellte; und die gar noch größeren Schrecken – symbolisiert durch Ortsnamen wie Auschwitz und Hiroshima –, die der Niederlage des ersten Versuchs einer sozialistischen Revolution folgten, sollten ihre Diagnose absolut bestätigen. Ein Jahrhundert später stellt die fortdauernde Existenz des Kapitalismus eine tödliche Gefahr für das eigentliche Überleben der Menschheit dar.

Aus ihrer Gefängniszelle heraus drückte Rosa Luxemburg 1918, am Vorabend der Revolution in Deutschland, ihre fundamentale Solidarität mit der Russischen Revolution und der bolschewistischen Partei aus, trotz all ihrer ernsten Kritik an den Irrtümern der Bolschewiki, insbesondere an der Politik des Roten Terrors. Ihre Worte sind für unsere eigene Zukunft so relevant wie die Aussichten, mit denen sie selbst konfrontiert war:

„Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt!

Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Rußland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem ‚Bolschewismus‘.“ 1

IKS

1  https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1918/russrev/teil4.htm [149]

 

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Internationale Revue 54

Pannekoeks Lenin als Philosoph: Eine Kritik von Internationalisme 1948 (Einleitung)

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Als die GCF (Gauche Communiste de France) sich entschied, Anton Pannekoeks „Lenin als Philosoph“ zu übersetzen und zu veröffentlichen, war nicht nur sein Pseudonym Harper, sondern auch Pannekoek selbst in Frankreich nahezu unbekannt. Doch dies war keinesfalls ein rein französisches Phänomen. Zwar war Frankreich noch nie durch seinen Eifer aufgefallen, Texte der marxistischen Arbeiterbewegung zu veröffentlichen, doch galt dies zu jener Zeit für jedes Land auch und diese „Vergesslichkeit“ ist nicht allein auf Pannekoek beschränkt. Angefangen mit Rosa Luxemburg, war die gesamte kommunistische Linke, ihr gesamtes theoretisches und politisches Wirken, all die leidenschaftlichen Kämpfe einer Strömung, die mitten in den revolutionären Kämpfen in Folge des ersten Weltkriegs geboren wurde, „vergessen“ worden. Es ist kaum zu glauben, dass nur zehn Jahre der stalinistischen Konterrevolution ausreichten, um diese so reichen und fruchtbaren Lehren der revolutionären Bewegung aus  den Erinnerungen einer ganzen Generation, die diese durchlebt haben, zu löschen. Als ob eine Amnesie-Epidemie plötzlich über Millionen von Arbeitern, die aktiv an den Ereignissen teilgenommen haben, hereingebrochen wäre und diese vollkommen uninteressiert an allem, was mit revolutionärem Denken zu tun haben könnte, zurückgelassen hätte. Nur wenige Zeugnisse einer revolutionären Welle, die die Welt durchschüttelt hatten, waren in Form sehr kleiner, über die Welt verstreuter und voneinander isolierter Gruppen übrig geblieben. Letztere waren kaum in der Lage, den theoretischen Denkprozess fortzusetzen; eine Ausnahme bildeten kleine Ausgaben mit geringfügiger Verbreitung, die oftmals noch nicht einmal gedruckt werden konnten.

Es ist kein Wunder, dass Pannekoeks Buch „Lenin als Philosoph“, das 1938 am Vorabend des Krieges auf Deutsch erschien, kein Echo hervorrief und auch im stark eingeschränkten revolutionären Milieu auf keinerlei Resonanz stieß. Es war das unbestrittene Verdienst von Internationalisme (der Publikation der GCF), die, nachdem sich die Stürme des Zweiten Weltkrieges gelegt hatten, als erste den Text übersetzten und in den Ausgaben Nr. 18 – 29 (Februar – Dezember 1947) in Folge veröffentlichten. Internationalisme begrüßte Harpers Buch als „einen erstklassigen Beitrag zur revolutionären Bewegung und zur Emanzipation des Proletariats“. Weiterhin schrieb Internationalisme in ihrer Einleitung (Nr. 18, Februar 1947): „In einem einfachen, klaren Stil geschrieben, ist es eines der besten theoretischen Schriften der vergangenen Jahrzehnte. Ohne jede einzelne Schlussfolgerung zu teilen, kann niemand den enormen Wert dieser Arbeit leugnen“.

In derselben Einleitung drückte Internationalisme ihr Hauptanliegen aus:

„Die Degeneration der kommunistischen Internationale verursachte im revolutionären Milieu einen beunruhigenden Einbruch im Interesse an theoretischer und wissenschaftlicher Untersuchungsarbeit. Jenseits von BILAN, dem Magazin der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken und den Schriften der Rätekommunisten, einschließlich Harpers Buchs unternahm die europäische Arbeiterbewegung quasi keine theoretischen Anstrengungen. Für uns ist nichts schädlicher für die proletarische Bewegung als die theoretische Trägheit ihrer Militanten.“

Welch hohe Aufmerksamkeit sie Pannekoeks Buch zollte, beweist ihre vollständige Veröffentlichung. Doch darüber hinaus beteiligte sich Internationalisme mit einer Folge von Diskussionen und Kritiken (Nr. 30 – 33, Januar – April 1948) an der theoretischen Vertiefung. Internationalisme teilte vollständig Pannekoeks These, dass Lenin in seiner Polemik gegen die idealistischen Tendenzen des Neo-Machismus (Bogdanow usw.) auf Argumente des bürgerlichen Materialismus (ein mechanistischer und positivistischer Standpunkt) zurückfiel. Doch gleichzeitig wies Internationalisme die politischen Schlussfolgerungen Pannekoeks, die bolschewistische Partei sei eine nicht-proletarische Partei, eine Partei der Intelligentsia und die Oktoberrevolution eine bürgerliche Revolution gewesen, entschieden zurück.

Dieses Argument ist die Grundlage für die rätistische Analyse der bolschewistischen Partei und der Oktoberrevolution. Es unterscheidet die rätistische Strömung von der Italienischen Linken wie auch von der frühen KAPD. Der Rätismus ist das Ergebnis des Rückfalls hinter der (reiferen) Deutschen Linken, deren Erbe er beanspruchte. Ähnliche Analysen mit geringen Variationen finden sich bei Socialisme ou Barbarie oder Socialisme du Conseils, bei Chaulieu (Castoriadis), Mattick, Rubel und Korsch. Allen ist gemeinsam, dass sie die Oktoberrevolution auf ein strikt russisches Phänomen reduzieren und ihre internationale und historische Bedeutung vollkommen außer Acht lassen.

Ist dieser Punkt einmal erreicht, bleibt diesen Elementen nur noch übrig, das zurückgebliebene Niveau der industriellen Entwicklung festzustellen und daraus zu folgern, dass die objektiven Bedingungen für eine proletarische Revolution fehlten. Der Verlust des globalen Blicks auf die kapitalistische Entwicklung führt den Rätismus – über einige Umwege – zu den Positionen der Menschewiki: die Unreife der objektiven Bedingungen in Russland und dem daraus folgenden bürgerlichen Charakter der Revolution.

Dies alles deutet daraufhin, dass Pannekoeks Arbeit nicht von dem Bedürfnis getragen war, Lenins philosophischen Fehler zu beheben, sondern vom tiefen politischen Willen, die bolschewistische Partei zu bekämpfen, die er a priori – quasi von Natur aus – als eine Partei betrachtet, die von einem „halb bürgerlich-halb proletarischen Charakter des Bolschewismus und der russischen Revolution an sich“ (Einleitung von Paul Mattick zur franz. Ausgabe bei edition Spartacus, 1978) gekennzeichnet worden sei. „Um zu zeigen, was der Leninsche ‚Marxismus‘ wirklich bedeutete, unternahm Pannekoek eine kritische Prüfung seiner philosophischen Grundlagen, die unter dem Titel ‚Lenin als Philosoph‘ 1938 veröffentlicht wurde.“ (ebenda, S. 54, in: ‚Marxistischer Antileninismus’)

Der Wert solcher Unternehmungen muss hinterfragt werden und hier sind Pannekoeks Beweise kaum überzeugend. Der Charakter eines historischen Ereignisses von solcher Bedeutung wie die Oktoberrevolution oder die Rolle der bolschewistischen Partei aus einer philosophischen Polemik – wie wichtig auch immer – herzuleiten ist weit hergeholt. Weder die philosophischen Fehler Lenins 1908 noch der endgültige Triumph der stalinistischen Konterrevolution stellen einen Beweis dafür dar, dass die Oktoberrevolution nicht durch das Proletariat, sondern von einer dritten Klasse (der Intelligentsia) gemacht wurde. Dadurch, dass willkürlich falsche politische Schlüsse auf theoretisch richtige Annahmen gepfropft werden, dass ein kruder Zusammenhang zwischen Ursachen und Wirkungen hergestellt wird, gerät Pannekoek selbst in den Sog einer un-marxistischen Methode, die er völlig zu Recht an Lenin kritisiert.

Mit dem wiederauflebenden Klassenkampf nach 1968 nimmt das Proletariat den Faden wieder auf, der von der seit nahezu einem halben Jahrhundert triumphierenden Konterrevolution zerrissen worden war, und eignet sich die Arbeit der Linken wieder an, die den Schiffbruch der Kommunistischen Internationalen überlebt hatten. Heute tauchen die lang ignorierten Schriften und Debatten der Linken wieder auf und finden immer mehr Leser. Wie viele andere Schriften wurde auch Pannekoeks ‚Lenin als Philosoph’ wieder aufgelegt und kann von Tausenden von proletarischen Militanten gelesen werden. Doch wenn diese theoretisch-politischen Werke uns bei der Entwicklung der revolutionären Gedanken und Aktivitäten wirklich unterstützen sollen, dann müssen sie kritisch studiert werden. Dieser kritische Geist unterscheidet uns deutlich von der akademischen Mentalität, die, nachdem sie den einen oder anderen Autoren für sich entdeckt hat, diesen sofort zum neuen Idol macht und alles in Schutz nimmt, was dieser je geschrieben hat.

Gegen den Neo-Anti-Bolschewismus, der heute unter einigen Gruppen und in einigen Publikationen – wie PIC (Pour une Intervention Communiste) und Spartacus (mittlerweile aufgelöst) in Mode ist und meist damit endet, die gesamte sozialistische und kommunistische Bewegung, einschließlich der Oktoberrevolution, aus der Geschichte des Proletariats zu tilgen, können wir nur wiederholen, was Internationalisme in der Einleitung zu Pannekoeks Buch schrieb:

„Diese Entstellung des Marxismus verdanken wir den so eifrig wie ignorant auftretenden ‚Marxisten‘. Diese haben ihre Entsprechung in den kaum weniger ignorant auftretenden Anti-Marxisten. Der Anti-Marxismus ist zum Kennzeichen von deklassierten, entwurzelten, verbitterten, kleinbürgerlichen Halbintellektuellen geworden. Gleichermaßen abgestoßen vom monströsen russischen System, das aus der Oktoberrevolution hervorgekommen ist, wie auch von der harten und undankbaren wissenschaftlichen Untersuchungsarbeit, laufen diese Leute heute in Sack und Asche durch die Welt, in einem ‚Kreuzzug‘ auf der Suche nach neuen Ideen, doch nicht um sie zu verstehen, sondern um sie  anzubeten.“

Was gestern richtig für den Marxismus war, ist heute richtig für den Bolschewismus und die Oktoberrevolution.

MC 1981

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Internationale Revue 54

Politik und Philosophie von Lenin bis Harper (Pannekoek) Teil 1 aus: Internationalisme 1948

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Wie Harper das Problem formuliert und was er im Dunklen lässt

Bei der Lektüre von Harpers Buch über Lenin wird deutlich, dass es sich um eine ernsthafte und tiefgehende Studie über Lenins philosophische Arbeit handelt, getragen von einer klaren Struktur der materialistischen Dialektik, mit der er Lenins philosophisches Konzept abgleicht.

Für Harper stellt sich das Problem folgendermaßen: Statt Lenins Konzeption der Welt von seiner politischen Aktivität zu trennen, besteht der beste Weg, sich das Handeln dieses Revolutionärs anzuschauen, darin, die dialektischen Ursprünge seiner Aktivität zu begreifen. Für Harper ist „Materialismus und Empiriokritizismus“ das Werk, das Lenins Denken am besten beschreibt. Hier startet Lenin seinen Angriff auf den ausgeprägten Idealismus, den große Teile der russischen Intelligentsia, beeinflusst durch das philosophische Konzept Machs, angenommen hatten. Sein Ziel war es, dem Marxismus neues Leben einzuflößen, da dieser litt nicht nur unter dem Revisionismus Bernsteins sondern auch unter dem Machs itt.

Ausgehend von Marx und Dietzgen leitet Harper das Problem mit einer tiefgreifenden und scharfsinnigen Analyse der Dialektik ein. Mehr noch, Harper macht in seiner Untersuchung einen deutlichen Unterschied zwischen dem frühen Marx mit seinen ersten philosophischen Studien und dem späteren Marx, der mit der bürgerlichen Ideologie gebrochen hatte und den Klassenkampf „entdeckt“ hatte. Diese Unterscheidung erlaubt ihm den Widerspruch zwischen dem bürgerlichen Materialismus der prosperierenden kapitalistischen Epoche – verkörpert durch die Naturwissenschaft – und des revolutionären Materialismus, konkretisiert in der Wissenschaft der Gesellschaftsentwicklung, hervorzuheben. Harper bemüht sich, verschiedene, von Lenin entwickelte Konzeptionen zu widerlegen, die sich nach seiner Meinung weniger auf die Auseinandersetzung mit Machs Ideen bezogen als eher aus polemischen Gründen benutzt wurden, um die Einheit der russischen sozialdemokratischen Partei zu festigen.

Interessant ist Harpers Arbeit in Bezug auf sein Studium der Dialektik, wichtig seine Behandlung der Art und Weise, wie Lenin Machs Ideen korrigiert, doch der unbestreitbar interessanteste Teil (da er die wichtigsten Konsequenzen nach sich zieht) ist die Analyse der Quellen des Materialismus Lenins und ihr Einfluss auf seine Aktivitäten in der internationalen sozialistischen Diskussion und der Revolution 1917 in Russland.

Der erste Teil der Kritik beginnt mit einer Studie der philosophischen Ahnen Lenins, von Holbach über verschiedene französische Materialisten wie Lametrie bis hin zu Avenarius. Das gesamte Problem dreht sich um die Erkenntnistheorie. Selbst Plechanow entkam nicht der Sogwirkung des bürgerlichen Materialismus. Feuerbach ging Marx voran. All dies erschwerte das soziale Denken des gesamten russischen Marxismus, allen voran Lenins.

Harper betont korrekterweise den statischen Blick auf die Welt, der die Erkenntnistheorie des bürgerlichen Materialismus kennzeichnet, und kontrastiert dies mit der Natur und Orientierung des revolutionären Materialismus.

Die Bourgeoisie betrachtet die Erkenntnis als ein rein empfangendes Phänomen (nach Harper teilt auch Engels diese Sicht). Für sie bedeutet Erkenntnis einfach Vorstellung und Empfindung der externen Welt - als ob wir nicht mehr als ein Spiegel seien, dermehr oder weniger zuverlässig die externe Welt widerspiegeln würde. Darin erkennen wir, warum die Naturwissenschaften das Schlachtross der bürgerlichen Welt waren. In ihren ersten Ausformungen basierten Physik, Chemie und Biologie mehr auf einem Versuch, die Phänomene der externen Welt festzuschreiben, als auf den Versuch, die Realität zu interpretieren und zu analysieren. Die Natur schien ein großes Buch zu sein und das Ziel war es, natürliche Äußerungen in verständliche Zeichen zu übertragen. Alles schien geordnet, rational zu sein; Ausnahmen von dieser Ansicht konnten nicht zugelassen werden, es sei denn, sie würden als Unvollkommenheiten unserer Wahrnehmungsmittel erklärt werden. Zusammengefasst wurde Wissenschaft zu einem Abbild der Welt, deren Gesetze unabhängig von Zeit und Raum immer die gleichen waren – jedoch abhängig von dem jeweiligen separaten Gesetz.

Das natürliche Objekt der ersten Bemühungen dieser Wissenschaft war dem Menschen äußerlich:  Diese Wahl ist Ausdruck dafür, dass es einfacher war, die externe sinnliche Welt zu erfassen als die weit konfusere menschliche Welt, deren Gesetze sich den einfachen Gleichungen der Naturwissenschaft entziehen. Wir müssen auch an die Bedürfnisse der aufstrebenden Bourgeoisie denken, die schnell und empirisch Zugriff auf alles außerhalb ihrer selbst benötigte, um dies für die Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zu benutzen. Schnell, da die Grundlagen ihres sozial-ökonomischen Systems noch nicht so sicher waren. Empirisch, da der Kapitalismus mehr an Ergebnissen und Schlussfolgerungen als an dem Weg, diese zu erreichen, interessiert war.

Die Naturwissenschaften, die sich im Rahmen des bürgerlichen Materialismus entwickelten, beeinflussten das Studium anderer Bereiche und bewirkten den Aufstieg der Geisteswissenschaften wie Geschichte, Psychologie und Soziologie, die die gleichenMethoden der Erkenntnis anwandten.

Der erste Gegenstand der menschlichen Erkenntnis, der den menschlichen Geist beschäftigte, war die Religion. Diese wurde zum ersten Mal als historisches und nicht als philosophisches Problem behandelt. Dahinter stand auch die Notwendigkeit einer jungen Bourgeoisie, sich vor religiösen Festschreibungen zu hüten, die die natürliche Rationalität des kapitalistischen Systems in Frage stellten. Dies drückte sich in dem Aufkommen einer ganzen Reihe von bürgerlichen Denkern wie Renan, Strauss, Feuerbach usw. aus. Aber was versucht wurde, war stets eine methodische Zergliederung: Sie kritisierten die ideologische Figur Religion nicht auf ihrer gesellschaftlichen Grundlage, sondern verfolgten das Ziel, ihre menschlichen Grundlagen zu entdecken. Dadurch reduzierten sie die Untersuchungen auf ein naturwissenschaftliches Niveau, als ginge es darum, historische Dokumente und ihre Veränderung über die Jahrhunderte fotografisch genau nachzuzeichnen. Letztendlich normalisierte der bürgerliche Materialismus den gegenwärtigen Stand der Dinge und schrieb diesen auf ewig und unveränderbar fest. Er behandelte die Natur als unbestimmte Wiederholung rationaler Ursachen. Der bürgerliche Mensch reduzierte die Natur auf das Verlangen nach einer konservativen Unbeweglichkeit. Er spürte, dass er die Natur bis zu einem gewissen Punkt beherrschen würde, doch er begriff nicht, dass die Instrumente seiner Beherrschung dabei waren, sich vom Menschen zu befreien und sich gegen diesen zu wenden. Bürgerlicher Materialismus war ein Fortschritt in der Entwicklung des menschlichen Wissens. Er wurde konservativ – was so weit ging, dass er von der Bourgeoisie selbst abgelehnt wurde –, als das kapitalistische System seinen Höhepunkt erreicht hatte und sein Untergang eingeläutet wurde.

Diese Denkweise begegnet uns auch in Marx‘ frühen Werken. Doch Harper sah den Weg, der Marx zum revolutionären Materialismus führte, erst durch die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse als Reaktion auf die ersten schweren Widersprüche des kapitalistischen Systems eröffnet.

Harper beharrt darauf, dass der revolutionäre Marxismus nicht einfach das Produkt reiner Vernunft sei. Der bürgerliche Materialismus wuchs in einem bestimmten sozio-ökonomischen Umfeld auf; entsprechend war auch für den revolutionären Materialismus ein bestimmtes sozio-ökonomisches Milieu erforderlich. Marx wurde bewusst, dass die Existenz ein Prozess permanenter Veränderung war. Und wo die Bourgeoisie nur Rationalismus, die Wiederholung von Ursache und Wirkung sah, entdeckte Marx das sich entwickelnde sozio-ökonomische Milieu als neues Element, das in die Sphäre der Erkenntnis integriert werden müsse. Für ihn war das Bewusstsein nicht ein Abbild der äußeren Welt. Sein Materialismus wurde durch all die natürlichen Faktoren angeregt – zuallererst durch den Menschen selbst.

Die Bourgeoisie konnte den menschlichen Anteil an der Erkenntnis vernachlässigen, da zu Beginn ihr System mit einer präzisen Regelmäßigkeit – wie die Gesetze der Astronomie – zu funktionieren schienen. Ihr Wirtschaftssystem hatte keinen Platz für den Menschen.

Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich die Nachlässigkeit des Systems gegenüber dem Menschen in den gesellschaftlichen Beziehungen langsam bemerkbar: Revolutionäres Bewusstsein begann zu reifen und mit diesem wurde deutlich, dass die Erkenntnis nicht ein Spiegel der äußeren Welt war, wie der bürgerliche Materialismus behauptete: Die menschliche Erkenntnis ist nicht nur ein empfangender, sondern auch ein aktiver und verändernder Faktor.

Für Marx war demnach die Erkenntnis sowohl das Produkt der Empfindung der äußeren Welt als auch das der Ideen und Handlungen des Menschen, der Mensch war also selbst ein Faktor und Motor der Erkenntnis.

Die Wissenschaft der Gesellschaftsentwicklung war damit geboren; diese eliminierte die alten Geisteswissenschaften und war Ausdruck eines deutlichen Fortschritts. Auch die Naturwissenschaften durchbrachen ihre engen Grenzen. Die bürgerliche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts kollabierte aufgrund ihrer eigenen Blindheit.

Dieses falsche Verständnis der Rolle der menschlichen Handlung für die Erkenntnis gibt Lenins philosophischer Arbeit einen ideologischen Charakter. Wie bereits angedeutet, untersucht Harper Lenins philosophische Quellen und misst diesen einen entscheidenden Einfluss auf Lenins politische Tätigkeit zu.

Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein. Lenin kam aus einem rückschrittlichen Gesellschaftsmilieu. Hier herrschte noch der Feudalismus, die Bourgeoisie war schwach und ließ jede revolutionäre Energie missen. In Russland entwickelte sich der Kapitalismus zu einer Zeit, als die reife Bourgeoisie des Westens bereits in ihren Niedergang trat. Russland wurde ein kapitalistisches Land, ohne dass die eigene nationale Bourgeoisie gegen den feudalen Absolutismus des Zaren aufbegehrte. Diese Leistung fiel dem ausländischen Kapital zu, das die gesamte kapitalistische Struktur in Russland dominierte. Da der bürgerliche Materialismus durch die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie und ihrer Widersprüche immer unbedeutender wurde, musste die russische Intelligentsia in ihrem Kampf gegen den Absolutismus ihr Heil im revolutionären Materialismus suchen. Für diesen revolutionären Materialismus galt der Kampf dem Feudalismus, nicht dem Kapitalismus, der keine wirkungsvolle Kraft darstellte. Lenin war Teil dieser Intelligentsia – deren Grundlage die revolutionäre Klasse des Proletariats war –, deren Aufgabe die verspätete kapitalistische Umwandlung des feudalen Russlands war.

So interpretiert Harper die Fakten

Harper sieht die Russische Revolution als Ausdruck der objektiven Reife der Arbeiterklasse, jedoch hat diese für ihn einen bürgerlichen politischen Inhalt. Nach Harper wird dieser bürgerliche politische Inhalt von Lenin ausgedrückt. Lenins Bewusstsein sei geprägt von den unmittelbaren Aufgaben Russlands, ein Land, das mit seiner sozio-ökonomischen Struktur wie eine Kolonie ohne nationale Bourgeoisie erschien. Die einzig entscheidenden Kräfte seien die Arbeiterklasse und der Absolutismus.

Das Proletariat könne sich also nur unter diesen rückständigen Bedingungen ausdrücken, daher sei Lenins materialistische Ideologie bürgerlich. So sagt Harper über Lenin und die Russische Revolution:

„Diese materialistische Philosophie war gerade die richtige Lehre für die Masse der neuen russischen Intelligenz, die voll Begeisterung in Naturwissenschaft und Technik die Basis einer von ihnen geleiteten Produktion erkannte – mit den noch religiösen Bauern als einzigen Widerstand – und die als neue herrschende Klasse eines Riesenreichs die Zukunft vor sich offen sah.“ (Pannekoek, Lenin als Philosoph, in: Pannekoek, Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, S. 362)

Harpers Methode in „Lenin als Philosoph“ gehört, wie auch seine Darstellung des Problems der Erkenntnis, zu den besten Arbeiten des Marxismus. Jedoch führen seine politischen Schlussfolgerungen zu solchen Konfusionen, dass er uns zwingt, seine politischen Schlussfolgerungen, die uns fehlerhaft erscheinen und unter dem Niveau der übrigen Arbeit liegen, deutlich von der Formulierung des Problem zu trennen.

Harper schreibt:

„Der Materialismus hat nur kurze Zeit die Weltanschauung der bürgerlichen Klasse beherrscht…“ (ebenda, S. 311).

Dies führt ihn nach seiner Feststellung, dass Lenins Philosophie in „Materialismus und Empiriokritizismus“ in ihren Grundzügen bürgerlicher Materialismus sei, dazu, dass die bolschewistische Revolution vom Oktober 1917 :

„…eine bürgerliche Revolution, die auf dem Proletariat fußt.“

Hier verfängt sich Harper in seiner eigenen Dialektik und versäumt es, eine wichtige Frage zu beantworten: Wie kann es zu einer Zeit, in der der Kapitalismus in die tiefste Krise seiner Geschichte stürzt, eine bürgerliche Revolution geben? Die dazu noch ihre eigene Ideologie – entsprechend der revolutionären Periode der Bourgeoisie eine materialistische – produziert? Die Krise von 1914-20 scheint Harper überhaupt nicht zu berühren.

Noch einmal, wie konnte diese Revolution bürgerlich sein, und dies zumal in dieser Situation? Vorangetrieben von den fortschrittlichsten und bewusstesten Arbeitern und Soldaten Russlands, solidarisch begrüßt von den Arbeitern und Soldaten der ganzen Welt, insbesondere in jenem Land, in dem der Kapitalismus am meisten fortgeschritten war, d.h. Deutschland? Wie konnte es sein, dass genau in diesem Moment die Marxisten, die gründlichsten Dialektiker, die besten Theoretiker des Sozialismus, die materialistische Geschichtsauffassung wie Lenin selbst – wenn nicht gar besser – verteidigten? Wie konnte es sein, dass ausgerechnet Leute wie Plechanow und Kautsky sich auf der Seite der Bourgeoisie gegen die revolutionären Arbeiter und Soldaten der gesamten Welt und insbesondere gegen Lenin und die Bolschewiki wiederfanden?

Harper stellte sich nicht einmal diese Fragen, wie sollte er also Antworten finden? Umso überraschender ist es, dass er diese Fragen nicht stellt.

Weiterhin fällt auf, dass Harpers grundsätzlich richtige philosophische Studie einige Behauptungen enthält, die Erstere wiederum in ein anderes Licht stellt. Nach Harper gibt es unter den marxistischen Theoretikern zum Problem der Erkenntnis zwei fundamental entgegengesetzte Tendenzen. Diese Trennung, die er bereits im Leben und Werk von Marx selbst sieht, ist etwas vereinfachend und schematisch. Harper sieht in Marx‘ Werk zwei Perioden:

1. Vor 1848 Marx, der fortschrittliche bürgerliche Materialist: „Religion ist das Opium des Volkes“, eine Aussage, die später von Lenin aufgegriffen wurde; weder Stalin noch die russische Bourgeoisie haben es für notwendig gehalten, die Parole von den Denkmälern der offiziellen Parteipropaganda zu verbannen.

2. Dann Marx, der revolutionäre Materialist und Dialektiker: der Angriff auf Feuerbach, das Kommunistische Manifest usw., „das Sein bestimmt das Bewusstsein“.

Für Harper ist es kein Zufall, dass Lenins Werk („Materialismus und Empiriokritizismus“) im Grunde genommen ein Beispiel für die erste Periode des Marxismus darstellt. Ausgehend von der Vorstellung, dass Lenins Ideologie durch die historische Bewegung, an der er teilnahm, bestimmt ist, behauptet Harper, dass sich der grundlegende Charakter dieser Bewegung als eine Variation des bürgerlichen Materialismus in Lenins Ideologie ausdrückt (Harper berücksichtigt hier allein „Materialismus und Empiriokritizismus“).

Dies führt Harper zu der Schlussfolgerung, dass “Materialismus und Empiriokritizismus“ nun die Bibel der russischen Intellektuellen, Techniker usw. – der Repräsentanten der neuen staatskapitalistischen Klasse – sei. Aus seiner Sicht sind die Russische Revolution im Allgemeinen und die Bolschewiki im Besonderen die Vorwegnahme einer allgemeineren revolutionären Entwicklung: die Evolution des Kapitalismus zum Staatskapitalismus, die revolutionäre Mutation der liberalen Bourgeoisie zu einer bürokratischen Staats-Bourgeoisie, von der der Stalinismus der vollkommenste Ausdruck sei.

Harpers Vorstellung ist, dass diese Klasse, die überall „Materialismus und Empiriokritizismus“ als ihre Bibel ansieht (Stalin und seine Freunde verteidigen weiterhin das Buch), das Proletariat als Basis für ihre staatskapitalistische Revolution benutzt. Deshalb ist die neue Klasse auf die marxistische Theorie angewiesen.

Daher ist es Ziel dieser Ausführungen, nachzuweisen, dass diese erste Ausformung des Marxismus über Lenin direkt zu Stalin führt. Ähnliches haben wir bereits von bestimmten Anarchisten gehört, wobei diese dies gleich auf den gesamten Marxismus beziehen. Stalin ist danach das logische Ergebnis des Marxismus – nach anarchistischer „Logik“ ist es das tatsächlich!

Dieser Ansatz versucht ebenfalls zu zeigen, dass eine neue – sich auf das Proletariat stützende – revolutionäre Klasse genau in dem Moment auf der Bühne der Geschichte erscheint, wo der Kapitalismus selbst, aufgrund der Hyperentwicklung der Produktivkräfte innerhalb einer Gesellschaft, die auf der Ausbeutung der menschlichen Arbeit (Mehrwertabpressung) basiert, in seine permanente Krise eingetreten ist.

Diese zwei Ideen, die Harper in „Lenin als Philosoph“ vor dem Krieg von 1939 – 45 entwickelt, wurden bereits von Anderen mit unterschiedlichstem sozialem und politischem Hintergrund vorgetragen. Die erste Vorstellung wird von den meisten Anarchisten vertreten, die zweite von vielen reaktionären bürgerlichen Schreiberlingen, wie James Burnham.

Es ist nicht überraschend, dass Anarchisten solch mechanistische und schematische Konzepte vorbringen, die behaupten, dass der Marxismus die Quelle des Stalinismus und der staatskapitalistischen Ideologie oder der neuen herrschenden Management-/Bürokraten-Klasse sei. Sie sind das Problem der Philosophie nie in der Form angegangen, wie Revolutionäre es getan haben: Für sie stammen Marx und Lenin von Auguste Comte ab und alle marxistischen Strömungen werden ausnahmslos mit der „bolschewistisch-stalinistischen Ideologie“ in einen Topf geworfen. Zwischenzeitlich orientiert sich die anarchistische Version des philosophischen Denkens an der letzten Mode des Idealismus, von Nietzsche zum Existenzialismus, von Tolstoi zu Sartre.

Harpers These ist, dass Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“ als philosophische Untersuchung des Problems der Erkenntnis nicht weiter geht als die Interpretationsmethoden, die typisch für den mechanistischen, bürgerlichen Materialismus sind. Doch von hier zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass weder die Bolschewiki noch der Bolschewismus oder die russische Revolution über das Stadium der bürgerlichen Revolution hinaus kommen konnten, lässt Harper in derselben Position wie die Anarchisten oder Vertreter der Bourgeoisie, wie Burnham, enden. Darüber hinaus widerspricht diese Schlussfolgerung einer anderen korrekten Aussage von Harper:

„Der Materialismus hat nur kurze Zeit die Weltanschauung der bürgerlichen Klasse beherrscht. Nur solange diese glauben konnte, dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung, mit ihrem Privateigentum, ihrer persönlichen Freiheit und ihrem freien Wettbewerb, durch die Entwicklung der Produktion unter dem endlosen Fortschritt der Wissenschaft und der Technik die praktischen Probleme des Lebens für jeden lösen würde, nur solange konnte sie glauben, dass mittels der Naturwissenschaft die theoretischen Probleme gelöst wurden, und brauchte sie keine übernatürlichen geistigen Mächte mehr. Als die Tatsache, dass der Kapitalismus die Frage der Existenz für die Massen nicht lösen konnte, hervortrat in dem emporkommenden Klassenkampf des Proletariats, verschwand die zuversichtliche materialistische Betrachtung der Welt. Die Welt erschien nun voll der Unsicherheit und der unlösbaren Widersprüche, voll unheimlich drohender Mächte.“ (ebenda, S. 311)

Wir werden im weiteren Verlauf dieses Problem vertiefen, hier sehen wir uns – in der Hoffnung, nicht in eine sterile Polemik hineingezogen zu werden – jedoch veranlasst, auf diesen unlösbaren Widerspruch, in den Harper sich selbst bringt, hinzuweisen – auf der einen Seite ein solch komplexes Problem so simpel anzugehen und auf der anderen Seite unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen, die er über Bolschewismus und Stalinismus zieht.

Noch einmal fragen wir: Wie erklärt man die Tatsache, dass genau zu dem Zeitpunkt, als der Klassenkampf beispiellose Höhen erklomm, innerhalb der Bourgeoisie eine materialistische Strömung geboren wurde, die eine neue bürgerlich-kapitalistische Klasse hervorbrachte – wenn wir gleichzeitig Harpers These folgen, dass die Bourgeoisie idealistisch wurde, als der proletarische Klassenkampf auf der Bühne erschien? Harper erkennt in Lenins Philosophie den Aufstieg einer bürgerlichen materialistischen Strömung genau zu dem Zeitpunkt, als die Bourgeoisie eigentlich vollständig idealistisch sein sollte. Und falls, nach Harper, Lenin „gezwungen war, materialistisch zu sein, um die Arbeitern hinter sich zu sammeln“, müssen wir folgende Frage stellen: Nahmen die Arbeiter die Ideologie Lenins an, oder passte sich Lenin den Bedürfnissen des Klassenkampfes an? Harper präsentiert uns diesen erstaunlichen Widerspruch: Entweder folgte das Proletariat einer bürgerlichen Strömung, oder eine Bewegung der Arbeiterklasse scheidet eine bürgerliche Ideologie aus.

In beiden Fällen würde das Proletariat nicht mit einem eigenen Blick auf die Welt auf der Bühne erscheinen. Es ist eine merkwürdige Version des marxistischen Materialismus, die uns zu solchen Schlussfolgerungen verleiten kann: Das Proletariat lässt sich auf unabhängige Aktionen ein, aber produziert dabei eine bürgerliche Ideologie. Das ist exakt das Ergebnis von Harpers These.

Des Weiteren ist es nicht ganz richtig zu behaupten, dass die Bourgeoisie in einer bestimmten Phase rein materialistisch und in einer anderen rein idealistisch war. In der bürgerlichen Revolution von 1789 ersetzte der Kult der Vernunft in Frankreich den Gotteskult. Dies ist typisch für den dualen Charakter  der Konzepte – materialistisch und idealistisch zugleich –, die die gegen Feudalismus, Religion und die Macht der Kirche kämpfende Bourgeoisie benötigte (ein Kampf im Übrigen, der sehr heftige Formen annahm, wie die Verfolgung von Priestern und das Niederbrennen von Kirchen zeigt). Wir werden später auf diesen permanenten dualen Aspekt der bürgerlichen Ideologie zurückkommen, der selbst in seinen höchsten Ausschlägen der „Großen Revolution“ nie über das Stadium von „Religion ist das Opium des Volkes“ hinauskam.

Wir haben jedoch noch längst nicht alle Schlussfolgerungen gezogen, zu denen uns Harpers Arbeit bringt. Dazu müssen wir all jenen einige historische Tatsachen in Erinnerungen zurückrufen, die die Oktoberrevolution dem bürgerlichen Lager zuschreiben wollen. Die erste Untersuchung von Harpers philosophischen Schlussfolgerungen und Theorien hat uns dazu gebracht, bestimmte Fragen, die wir später entwickeln werden, zu reflektieren. Darüber hinaus gibt es andere Fakten, die Harper wohl nicht übergehen wollte. Seitenlang spricht er über bürgerliche Philosophie und Lenins Philosophie und kommt zu Schlussfolgerungen, die, gelinde gesagt, gewagt sind und die eine ernsthafte und tiefere Untersuchung verlangen. Welcher marxistische Materialist kann eine Person, eine politische Gruppe oder Partei in dieser Weise anklagen, wie Harper Lenin und die bolschewistische Partei dafür anklagt, dass sie eine bürgerliche Strömung und Ideologie - „…auf dem Proletariat basierend“ (Harper) – repräsentieren würden, ohne zuerst die historische Bewegung, der sie angehörten, zu untersuchen?

Es war die Bewegung der internationalen und russischen Sozialdemokratie, die die bolschewistische Fraktion und alle anderen links-sozialistischen Fraktionen hervorgebracht hat. Wie wurde diese Fraktion gebildet? Welche ideologischen Kämpfe hatte diese zu führen, um sich als separate Gruppe, dann als Partei, schließlich als Avantgarde einer internationalen Bewegung herauszuschälen?

Der Kampf gegen den Menschewismus, Lenins ISKRA und Was tun?, die Revolution von 1905 und die Rolle Trotzkis; Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die ihm dazu brachte, zwischen dem Februar und dem Oktober 1917 mit den Bolschewiki zu fusionieren; der revolutionäre Prozess zwischen Februar und Oktober; die rechten Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionäre; Lenins Aprilthesen; die Konstitution der Sowjets und der Arbeitermacht; Lenins Position zum imperialistischen Krieg – Harper verliert hierzu nicht ein Wort. Dies ist keineswegs zufällig.

Mousso und Phillipe

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Internationale Revue 54

Politik und Philosophie von Lenin bis Harper (Pannekoek) Teil 2 aus: Internationalisme 1948

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Harper als Philosoph oder: Die Philosophie seiner kritischen und politischen Fehler

Es gibt ein Phänomen im Erkenntnisprozess der bürgerlichen Gesellschaft, das Harper nicht behandelt hat: den Einfluss der kapitalistischen Arbeitsteilung erstens auf die Erkenntnisentwicklung der Naturwissenschaften, zweitens auf die Entwicklung des Wissens in der Arbeiterbewegung.

An einer Stelle sagt Harper, dass die Bourgeoisie sowohl in jeder ihrer Revolutionen anders auftreten müsse als in den vorherigen als auch in der Form, die sie in diesem aktuellen Moment angenommen hatte. Sie muss ihre wahren Ziele verheimlichen.

Das ist wahr. Da Harper jedoch versäumt, über den Erkenntnisprozess in der Geschichte zu sprechen und das Problem seines Zustandekommens nicht explizit nennt, endet er dabei, es stillschweigend genauso mechanistisch zu formulieren, wie er es Lenin vorwirft.

Der Prozess, in dem die Erkenntnis geformt wird, ist abhängig von den Bedingungen, die bei der Erzeugung wissenschaftlicher Konzeptionen und Ideen im Allgemeinen vorherrschen. Diese Bedingungen wiederum sind mit den generellen Produktionsbedingungen, d. h. mit der praktischen Anwendung der Ideen verknüpft.

Mit der bürgerlichen Gesellschaft – der Entwicklung ihrer Produktionsbedingungen, ihrer ökonomische Existenzweise – entwickelt sich auch ihre eigene Ideologie: ihre wissenschaftlichen Auffassungen ebenso wie ihre Konzepte von der Welt und über die Welt.

Die Wissenschaft ist ein ganz besonderer Teil bei der Erzeugung von Ideen, die notwendig für das Leben der kapitalistischen Gesellschaft, für die Kontinuität und Evolution ihrer Produktionsweise sind.

Die ökonomische Produktionsweise wendet nicht nur praktisch an, was die Wissenschaft theoretisch ausarbeitet, sie hat ebenfalls großen Einfluss auf die Art und Weise, in der Ideen und Wissenschaften erarbeitet werden. So wie die kapitalistische Arbeitsteilung eine extreme Spezialisierung in allen Bereichen der praktischen Realisierung der Produktion durchsetzt, provoziert sie auch – als weitere Arbeitsteilung – eine extreme Spezialisierung im Bereich der Entstehung und Formulierung von Ideen, insbesondere in der Wissenschaft.

Die Spezialisierung der Wissenschaft und der Wissenschaftler ist Ausdruck der universellen Arbeitsteilung im Kapitalismus. Der Kapitalismus braucht wissenschaftliche Spezialisten genauso wie Generäle, Experten für Militärtechnik, Verwalter und Direktoren.

Die Bourgeoisie ist durchaus in der Lage, Zusammenhänge im Bereich der Wissenschaft herzustellen, solange diese nicht ihre Ausbeutungsweise berühren. Sobald dies aber droht, verzerrt die Bourgeoise unbewusst die Wirklichkeit. Die Bourgeoisie ist zu keiner umfassenden wissenschaftlichen Darstellung in der Lage, weder im Bereich der Geschichte noch in dem der Ökonomie, der Soziologie oder der Philosophie.

Wenn die Bourgeoisie sich auf die praktische Anwendung, die wissenschaftliche Untersuchung konzentriert, ist sie zutiefst materialistisch. Da sie jedoch zu einer völligen Synthese nicht in der Lage ist, da sie unbewusst dazu gezwungen ist, ihre eigene Existenz zu verbergen, und die wissenschaftlichen Entwicklungsgesetze der Gesellschaft (von den Sozialisten entdeckt) ablehnt, kann sie mit dieser psychologischen Sperre vor ihrer eigenen gesellschaftlich-historischen Realität nur umgehen, indem sie Zuflucht im philosophischen Idealismus sucht, und dieser Idealismus durchtränkt ihre ganze Ideologie. Diese Entstellung der Realität – ein notwendiger Aspekt der bürgerlichen Gesellschaft – wird sehr effektiv durch die verschiedenen philosophischen Systeme der Bourgeoisie bewerkstelligt. Doch die Bourgeoisie greift auch auf Philosophien und Ideologien früherer Ausbeutungsformen zurück.

Dies macht sie, da diese Ideologien die bürgerliche Existenz nicht beeinträchtigen – im Gegenteil, diese Ideologien können benutzt werden, um sie zu verbergen. Sie tut dies aber auch, weil alle herrschenden Klassen in der Geschichte – als konservative Klassen – die Notwendigkeit deutlich gemacht haben, alte Methoden zu ihrer Konservierung zu verwenden, die dann natürlich für ihre eigenen Bedürfnisse benutzt werden, indem sie so weit entstellt werden, dass sie mit ihren eigenen Konturen reinpassen.

Daher konnten in der Frühphase der Bourgeoisie auch bürgerliche Philosophen bis zu einem gewissen Grad Materialisten sein (insoweit, dass sie die Notwendigkeit der Entwicklung der Naturwissenschaften unterstrichen). Jedoch waren sie vollkommen idealistisch, sobald es darum ging, die Existenz der Bourgeoisie selbst vernünftig zu begründen und zu rechtfertigen. Die, die mehr Gewicht auf den ersten Aspekt des bürgerlichen Denkens legten, konnten materialistischer erscheinen; jene, die mehr damit beschäftigt waren, die Existenz der Bourgeoisie zu rechtfertigen, mussten deutlich idealistischer auftreten.

Nur die wissenschaftlichen Sozialisten, beginnend mit Marx, waren in der Lage, eine Synthese der Wissenschaften in Beziehung zur gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen herzustellen. Diese Synthese war im Grunde der notwendige Ausgangspunkt ihrer revolutionären Kritik.

In dem Maße, in dem sie mit neuen wissenschaftlichen Problemen konfrontiert waren, waren die Materialisten in der revolutionären Epoche der Bourgeoisie gezwungen, eine Synthese ihres Wissens und ihrer Vorstellungen über die gesellschaftliche Entwicklung anzustreben. Doch waren sie nie in der Lage, die gesellschaftliche Existenz der Bourgeoisie zu hinterfragen; im Gegenteil, sie mussten diese rechtfertigen. Einzelne – von Descartes bis Hegel – waren um eine Synthese bemüht. Sie waren, geleitet von einem dialektischen Standpunkt mit Blick auf die gesamte Evolution der Welt und der Ideen, so damit beschäftigt, eine umfassende Synthese herzustellen, dass sie es nicht vermeiden konnten, diesen dualistischen und widersprüchlichen Aspekt der bürgerlichen Ideologie am komplexesten auszudrücken. Doch sie waren Ausnahmen.

Was diese Individuen zu ihrer Aktivität trieb, bleibt ungeklärt. Die geschichtlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen und psychologischen Erkenntnisse befanden sich noch in ihrer Frühphase. Wir können nur die banale Wirklichkeit wiederholen, dass sie von der Voreingenommenheit der sie umgebenden Gesellschaft bestimmt wurden. Auch wenn sie beabsichtigen, eine neue Gesellschaft aufzubauen, leben und entwickeln sich sowohl das Proletariat wie auch die Sozialisten im Kapitalismus; entsprechend wird das Feld der Erkenntnis von den Gesetzen des Kapitalismus beeinflusst.

Kommunistische Militante sind spezialisiert auf Politik, auch wenn universellere Erkenntnisse und Synthesen hilfreich für sie sind.

So gibt es in der Arbeiterbewegung eine Spaltung zwischen den politischen Strömungen und der Klasse im Allgemeinen. Selbst die politischen Strömungen können in Theoretiker der Geschichte, der Ökonomie und der Philosophie aufgeteilt sein. Der Prozess, an dessen Ende die Theoretiker des Sozialismus standen, ist vergleichbar mit jenem Prozess, der zu den Denkern und Philosophen in der revolutionären Epoche der Bourgeoisie führte.

Der Einfluss der bürgerlichen Erziehung, des bürgerlichen Milieus im Allgemeinen lastete schon immer schwer auf der Entstehung von Ideen in der Arbeiterbewegung. Die Entwicklung sowohl der Gesellschaft als auch der Wissenschaft ist ein maßgeblicher Faktor in der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Dies mag wie eine Tautologie klingen, doch es kann nicht oft genug wiederholt werden. Die konstante Parallele zwischen der Gesellschaftsentwicklung und der Entwicklung des Proletariats und der Sozialisten ist eine schwere Last für Letztere.

Die Überbleibsel der Religionen, d.h. aus vorkapitalistischen Epochen, werden allerdings zu einem atavistischen Element der reaktionären Bourgeoisie, besonders in der Bourgeoisie als letzte ausbeutende Klasse in der Geschichte. Doch ist nicht die Religion der gefährlichste Teil der Ideologie dieser ausbeutenden Klasse, sondern die Ideologie insgesamt ist gefährlich. In der bürgerlichen Ideologie steckt neben der Religion, dem Chauvinismus und all dem verbalen Idealismus ein verengter, trockener, statischer Materialismus. Ebenso wie der idealistische Aspekt des bürgerlichen Denkens existiert auch der Materialismus der Naturwissenschaften als integraler Bestandteil ihrer Ideologie. Für die Bourgeoisie, die versucht, die Einheit ihrer Existenz hinter der Pluralität ihrer Mythen zu verstecken, sind diese unterschiedlichen Ideologien nicht Teil eines Ganzen. Sozialisten sollten diese jedoch als Ganzes behandeln.

Auf diese Weise können wir ermessen, wie schwer es für die Arbeiterbewegung war, sich von der bürgerlichen Ideologie als Ganzes – von ihrem unvollständigen Materialismus – loszureißen. Hatte nicht Bergson auf die Bildung einiger Strömungen der Arbeiterbewegung in Frankreich großen Einfluss gehabt? Das wirkliche Problem ist, wie man eine neue Ideologie, eine neue Idee zum Objekt einer kritischen Untersuchung macht, ohne in das Dilemma zu geraten, sie anzunehmen oder abzulehnen. Es geht auch darum, den ganzen wissenschaftlichen Fortschritt nicht als wirklichen Fortschritt zu betrachten, sondern als etwas, das nur potenziell ein Fortschritt bzw. eine Bereicherung der Erkenntnis ist, als etwas, dessen Leistungsfähigkeit von den Schwankungen im Wirtschaftsleben des Kapitalismus abhängt.

Für Sozialisten ist dies die einzige Möglichkeit, eine permanent kritische Haltung zu bewahren, die eine wirkliche Untersuchung der Ideen erlaubt. Im Hinblick auf die Wissenschaften ist es die Aufgabe der Sozialisten, ihre Ergebnisse theoretisch zu assimilieren und gleichzeitig zu begreifen, dass ihre praktische Anwendung im Dienste der menschlichen Bedürfnisse erst in einer Gesellschaft möglich ist, die sich zum Sozialismus entwickelt.

Die Entwicklung des Wissens in der Arbeiterbewegung beinhaltet die theoretische Entwicklung der Wissenschaften als eigenen Beitrag. Jedoch muss diese Entwicklung in einem umfassenderen Verständnis eingebettet werden, das sich um die praktische Durchführung der sozialen Revolution – der Basis jeglichen wirklichen Fortschritts in der Gesellschaft – dreht.

Die Arbeiterbewegung ist also durch ihre eigene revolutionäre gesellschaftliche Existenz spezialisiert, durch die Tatsache, dass sie innerhalb des Kapitalismus, gegen die Bourgeoisie und in der rein politischen Sphäre kämpft, die – bis zum Aufstand – den Schwerpunkt im Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat bildet.

Dies gewährleistet, dass – abhängig von dem Fortschritt, den die wirkliche Befreiung des Proletariats macht – die Entwicklung des Wissens innerhalb der Arbeiterbewegung einen dualistischen Aspekt beinhaltet. Auf der einen Seite ist sie politisch, beeinflusst von unmittelbaren und dringenden Fragen. Auf der anderen Seite ist sie theoretisch und wissenschaftlich, entwickelt sich langsamer und (bis jetzt) meist in den Perioden des Rückflusses der Arbeiterbewegung. Dieser Aspekt behandelt Fragen, die gleichermaßen wichtig wie die politischen Probleme sind und sicherlich in einer Wechselbeziehung zu ihnen stehen, aber weniger direkt und drängend sind.

Auch die unmittelbaren Klassengrenzen entwickeln sich analog zur Entwicklung der Gesellschaft durch den Kampf der Klasse in der politischen Sphäre. Der politische Kampf des Proletariats, die Entstehung der revolutionären Arbeiterbewegung als Opposition zur Bourgeoisie verläuft in Verbindung zur fortwährenden Weiterentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Klassenpolitik des Proletariats ändert sich von Tag zu Tag und in gewissem Maße lokal (später schauen wir uns an, in welchem Maße). In diesen Tageskämpfen, in diesen Divergenzen zwischen politischen Parteien und Gruppen, in den Taktiken über Ort und Zeitpunkt entwickeln sich die Klassengrenzen. Später zeigt sich dies auf einer grundsätzlicheren, weniger unmittelbaren Weise: Die entfernteren Ziele des revolutionären Kampfes des Proletariats werden in den großen Leitprinzipien der politischen Parteien und Gruppen formuliert.

Differenzen in der politischen Arbeit werden somit zuerst im Programm, dann erst in der praktischen Anwendung des tagtäglichen Kampfes thematisiert. Die Entwicklung dieser Differenzen reflektiert die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft, die Entwicklung der Klassen, ihre Methoden im Kampf, ihre Ideologien, Theorien und ihre politische Praxis.

Im Gegensatz dazu entwickelt sich die Synthese der wissenschaftlichen Dialektik in der rein philosophischen Erkenntniswelt nicht auf dem dialektisch unmittelbaren Weg des praktischen, politischen Klassenkampfs. Diese Dialektik ist weit abstrakter, sporadischer, ohne offenkundige Verbindungen zum lokalen oder gesellschaftlichen Umfeld, ein bisschen wie die Entwicklung der angewandten Wissenschaften, der Naturwissenschaften gegen Ende des Feudalismus und zu Beginn des Kapitalismus.

Harper macht diese Unterschiede nicht. Er versäumt es, darauf hinzuweisen, dass die Erkenntnis im menschlichen Denken verschiedene Manifestationen hat, dass sie in Abhängigkeit von der Periode, dem gesellschaftlichen Kontext usw. stark in verschiedene Spezialisierungen aufgeteilt ist.

Um es etwas ungeschliffen und vereinfacht darzustellen, entwickelt sich die menschliche Erkenntnis als Antwort auf die Bedürfnisse, denen sich die unterschiedlichen Gesellschaftsformationen gegenübersehen, und die unterschiedlichen Zweige der Erkenntnis entwickeln sich im Verhältnis zu den vorgesehenen praktischen Anwendungen. Je unmittelbarer die Sphäre der Erkenntnis mit der praktischen Anwendung verbunden ist, desto einfacher ist es, den Fortschritt zu beobachten. Je mehr dagegen die Erkenntnis zur Synthese strebt, desto schwieriger ist es, den Fortschritt festzustellen. Die Synthese beruht auf Gesetzen, die so kompliziert sind und von solch komplexen und unterschiedlichen Faktoren abgeleitet sind, dass es für uns heute praktisch unmöglich ist, in solche Studien einzutauchen.

Darüber hinaus umfasst die Praxis weite Teile der gesellschaftlichen Massen, während die Synthese häufig nur von Einzelnen geleistet wird. Gesellschaftliche Prozesse sind von grundsätzlichen Gesetzen determiniert, die einfacher und direkter zu kontrollieren sind. Das Individuum ist weitaus mehr das Subjekt von Besonderheiten, die für eine Geschichtswissenschaft – welche sich immer noch in einem sehr frühen Stadium befindet – kaum wahrnehmbar sind.

Deshalb denken wir, dass Harper einem schwerwiegenden Irrtum aufgesessen war, als er sich auf eine Untersuchung des Problems der Erkenntnis einließ, die sich darauf beschränkte, den Unterschied zwischen dem bürgerlichen und dem sozialistischen, revolutionären Ansatz herauszuarbeiten, und die sich nicht mit dem historischen Prozess befasste, in dem die Ideen gebildet werden. Dadurch bleibt Harpers Dialektik kraftlos und vulgär. Nach seinem sehr interessanten Essay, in dem er Lenins Angriff auf den Empiriokritizismus richtigerweise kritisiert (d. h. aufzeigt, dass Lenins Text eine vulgäre Polemik in der wissenschaftlichen Sphäre ist, ein wüster Mischmasch von bürgerlichem Materialismus und Marxismus), belässt es Harper in seinen Schlussfolgerungen bei Plattitüden, die eklatanter sind als Lenins Dialektik in Materialismus und Empiriokritizismus.

Das Proletariat löst sich durch einen kontinuierlichen Kampf vom bürgerlichen Gesellschaftsmilieu. Es kann jedoch nicht vollständig eine – im umfassenden Sinne des Wortes – unabhängige Ideologie erlangen, solange es noch nicht den allgemeinen Aufstand durchgeführt und die sozialistische Revolution zu einer lebendigen Realität gestaltet hat. Genau in dem Moment, wenn das Proletariat eine vollständige ideologische und politische Unabhängigkeit erreicht hat, wenn es sich über die einzige Lösung des sozio-ökonomischen Morasts des Kapitalismus – den Aufbau der klassenlosen Gesellschaft – bewusst ist, existiert es bereits nicht mehr als Klasse für den Kapitalismus. Durch die Doppelherrschaft, die es zu seinen Gunsten etabliert, schafft es die gesellschaftlich-historischen Umstände, die das vollständige Verschwinden als Klasse ermöglichen. Die sozialistische Revolution besteht daher aus zwei entscheidenden Momenten: vor und nach dem Aufstand.

Erst wenn das Proletariat ein Umfeld geschaffen hat, das sein Verschwinden begünstigt, d.h. nach dem Aufstand, kann es eine vollständig unabhängige Ideologie entwickeln. Vor dem Aufstand ist das Hauptziel seiner Ideologie die praktische Realisierung des Aufstands. Dies erfordert ein Bewusstsein über die Notwendigkeit des Aufstandes und die Möglichkeiten und Mittel, ihn durchzuführen. Nach dem Aufstand wird die entscheidende praktische Frage auf der einen Seite die Verwaltung der Gesellschaft und auf der anderen Seite die Abschaffung der vom Kapitalismus hinterlassenen Widersprüche sein. Die Hauptsorge wird dann sein: Wie kommen wir zum Kommunismus, wie können die Probleme der „Übergangsperiode“ gelöst werden? Gesellschaftliches Bewusstsein, selbst das des Proletariats, kann solange nicht vollständig von der bürgerlichen Ideologie befreit werden, solange der generalisierte Aufstand nicht begonnen hat. Bis dahin, bis zur Befreiung durch Gewalt werden alle bürgerlichen Ideologien, die gesamte bürgerliche Kultur, ihre Kunst und Wissenschaft Einfluss auf das Denken der Sozialisten ausüben. Eine sozialistische Synthese erwächst nur sehr langsam aus der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Häufig werden dabei die reichhaltigsten Beiträge zur Analyse des Klassenkampfs und der Entwicklung des Kapitalismus außerhalb der Bewegung geleistet – mehr von Beobachtern als von Teilnehmern. Im Vergleich zu Lenin ist dies bei Harper der Fall.

Entsprechend kann es eine Kluft zwischen Theorie und Praxis der sozialistischen Bewegung geben. So können theoretische Studien wertvoll bleiben, auch wenn die Menschen, die sie formuliert haben, eine dem Kampf des Proletariats nicht angemessene politische Praxis ausüben. Aber auch das Gegenteil ist möglich.

Die Bewegung, die die russische Gesellschaft innerhalb von zwölf Jahren in drei Revolutionen stürzte, hatte hauptsächlich mit den praktischen Aufgaben des Klassenkampfs zu tun. Die Bedürfnisse, die der Kampf generierte, die Ergreifung und Ausübung der Macht begünstigten eher Politiker des Proletariats wie Lenin und Trotzki – Männer der Tat, der Tribüne, Polemiker – als Philosophen und Ökonomen. Die Philosophen und Ökonomen aus der Zeit der II. und III. Internationale standen häufig außerhalb der praktischen revolutionären Bewegung oder leisteten ihre Hauptarbeit in Zeiten des Rückflusses der revolutionären Flut.

Zwischen 1900 und 1924 wurde Lenin von dem Strom der aufkommenden Revolution angetrieben. All seine Arbeit war verwoben mit diesem Kampf, mit seinen Höhen und Tiefen, mit seiner historischen und vor allem menschlichen Tragödie. Seine Arbeit war hauptsächlich politisch und polemisch, eine kämpferische Arbeit. Sein wesentlicher Beitrag zur Arbeiterbewegung besteht im politischen Teil seiner Arbeit und nicht in seinen philosophischen und ökonomischen Studien, deren Qualität aufgrund der mangelnden analytischen Tiefe, wissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeit zur theoretischen Synthese zweifelhaft ist. Im Gegensatz zur turbulenten historischen Situation in Russland erlaubte die Ruhe, die in Holland am Rande des Klassenkampfs in Deutschland  herrschte, die Zeit des Rückzugs des Klassenkampfes einer Gestalt wie Harper eine ideologische Weiterentwicklung.

Harper greift Lenin massiv an seinem schwächsten Punkt an, wobei er den weitaus wichtigsten und lebendigsten Teil seiner Arbeit ignoriert und so einen großen Fehler begeht, als er versucht, Schlussfolgerungen aus Lenins Gedanken und über die Bedeutung seiner Arbeit abzuleiten. Da Harpers Schlussfolgerungen unvollständig bzw. falsch sind, verkommen sie zu journalistischen Plattitüden, wenn sie sich mit der Russischen Revolution insgesamt beschäftigen. Indem er sich auf Materialismus und Empiriokritizismus beschränkt, zeigt er, dass er nichts von Lenins Hauptwerk verstanden hat. Seine Fehler über die russische Revolution sind weitaus ernster, so dass wir zu ihnen zurückkehren müssen

Philippe

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Internationale Revue 54

Kritik an Pannekoeks Lenin als Philosoph Teil 3 aus: Internationalisme 1948

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„Die Revolution hält einen Lehrstuhlin antiker Geschichte für Kautsky frei...“ und in Philosophie für Harper

 Nach unserer diversen Kritik an Harpers Philosophie wollen wir nun zeigen, wie der politische Standpunkt, den er aus seiner Philosophie ableitet, ihn in der Praxis von revolutionären Positionen abbrachte. (Ursprünglich hatten wir nicht vor, dies zu vertiefen, sondern wollten einfach aufzeigen, dass, während sich die ganze Kritik Harpers am so genannten mechanistischen Materialismus auf eine korrekte, wenngleich ziemlich schematische Erläuterung des Problems menschlicher Theorie und Praxis stützt, ihre praktische politische Anwendung ihn ebenfalls zu einem vulgär-mechanistischen Standpunkt führte.)

Für Harper:

1)  war die Russische Revolution in ihren philosophischen Manifestationen (die Kritik des Idealismus) einzig und allein eine Manifestation bürgerlich-materialistischen Denkens – ein typischer Ausdruck des russischen Milieus und seiner Bedürfnisse;

2)  verspürte Russland wirtschaftlich gesehen, da von ausländischem Kapital kolonisiert, das Bedürfnis, sich mit der Revolution des Proletariats zu verbünden, „und selbst“, wie er sagt, “Lenin musste sich auf die Arbeiterklasse stützen, und weil sein Kampf rücksichtslos radikal sein musste, übernahm er die radikalste Ideologie des gegen das Weltkapital kämpfenden westlichen Proletariats[1], den Marxismus.“

Jedoch fügt er hinzu:

„So wie aber in der russischen Revolution zwei Charaktere der westlichen Entwicklung sich mischten, die bürgerliche Revolution in ihren Aufgaben, die proletarische in ihrer aktiven Kraft, so musste auch die dazu gehörende bolschewistische Theorie eine Mischung von bürgerlichem Materialismus in den Grundanschauungen und proletarischem Materialismus in der Klassenkampflehre sein.“ (Lenin als Philosoph; aus: Anton Pannekoek, Die Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, Germinal, S. 359)

Und hier bezeichnet Harper die Auffassungen Lenins und seiner Freunde als typisch russische Form des Marxismus; für ihn war Plechanow der westlichste Marxist, wenngleich auch dieser noch nicht völlig frei von bürgerlichem Materialismus gewesen sei.

Wenn es einer bürgerlichen Bewegung wirklich möglich ist, sich auf “eine revolutionäre Bewegung des Proletariats im Kampf gegen den Weltkapitalismus“ (Harper) zu stützen, und wenn das Resultat dieses Kampfes die Etablierung einer Bürokratie als herrschende Klasse ist, die die internationale proletarische Revolution um ihre Früchte bringt, dann ist die Tür offen für die Schlussfolgerung, die James Burnham gezogen hatte, eine Schlussfolgerung, derzufolge die Techno-Bürokratie im Kampf gegen die alte kapitalistische Gesellschaftsform die Macht übernommen habe, indem sie sich auf eine Arbeiterbewegung gestützt habe. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist der Sozialismus eine Utopie.

Es ist kein Zufall, dass Harpers Schlussfolgerungen mit den Ansichten Burnhams übereinstimmen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Harper an den Sozialismus „glaubt“, während Burnham „glaubt“, dass der Sozialismus eine Utopie ist.[2] Doch beide teilen dieselbe kritische Methode, die der revolutionären und gleichzeitig objektiven Methode fremd ist.

Harper, der der III. Internationalen angehört hat, der die holländische kommunistische Partei gegründet hatte, der sich in den entscheidenden Revolutionsjahren in der KI (Kommunistische Internationale) engagiert hatte, der sich daran beteiligt hatte, das Proletariat Europas zur Beteiligung an diesem „konterrevolutionären russischen Staat“ zu verleiten – dieser Harper gibt selbst die Erklärung:

„... hätte man es damals gekannt“ (nämlich Lenins Buch Materialismus und Empiriokritizismus), “man hätte (es) voraussagen können“, nämlich die Degeneration der Russischen Revolution und des Bolschewismus zu einem Staatskapitalismus, der die Arbeiter_innen mit Füßen tritt.

Man könnte Harper antworten, dass „aufgeklärte“ Marxisten dies vorausgesagt haben und zu denselben Schlussfolgerungen wie Harper über die Russische Revolution gekommen sind und dies lange vor ihm; wir können z.B. Karl Kautsky zitieren.

Karl Kautskys Position zur Russischen Revolution wurde durch die ausführliche Debatte zwischen ihm sowie Lenin und Rosa Luxemburg der Öffentlichkeit ausreichend dargelegt (Lenin, Gegen den Strom; Kautsky, Die Diktatur des Proletariats; Rosa Luxemburg, Die russische Revolution; Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus).

Aus den Kautskys Rosa Luxemburg und der Bolschewismus folgenden Artikeln[3], die 1922 in der Form einer Broschüre in Frankreich und Belgien veröffentlicht wurden, wird größtenteils ersichtlich, wie sehr in mehr als einem Punkt Harpers Schlussfolgerung seinen Positionen ähnelt.

„Und so kommen wir [Kautsky] in die paradoxe Situation, hie und da die Bolschewiki gegen manche Luxemburgische Anklage verteidigen zu müssen.“ (Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus in Der Kampf, 1922, S. 34).

Was Kautsky hier tut, ist, die „Irrtümer“ der Bolschewiki (die Luxemburg in ihrem Pamphlet kritisiert) zu verteidigen, indem er sie als logische Konsequenzen der bürgerlichen Revolution in Russland darstellt, indem er aufzeigt, dass die Bolschewiki nur ausführen konnten, wozu das russische Milieu sie bestimmt hatte, nämlich die bürgerliche Revolution.

Um ein paar Beispiele zu geben: Rosa kritisierte die bolschewistischen Losungen und ihre Praxis der individuellen Landbesitznahme durch die Aufteilung des Landes unter den Kleinbauern, was, wie sie meinte, zu allen möglichen Schwierigkeiten führen würde, und befürwortete die sofortige Kollektivierung des Landes. Lenin hat bereits auf diese Argumente geantwortet, die Kautsky aus einer anderen Sicht anführte (siehe das Kapitel Liebedienerei vor der Bourgeoisie unter dem Schein einer ‘ökonomischen Analyse’ in: Die sozialistische Revolution und der Renegat Kautsky, Lenin-Werke, Bd. 28).

„Kein Zweifel, damit [die Aufteilung des Landes] ist ein gewaltiges Hindernis für den Fortschritt des Sozialismus in Russland entstanden. Aber dieser Vorgang ließ sich nicht verhindern, er hätte bloß rationeller vonstatten gehen können, als es durch die Bolschewiki geschah. Er bezeugt eben, dass Russland sich im wesentlichen im Stadium der bürgerlichen Revolution befindet. Darum wird die bürgerliche Agrarreform des Bolschewismus ihn überdauern, während seine sozialistischen Maßnahmen bereits von ihm selbst als unhaltbar anerkannt worden sind.“ (Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus in Der Kampf, 1922, S. 35).

Man weiß, dass der „Scharfsinn“ Kautskys durch diesen anderen „Sozialisten“ Stalin völlig widerlegt worden war, der den Boden kollektivierte und die Industrie „sozialisierte“, während die Revolution bereits völlig erstickt worden war.

Und hier eine längere Kostprobe von Kautsky über die Entwicklung des Marxismus in Russland, die der Dialektik Harpers ziemlich nahe kommt (siehe Lenin als Philosoph – Die russische Revolution):

„Wie bei den Franzosen, übernahmen auch bei den Russen die Revolutionäre von den Reaktionären diesen Glauben an die vorbildliche Bedeutung der eigenen Nation für die anderen Nationen. […]“

„Als der Marxismus aus dem faulen Westen nach Russland kam, musste er diese Illusion aufs schärfste bekämpfen und zeigen, dass die soziale Revolution nur aus einem hoch entwickelten Kapitalismus hervorgehen könne. Dass die Revolution, der Russland entgegengehe, zunächst eine bürgerliche nach dem Muster der vorhergegangenen des Westens sein müsste.

Aber diese Auffassung erschien den ungeduldigsten der marxistischen Elemente auf die Dauer doch zu beengend und lähmend. Namentlich seit 1905, seit der ersten Revolution, in der das russische Proletariat sich so sieghaft geschlagen und das Proletariat ganz Europas begeistert hatte.

Bei den radikaleren Elementen der russischen Marxisten vollzog sich nun eine besondere Färbung ihres Marxismus. Derjenige Teil seiner Lehren, der den Sozialismus abhängig macht von den ökonomischen Bedingungen, von der Hochentwicklung des industriellen Kapitalismus, verblasste jetzt für sie immer mehr. Dafür bekam immer kräftigere Farben die Lehre vom Klassenkampf. Er wurde immer mehr als bloßer Kampf mit allen Gewaltmitteln um politische Macht, losgelöst von seiner materiellen Basis, betrachtet. Bei dieser Auffassung der Dinge kam man schließlich dahin, im russischen Proletariat eine außerordentliche Erscheinung zu sehen, das Vorbild für das Proletariat der Welt. Und die Proletarier der anderen Länder fingen an, das zu glauben, und im russischen Proletariat den Führer des gesamten internationalen Proletariats zum Sozialismus zu begrüßen.

Das ist nicht unschwer zu erklären. Der Westen hatte seine bürgerlichen Revolutionen hinter sich. Vor sich die proletarischen Revolutionen. Aber diese erheischten eine Kraft des Proletariats, die es noch nirgends erreicht hatte. So standen wir im Westen im Zwischenstadium zwischen zwei revolutionären Epochen, was die Geduld der radikalen Elemente dort auf eine harte Probe stellte.

Russland dagegen war so rückständig, dass es die bürgerliche Revolution, den Sturz des Absolutismus, noch vor sich hatte. Diese Aufgabe erheischte kein so starkes Proletariat wie die Eroberung der Alleinherrschaft durch die Arbeiterklasse im Westen. Die russische Revolution trat daher früher ein als die des Westens. Sie war dem Wesen nach eine bürgerliche; das konnte aber eine Zeitlang verborgen bleiben dadurch, dass die bürgerlichen Klassen in Russland heute noch weit schwächer sind, als sie in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts waren. Übersah man die ökonomische Grundlage, betrachtete man nur den Klassenkampf und die relative Kraft des Proletariats, dann konnte eine Zeitlang wirklich scheinen, als sei das russische Proletariat dem westeuropäischen überlegen.“ (Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus in Der Kampf, 1922, S. 40 und 41).

Eines nach dem anderen übernahm Harper, wenn auch etwas philosophischer, die Argumente Kautskys.

Kautsky stellte zwei Auffassungen des Sozialismus gegenüber:

In der ersten kann der Sozialismus nur auf der Grundlage eine fortgeschrittenen Kapitalismus verwirklicht werden (Kautskys Position und die der Menschewiki; diese Position wurde auch von den deutschen Sozialdemokraten, einschließlich Noske, benutzt, um die Russische Revolution zu kritisieren. Es ist eine Auffassung, die im Grunde zur Ergreifung staatskapitalistischer Maßnahmen, unterstützt von einer „Massenpartei“, gegen das revolutionäre Proletariat führte).

In der zweiten Auffassung, im „Kampf um die politische Macht, getrennt von seiner wirtschaftlichen Basis“, wäre es möglich, dass der Sozialismus sogar in Russland errichtet wird (dies Kautskys Lesart der bolschewistischen Position).

In Wirklichkeit sagten Lenin und Trotzki: Die bürgerliche Revolution in Russland kann nur durch die Erhebung des Proletariats gemacht werden. Da die Erhebung des Proletariats die objektive Tendenz hat, sich auf internationaler Ebene zu entwickeln, können wir angesichts des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte auf weltweiter Ebene hoffen, dass diese russische Erhebung eine allgemeine Bewegung auslöst.

Allein vom Standpunkt der Produktivkraftentwicklung in Russland aus betrachtet, drängte die Russische Revolution zu einer bürgerlichen Revolution; doch die Verwirklichung des Sozialismus ist sehr wohl möglich unter der Bedingung eines weltweiten Ausbruchs der Revolution. Lenin und Trotzki nahmen genauso wie Rosa Luxemburg an, dass das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte auf der ganzen Welt den Sozialismus nicht nur möglich, sondern auch notwendig macht; dieses Niveau hatte eine Stufe erreicht, die sie übereinstimmend als die „Ära der (Welt-)Kriege und der Revolutionen“ qualifizierten; allein über die ökonomischen Faktoren in dieser Situation waren sie uneins. Damit der Sozialismus wahr wird, durfte die Russische Revolution nicht isoliert bleiben.

Wie die Menschewiki antwortete Kautsky, dass Lenin und Trotzki in der Revolution nur den „voluntaristischen“ Faktor der Machtergreifung durch einen bolschewistischen „Putsch“ erblickten, und ging so weit, den Bolschewismus mit dem Blanquismus zu vergleichen.

All diese „aufgeklärten“ Marxisten und Sozialisten sind exakt jene, die Harper als Beispiel zu zitieren scheint, als jene, die “... die Warnungen wiederholt“ haben, die gegen “die Führung der internationalen Arbeiterbewegung durch die Russen“ waren wie Kautsky:

„Dass Lenin den Marxismus als die Theorie der proletarischen Revolution nicht verstand, dass er das Wesen des Kapitalismus, der Bourgeoisie, des Proletariats in ihrer höchsten Entwicklung nicht verstand, zeigte sich, sobald  nach 1917 von Russland aus, durch die III. Internationale, das westeuropäische Proletariat zur ‘Weltrevolution’ geführt werden sollte, und auf die Warnungen der Marxisten des Westens nicht geachtet wurde.“ (Lenin als Philosoph, in: Die Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, S. 361)

Betrachtet man all die gelehrten Unterscheidungen Kautskys zwischen dem rückständigen Russland und dem Westen, zwischen „russischen“ und westlichen Marxisten, findet man hier all die Kritik der Kautsky nahestehenden „zentristischen“ Marxisten wieder.

Sie alle, mit Kautsky an der Spitze, warfen den Bolschewiki vor, den rückständigen Zustand der russischen Wirtschaft nicht berücksichtigt zu haben, obwohl Trotzki seit langem, das erste Mal 1905, auf all diese „ehrenwerten Familienoberhäupter“ (Lenin) meisterhaft geantwortet hatte, indem er zeigte, wie einerseits das fortgeschrittene Niveau der Industriekonzentrationen in Russland und andererseits das rückständige Gesellschaftsleben (die verspätete bürgerliche Revolution) dafür sorgten, dass Russland sich in einem konstant revolutionären Zustand befinde; und diese Revolution sei proletarisch oder gar nichts.

Harper, der seine Theorie und seine philosophische Kritik auf Kautskys Theorie und geschichts-ökonomischer Kritik errichtet hat, sagt, dass aufgrund der rückständigen ökonomischen Lage Russlands und aufgrund der Unvermeidlichkeit der bürgerlichen Revolution in Russland die Philosophie der Russischen Revolution vom ökonomischen Standpunkt aus das ökonomische Denken Marx’ in der ersten Phase fortführen musste, d.h. die Feuerbachsche, revolutionär-bürgerliche, demokratische Phase: „Religion ist Opium des Volkes“ (die Kritik der Religion). Es sei also normal, dass Lenin und seine Freunde die zweite Phase der marxistischen Philosophie, die revolutionäre, proletarische, dialektische Phase: „das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“, nicht erreichten. (Harper vergisst darauf hinzuweisen – auch wenn es unmöglich für ihn war, davon nicht gewusst zu haben -, dass der Hauptkampf der Bolschewiki vor 1918 sich gegen all die Strömungen rechts von ihnen in der Sozialdemokratie richtete, gegen Regierungs- und die zentristischen Fraktionen, und dies in einem sehr breiten Umfang, in allen europäischen Presseerzeugnissen und Broschüren in allen Sprachen, wohingegen Materialismus und Empiriokritizismus erst viel später einer breiteren russischen Öffentlichkeit bekannt wurde, noch später ins Deutsche und noch viel später ins Französische übersetzt und kaum außerhalb Russlands gelesen wurde. Man fühlt sich berechtigt zu fragen, ob der Geist von Materialismus und Empiriokritizismus in den Artikeln und Broschüren enthalten war, was Harper nicht einmal versucht zu beweisen, und dies aus gutem Grund.) Einerlei, Harper schließt wie Kautsky daraus, dass „trotz“ der voluntaristischen Auffassung über den Klassenkampf von Lenin und Trotzki, die “das russische Proletariat zum Dirigenten der Weltrevolution“ machen wollten, die Revolution, philosophisch betrachtet, dazu verdammt war, bürgerlich zu sein, da Lenin und seine Freunde eine Feuerbachsche, bürgerlich-materialistische Philosophie rezipiert haben (Marx erste Phase).

Diese Ideen bringen Harper und Kautsky zusammen, sowohl in ihrer Annäherung an die Grundlagen des Problems als auch in der Form, die sie ihrer Denkweise und ihrer Kritik an den Bolschewiki verleihen, die sie beschuldigen, die Weltrevolution vom Kreml aus dirigieren zu wollen.

Doch da ist mehr. Harper beweist in seinem philosophischen Exposé, dass Engels kein dialektischer Materialist war, sondern, was seine Auffassungen auf dem Gebiet des Wissens angeht, tief verhaftet war mit den Naturwissenschaften und dem bürgerlichen Materialismus. Um diese Theorie zu verifizieren, erfordert es eine Exegese von Engels’ Schriften, die Harper nicht geliefert hat, während Mondolfo in einem wichtigen Werk über den dialektischen Materialismus allem Anschein nach das Gegenteil beweisen will, was zeigt, dass dieser Streit nicht neu ist. Wie dem auch sei, ich glaube, dass die jungen Generationen in den ihnen vorausgehenden Generationen etwas sehen können, was wir auch bei Lenin oder bei Engels feststellen können, die die Philosophie ihrer Zeit auf der Grundlage desselben Niveaus der wissenschaftlichen Kenntnisse und mitunter zu schematisch kritisierten. Man sollte jedoch vor allem ihre allgemeine Haltung und nicht sie als Philosophen beurteilen, also zuerst sehen, ob sie sich in ihrer allgemeinen Haltung auf dem Feld der Praxis positionieren, der Thesen von Marx über Feuerbach. 

In diesem Sinn muss man einräumen, dass das, was Sydney Hook über das Werk Lenins in „Understanding Marx“ sagt, der Realität weitaus näherkommt:

„Es ist merkwürdig, dass Lenin allem Anschein nach nicht die Unvereinbarkeit zwischen einerseits seinem politischen Aktivismus sowie der wechselseitigen, dynamischen Philosophie der Aktion von Was tun? und andererseits der absolut mechanischen Erkenntnistheorie bemerkte, die er in Materialismus und Empiriokritizismus so heftig verteidigte. Hier folgt er Wort für Wort Engels’ Behauptung, dass ‘Empfindungen die Kopien sind, die Fotos, das Spiegelbild der Dinge’ und dass der Geist kein aktiver Faktor in der Erkenntnis sei. Er scheint zu glauben, dass, argumentiert man für die Beteiligung des Geistes als ein aktiver Faktor in der Erkenntnis, bedingt durch das Nervensystem und der gesamten Geschichte der Vergangenheit, daraus folgen muss, dass der Geist alles erschafft, was existiert, einschließlich seines eigenen Gehirns. Das wäre Idealismus in seiner charakteristischsten Gestalt, und Idealismus heißt Religion und Gottglaube.

Doch der Übergang von der ersten zur zweiten Aussage ist der unlogischste, den man sich vorstellen kann. In Wirklichkeit musste Lenin im Interesse seiner Auffassung vom Marxismus als Theorie und Praxis der sozialen Revolution einräumen, dass Bewusstsein eine aktive Sache ist, ein Prozess, in dem Materie, Kultur und Geist wechselseitig miteinander reagieren, und dass die Wahrnehmungen nicht die Erkenntnis bilden, sondern ein Bestandteil des Materials sind, aufgearbeitet von der Erkenntnis.

Dies ist die Position, die Marx in seinen Thesen über Feuerbach und in Die deutsche Ideologie einnimmt. Wer immer die Empfindungen als exakte Kopien der äußeren Welt betrachtet, die von sich aus zur Erkenntnis führen, kann nicht Fatalismus und Mechanismus vermeiden. In Lenins politischen Schriften findet man keine Spur dieser Locke’schen, dualistischen Erkenntnislehre. Sein Was tun? enthält, wie wir gesehen haben, eine aufrichtige Zustimmung zur aktiven Rolle der Klassenerkenntnis im gesellschaftlichen Prozess. Es sind seine praktischen Schriften, die sich mit den konkreten Problemen der Agitation, Revolution und Rekonstruktion befassen, in denen man die wirkliche Philosophie Lenins findet...“ (Understanding Marx, Sydney Hook, eigene Übersetzung)[4]

Ein beredtes Zeugnis und der wahrste Ausdruck für das, was Sydney Hook sagt, der Harper in dieselbe Ecke wie Plechanow und Kautsky stellt, ist dieses anschauliche Zitat aus Trotzkis Mein Leben.

Auf Plechanow zu sprechen kommend, sagt er: “Ihn untergrub gerade das, was Lenin stark machte: das Nahen der Revolution (...) Er war Propagandist und Polemiker des Marxismus, aber nicht revolutionärer Politiker des Proletariats. Je unmittelbarer die Revolution herannahte, um so ersichtlicher verlor Plechanow den Boden unter den Füßen.“ (Trotzki, Mein Leben, Der Parteikongreß und die Spaltung)

Man sieht also, dass es weniger die philosophische These Harpers ist, die originell ist (sie ist im Gegenteil eine Auffassung, die vor ihm schon andere hatten), sondern vielmehr die Schlussfolgerung, die er zieht.

Diese Schlussfolgerung ist eine fatalistische Schlussfolgerung von der Art Kautskys. Kautsky zitiert in seiner Broschüre Rosa Luxemburg und der Bolschewismus einen Satz, den Engels ihm in einem persönlichen Brief geschrieben hatte:

„... die wirklichen, nicht illusorischen Aufgaben einer Revolution werden immer infolge dieser Revolution gelöst...“ (Engels an Kautsky, 7.2.1882, MEW, Bd. 35, S. 269)

Dies ist es, was uns Kautsky in seiner Broschüre beweisen möchte, dies ist es, womit Harper in Lenin als Philosoph argumentiert (für jene, die ihm in seinen Schlüssen folgen wollen). Und nachdem er den bürgerlichen Materialismus bei Lenin und bei Engels bekämpft hat, gelangt er zu einer noch vulgäreren mechanischen Schlussfolgerung über die Russische Revolution: „zwangsläufiges Produkt“, „wirkliche, nicht illusorische Aufgaben“. Die Russische Revolution habe erzeugt, was sie erzeugen musste – es stehe alles geschrieben in Materialismus und Empiriokritizismus und in den ökonomischen Bedingungen; das Weltproletariat sei schlicht als ideologischer Deckmantel für all dies benutzt worden. Mehr noch, Pannekoek argumentiert, dass die neue Klasse an der Macht in Russland ganz natürlich die Denkweise des Leninismus, seinen bürgerlichen Materialismus in ihrem Kampf gegen die etablierten bürgerlichen Schichten verinnerlicht habe, die auf philosophischer Ebene in den religiösen Kretinismus, den Mystizismus und Idealismus zurückgefallen sowie konservativ und reaktionär geworden seien. Dieser frische Wind, diese neue Philosophie der staatskapitalistischen Klasse, der Intelligenz und der Techniker, finde ihren Daseinsgrund im Empiriokritizismus und im Stalinismus und erlebe in allen Ländern einen „Aufstieg“, etc., etc.

So haben wir folgende Gleichung:

Marx’ erste Phase = Lenins Empiriokritizismus = Stalin!!!

Ohne Harper zu kennen, hat Burnham dies sehr gut begriffen, so wie zahllose Anarchisten diese Gleichung gerne endlos wiederholen, ohne sie verstanden zu haben. Es ist offensichtlich, dass Harper dies nicht ganz so brutal sagt, doch die Tatsache, dass er all den Schlussfolgerungen der bürgerlichen Apologeten und der Burnham’schen Anarchisten Tür und Tor öffnet, reicht aus, um den konstitutiven Makel seines Lenin als Philosoph aufzuzeigen.

Wenn er sich schließlich dazu veranlasst sieht, die „rein proletarischen“ Lehren aus der Russischen Revolution zu ziehen (ich möchte darauf hinweisen, dass Harper und Kautsky stets von der „russischen“ Revolution und selten von der „Oktoberrevolution“ sprechen, was ein bedeutsamer Unterschied ist), und wenn er diese „rein proletarische“ Lehre zieht, indem er die Handlungen der russischen Arbeiterklasse vom „bürgerlichen Einfluss der Bolschewiki“ trennt, dann sagt er letztendlich, dass die Generalstreiks und Sowjets „per se“ die russische Revolution erzeugten und dass sie uns folgende positive Lehren bringen:

1) Das Proletariat muss sich ideologisch „Mensch für Mensch“ vom bürgerlichen Einfluss losmachen.

2)  Es muss nach und nach lernen, die Fabriken zu leiten und die Produktion zu organisieren.

3) Die Generalstreiks und die Räte sind die ausschließlichen Waffen des Proletariats.

Und es stellt sich heraus, dass diese Schlussfolgerung eine raffinierte Art von Reformismus und darüber hinaus völlig anti-“dialektisch“ ist.

Das „Mensch für Mensch“-Losmachen von der bürgerlichen Ideologie würde, selbst wenn es realisierbar wäre, den Sozialismus letztendlich um Jahrhunderte hinauszögern und die marxistische Doktrin wie eine schöne Legende erscheinen lassen, die man den Kindern der Proletarier erzählt, um ihnen Mut zu machen, sich dem Leben zu stellen. Wenn jeder Mensch sich individuell von der herrschenden Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft befreien muss, dann ist der Marxismus nichts anderes als eine Idee – eine ewig gültige Idee, aber nicht mehr. In Wirklichkeit kann es nur der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit unter bestimmten historischen Bedingungen gelingen, sich davon zu befreien und leidenschaftlicher als sonst in eine Auseinandersetzung mit dem alten System zu treten. Der Sozialismus kann nicht „Mensch für Mensch“ verwirklicht werden, nach Art der alten Reformisten, die glaubten, sie könnten „erst den Menschen reformieren, ehe sie die Gesellschaft reformieren“, sind doch beide nicht voneinander zu trennen. Die Gesellschaft verändert sich, wenn die Menschheit in Bewegung gerät, um diese Veränderung zu bewirken; und das Proletariat gerät in Bewegung nicht „Mensch für Mensch“, sondern „wie ein einziger Mensch“, wenn es sich unter den entsprechenden historischen Bedingungen befindet.

Die Tatsache, dass Harper in einer scheinbar neuen Form das alte, dumme Zeug der Reformisten wiederholt, erlaubt ihm, mit philosophisch-dialektischer Phrasendrescherei die Probleme, die Hauptachsen der Russischen Revolution wegzuzaubern und sie in die Versenkung der „Gründe des russischen Staates“ verschwinden zu lassen, um die wirklichen Probleme der Russischen Revolution zu vertuschen, um ihre fundamentalen Beiträge als nichts anderes als Gründe für den russischen Staat abzulehnen. Es handelt sich um die Position Lenins gegen den Krieg und um Trotzkis Theorie der permanenten Revolution.

Oh ja, meine Herren Kautsky und Harper, man mag mit einer rein negativen Kritik der philosophischen und ökonomischen Theorien Lenins und Trotzkis zuweilen ins Schwarze treffen, aber dies heißt nicht, dass man dadurch eine revolutionäre Position erlangt. Mit ihren politischen Positionen in der entscheidenden Aufstandsphase der Russischen Revolution waren Lenin und Trotzki wahrhaftige marxistische Revolutionäre.

Es reicht nicht aus, zwanzig Jahre nach der Schlacht, an der man sich selbst in vorderster Front beteiligt hatte, die philosophische Schlussfolgerung zu ziehen, dass all dies im stalinistischen Staat enden musste, und zu sagen, dass das Eine das Produkt des Anderen sei. Man muss sich auch fragen, wie und warum Lenin und Trotzki sich auf die internationale Arbeiterbewegung stützen konnten, und uns offen sagen, ob der Stalinismus das unweigerliche Produkt dieser Bewegung ist.

Harper wie auch Kautsky sind nicht in der Lage, uns darauf zu antworten, weil ihre politischen Positionen gegenüber der Bourgeoisie im imperialistischen Krieg oder in einer sich im Aufwind befindlichen revolutionären Periode keine Konzepte haben, die allein es ihnen gestatten würden, sich diesen Problemen anzunähern. Sie mögen Lenin als „Philosoph“ oder als „Staatschef“ kennen, doch sie nehmen Lenin nicht als marxistischen Revolutionär wahr, als das wahre Gesicht Lenins angesichts des imperialistischen Krieges und das wahre Gesicht Trotzkis angesichts einer mechanischen Auffassung der „unvermeidlich“ kapitalistischen Entwicklung Russlands. Sie kennen nicht das wahre Gesicht des Oktobers, der nicht nur aus den Massenstreiks, auch nicht allein aus den Sowjets bestand; Sowjets, denen Lenin nicht bedingungslos anhing (wie Harper), weil er der Meinung war, dass die Formen der Macht des Proletariats spontan aus seinem Kampf hervorgehen. Und hierin, glaube ich, war Lenin ebenfalls marxistischer, weil er sich weder an die Sowjets noch an die Gewerkschaften noch an den Parlamentarismus (selbst wenn er sich täuschte) auf definitive Weise band, sondern auf eine Weise, die sich dem Momentum des Klassenkampfes anpasste.

Wohingegen die quasi theologische Anhänglichkeit Harpers an seinen Räten in dieser Hinsicht gleichsam die Form der Mitbestimmung der Arbeiter im kapitalistischen Regime annimmt, als eine Ausbildung in Sozialismus. Es ist nicht die Rolle der Revolutionäre, eine Ausbildung dieser Art zu machen. Mit dieser Ausbildung „Mensch für Mensch“ in der Theorie des Sozialismus ist die Menschheit dazu verdammt, auf ewig versklavt und entfremdet zu sein, mit oder ohne Räte, mit oder ohne „Rätekommunisten“ und ihren Ausbildungsmethoden im Fach Sozialismus unter kapitalistischem Regime, dem gewöhnlichen Reformismus, der Kehrseite der Kautskyanischen Münze.

Was den „eigentlichen“ Klassenkampf mit seinen „geeigneten Mitteln“ wie den Streik etc. betrifft, so hat man das Ergebnis gesehen. Es kommt der Theorie der Streikkultur der heutigen Trotzkisten und der Anarchisten sehr nahe, die gegenwärtig die alte Tradition der „Gewerkschafter“ und der „Wirtschaftsexperten“ aufrechterhalten und die von Lenin in Was tun? so scharf kritisiert worden waren. Dies bedeutet, dass die antigewerkschaftliche Position der „Rätekommunisten“, vom rein negativen Standpunkt aus betrachtet korrekt, nicht weniger falsch „an sich“ ist, weil die Gewerkschaften durch ihre Brüderchen, die Sowjets, ersetzt werden, die dieselbe Rolle spielen. Man glaubt, dass man nur den Namen wechseln muss, um den Inhalt zu verändern. Man nennt die Partei nicht mehr Partei, die Gewerkschaften nicht mehr Gewerkschaften, sondern ersetzt sie durch gleichartige Organisationen, die dieselbe Funktion ausüben, aber einen anderen Namen tragen. Auch wenn man eine Katze „Tiger“ nennt, so wird sie für uns immer noch dieselbe Anatomie und denselben Platz in der Welt besitzen, abgesehen von den wenigen, für die sie zu einem Mythos geworden ist; es ist merkwürdig, dass „dialektische“ Philosophen und Materialisten den gleichermaßen verbohrten Geist und die gleichermaßen engstirnigen Ansichten haben, um uns dazu zu verleiten, ihre Welt der mythologischen Konstruktionen, eine Welt von „Tigern“ im   Verhältnis zur Welt der Katzen, als neue Welt hinzunehmen.

Also: in der alten Welt war ein Kautsky ein gewöhnlicher Reformist, in der neuen Welt sind Trotzkisten, Anarchisten und Rätekommunisten „authentische Revolutionäre“; dabei sind sie viel oberflächlichere Reformisten als der scharfsinnige Theoretiker des Reformismus, Kautsky.

Die Tatsache, dass Harper auf die klassischen Argumente des bürgerlichen Reformismus, menschewistische und Kautsky’sche, zurückgreift (und unlängst das Aufeinandertreffen dieses Standpunktes mit dem Burnhams), kann nicht groß erstaunen. Statt zu versuchen, als Marxisten Lehren aus dieser revolutionären Epoche zu ziehen (wie Marx und Engels z.B., die die Lehren aus der Pariser Kommune gezogen hatten), möchte Harper die Russische Revolution und den mit ihr verbundenen Bolschewismus (ganz so wie der Blanquismus und Proudhonismus mit der Pariser Kommune verknüpft war) „in Bausch und Bogen“ verurteilen.

Harper kommt der Realität sehr nahe. Wenn er, statt die Bolschewiki zu verurteilen, sich dem „russischen Milieu“ angepasst zu haben, sich gefragt hätte, auf welchem geistigen Niveau sich diese Linke der Sozialdemokratie, von der alle abstammten, befunden hatte, hätte er ganz andere Schlüsse in seinem Buch ziehen müssen, weil er gesehen hätte, dass dieses Niveau (selbst bei den Fortgeschritteneren in Sachen Dialektik) nicht erlaubt hätte, einige Probleme zu lösen, auf die die Russische Revolution gestoßen war (die Probleme der Partei und des Staates), Probleme, von denen am Vorabend der Russischen Revolution kein Marxist eine genaue Vorstellung  hatte (und dies aus gutem Grund).

Wir behaupten und versuchen es zu beweisen, dass es die Bolschewiki waren, die 1917 in der Gesamtheit des philosophischen, ökonomischen und politischen Kenntnisstandes die fortgeschrittensten Revolutionäre in der gesamten Welt waren, und dies zu einem großen Teil dank der Präsenz Lenins und Trotzkis.

Wenn die darauffolgenden Ereignisse dem zu widersprechen scheinen, so nicht wegen ihrer intellektuellen Entwicklung, die dem „russischen Milieu“ angepasst ist, sondern wegen des allgemeinen Niveaus der internationalen Arbeiterbewegung, was ebenfalls philosophische Fragen aufwirft, die Harper nicht einmal anschneiden möchte.

Philippe

 

[1] Siehe weiter unten die Zitate Kautskys über Die Lehre des westlichen Proletariats.

[2] In einer nächsten Ausgabe werden wir sehen, wie einer der Schüler Harpers, Canne Meijer, bedauerlicher- und traurigerweise zum gleichen Befund über den „Sozialismus als Utopie“ gelangt wie Burnham. Im Kern ist dies, mit noch mehr Geschwätz, auch die Schlussfolgerung der Gruppe Socialisme ou Barbarie und ihres Mentors Chaulieu-Castoriadis-Cardan.

[3] Folgende Zitate von Karl Kautsky aus: Der Kampf, Sozialdemokratische Monatsschrift, Wien, Februar 1922.

[4] Und dies zum „spezifisch russischen Milieu“ von Harper-Kautsky: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“ (Marx, Thesen über Feuerbach, These 3)

 

Aktuelles und Laufendes: 

  • Lenin als Philosoph [154]
  • Pannekoek [155]
  • Internationalisme [156]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Rätismus [157]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Deutsche und Holländische Linke [158]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [159]

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Internationale Revue 54

Kritik an Pannekoeks Lenin als Philosoph Teil 4 aus: Internationalisme 1948

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Die Schlussfolgerungen Harpers über die Russische Revolution und der Aspekt der marxistischen Dialektik, den er besser im Dunkeln zu lassen glaubt

Es gibt drei Wege, die russische Revolution zu betrachten.

a)    Der erste ist der Weg der „Sozialisten“ aller Art, Linke, Rechte und das Zentrum, von Revolutionären und Co. (in Russland), von Unabhängigen und Konsorten woanders.

Vor der Revolution war ihre Perspektive: Die russische Revolution werde eine bürgerlich-demokratische Revolution sein, in der die Arbeiterklasse „demokratisch“ für „ihre Rechte und Freiheiten“ kämpfen dürfe.

All diese Herren waren neben ihrem Dasein als „aufrichtige, demokratische Revolutionäre“ glühende Verteidiger des „Volksrechtes, über sich selbst zu verfügen“, und endeten – über den Umweg eines Einbahn-Internationalismus, der im Pazifismus begann und zum Kampf gegen die Aggressoren und die Unterdrücker führte – in der Verteidigung der Nation. Diese Leute waren also „Moralisten“ im reinsten Wortsinn, da es ihnen nachdrücklich um DAS „Recht“ und DIE „Freiheit“ der Armen und Unterdrückten ging.

Als die erste Revolution, die vom Februar, losbrach, löste dies selbstverständlich einen Strom von Freudestränen und einen ausgelassenen Jubel über die Bestätigung der lang ersehnten heiligen Perspektiven, der heiligen Revolution aus.

Sie haben nur vergessen, dass der Anschub durch den allgemeinen Februaraufstand lediglich die Tür zum wahren Kampf zwischen den sich gegenüberstehenden Klassen öffnete.

Nachdem der Zar gestürzt war, bedeutete die sich in der alten Selbstherrschaft vollziehende bürgerliche Revolution die Verfaulung dieses Apparats und die Notwendigkeit, ihn beiseite zu schieben: Der Februar öffnete das Tor zum Kampf um die Macht.

In Russland selbst standen sich auf einmal vier Kräfte gegenüber:

1.    die Autokratie, die feudale Bürokratie, die ein Land regierte, in dem das Großkapital erst in der Entstehung begriffen war;

2.    die Bourgeoisie und das Kleinbürgertum, das Großkapital, die Industriebosse und die intellektuelle Elite, mittelgroße Landbesitzer, etc.;

3.    die große Masse der verarmten Bauernschaft, die der Leibeigenschaft kaum entronnen war;

4.    die Intellektuellen und das Kleinbürgertum, die durch die Krise des Regimes und des Landes proletarisiert wurden, und das große Industrieproletariat.

Die „reaktionären“ Elemente (die Unterstützer des zaristischen Regimes) waren von der Unausweichlichkeit und Notwendigkeit der Einführung des großindustriellen Kapitalismus in Russland überzeugt und strebten nach nichts anderem, als die Verwalter und Gendarmen der ausländischen Großfinanz im Gegenzug für die Erhaltung eines für sie vorteilhaften gesellschaftlichen Status zu sein, für die Aufrechterhaltung eines imperialen bürokratischen Systems, die „Befreiung“ der Leibeigenen, die notwendig war, um die Industrie mit Arbeitskräften zu versorgen und um zu gewährleisten, dass die Bürokratie und der Adel eine strikte Kontrolle über die Mittelbauernschaft, die als eine Klasse von Pachtbauern betrachtet wurde, aufrechthielt.

Dies war offensichtlich bereis die „bürgerliche Revolution“. Doch die gesellschaftlichen Kräfte, die die Arena der Geschichte betraten, setzten sich über die Anliegen der Bürokratie hinweg. Das Kapital in Russland einführen bedeutete auf der einen Seite das Proletariat und auf der anderen Seite die kapitalistische Klasse, die sich nicht aus Kapitaleignern zusammensetzte, sondern als Gesellschaftsklasse in ihrer Gesamtheit effektiv die Industrie dirigiert und die Kapitalzirkulation verwaltet.

Der Kapitalimport hatte zur Konsequenz, dass den – im weitesten Wortsinn – führenden russischen Klassen all die enormen Entwicklungsmöglichkeiten vor Augen geführt wurden, die der Kapitalismus Russland bieten könnte.

So bildeten sich in diesen Klassen zwei ambivalente Tendenzen heraus: die erste, die Notwendigkeit, sich des ausländischen Finanzkapitals für die kapitalistische Entwicklung in Russland zu bedienen; die zweite, eine Tendenz zur nationalen Unabhängigkeit und somit dazu, sich vom Einfluss dieses Kapitals zu befreien.

Seit der Eröffnung des revolutionären Kurses verstanden die Länder, die Kapital in Russland investiert hatten wie Frankreich, England und noch zahlreiche weitere, vor allem die Gefahr vom Standpunkt der Interessen „ihres“ Kapitals. Nun wissen wir, dass die Mentalität der Besitzenden im Allgemeinen die Feigheit ist, die Angst und als Reaktion darauf die Entfesselung und Explosion der Gewalt, über die sie verfügt.

Diese Länder wussten sehr gut, dass eine demokratische Regierung ihre Interessen schützen würde, doch wie alle Kapitalisten sahen sie in der Installation irgendeines reaktionären Putsches die Möglichkeit, ihre Politik zu diktieren und Zugriff auf ein äußerst reiches Territorium zu haben. Die ausländischen Staaten spielten jede mögliche Karte aus, unterstützten allesamt Kerenski und Denikin, die reaktionären Banden und die provisorische Regierung, etc. Die Einen erhielten das Geld, die Waffen und die militärtechnischen Berater, die Anderen erhielten den „selbstlosen Rat“ von Botschaftern und anderen Konsuln. Mehr noch, durch dieses große Gezänk um die Macht machen sich mit immer größerer Heftigkeit die Kämpfe um den ausschlaggebenden Einfluss geltend, fallen sich die rivalisierenden Imperialismen, gestern noch einig, heute gegenseitig in den Rücken und schmieden Komplotte gegen den Verbündeten, etc.

Der adäquateste Begriff zur Charakterisierung der politischen Geographie dieser Periode, in der es von der ersten Revolution (Februar) zur zweiten (Oktober) ging, ist der Morast, das Chaos, das die zeitgenössische Geschichtsforschung erst zur Kenntnis zu nehmen beginnt, dank der Veröffentlichungen aller Geheimabkommen durch die bolschewistischen Regierung.

b) Der imperialistische Krieg selbst befand sich in der Sackgasse, die Leichen verwesten im Niemandsland, das die Schützengräben einer Front trennte, die sich durch ganz Ostdeutschland, Österreich-Ungarn und durch den Süden derselben Länder zog, ohne dass der Krieg im Begriff zu sein schien, einen Ausweg zu finden.

In diesem allgemeinen Chaos stand auf den Konferenzen von Zimmerwald und Kienthal eine kleine Gruppe für den revolutionären Internationalismus und beharrte auf der Notwendigkeit einer neuen revolutionären Arbeiterbewegung auf den Ruinen der Zweiten Internationalen.

Das Proletariat müsse vor allem seinen Internationalismus proklamieren, indem es in den Kampf tritt, der unter allen Umständen gegen die eigene Bourgeoisie geht, und im Blick behält, dass diese Bewegung nur eine internationale Bewegung des Proletariats sein kann, die, um die Realisierung des Sozialismus zu ermöglichen, sich auf die bürgerlichen Großmächte ausweiten muss.

Der einzige Unterschied, der zwischen Sozialdemokraten und dem Kern der künftigen Kommunistischen Internationale existierte, war dieser fundamentale Punkt: Die Sozialdemokraten meinten den Sozialismus durch die „fortschreitende Erweiterung der inneren Demokratie“ der Länder zu realisieren, und außerdem dachten sie, dass der Krieg ein „Unfall“ in der historischen Bewegung war und dass während des Krieges der Klassenkampf eingemottet werden müsse, um bis zum Sieg über den bösen Feind zu warten, damit sich dieser „Kampf“ „pazifistisch“ vollziehen könne.

(Es würde zu viel Platz erfordern, um auf die Manifeste der verschiedenen Parteien – Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, etc. – in der Epoche des Krieges von 1914 bis 1917 und auf die Zeitungsauszüge dieser Parteien einzugehen, die für die russischen Truppen in Frankreich bestimmt waren und in denen der „Sozialismus“ mit wahrhaft revolutionärer Inbrunst verteidigt wurde.)

Die Linke, die sich nach den beiden Konferenzen in der Schweiz zu sammeln begann, hatte ihre solidesten Fundamente rund um die Persönlichkeit Lenins errichtet, der damals nicht von den ehemaligen Anhängern der bolschewistischen Partei, sondern selbst von der Linken fast vollständig isoliert war. Lenin verkündete wörtlich:

„Klassenkollaboration predigen, der sozialen Revolution und den revolutionären Methoden abschwören, sich am bürgerlichen Nationalismus anpassen, den veränderlichen Charakter von nationalen Grenzen und Ländern vergessen, einen Fetisch aus der bürgerlichen Legalität machen, die Vorstellung von Klassen und Klassenkämpfen leugnen aus Furcht, die ‘Volksmassen’ (d.h. das Kleinbürgertum) zu erschrecken – dies ist zweifellos die theoretische Grundlage des Opportunismus.“

„... Die Bourgeoisie missbraucht das Volk, indem sie über den imperialistischen Raubzug den Schleier der alten Ideologie vom „nationalen Krieg“ zieht. Das Proletariat entlarvt diese Lüge, indem es die Umwandlung dieses imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg proklamiert. Dies ist der in den Resolutionen in Stuttgart und Basel angedeutete Schlachtruf, die zwar nicht den Krieg im Allgemeinen, aber diesen gegenwärtigen Krieg antizipierten und die nicht von der ‘Verteidigung des Vaterlandes’ sprachen, sondern von der ‘Beschleunigung des Niedergangs des Kapitalismus’, von der Ausnutzung der vom Krieg verursachten Krise, indem sie auf das Beispiel der Kommune hinwiesen. Die Kommune war die Umwandlung des nationalen Krieges in einen Bürgerkrieg.“

„Solch eine Umwandlung ist nicht einfach und kann nicht von dieser oder jener Partei angeordnet werden. Doch dies entspricht präzise dem objektiven Zustand des Kapitalismus im Allgemeinen und seinem letzten Stadium im Besonderen. In diese Richtung, und nur in diese Richtung, müssen Sozialisten wirken. Nicht indem sie für Kriegskredite stimmen, nicht indem sie den Chauvinismus des eigenen Landes und dessen Verbündeten befürworten, sondern im Gegenteil indem sie vor allem den Chauvinismus der eigenen Bourgeoisie bekämpfen und indem sie sich weigern, sich auf legale Methoden einengen zu lassen, wenn die Krise offen zutage tritt und die Bourgeoisie selbst die von ihr geschaffene Legalität annulliert; dies ist die Marschrichtung, die zum Bürgerkrieg führt, zum Flächenbrand, der sich in ganz Europa ausbreiten wird...“

„… der Krieg ist kein Unfall, eine „Sünde“, wie die Pfaffen meinen (die den Patriotismus, die Menschlichkeit und den Frieden mindestens so gut wie die Opportunisten predigen), sondern eine unausweichliche Phase des Kapitalismus, eine kapitalistische Existenzform, die ebenso legitim ist wie der Krieg. Der gegenwärtige Krieg ist ein Völkerkrieg. Aus dieser Wahrheit folgt nicht, dass man dem „Volksstrom“ folgen müsse, sondern dass während des Krieges, angesichts des Krieges und unter allen Gesichtspunkten des Krieges die gesellschaftlichen Antagonismen, welche die Völker entzweien, weiter existieren und sich weiter ausdrücken …“

„... Nieder mit dem sentimentalen Gefasel, mit den idiotischen Seufzern nach ‘Friede um jeden Preis’! Der Imperialismus spielt mit dem Schicksal der europäischen Zivilisation. Wenn dem Krieg nicht Serien von siegreichen Revolutionen folgen, folgen ihm bald neue Kriege. Die Mär über den ‘Krieg zur Beendigung aller Kriege’ ist ein krudes, leeres Märchen, ein kleinbürgerlicher Mythos (um den sehr angemessenen Ausdruck von Golos zu benutzen).“

„Heute oder morgen, im oder nach dem Krieg wird das proletarische Banner des Bürgerkriegs hinter sich nicht nur Hunderte von Millionen bewusster Arbeiter scharen, sondern auch Millionen von Halb-Proletariern und Kleinbürgern, die gegenwärtig durch den Chauvinismus brutalisiert werden und die möglicherweise über die Schrecken des Krieges entsetzt und deprimiert sein werden, die aber vor allem alle für den Krieg gegen die Bourgeoisie – die Bourgeoisie ‘ihres’ Landes und der ‘ausländischen’ Länder – instruiert, aufgeklärt, aufgeweckt, organisiert, geprüft und vorbereitet werden...“

„... Die II. Internationale ist tot, bezwungen vom Opportunismus. Nieder mit dem Opportunismus, lang lebe die Internationale, die nicht nur von den ‘Abtrünnigen’ (wie Golos es will), sondern auch vom Opportunismus gereinigt ist. Lang lebe die III. Internationale!“

„Die II. Internationale hat ihre nützlichen Funktionen erfüllt (...) Es liegt nun an der III.Internationalen, die proletarischen Kräfte für eine revolutionäre Offensive gegen alle kapitalistischen Regierungen zu organisieren, für einen Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie in allen Ländern, um die Eroberung der Macht, für den Sieg des Sozialismus...“

Vergleicht man dies mit Marx, sieht man, wie viel Lenin im Gegensatz zu dem, was uns Harper glauben machen will, vom Marxismus verstanden hat und dass er gewusst hat, ihn im passenden Moment anzuwenden:

„…Es versteht sich ganz von selbst, dass, um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiterklasse sich bei sich zu Haus organisieren muss als Klasse, und dass das Inland der unmittelbare Schauplatz ihres Kampfs ist. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht dem Inhalt, sondern, wie das Kommunistische Manifest sagt, „der Form nach“ national. Aber der „Rahmen des heutigen nationalen Staats“, z.B. des Deutschen Reichs, steht selbst wieder ökonomisch „im Rahmen des Weltmarkts“, politisch „im Rahmen des Staatensystems“. Der erste beste Kaufmann weiß, dass der deutsche Handel zugleich ausländischer Handel ist, und die Größe des Herrn Bismarck besteht ja eben in seiner Art internationaler Politik.

Und worauf reduziert die deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus? Auf das Bewusstsein, dass das Ergebnis ihres Strebens „die internationale Völkerverbrüderung sein wird“ – eine dem bürgerlichen Freiheits- und Friedensbund entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internationale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen Kampf gegen die herrschenden Klassen und ihre Regierungen.“ (Kritik des Gothaer Programms, I. Teil, kurz vor Schluss)

Was diese Linke der Sozialdemokratie also von der gesamten Arbeiterbewegung unterschied, waren ihre politischen Positionen:

1.    über den Begriff der Machtergreifung (den Zwist zwischen bürgerlicher Demokratie und Arbeiterdemokratie, wie sie in der Diktatur des Proletariats verwirklicht ist);

2.    über den Charakter des Krieges und die Position der Revolutionäre in diesem Krieg.

Was den ganzen Rest, besonders die „ökonomische“ Organisation des Sozialismus betraf, so hielt man noch an der Parole der Verstaatlichung von Grund und Boden und der Industrie fest, so wie Viele politisch noch der Parole des „aufständischen Generalstreiks“ anhingen. Dessen ungeachtet ist es gut, daran zu erinnern, dass die sozialistischen Militanten eine sehr kleine Anzahl ausmachten, selbst in der Linken, die im Verlaufe des Krieges Lenins Positionen begriffen und sich anschließend während der Russischen Revolution, als die Theorie in Taten umgesetzt wurde, ihr angeschlossen hat.

Dies war so sehr der Fall, dass Kautsky in seinem Streit mit Lenin diese Seite des Problems mit keinem Wort erwähnte und dennoch, wie Lenin bemerkte, auf dem Basler Kongress Stellung für ähnliche und sehr fortschrittliche Positionen über die Arbeitermacht und über den Internationalismus bezogen hatte. Doch es reicht nicht aus, Resolutionen zu unterschreiben, wenn man nicht weiß, wie man sie in der Praxis anwendet. Erst an der Umsetzung der Theorie in die Praxis sieht man, wer wirklich ein Marxist ist. Der ganze Wert eines Plechanow oder Kautsky, respektable Männer in der sozialistischen Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts, fiel wie ein Kartenhaus zusammen angesichts dieser kleinen Gruppe von Bolschewiki, die ihre Theorien – zunächst über die Machtergreifung, dann über die Kriegsfrage, im Gegensatz zu den linken Sozialrevolutionären und der bolschewistischen Fraktion, die in der Brest-Litovsk-Frage für den „revolutionären Krieg“ war, und über die deutsche Offensive sowie den darauffolgenden Bürgerkrieg im Innern – in die Praxis übersetzen musste.

Darauf wartend, dass die Revolution sich international ausbreitet, konnte die Wirtschaft in Russland nur auf bürgerliche Weise organisiert werden, jedoch nach dem Modell des fortgeschrittensten Kapitalismus: des Staatskapitalismus.

Erst die ultimative Lösung der internationalen Revolution (die ihren internationalen Ausgang in den Positionen und im Beispiel der Bolschewiki nahm) ermöglichte eine Entwicklung und eine Transformation der Gesellschaft in Richtung Sozialismus. Abgesehen davon könnte man zig Beispiele von falschen Positionen desselben Lenins vor und nach der Revolution zitieren.

1905 erteilte Trotzki ihm in „Unsere Unterschiede“ eine harte Lektion, und es war die Synthese zwischen der Position Trotzkis in „Unsere Unterschiede“ und Lenins Position in „Was tun?“, die als Stellungnahme im Krieg diente. Nach der Machtergreifung wurden eine Menge Fehler auf beiden Seiten im inneren Kreis der Partei, von Lenin, Trotzki, etc. begangen. Es geht hier nicht darum, den Blick von diesen Irrtümern abzuwenden; wir werden in der Folgezeit und an anderer Stelle auf sie zurückkommen, wenn es vor allem um die „reinen Leninisten“ geht. Doch es ist eine Sache, die Lehren 30 Jahre nach dem Niedergang zu ziehen, wenn die ökonomischen Bedingungen sich geändert haben, wenn die Charakteristiken klarer geworden sind, und es ist eine ganz andere Sache, inmitten der Ereignisse, die sich auf anarchische und unvorhergesehene Weise darstellen, zu handeln. Heute kann man sagen, welches die Fehler der Bolschewiki gewesen sind, kann man die Russische Revolution als ein historisches Ereignis studieren, kann man überblicken, welche politischen Gruppen damals involviert gewesen sind, ihre Dokumente, ihre Aktivitäten etc. analysieren und studieren.

Doch waren damals die Bolschewiki, Lenin und Trotzki an der Spitze, mit all ihren rückständigen Positionen in einer Bewegung beteiligt, deren unmittelbarer Zweck es war, eine Bewegung in Richtung des Sozialismus zu sein? Wohin führten die Wege, die die Bolschewiki einschlugen? Oder jene, die von Kautsky oder von X, Y oder Z eingeschlagen wurden?

Wir antworten darauf, dass es nur eine Ausgangsbasis gibt, damit sich die Bewegung für den Weg zur sozialistischen Revolution entscheidet, und diese Basis haben allein die Bolschewiki in Russland (und noch nicht alle, ganz im Gegenteil) in den Vordergrund gestellt und angewendet. Es war diese Basis, die bewirkte, dass sie sich auf einen Klassenkampf einließen, dessen Ziel der Sturz des Kapitalismus auf internationaler Ebene war und in dem die allgemeinen politischen Positionen ganz reell zu diesem Sturz führten.

Abgesehen davon gäbe es viel über diese Grundlagen zu sagen, die den großen Linien des Aufbruchs der bolschewistischen Oktoberbewegung vorstanden, und die Diskussion, weit entfernt davon, beendet zu sein, beginnt im Gegenteil erst, doch sie muss zur Minimalgrundlage das revolutionäre Programm des Oktobers haben, das für eine ganze Epoche Gültigkeit besaß und die gesamte Erfahrung der Arbeiterbewegung der 30er Jahre prägte.

Die revolutionäre Bewegung, die sich 1917 in Russland ausbreitete, bewies durch die Resonanz, die sie in Deutschland ein Jahr danach auslöste, dass sie international war.

Anfang November 1918 erhoben sich die deutschen Matrosen, in ganz Deutschland verbreiteten sich Sowjets.

Doch einige Tage später wurde der Waffenstillstand unterzeichnet, einige Monate später verrichtete Noske sein Repressionswerk, schließlich, 1919 – als der erste Kongress der Kommunistischen Internationale (KI) abgehalten wurde und obwohl die große Bewegung, die durch die russisch-deutsche Revolution ausgelöst wurde, das Proletariat noch Jahre später im Bann hielt -, war der Höhepunkt der Revolution bereits überschritten, hatte sich die Bourgeoisie wieder gefangen, hatte der wiedergefundene Frieden den Klassenkampf Stück für Stück stumpf gemacht und zog sich das Proletariat ideologisch in dem Maße zurück, wie die deutsche Revolution in tausend Stücke zerschlagen wurde. Das Scheitern der deutschen Revolution ließ Russland isoliert zurück, so dass es gezwungen war, mit seiner Wirtschaftsorganisation fortzufahren und auf eine neue revolutionäre Welle zu warten.

Aber die Geschichte zeigt, dass die Revolution nicht scheibchenweise triumphieren kann. Die Russische Revolution war kein Teilsieg; da das finale Resultat der Bewegung, die sie entfesselt hatte, das Scheitern auf internationaler Ebene war, konnte der so genannte „Aufbau des Sozialismus“ in Russland nur ein Abbild dieser Niederlage der internationalen Arbeiterbewegung sein.

Dass die KI ihre Kongresse in Moskau abhielt, deutete bereits an, dass die Revolution zu einem Halt gekommen war; diese Niederlage spiegelte sich mit jedem neuen Kongress wider, der einen weiteren Rückzug der internationalen Arbeiterbewegung markierte, auf theoretischer Ebene in Moskau, physisch in Berlin.

Von neuem befanden sich die Revolutionäre in der am meisten ausgegrenzten Minderheit. Die Kommunistische Internationale nach dem Ersten und Zweiten Kongress und die Kommunistischen Parteien erlebten wie so viele andere „sozialistischen“ Parteien, Arbeiterparteien und andere, wie sich ihre Ideologie Stück für Stück verbürgerlichte.

Doch neben diesem Rückzug der Arbeiterbewegung traten zwei markante Phänomene auf: eine degenerierte Arbeiterpartei hütete die Staatsmacht für sich allein, und der Kapitalismus trat 1914 in eine neue Ära ein und stürzte in der Folgezeit in innere Krisen von bisher ungekannten Ausmaßen.

Das ist, denken wir, die Analyse dieser beiden Phänomene, die allein die Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken (die zwischen 1933 bis 1938 BILAN publizierte, deren Titel allein schon Programm ist) auf klare Weise herausgearbeitet hat und die die Erweckung einer neuen revolutionären Arbeiterbewegung hätte ermöglichen sollen.

c) Angesichts dieser Degeneration der Arbeiterbewegung, angesichts der Entwicklung des modernen Kapitalismus, angesichts des stalinistischen russischen Staates und angesichts der Probleme, die sich in den Aufständen der Sowjets stellten, gibt es eine dritte Position, die darin besteht, sich nicht mit zu tiefen Untersuchungen des historischen und politischen Wie und Warum der vergangenen dreißig Jahre anzustrengen und stattdessen alles einem „Sündenbock“ in die Schuhe zu schieben. Die Einen wählten Stalin zum „Sündenbock“ und fabrizierten den Anti-Stalinismus, der sie zur Kriegsteilnahme im amerikanischen „demokratischen“ Lager führte; die Anderen wählten irgendein „Steckenpferd“. Das „Steckenpferd“ variiert je nach Bedürfnis der politischen Mode. 1938-1942 war es Mode, den Faschismus für den Krieg und die Degeneration der Gesellschaft verantwortlich zu machen, die eigentlich der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems insgesamt geschuldet waren. Heute ist es der Stalinismus, der als „Sündenbock“ dient. Und so blühen die Theorien und die Theoretiker auf: Burnham gegen die Bürokratie, Bettelheim dafür, Sartre und die „Freiheit“ und die ganze Clique von bezahlten Schriftstellern der politischen Parteien der Bourgeoisie und des modernen Journalismus verkommener Karrieristen. Harpers Beschuldigungen gegen den „Leninismus“, dessen „unweigerliches Produkt der Stalinismus“ sei, ist nur ein weiteres Beweisstück auf der Liste und ein Versuch, die Anderen zu überbieten.

Zu einer Zeit, als der „Marxismus“ seine größte Krise durchleidet (wir hoffen nur, dass es eine Wachstumskrise ist), fügt Harper nur ein Stück mehr Konfusion hinzu, von der es bereits zuviel gibt.

Wenn Harper behauptet:

„Aber nein; von einer Klassenbestimmtheit der Ideen bemerkt man bei Lenin nichts. Die theoretischen Gegensätze hängen bei ihm in der Luft. Natürlich kann eine theoretische Ansicht nur mit theoretischen Argumenten kritisiert werden. Wo aber die gesellschaftlichen Konsequenzen mit solcher Heftigkeit in den Mittelpunkt gestellt werden, sollte der gesellschaftliche Ursprung der theoretischen Anschauungen nicht außer Acht gelassen werden. Diese wesentlichste Seite des Marxismus besteht offenbar für Lenin nicht.“ (Lenin als Philosoph, aus: Die Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, Germinal, 2008, S. 354), – geht er über eine bloße Schlussfolgerung, über eine Polemik, einen sprachlichen Exzess hinaus. Harper ist einer dieser zahlreichen Marxisten, die im Marxismus mehr eine philosophische und wissenschaftliche Methode in der Theorie sahen, aber im astronomischen Elfenbeinturm der Theorie verharrten, ohne sie jemals auf die historische Praxis der Arbeiterbewegung anzuwenden. Für diese „Marxisten“ war die „Praxis“ auch nur ein Objekt der Philosophie, aber kein treibender Faktor.

Gibt es keine Philosophie, die man dieser revolutionären Periode entnehmen könnte?

Gewiss doch. Ich sage sogar, dass man als Marxist Philosophie nur aus einer historischen Bewegung beziehen kann, um daraus die Lehren für die Nachwelt der historischen Bewegung zu ziehen. Doch was macht Harper? Er philosophiert über die Philosophie Lenins, indem er sie aus ihrem historischen Zusammenhang reißt. Wenn dies alles wäre, würde dies schlicht dazu führen, eine Halbwahrheit zum Ausdruck zu bringen. Und obwohl er diese Schlussfolgerung, diese Halbwahrheit in einem historischen Kontext anwenden will, unterzieht er sich nicht einmal der Mühe, diesen zu untersuchen. Hier liefert er uns den Beweis, dass er es nicht besser, sondern schlechter macht als Lenin in „Materialismus und Empiriokritizismus“. Er sprach über den Marxismus und führte dies in seiner Position zum Problem der Erkenntnis vor. Es gäbe noch viel darüber zu sagen, was Harper gesagt hatte; es muss vor allem gesagt werden, dass sich der Hauptaspekt in der Position zum Problem der Praxis und der Erkenntnis für den Marxismus nicht außerhalb des unmittelbar politischen Aspektes festmachen lässt, der die „Praxis“, d.h. die Entwicklung des revolutionären Denkens und Handelns, wahrhaft revolutionär macht!!! Harper wiederholt wie eine Litanei: „Lenin war kein Marxist!! Er hat nichts vom Klassenkampf verstanden!!!“, und es stellt sich heraus, dass Lenin Punkt für Punkt den Lehren von Marx in der Entwicklung seines politischen, revolutionären, praktischen Denkens folgte.

Der Beweis, dass Lenin die Lehren des Marxismus verstanden und auf die Russische Revolution angewendet hat, ist im „Vorwort“ von Lenin zu den „Briefen von Marx an Kugelmann“ enthalten, wo er auf die Lehre zurückkommt, die Marx aus der Pariser Kommune gezogen hat; es gibt also noch eine weiter kuriose Analogie zwischen dem Text Lenins, den wir zitiert haben, und der oben stehenden Passage aus Marx’ „Kritik des Gothaer Programms“.

Lenin und Trotzki befinden sich voll auf der Linie des revolutionären Marxismus. Sie sind seinen Lehren Schritt für Schritt gefolgt. Die Theorie der „permanenten Revolution“ von Trotzki ist nichts anderes als die Lehre aus dem Kommunistischen Manifest und dem Marxismus ganz allgemein, aus seiner nicht-degenerierten Seite: Die Russische Revolution gibt im Übrigen die Schemata getreu wieder und hält sich an diesem Marxismus. Harper und all die anderen Marxisten haben eine Sache vergessen: Ist die gültige Perspektive der Revolutionen im 19. Jahrhundert, in der Ära des aufsteigenden Kapitalismus, der gerade endete, als die Russische Revolution abhob, auch in der degenerierenden Phase dieser Gesellschaft hinreichend?

Lenin hat sehr wohl die neue Perspektive verbreitet, indem er über eine Periode der „Kriege und Revolutionen“ sprach; Rosa hat sehr wohl die Idee entwickelt, dass der Kapitalismus in eine neue Epoche, in die Epoche der Degeneration eingetreten ist, was die KI und in ihrem Gefolge die ganze trotzkistische Arbeiterbewegung sowie die andere Linksopposition nicht daran hinderte, an der antiquierten Perspektive festzuhalten oder sie wiederaufzugreifen, wie Lenin dies nach dem Scheitern der deutschen Revolution getan hatte. Harper geht sicher davon aus, dass es eine neue Perspektive gibt, aber er hat mit seiner Analyse Lenins und mit ihm der Russischen Revolution bewiesen, dass er wie viele andere nicht imstande ist, sie weiterzuentwickeln, und hat sich in einem Haufen vager oder falscher Erwägungen wie viele andere vor ihm verloren.

Es ist kein Zufall, dass es die Erben eines Teils des ideologischen Gepäcks von BILAN waren, die ihm antworteten, wie sie im Übrigen anderswo auch den reinen „Leninisten“ antworteten.

Beide Seiten, die Befürworter und die Gegner Lenins, vergessen eins: Auch wenn die Probleme von heute nur im Lichte der Probleme der Vergangenheit verstanden werden können, sind sie dennoch anders.

Philippe

 

 

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Internationale Revue 54

Internationale Revue – 2018

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Internationale Revue 55

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Internationale Revue 55 - Editorial

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Das Jahr 2018 neigt sich dem Ende zu – ein Jahr reich an historischen Erinnerungen.

Vor 100 Jahren kam es in Deutschland zu einem historischen Ereignis, dass die Bourgeoisie am liebsten geheim halten würde, denn im November 1918 begannen in Kiel die Matrosen zu meutern und zogen die Proletariat in den Kampf für eine neue Welt, den ihre Klassenbrüder und -schwestern schon ein Jahr zuvor in Russland begonnen hatten. Dadurch erwischten sie die Bourgeoisie auf den falschen Fuß und brachten ihr das Fürchten bei. Unter dem Titel: Revolution in Deutschland - Vor 100 Jahren zitterten die Herrschenden vor der Arbeiterklasse, rufen wir dieses Ereignis wieder ins Gedächtnis, da die heutige Bourgeoisie versucht, diese Revolution aus dem Bewusstsein der Arbeiterklasse zu wischen, indem sie darüber entweder überhaupt nicht oder dann nur aus ihrer bürgerlich beschränkten Sicht über das angebliche Dilemma zwischen Totalitarismus und Demokratie (Weimarer Republik) berichtet. Der Artikel unterstreicht die Stärken, aber auch die Schwächen der damaligen revolutionären Erhebung. Wir erachten es insbesondere als wichtig, die Lehren auch auf der Ebene der politischen Organisation der Revoutionäre, namentlich der KPD, zu  ziehen.

Danach wird der Leser sofort 50 Jahre nach vorne katapultiert, wo das Proletariat auf die Bühne des Klassenkampfes zurückkehrte. 50 Jahre seit Mai 1968 ist eine Artikelserie, die wir schon auf unserer Webseite zu veröffentlichen begonnen haben. Der erste Teil dieser Reihe möchten wir hier abdrucken. Er befasst sich mit der Wirtschaftskrise und trägt den Titel Das Versinken in der ökonomischen Krise. Er gibt einen Überblick über die Entwicklung der letzten 50 Jahre und geht auch ein auf die umstrittene Frage, welche Rolle das Wiederauftauchen der Krise bei den Kämpfen 1968 gespielt hat. Zum Thema Mai 68 werden die anderen zwei Artikel der Serie – über den Klassenkampf und das revolutionäre Milieu – vorerst auf der Webseite zu lesen sein.

Im Jahr 2018 hat sich die imperialistische Lage verschlimmert. Sei es Nordkorea, das mit Atomkrieg drohte, sei es China, das sein Einflussgebiet in Afrika aufbauen und erweitern möchte, seien es die USA, die ihre Machtposition aufrechterhalten wollen – an allen Ecken dieses Planeten brennt es oder nehmen die Spannungen zu. Der hier veröffentlichte Bericht ist im Juni 2018 vom Zentralorgan der IKS diskutiert und angenommen worden. Seither haben die Ereignisse insbesondere um den Besuch Trumps in Europa eine der Hauptaussagen des Berichts bestätigt, wonach die USA der wichtigste Motor bei der Ausbreitung der Tendenz des „Jeder für sich“ geworden sind. Sie stellen die Instrumente der von ihnen selber errichteten „Weltordnung“ immer mehr in Frage.

Alle zwei Jahre trifft sich die IKS zu ihrem höchsten Gremium, dem Internationalen Kongress. Darin werden die letzten zwei Jahre bilanziert, wird diskutiert, in wieweit sich die bisherigen Einschätzungen bestätigt haben. Der Kongress lotet die bestehenden Analysen aus und korrigiert sie soweit nötig entsprechend der aktuellen Situation. Alle wesentlichen Fragen wie Wirtschaftskrise, imperialistische Spannungen, Klassenkampf und organisatorisches Leben werden diskutiert und neue Orientierungen  in Berichten und Resolutionen vorgeschlagen und schließlich entschieden.  Es ist eine Tradition der Arbeiterbewegung und der IKS, die Ergebnisse dieser Kongresse zu veröffentlichen, damit sie auch als Orientierungspunkte für die Diskussionen in der Arbeiterklasse und im revoltuionären Milieu dienen können. Die Resolution zum internationalen Klassenkampf, verabschiedet am 22. Kongress der IKS im Mai 2017, hat in der Zwischenzeit nichts an Aktualität verloren. Das unentschiedene Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist einer der bestimmenden Faktoren, auf deren Grundlage sich gesellschaftliche Erscheinungen wie der Populismus zeigen.

Ohne Zweifel ist die Russische Revolution eines der wichtigsten Ereignisse, das die Arbeiterklasse jemals hervorgebracht und der Bourgeoisie einen großen Schrecken versetzt hat. Danach wurden viele Bücher verfasst, mit denen einerseits die der herrschenden bürgerlichen Ideologie verpflichteten Schreiberlinge die Ereignisse um die Revolution verzerrt oder vernebelt und andererseits Internationalisten, Revolutionäre der wahren Geschichte auf den Grund zu gehen versucht haben, um Beiträge zur Klärung des Bewusstseins zu leisten. Emma Goldmann: Späte Antwort an eine revolutionäre Anarchistin ist einen Beitrag zur notwendigen Polemik zwischen internationalistischen Revolutionären. Emma Goldmans Ideen leben weiter und unsere späte Antwort ist daher kein Schrei in die Leere. Sie unterstützte die Russischen Revolution und die Bolschewiki propagandistisch in den USA, wurde im Januar 1920 ausgewiesen und verbrachte darauf zwei Jahre in Russland. Anschließend verfasste sie mehrere Bücher mit ihrer Kritik an den Bolschewiki, auf die wir in unserem Artikel antworten. Dabei stellen wir nicht die historischen Fakten, die sie schonungslos schilderte, in Frage, sondern kritisieren gewisse der Schlussfolgerungen Emma Goldmans.

IKS November 2018

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Internationale Revue 55

Vor 100 Jahren zitterten die Herrschenden vor der Arbeiterklasse

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Ein solcher Titel mag heute seltsam erscheinen, so sehr ist dieses gewaltige historische Ereignis in Vergessenheit geraten. Der herrschenden Klasse ist es gelungen, es aus dem Gedächtnis der Arbeiter zu löschen. Doch 1918 richteten sich alle Augen auf Deutschland, Augen voller Hoffnung für das Proletariat, während die Herrschenden mit Schrecken auf die Ereignisse starrten.

Die Arbeiterklasse hatte gerade die Macht in Russland erobert; es war Oktober 1917, die Sowjets, die Bolschewiki, der Aufstand ... Wie Lenin schrieb: "Die russische Revolution ist lediglich einer der Trupps der internationalen sozialistischen Armee, von deren Aktion der Erfolg und der Triumph der von uns vollzogenen Umwälzung abhängt. Diese Tatsache wird von keinem von uns vergessen. (…) Das russische Proletariat ist sich bewusst, in der Revolution allein dazustehen, und erkennt klar, dass die vereinte Aktion der Arbeiter der ganzen Welt oder einiger in kapitalistischer Hinsicht fortgeschrittener Länder die notwendige Bedingung und grundlegende Voraussetzung seines Sieges ist“ (Referat auf der Moskauer Gouvernementskonferenz der Betriebskomitees, 23. Juli 1918, Zeitungsbericht, Lenin Werke, Band 27, S. 547).

Deutschland war das Schlüsselland, das wichtigste Verbindungsglied zwischen Ost und West. Eine siegreiche Revolution hier, dann würde sich die Tür zum Klassenkampf zu den anderen Ländern in Europa öffnen; die Flammen der Revolution könnten auf ganz Europa übergreifen. Die herrschende Klasse aus allen Ländern wollte verhindern, dass die Kämpfe in Deutschland die Brücke zu den anderen Ländern schlagen. Deshalb richtete die herrschende Klasse all ihren Hass gegen die Entfaltung der Kämpfe und sie stellte die raffiniertesten Fallen auf.  Vom Ausgang der Kämpfe der Arbeiterklasse in Deutschland hing der Erfolg oder Misserfolg der in Russland begonnenen Weltrevolution ab.

Die Stärke der Arbeiterklasse

1914. Der Weltkrieg brach aus. Vier Jahre lang erlebte das Proletariat das schlimmste Abschlachten in der Geschichte der Menschheit: Schützengräben, Giftgasangriffe, Hunger, Millionen Tote ... Vier Jahre lang nutzten die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie ihre ruhmreiche proletarische Vergangenheit - die sie 1914 verraten hatten – aus, indem sie die Mobilisierung für den Krieg seitens der Herrschenden tatkräftig unterstützten – und sie missbrauchten das Vertrauen, das ihnen von den Arbeitern aufgrund ihrer Vergangenheit entgegengebracht wurde, um ihnen die schlimmsten Opfer aufzuzwingen und die Kriegsanstrengungen zu rechtfertigen.

Aber in diesen vier Jahren entwickelte auch die Arbeiterklasse allmählich ihren Kampf. In allen Städten nahmen Streiks und Unruhen in der Armee weiter zu. Auf der anderen Seite blieb die herrschende Klasse natürlich nicht untätig, sie schlug heftig zurück. Streikführer in den Fabriken, die von den Gewerkschaften denunziert wurden, wurden verhaftet. Soldaten wurden wegen Disziplinlosigkeit oder Fahnenflucht hingerichtet.

1916. Am 1. Mai rief Karl Liebknecht: "Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!" Rosa Luxemburg wurde inhaftiert, ebenso wie andere Revolutionäre: Meyer, Eberlein, Mehring[1] (damals 70 Jahre alt!). Karl Liebknecht[2] wurde an die Front geschickt. Aber diese Unterdrückung reichte nicht aus, um die Unzufriedenheit zum Schweigen zu bringen – im Gegenteil! In den Fabriken brodelte es immer mehr.

1917. Gewerkschaften wurden zunehmend kritisiert. Die Obleute, die Delegierten der Fabrik, traten in Erscheinung, hauptsächlich bestehend aus Delegierten aus der „Basis“ der Gewerkschaft, die mit der Gewerkschaftsspitze  gebrochen hatten. Vor allem die Arbeiter in Deutschland ließen sich vom Mut der Arbeiter in Russland inspirieren, der Atem der Oktoberrevolution wurde immer mehr spürbar.

1918. Die deutsche Bourgeoisie war sich der Gefahr bewusst. „Zum offenen Ausbruch kam die revolutionäre Bewegung in Kiel. Der Anlass war die Weigerung der Matrosen der Hochseeflotte, in diesem Stadium des Zusammenbruchs noch einmal auszufahren und der englischen Flotte eine Seeschlacht zu liefern, die an der militärischen Lage nichts ändern konnte, aber die Vernichtung der deutschen Flotte und den sicheren Untergang der 80.000 Matrosen herbeigeführt hätte (…)  Mit der Verhaftung der meuternden Matrosen der Hochseeflotte hatte die Marineleitung versucht, der revolutionären Bewegung Herr zu werden. Diese Verhaftung jedoch wurde der Anstoß zum offenen Widerstand, zur Organisierung des bewaffneten Aufstandes gegen das herrschende Regime.“ (Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, S. 185).

Inspiriert durch die Oktoberrevolution übernahm die Arbeiterklasse die Kontrolle über ihre Kämpfe und gründete die ersten Arbeiter- und Soldatenräte. Die Bourgeoisie berief sich dann auf einen ihrer treuesten Bluthunde: die Sozialdemokratie. So wurde Gustav Noske, SPD-Führer, Spezialist für militärische Angelegenheiten und "Truppenmoralerhaltung" (sic!), in das Gebiet geschickt, um die Bewegung zu beruhigen und zu ersticken. Aber es war zu spät, der Arbeiter- und Soldatenrat verbreitete schon seine Forderungen: Eine spontane Bewegung breitete sich auf andere Hafenstädte aus, dann auf die großen Arbeiterzentren des Ruhrgebiets und in Bayern. Die geografische Ausdehnung der Kämpfe war in Gang gesetzt worden. Noske konnte sich dieser nicht mehr direkt entgegenstellen. Am 7. November rief der Kieler Arbeiterrat zur Revolution auf und verkündete: "Die Macht liegt in unseren Händen". Am 8. November befand sich fast ganz Nordwestdeutschland in den Händen von Arbeiter- und Soldatenräten. Gleichzeitig drängten die Ereignisse in Bayern und Sachsen die „Provinzfürsten“ zur Abdankung. In allen Städten des Reiches breiteten sich die Arbeiter- und Soldatenräte aus.

Gerade die Verbreitung dieser politischen Organisierung der Arbeiterklasse in der Form der Arbeiter- und Soldatenräte, welche zur Antriebskraft der Bewegung der Arbeiter wurde, jagte der herrschenden Klasse Angst ein. Die Organisation der Klasse in Arbeiter- und Soldatenräten mit gewählten Vertretern, die der Versammlung gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar sind, ist eine äußerst dynamische Organisationsform, die den revolutionären Prozess widerspiegelt. Sie sind der Ort, an dem die gesamte Arbeiterklasse auf einheitliche Weise ihren Kampf und die Kontrolle der Gesellschaft, die revolutionäre Perspektive, diskutiert. Mit der Erfahrung von 1917 hatte die Bourgeoisie dies nur allzu gut verstanden. Deshalb begann sie, die Arbeiter- und Soldatenräte von innen heraus abzuwürgen und die noch immer sehr großen Illusionen der Arbeiterklasse gegenüber ihrer ehemaligen Partei, der SPD, auszuschlachten. Noske wurde zum Vorsitzenden des Kieler Arbeiter- und Soldatenrates gewählt. Diese Schwäche der Arbeiterklasse sollte tragische Folgen für die darauffolgenden Wochen haben.

Aber vorerst, am Morgen des 9. November 1918, entwickelte sich der Kampf weiter. In Berlin zogen die Arbeiter vor die Kasernen, um die Soldaten für ihre Sache zu gewinnen, sie zogen zu den Gefängnissen, um ihre Klassenkameraden zu befreien. Die Bourgeoisie war sich damals bewusst, dass der Krieg sofort beendet und das Kaiserregime fallen musste. Sie hatte aus den Fehlern der russischen Bourgeoisie gelernt. Am 9. November 1918 wurde Wilhelm II. abgesetzt, am 11. November der Waffenstillstand unterzeichnet.

Der Kampf der Arbeiter in Deutschland hatte das Ende des Krieges herbeigeführt, aber es war die Bourgeoisie, die den Friedensvertrag unterzeichnete und dieses Ereignis nutzte, um gegen die Revolution vorzugehen.

Der Machiavellismus der Bourgeoisie

Zunächst eine kurze Zusammenfassung des Kräfteverhältnisses zu Beginn des Bürgerkriegs im November 1918:

- Auf der einen Seite war die Arbeiterklasse äußerst kämpferisch. Sie konnte die Arbeiter- und Soldatenräte sehr schnell auf das ganze Land ausdehnen. Aber sie war voller Illusionen über ihre ehemalige Partei, die SPD; sie ließ diese Verräter sogar die höchsten Posten in den Arbeiter- und Soldatenräten übernehmen, wie Noske in Kiel. Die revolutionären Organisationen, die Spartakisten und die verschiedenen Gruppen der revolutionären Linken, führten den politischen Kampf an, sie übernahmen ihre Rolle als Wegweiser in den Kämpfen; sie betonten die Notwendigkeit, eine Brücke zur Arbeiterklasse in Russland zu bauen, sie entlarvten die Manöver und Sabotage der Bourgeoisie, sie erkannten die grundlegende Rolle der Arbeiterräte.

- Andererseits war sich die deutsche Bourgeoisie, eine äußerst erfahrene und organisierte Bourgeoisie, der Wirksamkeit der Waffe der SPD in ihren Händen bewusst. Aus den Ereignissen in Russland zog sie Lehren und erkannte deutlich die Gefahr einer Fortsetzung des Krieges und der Entstehung von Arbeiter- und Soldatenräten. Die Untergrabung der Bewegung durch die SPD sollte daher darin bestehen, im revolutionären Prozess ‚mitzuschwimmen‘, um den Kampf in Richtung bürgerliche Demokratie zu lenken. Dazu griff die Bourgeoisie auf allen Ebenen an: von der verleumderischen Propaganda über die heftigste Unterdrückung bis hin zu mehreren Provokationen.

Die SPD griff daher das Motto der Revolution auf: "Beendigung des Krieges" und setzte sich für "die Einheit der Partei" ein und sie unternahm alles, um ihre eigene führende Rolle bei der Durchführung des Krieges in Vergessenheit geraten zu lassen. Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes nutzte die SPD die Schwächen des Proletariats aus; sie verbreitete das Betäubungsmittel der Demokratie und sorgte dafür, dass das, was für die Arbeiter am unerträglichsten war: Krieg und Hungersnot, ‚beseitigt‘ wurde. Dazu präsentierte die Sozialdemokratie geeignete Sündenbö aus Russland. Die Abwählbarkeit der Delegierten war ein echtes Problem für die Bourgeoisie, denn sie erlaubte es den Räten, sich ständig zu erneuern und zu radikalisieren. Die Räte wurden daher von den treuen Vertretern der SPD angegriffen und sie nutzten dabei die noch vorhandenen Illusionen über diese alte "Arbeiterpartei" aus. Die Räte wurden von innen heraus ausgehöhlt, wobei sie bekannte SPD-Führer (Noske in Kiel, Ebert in Berlin) an deren Spitze stellten. Das Gift der Demokratie wurde u.a. dadurch verbreitet, dass zur Unterstützung der Wahl der Nationalversammlung aufgerufen wurde. Das Ziel war klar: die Arbeiter- und Soldatenräte zu neutralisieren, indem ihr revolutionärer Charakter beseitigt wurde. Die Tagung des Reichsrätekongresses am 16. Dezember 1918 in Berlin war das beste Beispiel dafür:

- Die Delegierten der Soldaten waren im Verhältnis zu den Delegierten der Arbeiter überrepräsentiert (ein Delegierter für 100.000 Soldaten, einer für 200.000 Arbeiter), da die Arbeiter eher ziemlich links von den Soldaten standen.

- Der Zugang zum Kongress wurde der russischen Delegation untersagt. Der Internationalismus wurde begraben.

- Es sollten nur „Arbeiterdelegierte“ in der Gestalt von „Hand- und Kopfarbeitern“ zugelassen werden, d.h. die Delegierten beteiligten sich anhand ihrer beruflichen Tätigkeit. So wurde Mitgliedern des Spartakusbundes einschließlich Luxemburg und Liebknecht die Teilnahme verweigert. Die revolutionäre Linke wurde so ausgesperrt.  Selbst dem Druck von 250.000 Demonstranten vor dem Gebäude des Kongresses gab der Rätekongress nicht nach.

- Und der SPD gelang es, den Kongress dazu zu bewegen, für die Forderung nach der Abhaltung von Wahlen zum Reichstag am 19. Januar 1919 zu stimmen.

Das System der Arbeiter- und Soldatenräte war ein Gegenpol gegen den Kapitalismus und seinen demokratischen Machtapparat. Die Bourgeoisie war sich dessen wohl bewusst. Aber sie wusste auch, dass die Zeit gegen sie lief und der Stern der SPD als Arbeiterpartei tendenziell verblasste. Die SPD musste also die Initiative ergreifen, während das Proletariat Zeit brauchte, um zu reifen, um politisch zu wachsen.

Parallel zu diesen ideologischen Manövern schlossen Ebert und die SPD ab dem 9. November geheime Vereinbarungen mit der Armee, um die Revolution zu zerschlagen. Sie vermehrten Provokationen, Lügen und Verleumdungen, um den Weg zu einer militärischen Konfrontation zu ebnen. Ihre Verleumdungen richteten sich insbesondere gegen den Spartakusbund, indem sie ihn der Ermordung und Plünderung bezichtigten und behaupteten, der Spartakusbund fordere die Arbeiter wieder auf, ihr Blut zu vergießen. Sie drängten auf Pogrome gegen die Spartakisten, insbesondere gegen Liebknecht und Luxemburg. Sie gründeten eine "Weiße Armee" - das Freikorps, bestehend aus Soldaten, die durch den Krieg traumatisiert und durch blinden Hass angetrieben waren.

Ab dem 6. Dezember 1918 startete die Bourgeoisie große konterrevolutionäre Offensiven:

- Angriff auf die Druckerei, in der die Spartakisten ihre Zeitung „Rote Fahne“ druckten.

- Versuche, Mitglieder des Vollzugsrates zu verhaften,

- versuchte Ermordung von Karl Liebknecht,

- systematisch bewaffnete Überfälle auf Arbeiterdemonstrationen,

- Medienkampagne der Verleumdung und militärische Offensive gegen die Volksmarinedivision. Diese bestand aus bewaffneten Matrosen, die von den Häfen der Küste auf die Hauptstadt marschiert waren, um die Revolution zu verbreiten und diese zu verteidigen.

Aber weit davon entfernt, die erwachende Arbeiterklasse einzuschüchtern, verstärkte dies nur den Zorn der Arbeiter. Immer mehr Arbeiter bewaffneten sich, um auf die Provokation zu reagieren. Die Antwort lautete: Klassensolidarität. Am 25. Dezember 1918 fand die bis dahin größte Demonstration seit dem 9. November statt! Fünf Tage später wurde in Berlin die KPD, die Kommunistische Partei Deutschlands, gegründet.

Angesichts dieser Misserfolge lernte und passte sich die Bourgeoisie schnell an. Ende Dezember 1918 verstand sie, dass ein direkter Angriff auf die führenden Revolutionäre ihr nicht nützlich sein würde, weil ein solcher umgekehrt nur die Klassensolidarität stärken würde. Dann beschloss sie, Gerüchte und Verleumdungen zu verstärken, direkte bewaffnete Konfrontationen zu vermeiden und weniger bekannte Revolutionäre ins Visier zu nehmen. So richteten sich ihre Angriffe gegen den Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, der zum Vorsitzenden eines Soldatenausschusses in Berlin gewählt worden war. Eichhorn wurde am 4. Januar vom preußischen Innenminister aus dem Amt entlassen. Dies wurde sofort als Angriff gegen die Arbeiter der Stadt empfunden. Das Berliner Proletariat reagierte am 5. Januar 1919 massiv: 150.000 Menschen waren auf den Straßen, was sogar die Bourgeoisie überraschte. Aber das hinderte die Arbeiterklasse nicht daran, in die Falle eines vorzeitigen Aufstands zu tappen. Obwohl die Bewegung in den übrigen Gebieten Deutschlands, wo Eichhorn nicht bekannt war, dem Proletariat der Hauptstadt nicht folgte, beschloss der provisorische Revolutionsausschuss[3], darunter Pieck und Liebknecht, noch am selben Abend, den bewaffneten Aufstand zu starten, was gegen die Beschlüsse des KPD-Kongresses verstieß. Die Folgen dieses überstürzten Handelns waren dramatisch: Nachdem die Arbeiter in großen Massen auf der Straße zusammengeströmt waren, verharrten sie dort, ohne Anweisungen, ohne ein präzises Ziel und in größter Verwirrung. Schlimmer noch, die Soldaten weigerten sich, an dem Aufstand teilzunehmen, was ein Zeichen für sein Scheitern war. Angesichts dieses Fehlers der Einschätzung der Lage und der daraus resultierenden sehr gefährlichen Situation verteidigten Rosa Luxemburg und Leo Jogiches die einzig gültige Position, um ein Blutbad zu vermeiden: die Mobilisierung fortsetzen, das Proletariat bewaffnen und es auffordern, die Kasernen zu umzingeln, bis sich die Soldaten für die Revolution erheben. Diese Position untermauerten sie mit der richtigen Analyse, dass zwar das politische Kräfteverhältnis Anfang Januar 1919 nicht zugunsten des Proletariats in Deutschland war, aber die Aussichten auf militärischer Ebene (zumindest in Berlin) nicht schlecht standen.

Aber anstatt zu versuchen, die Arbeiter zu bewaffnen, begann der "provisorische Revolutionsausschuss" mit der Regierung zu verhandeln, die er gerade für abgesetzt erklärt hatte. Von da an spielte die Zeit nicht mehr zugunsten des Proletariats, sondern zugunsten der Konterrevolution.

Am 10. Januar 1919 forderte die KPD Liebknecht und Pieck zum Rücktritt auf. Aber der Schaden war schon angerichtet. Es folgt die "blutige Woche" oder "Spartakuswoche". Der "kommunistische Putsch" wurde "von den Helden der Freiheit und Demokratie" vereitelt. Der weiße Terror fing an. Die Freikorps verfolgten Revolutionäre in der ganzen Stadt, und die standrechtlichen Erschießungen fingen an. Am Abend des 15. Januar wurden Rosa Luxemburg und Liebknecht entführt und dann sofort ermordet. Im März 1919 wurden Leo Jogiches und Hunderte andere Revolutionäre ermordet.

Die demokratischen Illusionen der Arbeiterklasse und die Schwächen der KPD

Worauf war dieses dramatische Scheitern zurückzuführen? Die Ereignisse vom Januar 1919 weisen alle Faktoren auf, die zur Niederlage der Revolution führten: Einerseits war eine schlaue, trickreiche Bourgeoisie am Werk, andererseits eine Arbeiterklasse, die immer noch Illusionen über die Sozialdemokratie hegte und eine unzureichend organisierte Kommunistische Partei, deren Bemühungen, ihr eine solide programmatische Grundlage zu geben, nicht ausgereicht hatten. Die KPD war in der Tat ziemlich desorientiert, sie war unerfahren (es gab viele neue, junge Mitglieder, viele der älteren Generation waren durch Krieg oder Unterdrückung nicht mehr da), gespalten und unfähig, der Arbeiterklasse eine klare Führung zu geben.

Im Gegensatz zu den Bolschewiki, die seit 1903 über eine historische Kontinuität verfügten, und Erfahrungen mit der Revolution und den Arbeiter- und Soldatenräten 1905 gewonnen hatten, musste die revolutionäre Linke in Deutschland, die eine sehr kleine Minderheit innerhalb der SPD war, im August 1914 gegen den Verrat der Parteiführung ankämpfen und dann hastig eine Partei in der Hitze der Ereignisse aufbauen. Die KPD wurde am 30. Dezember 1918 vom Spartakusbund und den Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) gegründet. Auf dieser Konferenz sprach sich die Mehrheit der Delegierten sehr deutlich gegen die Teilnahme an bürgerlichen Wahlen aus und lehnte Gewerkschaften ab. Aber die Organisationsfrage wurde weitgehend unterschätzt. Die Bedeutung der Partei wurde nicht ausreichend im Lichte dessen, was auf dem Spiel stand, verstanden.

Diese Unterschätzung führte zur Entscheidung für den bewaffneten Aufstand seitens Liebknecht und anderer Genossen anhand einer neuen Analyse des Kräfteverhältnisses, ohne dabei jedoch eine klare Analyse und Methode für die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zu benutzen. Es fehlte an einer zentralen Entscheidungsfindung.

Die Tatsache, dass vorher keine Weltpartei gegründet worden war (die Kommunistische Internationale wurde erst zwei Monate später, im März 1919, gegründet), spiegelte die mangelnde Vorbereitung der KPD wider – und das sollte dramatische Folgen haben.  Innerhalb weniger Stunden kehrte sich das Kräfteverhältnis um: Die Bourgeoisie konnte nun ihren weißen Terror verbreiten.

Die Streiks hörten jedoch nicht auf. Von Januar bis März 1919 entfalteten sich landesweit viele Massenstreiks. Aber gleichzeitig setzte die Bourgeoisie ihre schmutzige Arbeit fort: Hinrichtungen, Gerüchte, Verleumdungen ... Mit den Methoden des Terrors zerschlug die Bourgeoisie die Bewegung Stück für Stück. Während im Februar in ganz Deutschland massive Streiks stattfanden, konnte das Berliner Proletariat, das Herzstück der Revolution, nicht mehr folgen, angeschlagen durch die Niederlage im Januar. Als es wieder zurückschlug, war es zu spät. Die Kämpfe in Berlin und dem Rest Deutschlands schafften es nicht, sich zu vereinen. Gleichzeitig war die "enthauptete" KPD gezwungen, in der Illegalität zu arbeiten. So konnte sie in den Streikwellen von Februar bis April 1919 ihre entscheidende Rolle nicht spielen. Ihre Stimme wurde vom Kapital fast erstickt. Hätte die KPD die Gelegenheit gehabt, die Provokation der Bourgeoisie in der Januarwoche aufzudecken und zu verhindern, dass die Arbeiter in diese Falle tappen, wäre die Bewegung sicherlich ganz anders ausgegangen ... Überall setzte die Jagd auf "Kommunisten" ein. Die Kommunikation zwischen den noch vorhandenen Teilen der KPD-Zentrale und den lokalen oder regionalen KPD-Delegierten wurde mehrmals unterbrochen. Auf der Reichskonferenz am 29. März 1919 wurde festgestellt, dass "die lokalen Organisationen von Agenten und Provokateuren durchsiebt sind".

Im Rückblick

Die Revolution in Deutschland war vor allem die Massenstreikbewegung des Proletariats, die sich geografisch ausdehnte, sich mittels der Solidarität der Arbeiter gegen die kapitalistische Barbarei wandte, die Lehren aus dem Oktober 1917 übernahm und sich in Arbeiter- und Soldatenräten organisierte. Die Revolution in Deutschland verdeutlicht auch die Lehre, dass eine zentralisierte internationale kommunistische Partei mit klaren organisatorischen und programmatischen Grundlagen notwendig ist, ohne die das Proletariat den Machiavellismus der Bourgeoisie nicht vereiteln kann. Aber die Revolution in Deutschland verdeutlichte auch die Fähigkeit der Bourgeoisien, sich gegen das Proletariat zusammenzuschließen, mit ihrem Arsenal an Manövern, Lügen und Manipulationen aller Art. Sie brachte den Fäulnisprozess einer dahinsiechenden Welt zum Ausdruck, die nicht von selbst verschwinden will. Die tödliche Falle der Illusionen über die Demokratie wurde ersichtlich. Die Arbeiterräte wurden von ihrem Inneren her ausgehöhlt. Obwohl die Ereignisse von 1919 entscheidend waren, erlosch die noch vorhandene brennende Glut der deutschen Revolution mehrere Jahre lang nicht. Aber im historischen Rückblick waren die Folgen dieser Niederlage für die Menschheit dramatisch: der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland, des Stalinismus in Russland, der Weg zum Zweiten Weltkrieg unter dem Banner des Antifaschismus. Diese alptraumhaften Ereignisse sind alle auf das Scheitern der revolutionären Welle zwischen 1917 und 1923 zurückzuführen, die die bürgerliche Ordnung erschüttert hatte, ohne sie ein für allemal stürzen zu können. Deshalb ist die Revolution in Deutschland 1918 für uns eine Quelle der Inspiration und der Lehren für die zukünftigen Kämpfe des Proletariats. Denn wie Rosa Luxemburg am Vorabend ihrer Ermordung durch die Handlanger der Sozialdemokratie schrieb: „Was zeigt uns die ganze Geschichte der modernen Revolutionen und des Sozialismus? Das erste Aufflammen des Klassenkampfes in Europa, der Aufruhr der Lyoner Seidenweber 1831, endet mit einer schweren Niederlage; die Chartistenbewegung in England – mit einer Niederlage. Die Erhebung des Pariser Proletariats in den Junitagen 1848 endet mit einer niederschmetternden Niederlage. Die Pariser Kommune endete mit einer furchtbaren Niederlage. Der ganze Weg des Sozialismus ist – soweit revolutionäre Kämpfe in Betracht kommen – mit lauter Niederlagen besät. (…)

Wo wären wir heute ohne jene „Niederlagen“, aus denen wir historische Erfahrung, Erkenntnis, Macht, Idealismus geschöpft haben! Wir fußen heute, wo wir unmittelbar bis vor die Endschlacht des proletarischen Klassenkampfes herangetreten sind, geradezu auf jenen Niederlagen, deren keine wir missen dürften, deren jede ein Teil unserer Kraft und Zielklarheit ist. (…) Die Revolutionen haben uns bis jetzt lauter Niederlagen gebracht, aber diese unvermeidlichen Niederlagen häufen gerade Bürgschaft auf Bürgschaft des künftigen Endsieges. Allerdings unter einer Bedingung! Es fragt sich, unter welchen Umständen die jeweilige Niederlage davongetragen wurde (…).

„Ordnung herrscht in Berlin!“ Ihr stumpfen Schergen! Eure „Ordnung“ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon „rasselnd wieder in die Höh‘ richten“ und zu eurem Schreck mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“ (Rosa Luxemburg, Die Rote Fahne, 14. Januar 1919).

IKS, 29. Oktober 2018

 


[1] Alle drei gehörten zu der SPD-Minderheit, die Kriegskredite ablehnte und sich dem Spartakusbund anschloss.

[2] Er war zusammen mit Rosa Luxemburg einer der beiden berühmtesten und am meisten gehetzten und verfolgten Führer des Spartakusbundes.

[3] „Am 5. Januar trafen sich die Revolutionären Obleute, Mitglieder der Führung der USPD des Großraums Berlin, und Liebknecht und Pieck von der KPD im Polizeipräsidium, um darüber zu diskutieren, wie die Aktion fortgesetzt werden soll (...) Die Vertreter der revolutionären Arbeiter gründeten einen 52-köpfigen provisorischen Revolutionsausschuss, der die revolutionäre Bewegung leiten und gegebenenfalls alle Regierungs- und Verwaltungsfunktionen übernehmen sollte. Die Entscheidung, den Kampf um den Sturz der Regierung zu beginnen, wurde auf dieser Sitzung gegen sechs Gegenstimmen getroffen.“ (Zusammenfassung aus Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution, S. 274, Junius-Drucke, Paul Frölich)

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1919 - Deutsche Revolution [161]

Historische Ereignisse: 

  • 100 Deutsche Revolution [162]

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Internationale Revue 55

50 Jahre seit Mai 1968 Teil 1: Das Versinken in der ökonomischen Krise

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Die Ereignisse im Frühling 1968 in Frankreich hatten in ihren Wurzeln und Auswirkungen eine internationale Bedeutung. Ihr Fundament hatten sie in den Konsequenzen, welche die ersten Symptome der internationalen Wirtschaftskrise für die Arbeiterklasse hatte, einer Krise, die nach mehr als einem Jahrzehnt kapitalistischer Prosperität ausbrach.

Nach Jahrzehnten von Niederlagen, Desorientierungen und Unterwerfung trat die Arbeiterklasse im Mai 1968 wieder auf die historische Bühne. Während die Agitation der Studentenschaft, welche in Frankreich schon ab dem Frühlingsbeginn stattfand, und die radikalen Arbeiterkämpfe von 1967 die soziale Atmosphäre verändert hatten, warf der massive Eintritt der Arbeiterklasse (10 Millionen Streikende) die Nation aus den Fugen.

Sehr bald traten andere Sektoren der internationalen Arbeiterklasse in den Kampf. Nach den massiven Streiks im Mai 1968 in Frankreich bestätigten die Kämpfe in Argentinien (der Cordobazo), der „Heiße Herbst“ in Italien und viele andere Bewegungen in verschiedenen Ländern, dass die Arbeiterklasse die Periode der Konterrevolution beendet hatte. Im Gegensatz zur Krise von 1929 führte die nun ausbrechende nicht zu einem Weltkrieg, sondern zu Klassenkämpfen, welche die herrschende Klasse daran hinderte, ihre barbarische Lösung für die Erschütterungen der Ökonomie durchzusetzen.

Um die Bedeutung der vor 50 Jahre ausgebrochenen Ereignisse hervorzuheben, veröffentlichen wir auf unserer Webseite ein Dossier mit den wichtigsten Artikeln, welche die IKS dazu geschrieben hat. Hier möchten wir folgende zur Lektüre empfehlen:

  • Den Mai verstehen, aus Révolution Internationale Nr. 2 von 1969, der vor allem eine Polemik mit den Situationisten darstellt, welche damals die ökonomische Krise, die ein gewichtiger Faktor für das Ausbrechen der Kämpfe war, negierten.
  • Mai 68 und die revolutionäre Perspektive aus der Internationalen Revue Nr. 42 (zusammen mit dem Artikel Die weltweite Studentenbewegung in den 1960er Jahren in Nr. 41), welche die Details der Ereignisse und deren historische Bedeutung aufzeigen.             

             Wir beginnen hier mit der Veröffentlichung einer Serie von drei Artikeln, die sich der Zeit seit dem Mai 1968 widmen und welche untersuchen sollen, inwieweit die von uns über die Bedeutung des Mai 1968 gemachten Schlussfolgerungen von der Geschichte bestätigt wurden.

Das Versinken in der ökonomischen Krise

In Nummer 2 von Révolution Internationale, die 1969 veröffentlicht wurde, befindet sich ein Artikel mit dem Titel Den Mai verstehen, der von Marc Chirik geschrieben wurde, welcher nach mehr als zehn Jahren Exil in Venezuela zurückkehrte, um aktiv an den „Ereignissen“ im Mai 1968 in Frankreich teilzunehmen.[1]

Dieser Artikel ist eine polemische Antwort auf die Broschüre Wütende und Situationisten in der Bewegung der Besetzungen, herausgegeben von der Situationistischen Internationale (SI). Der Artikel anerkennt zwar die aktive Rolle, welche die SI in der Bewegung vom Mai-Juni gespielt hatte, zeigte aber vor allem die schrankenlosen Anmaßungen und Selbstverherrlichungen, welche die SI zur substitutionistischen Schlussfolgerung führte, dass „die Agitation vom Januar 1968 in Nanterre durch vier oder fünf Revolutionäre, welche die Gruppe der Wütenden gegründet hatten, innerhalb von fünf Monaten beinahe zur Liquidation des Staates geführt hat“. Ebenso: „Noch nie hatte eine Agitation durch eine Handvoll Individuen in so kurzer Zeit zu solchen Konsequenzen geführt.“

Die materiellen Grundlagen der proletarischen Revolution

Das Hauptziel der Polemik in Révolution Internationale sind jedoch die den Übertreibungen bezüglich „exemplarischer“ Minderheiten zugrundeliegenden Auffassungen – die Ablehnung der materiellen Grundlagen einer proletarischen Revolution. Der Artikel von Marc zieht die Schlussfolgerung, dass der Voluntarismus und Substitutionismus der SI eine logische Konsequenz der Zurückweisung der marxistischen Methode ist, welche davon ausgeht, dass massive und spontane Kämpfe der Arbeiterklasse immer im Zusammenhang mit der objektiven Situation der kapitalistischen Ökonomie stehen.

Marc zeigt auf, wie im Gegensatz zur Idee der SI, dass die Ereignisse vom Mai-Juni 1968 sich in einem „gut funktionierenden“ Kapitalismus, in dem es in der Periode vor dem Ausbruch der Bewegung „keine Tendenz hin zur ökonomischen Krise“ abgespielt hätten, der Bewegung eine Zunahme der Arbeitslosigkeit und des Lohnabbaus vorangegangen war – Anzeichen des Endes der „glorreichen“ Periode des Wiederaufschwungs nach dem Krieg. Diese Anzeichen beschränkten sich nicht auf Frankreich, sondern existierten in unterschiedlicher Form in anderen Ländern der „entwickelten“ Welt, vor allem in der Entwertung des britischen Pfundes und in der Dollarkrise in den USA. Marc unterstrich, dass dies nur Anzeichen und Symptome waren, denn „Natürlich ist dies noch keine offene Wirtschaftskrise, erstens weil wir erst am Anfang stehen, und zweitens weil der Staat im heutigen Kapitalismus über ein ganzes Arsenal an Mitteln verfügt, um die markantesten Äußerungen der Krise zu verlangsamen und vorübergehend abzuschwächen.“

Ebenso zeigt der Artikel auf, dass im Gegensatz zur anarchistischen (und situationistischen) Auffassung, nach der die Revolution zu jedem Zeitpunkt möglich ist, die ökonomische Krise zwar eine notwendige, aber noch lange nicht ausreichende Bedingung für die Revolution ist und grundlegende Schritte im subjektiven Bewusstsein der Massen nicht automatisch durch den Niedergang der Ökonomie hervorgerufen werden. Dies im Gegensatz zu den Stalinisten, welche 1929 aufgrund der Krise den Ausbruch einer „Dritten Periode“ der Revolution deklariert hatten, während in der Realität die Arbeiterklasse die tiefste Niederlage ihrer Geschichte erlitt (von welcher der Stalinismus Produkt sowie auch aktiver Faktor war).

Der Mai 1968 war nicht die Revolution, aber er signalisierte das Ende der konterrevolutionären Periode, welche der Niederlage der Arbeiterkämpfe nach dem Ersten Weltkrieg gefolgt war. „Die Bedeutung des Mai 68 liegt darin, dass er eine der ersten und wichtigsten Reaktionen der Arbeitermassen auf die sich weltweit verschlechternde ökonomische Situation ist.“ Der Artikel geht bezüglich der konkreten Ereignisse des Mai 1968 nicht weiter. Doch er gibt einige Hinweise auf die Konsequenzen des Endes der Konterrevolution (einer Periode, welche Marc von Beginn bis zum Ende durchlebte) auf die zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes. Es bedeutete die Befreiung der neuen Generation der Arbeiterklasse von Mystifikationen, welche sie in der vorgängigen Periode gefangen gehalten hatten, vor allem der Stalinismus und Antifaschismus. Und obwohl die Krise, die sich nun erneut zeigte, den Kapitalismus wieder Richtung Weltkrieg drängte, gab es 1968 einen Gegensatz zu den 1930er Jahren: „Der Kapitalismus verfügt über immer weniger Themen der Mystifikation, die in der Lage sind, die Massen zu mobilisieren und zum Schlachten zu bringen. Der russische Mythos bricht zusammen; die falsche Wahl zwischen bürgerlicher Demokratie und Totalitarismus wird immer dünner. Unter diesen Bedingungen ist die Krise sofort erkennbar. Die ersten Symptome werden in allen Ländern immer heftigere Reaktionen der Massen hervorrufen.“ Wie wir in den  Artikeln Mai 68 und die revolutionäre Perspektive in der Internationalen Revue Nr. 41 und 42 von 2008 gezeigt haben, war der Mai 1968 mehr als nur eine defensive Reaktion gegenüber der sich verschlechternden ökonomischen Situation, er bedeutete auch eine intensive politische Gärung in zahlreichen Debatten über die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft und eine seriöse Anstrengung junger politisierter Elemente – Arbeiter und Studenten – zur Wiederentdeckung der revolutionären Tradition der Vergangenheit. Diese Dimension der Bewegung bedeutete die Wiederbelebung der revolutionären Perspektive, nicht als eine unmittelbare und kurzfristige Perspektive, sondern als das historische Produkt einer ganzen Periode des wieder aufkommenden Klassenkampfes. Unmittelbares Produkt dieses neuen Interesses an der revolutionären Politik war die Bildung eines neuen proletarischen politischen Milieus, unter anderem die Gruppe, welche dann unsere Organisation gründete. Die Frage, die wir hier aber behandeln wollen, ist, ob sich die Voraussagen im Artikel von Marc bestätigt haben, korrigiert werden müssen oder schlicht falsch sind.

50 Jahre ökonomische Krise

Die Mehrheit der marxistischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gingen davon aus, dass der Erste Weltkrieg der definitive Schritt war von der Epoche, in welcher die kapitalistischen Produktionsverhältnisse „Verhältnisse der Entwicklung“ der Produktivkräfte waren, in die Epoche, in der diese sich in Fesseln ihre eigenen Entwicklung verwandelten. Dies drückte sich auf der ökonomischen Ebene im Übergang von zyklischen Überproduktionskrisen, welche das 19.Jahrhundert geprägt hatten, in eine chronische Krise aus, begleitet von einer permanenten Militarisierung der Ökonomie und einer Spirale barbarischer Kriege. Doch dies bedeutete im Gegensatz zu den Positionen einiger Marxisten in der Zeit nach dem Krieg von 1914-18 nicht, dass der Kapitalismus in seine „Todeskrise“ eingetreten wäre, aus der es kein Zurück gibt. In einer Zeit des weltweiten Niedergangs gab es immer noch Erholungen, Ausdehnungen in neue Zonen, die bisher außerhalb des kapitalistischen Systems waren, und tatsächliche Fortschritte in der Verfeinerung der Produktivkräfte. Die allem zugrunde liegende Tendenz war aber nicht die vorbeiziehender Erschütterungen, sondern eine permanente und chronische Krankheit, welche in gewissen Momenten in akute Phasen eintrat. Dies bestätigte sich schon durch die Krise der 1930er Jahre: Die Idee des „laisser faire“, des sich Abstützen auf die unsichtbare Hand des Marktes, der die Ökonomie fast natürlicherweise wieder auf die Beine bringe – die erste Antwort der traditionelleren Kreise der Bourgeoisie –, musste der offenen Politik der Intervention des Staates Platz machen, was sich in der Politik des New Deal in den USA und der Kriegsökonomie der Nazis zeigte. Und es war vor allem Letztere, welche in einer Periode der Niederlage der Arbeiterklasse das Geheimnis enthüllte, wie die akute Krise der 1930er Jahre an die Hand genommen werden sollte: durch die Vorbereitung eines zweiten imperialistischen Weltkrieges.

Unser Artikel von 1969 unterstreicht das Ausbrechen einer offenen Krise, was sich im Laufe der folgenden Jahre durch den Schock der „Ölkrise“ von 1973-74 und die zunehmenden Schwierigkeiten im keynesianischen Konsens der Nachkriegsjahre bestätigte. All das äußerte sich in einer zunehmenden Inflation und in Angriffen auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse, und dort vor allem auf die Löhne, welche in der Aufschwung nach dem Krieg laufend angestiegen waren. Wie wir in unseren Artikeln von 1999 Wirtschaftskrise: 30 Jahre offenen Krise des Kapitalismus (Internationale Revue Nr. 24, 25, 26) aufzeigten, ist die Tendenz zur offenen Krise, die im dekadenten Kapitalismus eine permanente Gefahr darstellt, in der Periode seit 1968 angestiegen: heute müsste man einen Artikel über „50 Jahre offene Krise“ schreiben. Unser Artikel von 1999 behandelt die Entwicklung der Krise durch die Explosion der Arbeitslosigkeit, die dem „Thatcherismus“ und den „Reaganomics“ in den frühen 1980er Jahren folgte; den Finanz-Crash von 1987; die Rezession der frühen 1990er Jahre; die Erschütterungen der fernöstlichen „Drachen- und Tiger-Staaten“; Russland und Brasilien 1997/98. Eine aktualisierte Version müsste andere Rezessionen in der Zeit der Jahrtausendwende behandeln, vor allem der Kredit-Crash von 2007. Der Artikel von 1999 unterstreicht die zentralen Merkmale, welche die Ökonomie dieser Jahrzehnte auszeichnen: der grenzenlose Anstieg der Spekulation, da Investitionen in den produktiven Sektoren immer weniger Profit einbringen, die Desindustrialisierung ganzer Zonen in den alten kapitalistischen Zentren, da das Kapital immer mehr nach billigen Arbeitskräften in den „Schwellenländern“ sucht; und an der Wurzel eines großen Teils sowohl des Wachstums als auch der Finanzschocks dieser ganzen Zeitspanne stand die unüberwindbare Abhängigkeit des Kapitals von der Verschuldung. Die Krise des Kapitalismus lässt sich nicht nur an der Arbeitslosigkeit oder der Wachstumsrate messen, sondern an ihren sozialen und militärischen Aspekten. Es war die weltweite Krise des Kapitalismus, welche ein entscheidender Faktor für den Zusammenbruch des Ostblocks war, wie auch für die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und die sich verbreitenden Kriege und das Chaos, vor allem in den schwächsten Zonen der Welt. In einer aktualisierten Analyse der Situation müssen wir auch den Zusammenhang zwischen der zugespitzten Konkurrenz, verursacht durch die ökonomischen Krise, und der Ausplünderung der Natur aufzeigen, deren Konsequenzen (Umweltverschmutzung, Klimawandel, etc.) weltweit für die ganze Bevölkerung existieren. Zusammengefasst: Der permanente Charakter der offenen Krise des Kapitalismus in den letzten 50 Jahren, in denen die beiden sich antagonistisch gegenüberstehenden Klassen in der Gesellschaft – die Bourgeoisie und das Proletariat – weder die eine noch die andere ihre Perspektive durchsetzen konnten – der Krieg oder die Weltrevolution – ist Basis für eine neue Phase in der Dekadenz des Kapitalismus, die Phase des generalisierten Zerfalls.

Zweifellos war die Dynamik dieser Phase nicht die eines lang anhaltenden Rückgangs oder einer permanenten Stagnation. Die herrschende Klasse hat immer, vor allem auch in ihrer Propaganda, die verschiedenen Erholungen und Mini-Booms welchen in den am meisten entwickelten Ländern in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren existierten, in großen Tönen behauptet, dass der Kapitalismus weit davon entfernt sei, ein seniles System zu sein. Vor allem der beeindruckende Aufstieg der chinesischen Ökonomie dient dabei als materieller Beleg. Aber die zerbrechliche Grundlage und die limitierten und lediglich temporären Erholungen in den starken Zentren des Systems haben gerade durch den enormen Finanz-Crash von 2007 ans Tageslicht gebracht, wie das kapitalistische Wachstum auf dem Sand der grenzenlosen Verschuldung steht. Dieses Phänomen ist auch ein Faktor, der beim Aufstieg Chinas mitspielt, auch wenn dessen Wachstum eine festere Basis hat als die „Erholungen durch Vampirisierung“, die „Erholungen ohne Arbeitsplätze“ oder die „Erholungen ohne Lohnanstieg“ in den westlichen Staaten. Doch auch China kann den Widersprüchen des globalen Systems nicht entfliehen; vielmehr verstärkt die schiere Größe der Expansion Chinas nur das Potential zukünftiger zerstörerischer Überproduktionskrisen auf globaler Ebene. Zurückblickend auf die letzten 50 Jahre wird klar, dass wir nicht von einem Zyklus der Expansion und Rezession sprechen, wie es sie im 19. Jahrhundert gab, als der Kapitalismus tatsächlich ein florierendes System war. Im Gegenteil existiert eine sich fortsetzende globale Wirtschaftskrise des Kapitalismus, welche Ausdruck der offensichtlichen Überholtheit dieser Produktionsweise ist. Der Artikel von 1969, bestückt mit dem Verständnis über den historischen Charakter des Kapitalismus, ist fähig eine Diagnose über die wirkliche Bedeutung der kleinen Krankheitszeichen der Ökonomie zu machen, welche die situationistischen Professoren so leichtfertig verworfen hatten.

Die Entwicklung des Staatskapitalismus

Mit ein bisschen Abstand können wir auch feststellen, dass der Artikel richtig liegt mit der Aussage, wonach „der Staat im heutigen Kapitalismus über ein ganzes Arsenal an Mitteln verfügt, um die markantesten Äußerungen der Krise zu verlangsamen und vorübergehend abzuschwächen“.

Hauptgrund für die lange Dauer der Krise und dafür, dass sie oft schwer zu erkennen war, ist die Fähigkeit der herrschenden Klasse, die Auswirkungen der Widersprüche des Systems aufzuhalten und hinauszuzögern. Die herrschende Klasse hat seit 1969 nicht denselben Fehler begangen wie die Verteidiger des „laisser-faire“ in den 1930er Jahren. Im Gegensatz dazu stabilisierte und stärkte eine mittlerweile weisere und erfahrenere Bourgeoisie die staatskapitalistische Kontrolle der Ökonomie, welche es erlaubte, auf die Krise in den 1930er Jahren zu reagieren und den Nachkriegsboom zu unterstützen. Dies zeigte sich in den ersten keynesianischen Antworten auf die wiederaufkommende Krise, die oft die Form von Nationalisierungen und direkten Finanzmanipulationen des Staates annahmen, was trotz der ideologischen Vernebelung auch in der Periode der „Reaganomics“ und des „Neoliberalismus“ anhielt, in welcher der Staat die Tendenz hatte, viele seiner Aufgaben an den privaten Sektor zu delegieren, um die Produktivität zu steigern und die Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen.

Der Artikel von 1999 erklärt, wie das verfeinerte Verhältnis zwischen Staat und Ökonomie funktioniert: „Der Mechanismus des „Finanz-Engineering“ war wie folgt. Auf der einen Seite gab der Staat Obligationen und Anleihen aus, um seine beträchtlichen und ständig wachsenden Defizite zu finanzieren, zu denen auch die Finanzmärkte (Banken, Geschäfte, Individuen) beisteuerten. Auf der anderen Seite drängte er die Banken dazu, nach Anleihen auf den Finanzmärkten zu suchen und gleichzeitig Obligationen und Anleihen zu emittieren sowie die sukzessive Expansion von Kapital (Ausgabe von Aktien) durchzuführen. Es handelte sich hierbei um einen höchst spekulativen Mechanismus, der versuchte, die Entwicklung einer wachsenden Menge von fiktivem Kapital (toter Mehrwert, der nicht in neues Kapital investiert werden kann) auszubeuten. Auf diese Weise wurde das Gewicht privater Fonds größer als das der öffentlichen Fonds bei der Finanzierung der Schulden (öffentlicher und privater). Das heißt nicht, dass es eine Verringerung des staatlichen Gewichts (wie die „Liberalen“ behaupten) gegeben hat, vielmehr war dies eine Antwort auf die wachsenden Bedürfnisse der Finanzierung (und besonders der sofortigen Liquidität), die eine massive Mobilisierung allen verfügbaren Kapitals erforderte.“

Die Kreditkrise von 2007 war vermutlich der deutlichste Ausdruck, wie die Wundermedizin des kapitalistischen Systems – die Verschuldung – den Patienten in den letzten Jahrzehnten nur vergiftet hat, indem er zwar die unmittelbaren Auswirkungen der Krise hinauszögert, aber damit nur zukünftige Erschütterungen auf einem viel höheren Niveau erzeugt. All dies zeigt aber schlussendlich auch, dass diese Herangehensweise die systematische Politik des kapitalistischen Staates ist. Die Goldgrube des Kredits, welche vor 2007 den Immobilienboom angeheizt hatte und oft ganz simpel gierigen Bankiers in die Schuhe geschoben wurde, war in der Realität eine Politik, die auf der höchsten Ebene des Staates entschieden und unterstützt wurde, genauso wie es die Regierungen waren, welche in der Turbulenz des Crashs intervenierten, um die Banken und das wacklige Finanzsystem zu retten. Die Tatsache, dass sie diesen Schritt unternommen hatten, damit aber noch mehr in die Schulden schlitterten und sogar schamlos Geld druckten („quantitative easing“), macht nur deutlich, dass der Kapitalismus auf seine Widersprüche nur reagieren kann, indem er sie noch weiter zuspitzt.

Es ist eine Sache aufzuzeigen, wie wir recht hatten, als wir 1969 das Aufkommen der offenen ökonomischen Krise vorhersagten und einen Rahmen gaben, der aufzeigte, weshalb diese Krise eine langanhaltende Geschichte ist. Es ist aber eine zweite, viel schwerere Aufgabe zu zeigen, dass sich auch unsere Vorhersage über das Wiedererstarken des Klassenkampfes auf internationaler Ebene bestätigte. Wir werden dieser Frage den zweiten Teil dieses Artikels widmen, ein dritter Teil wird dann zeigen, was aus dem neuen revolutionären Milieu, das in der Dynamik des Mai 1968 entstand, geworden ist.

Amos, März 2018


[1] Siehe dazu auch unsere kurze Biografie von Marc, um einen genaueren Eindruck dieser aktiven Teilnahme an den Ereignissen im Mai 1968 zu haben. „Er zeigte auch, dass sein Charakter nichts mit dem eines „Lehnstuhl-Theoretiker“ zu tun hatte: präsent an allen Orten, an denen die Bewegung lebte, in den Diskussionen, aber auch auf den Demonstrationen, er verbrachte entschlossen eine ganze Nacht hinter einer Barrikade an der Seite einer Gruppe junger Militanter, um die "Stellung gegen die Polizei zu halten" ... wie dies die kleine Ziege des Herrn Seguin angesichts des Wolfes in Alphonse Daudets Geschichte getan hatte." (Internationale Revue Nr. 67, engl./franz./span. Ausgabe)       

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Internationale Revue 55

Bericht über die imperialistischen Spannungen

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Die Hauptausrichtungen des Berichts vom November 2017 über die imperialistischen Spannungen[1] bieten uns den wesentlichen Rahmen, um die aktuellen Entwicklungen zu verstehen:

- Das Ende der beiden Blöcke des Kalten Krieges bedeutete nicht das Verschwinden von Imperialismus und Militarismus. Obwohl die Zusammensetzung neuer Blöcke und der Ausbruch eines neuen "Kalten Krieges" nicht auf der Tagesordnung steht, brachen überall auf der Welt Konflikte aus. Die Entwicklung des Zerfalls hat zu einer blutigen und chaotischen Entfesselung von Imperialismus und Militarismus geführt;

- Die Explosion der Tendenz eines jeden für sich selbst hat zum Aufstieg der imperialistischen Ambitionen der Mächte der zweiten und dritten Ebene sowie zur zunehmenden  Schwächung der dominanten Stellung der USA in der Welt geführt;

- Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch imperialistische Spannungen und ein immer weniger kontrollierbares Chaos, vor allem aber durch seinen höchst irrationalen und unberechenbaren Charakter, der mit den Auswirkungen des populistischen Drucks verbunden ist, insbesondere mit der Tatsache, dass die stärkste Macht der Welt heute von einem populistischen Präsidenten geführt wird, der mit von seinem Temperament geprägten unberechenbaren Reaktionen regiert.

In der letzten Zeit wird das Gewicht des Populismus immer greifbarer, was die Tendenz des "Jeder für sich" und die wachsende Unvorhersehbarkeit imperialistischer Konflikte verschärft;

- Die Infragestellung internationaler Abkommen, supranationaler Strukturen (insbesondere der EU), jedes globalen Ansatzes macht die imperialistischen Beziehungen chaotischer und verstärkt die Gefahr militärischer Konfrontationen zwischen den imperialistischen Haien (Iran und Naher Osten, Nordkorea und Ferner Osten).

- Die Ablehnung der traditionellen globalisierten politischen Eliten in vielen Ländern geht einher mit der Verstärkung einer aggressiven nationalistischen Rhetorik auf der ganzen Welt (nicht nur in den USA mit Trumps "America First"-Slogan und in Europa, sondern beispielsweise auch in der Türkei oder Russland).

Diese allgemeinen Merkmale der Zeit finden ihre Konkretisierung heute in einer Reihe von besonders bedeutsamen Tendenzen.

1) Die imperialistische Politik der USA: vom Weltpolizisten zur Haupttriebkraft der Tendenz des “jeder für sich”

Die Entwicklung der imperialistischen Politik der USA in den letzten dreißig Jahren ist eines der bedeutendsten Phänomene der Zeit des Zerfalls: Nach dem Versprechen eines neuen Zeitalters des Friedens und des Wohlstands (Bush Senior) nach der Implosion des Sowjetblocks, nachdem sie dann gegen die Tendenz des  “Jeder für sich” gekämpft hat, sie die USA heute die Haupttriebkraft dieser Tendenz in der Welt. Der ehemalige Blockführer und nach der Implosion des Ostblocks und mittlerweile einzig übrig gebliebene große imperialistische Supermacht, die seit rund 25 Jahren als Weltpolizist gegen die Ausbreitung des “jeder für sich” auf imperialistischer Ebene kämpft, lehnt nun internationale Verhandlungen und globale Abkommen zugunsten einer Politik des "Bilateralismus" ab.

Ein gemeinsames Prinzip, das darauf abzielt, das Chaos in den internationalen Beziehungen zu überwinden, ist im folgenden lateinischen Satz zusammengefasst: "pacta sunt servanda" - Verträge, Vereinbarungen müssen eingehalten werden. Wenn jemand ein globales Abkommen - oder ein multilaterales - unterzeichnet, soll er es zumindest scheinbar respektieren. Aber die USA unter Trump haben diese Vorstellung abgeschafft: "Ich unterschreibe einen Vertrag, aber ich kann ihn morgen abschaffen." Dies geschah bereits mit dem Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP, dem Pariser Abkommen über den Klimawandel, dem Atomvertrag mit dem Iran, dem endgültigen Abkommen vom G7-Gipfel in Québec. Die USA lehnen heute internationale Abkommen zugunsten einer Verhandlung zwischen Staaten ab, bei der die US-Bourgeoisie ihre Interessen durch wirtschaftliche, politische und militärische Erpressung (wie wir heute beispielsweise mit Kanada vor und nach der G7 im Hinblick auf die NAFTA oder mit der Androhung von Vergeltungsmaßnahmen gegen europäische Unternehmen, die im Iran investieren, sehen können) unverblümt durchsetzen wird. Dies wird enorme und unvorhersehbare Folgen für die Entwicklung der imperialistischen Spannungen und Konflikte (aber auch für die wirtschaftliche Situation der Welt) in der kommenden Periode haben. Wir werden dies mit drei "Hot Spots" in den heutigen imperialistischen Konfrontationen veranschaulichen:

(1) Der Nahe/Mittlere Osten: Mit der Kündigung des Atomabkommens mit dem Iran wenden sich die USA nicht nur gegen China und Russland, sondern auch gegen die EU und sogar gegen Großbritannien. Ihr scheinbar paradoxes Bündnis mit Israel und Saudi-Arabien führt zu einer neuen Konfiguration von Kräften im Nahen Osten (mit einer wachsenden Annäherung zwischen der Türkei, dem Iran und Russland) und erhöht die Gefahr einer allgemeinen Destabilisierung der Region, weiterer Konfrontationen zwischen den wichtigsten Haien und ausgedehnterer blutiger Kriege.

(2) Die Beziehungen zu Russland: Wie stehen die USA zu Putin? Aus historischen Gründen (die Auswirkungen des “Kalten Krieges" und das mit den letzten Präsidentschaftswahlen begonnene “Russia-gate”) gibt es in der US-Bourgeoisie starke Kräfte, die auf stärkere Konfrontationen mit Russland drängen, aber die Trump-Regierung scheint trotz der imperialistischen Konfrontation im Nahen Osten eine Verbesserung der Zusammenarbeit mit Russland nicht auszuschließen: So schlug Trump beispielsweise beim letzten G7 die Wiedereingliederung Russlands in das Forum der Industrieländer vor.

(3) Fernost: Weil nicht vorsehbar ist, ob Abkommen eingehalten werden, belastet dies die Verhandlungen mit Nordkorea besonders stark: (a) Welche Auswirkungen hat ein Abkommen zwischen Trump und Kim, wenn China, Russland, Japan und Südkorea nicht direkt an der Aushandlung dieses Abkommens beteiligt sind? Dies ist bereits an die Oberfläche gekommen, als Trump in Singapur zum Entsetzen seiner asiatischen "Verbündeten" offenbarte, dass er versprochen hatte, gemeinsame militärische Übungen in Südkorea zu beenden (b) wenn irgendein Deal jederzeit von den USA in Frage gestellt werden kann, wie weit kann Kim ihnen vertrauen? (c) werden sich Nord- und Südkorea in diesem Zusammenhang vollständig auf ihren "natürlichen Verbündeten" verlassen und erwägen sie eine alternative Strategie?

Obwohl diese Politik ein enormes Wachstum des Chaos und der Dynamik des “Jeder für sich” und letztlich auch eine weitere Schwächung der globalen Positionen der führenden Macht der Welt bedeutet, gibt es in den USA keine greifbare Alternative. Nach eineinhalb Jahren von Müllers Ermittlungen und anderem Druck gegen Trump sieht es nicht danach aus, dass Trump aus dem Amt gedrängt wird, unter anderem weil keine andere Kraft in Sicht ist. Die US-Bourgeoisie steckt weiterhin im Morast fest.

2) China: eine Politik der Vermeidung von zu viel direkter Konfrontation

Der Widerspruch könnte nicht stärker hervorstechen. Während die USA die Globalisierung verurteilen und auf "bilaterale" Abkommen zurückfallen, kündigt China ein globales Großprojekt an, die "Neue Seidenstraße", an der rund 65 Länder auf drei Kontinenten beteiligt sind, die 60% der Weltbevölkerung und rund ein Drittel des Welt-BIP repräsentieren und den Plan, in den nächsten 30 Jahren (2050!) bis zu 1,2 Billionen Dollar investieren.

Seit Beginn seines Wiederauftauchens, das auf systematischste und langfristigste Weise geplant war, hat China seine Armee modernisiert und eine "Perlenkette" aufgebaut - beginnend mit der Besetzung der Korallenriffe im Südchinesischen Meer und der Errichtung einer Kette von Militärstützpunkten im Indischen Ozean. Im Augenblick sucht China jedoch keine diekte Konfrontation mit den USA. Im Gegenteil, China will bis 2050 die mächtigste Volkswirtschaft der Welt werden und versucht, seine Verbindungen zum Rest der Welt auszubauen und dabei direkte Zusammenstöße zu vermeiden. Chinas Politik ist eine langfristige, im Gegensatz zu den von Trump favorisierten kurzfristigen Deals. Es will seine industrielle, technologische und vor allem militärische Kompetenz und Macht ausbauen. Auf dieser letzten Ebene haben die USA noch immer einen erheblichen Vorsprung vor China.

Zum gleichen Zeitpunkt des gescheiterten G7-Gipfels in Kanada (9.-10.6.18) organisierte China in Quingdao eine Konferenz der Shanghai Cooperation Organisation mit Beteiligung der Präsidenten von Russland (Putin), Indien (Modi), Iran (Rohani) und der Führer von Belarus, Usbekistan, Pakistan, Afghanistan, Tadschikistan und Kirgisien (20% des Welthandels, 40% der Weltbevölkerung). Chinas aktueller Schwerpunkt ist eindeutig das Seidenstraßenprojekt - das Ziel ist es, seinen Einfluss zu verbreiten. Es ist ein langfristiges Projekt und eine direkte Konfrontation mit den USA würde diesen Plänen entgegenwirken.

- Mit dieser Perspektive wird China seinen Einfluss nutzen, um auf ein Abkommen zu drängen, das zur Neutralisierung aller Atomwaffen in der koreanischen Region führt (einschließlich US-Waffen), das - vorausgesetzt, die USA würden dies akzeptieren - die US-Truppen nach Japan zurückdrängen und die unmittelbare Bedrohung für Nordchina verringern würde. 

Die Ambitionen Chinas werden jedoch unweigerlich zu einer Konfrontation mit den imperialistischen Zielen nicht nur der USA, sondern auch anderer Mächte wie Indien oder Russland führen:

- eine wachsende Konfrontation mit Indien, der anderen Großmacht in Asien, ist unvermeidlich. Beide Mächte haben mit einer massiven Aufrüstung ihrer Armeen begonnen und bereiten sich mittelfristig auf eine Verschärfung der Spannungen vor;

- In dieser Hinsicht befindet sich Russland in einer schwierigen Situation: Beide Länder kooperieren, aber auf lange Sicht kann Chinas Politik nur zu einer Konfrontation mit Russland führen. Russland hat in den letzten Jahren auf militärischer und imperialistischer Ebene wieder an Macht gewonnen, aber seine wirtschaftliche Rückständigkeit ist nicht überwunden, im Gegenteil: 2017 lag das russische BIP (Bruttoinlandsprodukt) nur 10% über dem BIP der Benelux-Länder!

- Schließlich ist es wahrscheinlich, dass Trumps Wirtschaftssanktionen und politische und militärische Provokationen China dazu zwingen werden, die USA kurzfristig direkter zu konfrontieren.

3) Der Aufstieg starker Führer und kriegerische Rhetorik

Die Verschärfung der Tendenz des “Jeder für sich” auf der imperialistischen Ebene und die wachsende Konkurrenz zwischen den imperialistischen Haien führen zu einem weiteren bedeutenden Phänomen dieser Phase des Zerfalls: die Übernahme der Macht  durch  "starke Führer" mit einer radikalen Sprache und einer aggressiven, nationalistischen Rhetorik.

Die Machtübernahme eines "starken Führers" und eine radikale Rhetorik über die Verteidigung der nationalen Identität (oft kombiniert mit Sozialprogrammen zugunsten von Familien, Kindern, Rentnern) ist typisch für populistische Regime (Trump natürlich, aber auch Salvini in Italien, Orbán in Ungarn, Kaczynski in Polen), Babiš in der Tschechischen Republik, ....), aber es ist auch eine allgemeinere Tendenz auf der ganzen Welt, nicht nur in den stärksten Mächten (Putin in Russland), sondern auch in zweitrangigen imperialistischen Ländern wie der Türkei (Erdogan), Iran, Saudi-Arabien (mit dem "weichen Putsch" des Kronprinzen Mohammed Ben Salman). In China wurde die Beschränkung der Staatspräsidentschaft auf zwei Fünfjahresperioden aus der Verfassung gestrichen, so dass sich Xi Jinping als "Führer auf Lebenszeit", der neue chinesische Kaiser (als Präsident, Parteichef und Vorsitzender der zentralen Militärkommission, was seit Deng Xiaoping nie geschehen ist), durchsetzt. "Demokratische" Slogans oder die Aufrechterhaltung demokratischer Fassaden (z.B. Menschenrechte) sind nicht mehr der dominierende Diskurs (wie die Gespräche zwischen Donald Trump und Kim Jong-un gezeigt haben), anders als zur Zeit des Auseinanderbrechens des Sowjetblocks und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie sind einer Kombination aus sehr aggressiven Reden und pragmatischen imperialistischen Abmachungen gewichen.

Das stärkste Beispiel ist die Krise in Korea. Trump und Kim benutzten zunächst sowohl starken militärischen Druck (mit der Gefahr einer nuklearen Konfrontation) als auch eine sehr aggressive Sprache, bevor sie sich in Singapur trafen, um zu feilschen. Trump bot gigantische wirtschaftliche und politische Vorteile (das burmesische Modell) mit dem Ziel, Kim schließlich ins US-Lager zu ziehen. Das ist nicht völlig undenkbar, da die Nordkoreaner ein zweideutiges Verhältnis zu China haben und ihm sogar misstrauen. Der Verweis auf Libyen durch US-Beamte (National Security Adviser John Bolton) - Nordkorea könnte das gleiche Schicksal haben wie Libyen, als Gaddafi aufgefordert wurde, seine Waffen aufzugeben, und dann gewaltsam abgesetzt und getötet wurde - macht die Nordkoreaner besonders misstrauisch gegenüber amerikanischen Vorschlägen.

Diese politische Strategie ist eine allgemeinere Tendenz in den gegenwärtigen imperialistischen Konfrontationen, wie die aggressiven Tweets von Trump gegen Kanadas Premierminister Trudeau zeigen, "ein falscher und schwacher Führer", weil er sich weigerte, höhere Einfuhrsteuern zu akzeptieren, die von den USA eingeführt wurden.  Es gab auch das brutale Ultimatum Saudi-Arabiens gegen Katar, das des "Zentrismus" gegenüber dem Iran beschuldigt wurde, oder Erdogans kriegerische Erklärungen gegen den Westen und die NATO über die Kurden. Schließlich werden wir Putins sehr aggressive "State of the Union"-Rede erwähnen, die eine Präsentation der ausgefeiltesten Waffensysteme Russlands mit der Botschaft war: "Ihr nehmt uns besser ernst"!

Diese Tendenzen verstärken die allgemeinen Merkmale dieser Zeit, wie die Intensivierung der Militarisierung (trotz der damit verbundenen starken wirtschaftlichen Belastung) unter den drei größten imperialistischen Haien, aber auch als globaler Trend und im Kontext einer sich verändernden imperialistischen Landschaft in der Welt und in Europa. In diesem Kontext aggressiver Politik ist die Gefahr begrenzter Atomschläge sehr real, da es in den Konflikten um Nordkorea und den Iran viele unvorhersehbare Elemente gibt.

4) Die Tendenz zur Fragmentierung der EU.

Alle Trends in Europa in der vergangenen Zeit - Brexit, der Aufstieg einer wichtigen populistischen Partei in Deutschland (AfD), die Machtübernahme der Populisten in Osteuropa, wo die meisten Länder von populistischen Regierungen regiert werden, werden durch zwei große Ereignisse akzentuiert:

- die Bildung einer 100% populistischen Regierung in Italien (bestehend aus der 5-Sterne-Bewegung und der Lega), die zu einer direkten Konfrontation zwischen den "Bürokraten aus Brüssel" (der EU), den "Champions" der Globalisierung (unterstützt von der Eurogruppe) und den Finanzmärkten auf der einen Seite und der "populistischen Volksfront" auf der anderen Seite führen wird;

- der Sturz von Rajoy und der Partido Popular in Spanien und die Machtübernahme einer Minderheitsregierung der Sozialistischen Partei, die von den katalanischen und baskischen Nationalisten und Podemos unterstützt wird, was die zentrifugalen Spannungen innerhalb Spaniens und in Europa verstärken wird.

Dies wird enorme Folgen für den Zusammenhalt der EU, die Stabilität des Euro und das Gewicht der europäischen Länder auf der imperialistischen Bühne haben.

(a) Die EU ist unvorbereitet und weitgehend machtlos gegen Trumps Politik eines US-Embargos gegen den Iran: Die europäischen multinationalen Unternehmen halten sich bereits an die Vorgaben der USA (Total, Lafarge). Dies gilt umso mehr, als verschiedene europäische Staaten Trumps populistischen Ansatz und seine Politik im Nahen Osten unterstützen (Österreich, Ungarn, Tschechien und Rumänien waren bei der Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem gegen die offizielle Politik der EU vertreten). Was die Erhöhung der Einfuhrzölle betrifft, so ist es keineswegs sicher, dass es innerhalb der EU ein Abkommen geben wird, um systematisch auf die von Trump erhobenen höheren Einfuhrzölle zu reagieren.

(b) Das Projekt eines europäischen Militärpols bleibt weitgehend hypothetisch in dem Sinne, dass sich immer mehr Länder unter dem Einfluss populistischer Kräfte an der Macht oder unter Druck auf die Regierung nicht der deutsch-französischen Achse unterwerfen wollen. Während die politische Führung der EU aus der deutsch-französischen Achse besteht, hat Frankreich traditionell die militärisch-technologische Zusammenarbeit mit Großbritannien entwickelt, das kurz davor steht, die EU zu verlassen.

(c) Spannungen um die Aufnahme von Flüchtlingen bringen nicht nur die Koalition populistischer Regierungen im Osten gegen jene Westeuropas auf, sondern zunehmend auch westliche Länder gegeneinander, wie die starken Spannungen zwischen Macron's Frankreich und der italienischen populistischen Regierung zeigen, während Deutschland in dieser Frage zunehmend gespalten ist (Druck der CSU).

d) das wirtschaftliche und politische Gewicht Italiens (der dritten Volkswirtschaft der EU) ist beträchtlich und in keiner Weise mit dem Gewicht Griechenlands vergleichbar. Die italienische populistische Regierung will unter anderem Steuern senken und ein Grundeinkommen einführen, das mehr als hundert Milliarden Euro kosten wird. Gleichzeitig fordert die Regierung die Europäische Zentralbank auf, 250 Milliarden Euro der italienischen Schulden zu überspringen!

(e) Auf wirtschaftlicher, aber auch imperialistischer Ebene hatte Griechenland bereits die Idee entwickelt, an China zu appellieren, seine angeschlagene Wirtschaft zu unterstützen. Auch hier plant Italien, China oder Russland um Hilfe zur Unterstützung und Finanzierung einer wirtschaftlichen Erholung zu bitten. Eine solche Orientierung könnte einen großen Einfluss auf die imperialistische Ebene haben. Italien ist bereits gegen die Fortsetzung der EU-Embargomaßnahmen gegen Russland nach der Annexion der Krim.

All diese Orientierungen verstärken die Krise innerhalb der EU und die Tendenzen zur Fragmentierung. Es wird letztlich die Politik Deutschlands als einflussreichstes Land in der EU beeinflussen, da es intern gespalten ist (Gewicht von AfD und CSU), mit politischer Opposition durch die populistischen Führer Osteuropas, wirtschaftlicher Opposition durch die Mittelmeerländer (Italien, Griechenland,....) und mit Streit mit der Türkei konfrontiert ist, während es gleichzeitig direkt von den Importzöllen von Trump angegriffen wird. Die zunehmende Zersplitterung Europas durch die Einflüsse des Populismus und der "America First"-Politik wird auch für die Politik Frankreichs ein großes Problem darstellen, denn diese Trends stehen in völligem Widerspruch zu Macrons Programm, das im Wesentlichen auf der Stärkung Europas und der vollständigen Integration der Globalisierung beruht.

IKS, Juni 2018


[1] https://en.internationalism.org/international-review/201805/15142/report-imperialist-tensions-november-2017 [163] (nur auf Englisch, oder auf unseren entsprechenden Webseiten Französisch bzw. Spanisch)

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Internationale Revue 55

22. Kongress der IKS: Resolution zum internationalen Klassenkampf

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1. Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, die dem überraschenden Resultat des EU-Referendums in Großbritannien folgte, hat eine Welle der Besorgnis, der Furcht, aber auch eine Menge Fragen aufgeworfen. Wie konnten unsere Herrscher, die angeblich für die gegenwärtige Weltordnung verantwortlich sind, zulassen, dass solche Dinge geschehen - Ereignisse, deren Wendungen die "rationalen" Interessen der kapitalistischen Klasse zu beeinträchtigen scheinen? Wie konnte es geschehen, dass ein Opportunist, ein narzisstischer Strolch und Gauner heute an der Spitze des mächtigsten Staates der Welt steht? Und noch wichtiger: was sagt uns das darüber, was der gesamten Welt bevorsteht?

Teil 1: Hundert Jahre Klassenkampf

2. Unserer Ansicht nach kann die Verfassung der menschlichen Gesellschaft nur vom Standpunkt des Klassenkampfes, der ausgebeuteten Klasse dieser Gesellschaft, des Proletariats, aus begriffen werden, das kein Interesse hat, die Wahrheit zu verbergen, und dessen Kampf es zwingt, all die Mystifikationen des Kapitalismus zu durchschauen, um das Ziel seiner Überwindung anzustreben. Desgleichen ist es nur dann möglich, aktuelle, unmittelbare oder lokale Ereignisse zu verstehen, wenn man sie in einem globalen und historischen Rahmen verortet. Dies ist der Kern des Marxismus. Aus diesem Grund, und nicht einfach, weil 2017 der hundertste Jahrestag der Revolution in Russland ist, beginnen wir, indem wir ein Jahrhundert und mehr zurückgehen, um die historische Epoche zu begreifen, innerhalb derer die jüngsten Entwicklungen in der Weltlage stattfinden: die Epoche des Niedergangs, der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise.

Die Revolution in Russland war die Antwort der Arbeiterklasse in Russland auf den Horror des ersten imperialistischen Weltkrieges. Wie die Kommunistische Internationale 1919 bekräftigte, markierte dieser Krieg den Beginn einer neuen Epoche, das Ende der Aufstiegsperiode des Kapitalismus, des ersten großen Ausbruchs der kapitalistischen "Globalisierung", als er auf die Barrieren stieß, die von der Spaltung der Welt in rivalisierende Nationalstaaten errichtet wurden: die Epoche der "Kriege und Revolutionen". Die Fähigkeit der Arbeiterklasse, den bürgerlichen Staat in einem ganzen Land zu stürzen und sich mit einer politischen Partei auszustatten, die die Klasse zur Diktatur des Proletariats führte, zeigte an, dass das Versprechen der Ablösung des Kapitalismus sowohl eine historische Notwendigkeit als auch eine Möglichkeit war.

Darüber hinaus erkannte die bolschewistische Partei, die 1917 die Vorhut der revolutionären Bewegung war, dass die Machtergreifung durch die Sowjets in Russland nur von Bestand sein konnte, wenn sie der erste Schlag einer erst in ihren Anfängen steckenden Weltrevolution war. Auch die deutsche Revolutionärin Rosa Luxemburg verstand, dass, wenn das Weltproletariat nicht auf die Herausforderung des Oktoberaufstandes reagierte und dem kapitalistischen System ein Ende machte, die Menschheit in eine Epoche wachsender Barbarei gestürzt werden würde, in eine Spirale der Kriege und der Zerstörung, die die menschliche Zivilisation gefährden würden.

Die Weltrevolution und die Notwendigkeit im Sinn, einen alternativen Bezugspunkt für das Proletariat gegenüber der mittlerweile konterrevolutionären Sozialdemokratie zu schaffen, übernahm die bolschewistische Partei die Leitung bei der Schaffung der Kommunistischen Internationalen, deren erster Kongress 1919 in Moskau stattfand. Die neuen Kommunistischen Parteien, besonders jene in Deutschland, Italien waren die Speerspitze bei der Ausbreitung der proletarischen Revolution nach Westeuropa.

3. Die Revolution in Russland entfachte in der Tat eine weltweite Reihe von Massenstreiks und Aufständen, die die Bourgeoisie dazu zwang, das imperialistische Gemetzel zu beenden, doch die internationale Arbeiterklasse war nicht fähig, die Macht in anderen Ländern zu übernehmen, abgesehen von einigen kurzlebigen Versuchen in Ungarn und in einigen deutschen Städten. Angesichts der bisher größten Bedrohung durch ihren potenziellen Totengräber war die herrschende Klasse imstande, selbst ihre schlimmsten Rivalitäten zu überwinden, um sich gegen die proletarische Revolution zu vereinen: die Isolierung der Sowjetmacht in Russland durch Blockaden, Invasion und Unterstützung der bewaffneten Konterrevolution, Verwendung der sozialdemokratischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften, die bereits ihre Loyalität gegenüber dem Kapital bewiesen hatten, indem sie sich an den imperialistischen Kriegsanstrengungen beteiligt hatten, um die Arbeiterräte in Deutschland zu infiltrieren und zu neutralisieren und sie zu einer Arrangement mit dem neuen "demokratischen" Regime zu bringen. Doch die Niederlage zeigte nicht nur die anhaltende Kapazität einer mittlerweile reaktionären herrschenden Klasse, ihr Recht auszuüben; sie rührte auch aus der Unreife der Arbeiterklasse, die gezwungen war, einen abrupten Übergang vom Kampf für Reformen zum revolutionären Kampf zu bewerkstelligen, und immer noch große Illusionen über die Möglichkeit einer Verbesserung des kapitalistischen Regimes durch demokratische Abstimmung, über die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien oder die Gewährung der sozialen Wohlfahrt für die ärmsten Gesellschaftsschichten hegte. Hinzu kommt, dass die Arbeiterklasse durch die Schrecken des Krieges, in dem die schöne Blume ihrer Jugend dezimiert wurde und aus dem die tiefe Spaltung zwischen Arbeiter_innen der "siegreichen" und der "bezwungenen" Nationen herrührte, ernsthaft traumatisiert war.

In Russland beging die bolschewistische Partei angesichts der Isolation, des Bürgerkrieges und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs eine Reihe katastrophaler Fehler, die sie mehr und mehr in einen gewalttätigen Konflikt mit der Arbeiterklasse brachten, insbesondere die Politik des "Roten Terrors", die die Unterdrückung von Arbeiterprotesten und politischen Organisationen beinhaltete und in der Niederschlagung des Aufstandes von Kronstadt 1921 kulminierte, nachdem die Aufständischen die Wiederherstellung der echten Sowjetmacht, wie sie 1917 existiert hatte, gefordert hatten. Auf internationaler Ebene begann die Kommunistische Internationale, die zunehmend an die Bedürfnisse des Sowjetstaates statt der Weltrevolution gefesselt wurde, Zuflucht zu suchen in eine opportunistische Politik wie die 1922 verabschiedete Taktik der Einheitsfront, die ihre ursprüngliche Klarheit untergrub.

Diese Degeneration führte zur Entstehung einer wichtigen Linksopposition besonders in den deutschen und italienischen Parteien. Und in Letzterer war es die italienische Fraktion, die Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre in der Lage war, die Lehren aus der schließlichen Niederlage der Revolution aufzudecken.

4. Nach der Niederlage der weltweiten revolutionären Welle bewahrheiteten sich die Warnungen der Revolutionäre 1917/18 über die Folgen eines solchen Scheiterns: einen neuen Abstieg in die Barbarei. Die Diktatur des Proletariats in Russland degenerierte nicht nur, sondern verwandelte sich in eine kapitalistische Diktatur gegen das Proletariat, ein Prozess, der bestätigt (wenn auch nicht begonnen) wurde durch den Sieg des stalinistischen Apparates mit seiner Doktrin des "Sozialismus in einem Land". Der "Frieden", der installiert wurde, um der Bedrohung durch die Revolution ein Ende zu machen, machte bald den Weg frei für neue imperialistische Konflikte, die durch den Ausbruch der weltweiten Überproduktionskrise 1929 beschleunigt und intensiviert wurden, ein weiteres Anzeichen, dass die Expansion des Kapitals auf seine eigenen, systemimmanenten Grenzen stieß. Die Arbeiterklasse in den Kernländern des Systems, besonders der USA und Deutschlands, waren den Schlägen der wirtschaftlichen Depression voll ausgesetzt, doch nachdem sie ein Jahrzehnt zuvor vergeblich versucht hatte, die Revolution zu machen, war sie im Wesentlichen eine besiegte Klasse, trotz einiger realer Ausdrücke von Klassenwiderstand wie in den USA und Spanien. Sie war somit nicht in der Lage, sich einem weiteren Marsch in den Weltkrieg in den Weg zu stellen.

5. Die Mistgabel der Konterrevolution hatte drei Hauptzinken: Stalinismus, Faschismus, Demokratie, die allesamt tiefe Narben in der Psyche der Arbeiterklasse hinterlassen hatten.

Die Konterrevolution erreichte ihren größten Tiefstand in jenen Ländern, wo die revolutionäre Flamme am höchsten gelodert hatte: Russland und Deutschland. Doch der Kapitalismus nahm angesichts der Notwendigkeit, das proletarische Gespenst auszutreiben, mit der größten Wirtschaftskrise in seiner Geschichte fertig zu werden und sich auf den Krieg vorzubereiten, überall in wachsendem Maße eine totalitäre Form an, die jede Pore des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens penetrierte. Das stalinistische Regime gab dabei den Ton an: eine vollständige Kriegswirtschaft, die Zerschlagung aller Dissidenten, monströse Ausbeutungsraten, ein einziges Konzentrationslager. Doch die schlimmste Hinterlassenschaft des Stalinismus - im Leben wie im Tod Jahrzehnte später - war, dass er sich als wahrer Erbfolger der Oktoberrevolution maskierte. Die Zentralisierung des Kapitals in den Händen des Staates wurde der Welt als Sozialismus, imperialistische Expansion als proletarischer Internationalismus verkauft. Zwar haben viele Arbeiter in den Jahren, als die Oktoberrevolution noch eine lebendige Erinnerung war, weiterhin an diesem Mythos vom sozialistischen Vaterland geglaubt, aber weitaus mehr haben sich angesichts der fortlaufenden Enthüllungen über den wahren Charakters des stalinistischen Regimes von jeglichem Gedanken an die Revolution abgewandt. Der Schaden, den der Stalinismus der Perspektive des Kommunismus, der Hoffnung angetan hatte, dass die Arbeiterrevolution eine höhere Form der Gesellschaftsorganisation herbeiführen kann,  ist unkalkulierbar, nicht zuletzt weil der Stalinismus nicht von den Wolken zum Proletariat herabgestiegen war, sondern durch die internationale Niederlage der Klassenbewegung und vor allem durch die Degeneration seiner politischen Partei ermöglicht worden war. Nach dem traumatischen Treuebruch der sozialdemokratischen Parteien 1914 hatten nun ein zweites Mal innerhalb zweier Jahrzehnte die Organisationen, für deren Gründung und Verteidigung die Arbeiterklasse große Anstrengungen unternommen hatte, sie verraten und sind zu seinen ärgsten Feinden geworden. Konnte es einen schlimmeren Schlag gegen das Selbstvertrauen des Proletariats geben, gegen seine Überzeugung in die Möglichkeit, die Menschheit auf ein höheres Gesellschaftsniveau zu führen?

Der Faschismus, anfangs eine Bewegung von Ausgestoßenen aus der herrschenden Klasse und den Mittelschichten und sogar von Abtrünnigen aus der Arbeiterbewegung, konnte von den mächtigsten Fraktionen des deutschen und italienischen Kapitals aufgenommen werden, weil er mit ihren Bedürfnissen übereinstimmte: die Zerschlagung des Proletariats zu vervollständigen und für den Krieg zu mobilisieren. Er spezialisierte sich auf den Gebrauch moderner Techniken, um die dunklen Kräfte der Irrationalität zu entfesseln, die sich unter der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft befinden. Insbesondere der Nazismus, das Produkt einer weitaus zerstörerischeren Niederlage der Arbeiterklasse in Deutschland, erreichte neue Tiefstände der Irrationalität, indem er den mittelalterlichen Pogrom verstaatlichte und industrialisierte sowie die demoralisierten Massen in einen irren Marsch in die Selbstzerstörung führte. Die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit unterlag nicht irgendeinem positiven Glauben in den Faschismus - im Gegenteil, sie war weitaus verwundbarer gegenüber der Verlockung des Antifaschismus, der der Hauptschlachtruf für den kommenden Krieg war. Doch der beispiellose Schrecken der Todeslager der Nazis war kein geringerer Schlag gegen das Vertrauen in die Zukunft der Menschheit - und somit in die Perspektive des Kommunismus - als der stalinistische Gulag.

Die Demokratie, die dominante Form der bürgerlichen Herrschaft in den fortgeschrittenen Industrieländern, präsentierte sich selbst als Gegner dieser totalitären Formen - was sie nicht daran hinderte, den Faschismus zu unterstützen, als dieser die revolutionäre Arbeiterbewegung erledigte, oder sich im Krieg gegen Hitlerdeutschland mit dem stalinistischem Regime zu verbünden. Doch die Demokratie hat sich als weitaus intelligentere und beständigere Form des kapitalistischen Totalitarismus erwiesen als der Faschismus, der in den Kriegstrümmern kollabierte, und der Stalinismus, der (mit der bemerkenswerten Ausnahme Chinas und des anormalen Regimes in Nordkorea) unter dem Gewicht der Wirtschaftskrise und seiner Unfähigkeit zusammenbrechen sollte, konkurrenzfähig auf dem kapitalistischen Weltmarkt zu sein, dessen Gesetze er versucht hatte, per Staatsdekret zu umgehen.

Auch die Manager des demokratischen Kapitalismus sind von der Systemkrise dazu genötigt worden, den Staat und die Macht des Kredits zu benutzen, um die Kräfte des Marktes zu beugen, aber sie waren nicht gezwungen, die extreme Form der Top-down-Zentralisierung anzugreifen, die der materiellen und strategischen Schwäche den osteuropäischen Regimes geschuldet war. Die Demokratie hat ihre Rivalen überlebt und ist nun in den alten kapitalistischen Kernländern des Westens the only game in town geworden. Bis heute ist es ein Sakrileg, die Notwendigkeit der Unterstützung der Demokratie gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg in Frage zu stellen; und jene, die argumentieren, dass hinter der Fassade der Demokratie die Diktatur der herrschenden Klasse herrscht, werden als Verschwörungstheoretiker abgetan. Schon in den 1920er und 1930er Jahren schuf die Entwicklung der Massenmedien in den Demokratien ein Modell für die Weiterverbreitung der offiziellen Propaganda, das einen Goebbels neidisch machte, während die Penetration der Warenverhältnisse in die Sphären von Freizeit und Familienleben, wie vom amerikanischen Kapitalismus vorgemacht, ein subtileres Einfallstor für die totalitäre Vorherrschaft des Kapitals war als das Vertrauen auf Spitzel und nacktem Terror.

6. Entgegen der Hoffnungen der ohnehin dezimierten revolutionären Minderheit, die in den 30er und 40er Jahren an internationalistische Positionen festhielt, brachte das Kriegsende keinen neuen revolutionären Aufstand. Im Gegenteil war es die Bourgeoisie, die, mit Churchill an der Spitze, die Lehren von 1917 lernte und jeglichen Ansatz einer proletarischen Revolte im Keim erstickte durch die Flächenbombardements deutscher Städte und durch die Politik, die Italiener im Zuge der Massenstreiks in Norditalien 1943 im "eigenen Saft schmoren" zu lassen. Das Kriegsende vertiefte somit die Niederlage der Arbeiterklasse. Und auch hier: entgegen der Erwartungen vieler Revolutionäre folgte dem Krieg keine weitere wirtschaftliche Depression und ein neuer Zug zum Weltkrieg, auch wenn die imperialistischen Antagonismen zwischen den siegreichen Blöcken eine konstante Bedrohung blieb, die über der Menschheit hing. Stattdessen erlebte die Nachkriegsperiode eine Phase realer Expansion der kapitalistischen Verhältnisse unter amerikanischer Führung, auch wenn ein Teil des Weltmarktes (der russische Block und China) versuchte, sich selbst vor dem Eindringen westlichen Kapitals abzuschotten. Die Fortsetzung der Kriegswirtschaft und Repression im Ostblock provozierte bedeutende Arbeiterrevolten (Ostdeutschland 1953, Polen und Ungarn 1956), doch im Westen gab es nach einigen Nachkriegsmanifestationen der Unzufriedenheit wie die Streiks in Frankreich 1947 eine allmähliche Abschwächung des Klassenkampfes, was so weit ging, dass Soziologen über die "Verbürgerlichung" der Arbeiterklasse als Resultat der Verbreitung der Konsumgesellschaft und der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates zu räsonieren begannen. Und in der Tat bleiben diese beiden Aspekte des Kapitalismus nach 1945 zusätzliche Lasten, die auf die Möglichkeit der Wiederherstellung der Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft drückten. Die Konsumgesellschaft atomisiert die Arbeiterklasse und geht mit der Illusion hausieren, dass jedermann das Paradies des individuellen Eigentums erreichen kann. Der Wohlfahrtsstaat, der oftmals von linken Parteien eingeführt worden war und als eine Errungenschaft der Arbeiterklasse präsentiert wurde,  ist ein noch bedeutenderes Instrument der kapitalistischen Kontrolle. Er unterminiert das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse und macht sie vom Wohlwollen des Staates abhängig; und später, in einer Phase der Massenmigration, würde seine Organisation durch den Nationalstaat bedeuten, dass die Frage des Zugangs zu Krankenversicherung, Wohnungen und anderen Leistungen zu einem starken Faktor bei der Suche nach Sündenböcken unter den Immigranten und der Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse werden würde. In der Zwischenzeit wurde, zusammen mit dem offensichtlichen Verschwinden des Klassenkampfes in den 1950er und 1960er Jahren, die revolutionäre politische Bewegung auf ihren isoliertesten Zustand in der Geschichte reduziert.

7. Einige jener Revolutionäre, die in dieser dunklen Zeit aktiv geblieben waren, hatten zu argumentieren begonnen, dass der Kapitalismus dank des bürokratischen Staatsmanagements gelernt habe, die ökonomischen Widersprüche, die von Marx analysiert worden waren, zu kontrollieren. Doch Andere, weiter Vorausschauende, wie die Gruppe Internacionalismo in Venezuela, erkannten, dass die alten Probleme - die Grenzen des Marktes, der tendenzielle Fall der Profitrate - nicht weggezaubert werden konnten und dass die finanziellen Kalamitäten Ende der 60er Jahre Vorboten einer neuen Phase der offenen Wirtschaftskrise waren. Sie nahmen auch freudig die Fähigkeit einer neuen Generation von Proletariern zur Kenntnis, durch die Wiederaufnahme des Klassenkampfes auf die Krise zu antworten - eine Vorhersage, die durch die beeindruckende Bewegung in Frankreich im Mai 1968 und der folgenden internationalen Welle von Kämpfen voll und ganz bestätigt wurde; sie demonstrierten, dass eine jahrzehntelange Konterrevolution zu Ende gegangen ist und dass der proletarische Kampf das Haupthindernis war, das verhinderte, dass die neue Krise einen Kurs in Richtung Weltkrieg initiierte.

8. Dem proletarischen Aufschwung Ende der 60er, Anfang der 70er Jahren ist eine wachsende politische Agitation unter breiten Bevölkerungsschichten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern und besonders in der Jugend vorausgegangen. In den USA Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Rassentrennung; die Bewegung der deutschen Student_innen, die ein Interesse an einer theoretischeren Vorgehensweise gegenüber den Analysen des zeitgenössischen Kapitalismus manifestierten; in Frankreich die Agitation der Student_innen gegen den Krieg in Vietnam und gegen das repressive Regime in den Universitäten; in Italien die "operaistische" oder autonomistische Strömung, die erneut die Zwangsläufigkeit des Klassenkampfes bestätigte, als jene weisen Soziologen sein Überholtsein verkündeten. Überall tat sich, als reife Frucht des Nachkriegswirtschaftswohlstandes, eine wachsende Unzufriedenheit mit dem entmenschlichten Leben kund. Angetrieben vom Aufschwung militanter Kämpfe in Frankreich und anderen Industrieländern, konnte sich eine kleine Minderheit an der Gründung einer bewussten, internationalistischen politischen Avantgarde beteiligen, nicht zuletzt weil ein Teil dieser Minderheit den Beitrag der kommunistischen Linken wiederzuentdecken begann.

9. Wie wir uns nur zu bewusst sind, war das Rendezvous zwischen dieser Minderheit und der breiteren Klassenbewegung nur eine Episode in den Bewegungen Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger. Dies war zum Teil das Ergebnis der Tatsache, dass die politisierte Minderheit stark von einem unzufriedenen Kleinbürgertum dominiert war: Insbesondere der Studentenbewegung mangelte es an einem starken proletarischen Kern, der erst in den nächsten Jahrzehnten durch Änderungen in der Organisation des Kapitalismus erzeugt wurde. Und trotz mächtiger Klassenbewegungen auf der ganzen Welt, trotz ernster Konfrontationen zwischen den Arbeiter_innen und den Eindämmungskräften in ihrer Mitte - Gewerkschaften und linke Parteien - blieb die Klassenkämpfe mehrheitlich defensiv; nur sehr selten stellten sie direkt politische Fragen. Ferner sah sich die Arbeiterklasse erheblichen Spaltungen in ihren Reihen als weltweite Klasse ausgesetzt: der "Eiserne Vorhang" zwischen Ost und West und die Spaltung zwischen den sogenannten "privilegierten" Arbeiter_innen im Zentrum des Kapitals und den verarmten Massen in den einstigen Kolonialgebieten. Unterdessen wurde die Reifung einer politischen Vorhut durch eine Vision der sofortigen Revolution und durch aktivistische Praktiken, typisch für die kleinbürgerliche Ungeduld, aufgehalten, die nicht den langfristigen Charakter der revolutionären Arbeit und das gigantische Ausmaß der theoretischen Aufgaben erfassen konnte, welchen sich die politisierte Minderheit ausgesetzt sah. Die Dominanz des Aktivismus machte große Teile der Minderheit verwundbar gegenüber der Rückgewinnung durch den Linksextremismus oder, wenn der Kampf abflaute, gegenüber der Demoralisierung. Indes waren jene, die den Linksextremismus ablehnten, oft behindert durch rätekommunistische Vorstellungen, die das ganze Problem des organisatorischen Aufbaus leugneten. Eine kleine Minderheit jedoch war in der Lage, diese Hindernisse zu überwinden und die Tradition der kommunistischen Linken aufzugreifen, indem sie eine Dynamik des Wachstums und der Umgruppierung in Gang setzten, die die ganzen siebziger Jahre hindurch anhielt. Aber auch dies fand zu Beginn der achtziger Jahre ein Ende, symbolisiert durch den Zusammenbruch der Internationalen Konferenzen. Das Scheitern der Kämpfe dieser Periode, eine höhere politische Ebene zu erreichen, die Saat zu düngen, die in den Straßen und auf den Versammlungen von 1968 das Problem der Ablösung des Kapitalismus in Ost und West durch eine neue Gesellschaft gestellt hatte, sollte erhebliche Konsequenzen im folgenden Jahrzehnt haben.

Dennoch verlor dieser riesige Ausbruch proletarischer Energie nicht einfach an Schwung, sondern es erforderte konzertierte Anstrengungen durch die herrschende Klasse, sie abzulenken, zu Fall zu bringen und zu unterdrücken. Im Wesentlichen fand dies auf politischer Ebene statt, wo von den Kräften der kapitalistischen Linken und der Gewerkschaften, die noch immer einen beträchtlichen Einfluss in der Arbeiterklasse hatten, maximaler Gebrauch gemacht wurde. Ob durch das Versprechen gewählter linker Regierungen oder durch die spätere Strategie der "Linken in der Opposition", gekoppelt mit der Entwicklung radikaler Gewerkschaften - in den beiden Jahrzehnten nach 1968 war die Instrumentalisierung von Organen, die die Arbeiter_innen immer noch in einem gewissen Sinn als ihre eigenen Organe betrachteten, unverzichtbar bei der Eindämmung der Kämpfe der Klasse.

Gleichzeitig zog die Bourgeoisie allen möglichen Nutzen aus den strukturellen Veränderungen, die ihr von der Weltkrise aufgezwungen wurden: auf der einen Hand die technologischen Veränderungen, die sowohl Facharbeiter als auch ungelernte Arbeitskräfte in Industrien wie den Werften, in der Automobilindustrie, den Druckereien erfassten; auf der anderen Hand die Bewegung in Richtung "Globalisierung" des Produktionsprozesses, als ganze Industriegruppen in den alten Zentren des Kapitals dezimiert und die Produktion in die Peripherien ausgelagert wurden, wo die Arbeitskraft unvergleichlich billiger und die Profite weitaus höher sind. Diese Veränderungen in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse in den Kernländern, die häufig Bereiche betrafen, die im Mittelpunkt des Kampfes in den siebziger und frühen achtziger Jahre gestanden hatten, waren zusätzliche Faktoren in der Atomisierung der Klasse und der Untergrabung ihrer Klassenidentität.

10. Trotz einiger Unterbrechungen setzte sich die 1968 ausgelöste Dynamik in den siebziger Jahren fort. Der Höhepunkt in der Reifung der Fähigkeit des Proletariats zur Selbstorganisation und Ausweitung wurde im polnischen Massenstreik 1980 erreicht. Jedoch markierte dieser Zenit auch den Beginn eines Niedergangs. Obwohl die Streiks in Polen das klassische Wechselspiel zwischen wirtschaftlichen und politischen Forderungen offenbarten, stellten sich die Arbeiter_innen in Polen an keiner Stelle dem Problem einer neuen Gesellschaft. In dieser Hinsicht waren die Streiks "unter" dem Level der Bewegung 1968, als die Selbstorganisation ziemlich embryonal war, aber einen Kontext schuf für eine weitaus radikalere Debatte über die Notwendigkeit einer sozialen Revolution. Die Bewegung in Polen schaute, mit einigen sehr beschränkten Ausnahmen, auf den "freien Westen" als die alternative Gesellschaft, auf das Ideal einer demokratischen Regierung, "unabhängiger Gewerkschaften" und all den Rest. Im Westen selbst gab es einige Ausdrücke der Solidarität mit den Streiks in Polen, und ab 1983 erlebten wir angesichts einer sich schnell vertiefenden Wirtschaftskrise eine Welle von Kämpfen, die in wachsender Weise simultan und global in ihrer Reichweite waren; in einer Reihe von Fällen zeigten sie einen wachsenden Konflikt zwischen den Arbeiter_innen und den Gewerkschaften. Doch das Nebeneinander der Kämpfe in der gesamten Welt bedeutete nicht automatisch, dass es ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer bewussten Internationalisierung des Kampfes gab; auch beinhaltete der Zusammenstoß mit den Gewerkschaften, die natürlich Bestandteil des Staates sind, nicht eine Politisierung der Bewegung im Sinne einer Realisierung, dass der Staat gestürzt werden muss, oder einer wachsenden Fähigkeit, eine Perspektive für die Menschheit vorzustellen. Mehr noch als in den Siebzigern blieben die Kämpfe der Achtziger in den fortgeschrittenen Ländern auf dem Terrain der Partikularforderungen und in diesem Sinne anfällig für die Sabotage durch radikalisierte Gewerkschaftsformen. Die Verschärfung der imperialistischen Spannungen zwischen den beiden Blöcken in dieser Periode führte sicherlich dazu, dass die Kriegsdrohung in wachsendem Maße zur beherrschenden Frage wurde, doch wurde dies größtenteils in die Richtung pazifistischer Bewegungen gelenkt, die wirksam die Entwicklung einer bewussten Verbindung zwischen ökonomischem Widerstand und der Kriegsgefahr unterband. Was die kleinen Gruppen von Revolutionären angeht, die eine organisierte Aktivität in dieser Periode aufrechterhielten, waren sie zwar in der Lage, direkter in gewissen Arbeiterinitiativen zu intervenieren, doch auf einer tieferen Ebene stießen sie auf überwiegendes Misstrauen gegenüber der "Politik" in der Arbeiterklasse insgesamt - und diese wachsende Kluft zwischen der Klasse und ihren politischen Minderheiten war selbst ein weiterer Faktor in der Unfähigkeit der Klasse, ihre eigene Perspektive zu entwickeln.

Teil 2: Die Auswirkungen des Zerfalls

11. Der Kampf in Polen und seine Niederlage zogen eine Zwischenbilanz im weltweiten Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Die Streiks machten klar, dass die Arbeiter_innen Osteuropas nicht bereit waren, im Interessen ihrer russischen Oberherren in einem Krieg zu kämpfen, und dennoch waren sie nicht in der Lage, eine revolutionäre Alternative zur sich vertiefenden Krise des Systems anzubieten. Tatsächlich hatte die physische Zerschlagung der polnischen Arbeiter_innen äußerst negative Konsequenzen für die Arbeiterklasse in der gesamten Region, die in den politischen Umwälzungen, welche den Untergang der stalinistischen Regimes einleiteten, als Klasse abwesend und anschließend für die schlimme Welle nationalistischer Propaganda empfänglich war, die heute in den autoritären Regimes verkörpert wird, welche in Russland, Ungarn und Polen herrschen. Unfähig, mit der Krise und ohne schonungslose Repression mit dem Klassenkampf zu Rande zu kommen, offenbarten die stalinistischen Regimes einen Mangel an Flexibilität, um sich den wechselnden historischen Umständen anzupassen. So war 1980/81 die Bühne für den Zusammenbruch des Ostblocks in seiner Gesamtheit, dem Vorboten einer neuen Phase im historischen Niedergang des Kapitalismus, vorbereitet. Doch diese neue Phase, die wir als die Phase des Zerfalls des Kapitalismus definieren, hat ihren Ursprung in einer viel weiter reichenden Pattsituation zwischen den Klassen. Die Klassenbewegungen, die nach 1968 in den fortgeschrittenen Ländern ausgebrochen waren, markierten das Ende der Konterrevolution, und der anhaltende Widerstand der Arbeiterklasse bildete ein Hindernis für die bürgerliche "Lösung" der Wirtschaftskrise: den Weltkrieg. Man konnte diese Periode mit Fug und Recht als einen "Kurs in Richtung massiver Klassenkonfrontationen" definieren und behaupten, dass ein Kurs zum Krieg nicht ohne offene Niederlage einer aufständischen Arbeiterklasse eingeleitet werden konnte. In der neuen Phase nahm die Auflösung der beiden imperialistischen Blöcke den Weltkrieg von der Tagesordnung, unabhängig vom Stand des Klassenkampfes. Dies bedeutete jedoch, dass die Frage des historischen Kurses nicht mehr in denselben Bedingungen gestellt werden konnte. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, seine Widersprüche zu überwinden, bedeutete noch immer, dass er der Menschheit nur eine barbarische Zukunft anbieten kann, deren Konturen man bereits in der höllischen Kombination von lokalen und regionalen Kriegen, von Umweltverwüstung, Pogromismus und brudermörderischer, sozialer Gewalt flüchtig erblicken kann. Doch anders als der Weltkrieg, der eine direkt physische wie auch ideologische Niederlage der Arbeiterklasse voraussetzt, wirkt dieser "neue" Abstieg in die Barbarei auf langsamere, schleichendere Weise, der allmählich die Arbeiterklasse verschlingen und außer Stande setzen kann, sich selbst als Klasse zu rekonstituieren. Das Kriterium zur Einschätzung der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen kann nicht mehr darin bestehen, dass das Proletariat den Weltkrieg aufhält; es ist im Allgemeinen schwieriger geworden, dieses Verhältnis einzuschätzen.

12. In der Anfangsphase der Wiedergeburt der kommunistischen Bewegung nach 1968 gewann die These der Dekadenz des Kapitalismus zahllose Anhänger und sollte die programmatische Grundlage einer wiederbelebten kommunistischen Linken werden. Heute ist dies nicht mehr der Fall: Die Mehrheit neuer Elemente, die den Kommunismus als eine Antwort auf die Probleme der Menschheit ansehen, finden alle möglichen Gründe, um sich gegen das Konzept der Dekadenz zu sträuben. Und wenn es um den Begriff des Zerfalls geht, den wir als die finale Phase des kapitalistischen Niedergangs definieren, ist die IKS mutterseelenallein. Andere Gruppen akzeptieren die Hauptmanifestationen der neuen Periode - das interimperialistische Gerangel, die Rückkehr zutiefst reaktionärer Ideologien, wie der religiöse Fundamentalismus und der wuchernde Nationalismus, die Krise im Verhältnis des Menschen zur natürlichen Welt -, aber nur Wenige, wenn überhaupt, ziehen den Schluss, dass diese Situation aus der Pattsituation im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen herrührt, oder stimmen zu, dass all diese Phänomene Ausdrücke einer qualitativen Veränderung in der Dekadenz des Kapitalismus sind, einer ganzen Phase oder Periode, die nicht umgekehrt werden kann, außer von der proletarischen Revolution. Diese Opposition gegen das Konzept des Zerfalls nimmt oft die Form von Hetzreden über die "apokalyptischen" Tendenzen der IKS, da wir über ihn als die Schlussphase des Kapitalismus reden, oder über unseren "Idealismus" an, da wir, obgleich wir die lang hingezogene Wirtschaftskrise als den Schlüsselfaktor hinter dem Zerfall sehen, nicht nur rein ökonomische Faktoren als das entscheidende Element am Anfang der neuen Phase erblicken. Hinter diesen Einwänden steckt das Unverständnis, dass der Kapitalismus als letzte Klassengesellschaft in der Geschichte zu dieser Art von historischer Sackgasse verdammt ist, weil er, anders als frühere Klassengesellschaften, mit dem Eintritt in die Epoche seines Niedergangs von sich aus keine neue und dynamischere Produktionsweise gebären kann, während der einzige Weg zu einer höheren Form des gesellschaftlichen Lebens nicht nur auf einer automatischen Erarbeitung der ökonomischen Gesetze gebaut wird, sondern auch auf einer bewussten Bewegung der überwiegenden Mehrheit der Menschheit, was erklärtermaßen die schwerste Aufgabe ist, die jemals in der Geschichte unternommen wurde.

13. Der Zerfall ist das Produkt aus der Pattsituation in der Schlacht zwischen den beiden Hauptklassen. Doch hat er sich selbst als ein aktiver Faktor in den wachsenden Schwierigkeiten der Klasse seit 1989 offenbart. Die fein abgestimmten Kampagnen über den Tod des Kommunismus, die den Fall des russischen Blocks begleiteten - was die Fähigkeit der herrschenden Klasse zeigte, die Manifestationen des Zerfalls gegen die Ausgebeuteten für sich zu nutzen - waren ein sehr wichtiges Element in der weiteren Untergrabung des Selbstvertrauens der Klasse und ihrer Fähigkeit, ihre historische Mission zu erneuern. Kommunismus, Marxismus, ja der Klassenkampf selbst wurden für passé erklärt, für nicht mehr als tote Geschichte. Doch die enormen und lang anhaltenden negativen Auswirkungen der Ereignisse von 1989 auf das Bewusstsein, auf den Kampfgeist und die Identität der Arbeiterklasse sind nicht nur das Resultat des gigantischen Umfangs der antikommunistischen Kampagnen. Die Effektivität dieser Kampagne verlangt selbst eine Erklärung. Sie kann nur im Kontext der spezifischen Entwicklung der Revolution und Konterrevolution ab 1917 begriffen werden. Mit dem Scheitern der militärischen Konterrevolution gegen die UdSSR selbst und der gleichzeitigen Niederlage der Weltrevolution entstand eine völlig unerwartete, beispiellose Konstellation: die einer Konterrevolution von innerhalb der proletarischen Bastion und einer kapitalistischen Wirtschaft in der Sowjetunion ohne eine historisch entwickelte kapitalistische Klasse. Was daraus resultierte, war nicht der Ausdruck irgendeiner höheren historischen Notwendigkeit, sondern eine historische Anomalie: das Betreiben einer kapitalistischen Wirtschaft durch eine konterrevolutionäre bürgerliche Staatsbürokratie, die völlig unqualifiziert und ungeeignet für solch eine Aufgabe war. Obwohl die stalinistische Kommandowirtschaft sich als wirksam erwies, um die UdSSR durch die Tortur des Zweiten Weltkrieges durchzubekommen, scheiterte sie langfristig völlig, ein wettwerbsfähiges nationales Kapital zu generieren.

Obwohl die stalinistischen Regimes besonders reaktionäre Formen der dekadenten bürgerlichen Gesellschaft waren und nicht ein Rückfall in irgendeine Art feudales oder despotisches Regime, waren sie keinesfalls "normale" kapitalistische Ökonomien. Einer kapitalistischen Ökonomie, in der ineffiziente Betriebe nicht durch Eliminierung bestraft und Arbeiter_innen nicht entlassen werden können, kann kein bürgerlicher Erfolg beschieden sein. Es war zu einem bedeutenden Anteil dank dieses Verständnisses der Besonderheiten des Stalinismus als ein unerwartetes Produkt der Konterrevolution, dass die IKS in der Lage war, die Ereignisse von 1989 zu verstehen; zum Beispiel dass der Stalinismus nicht durch Arbeiterkämpfe gestürzt wurde, sondern durch eine ökonomische und politische Implosion, und dass der Kollaps im Osten nicht der Vorbote eines bevorstehenden ähnlichen Zusammenbruchs im Westen war. Hinsichtlich der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen verstanden wir, dass der Untergang des Stalinismus, der in vielerlei Hinsicht der schlimmste Feind des Proletariats gewesen war, für einen beträchtlichen Zeitraum nicht von Vorteil für die Arbeiterklasse sein wird. Mit seinem Kollaps erwies er der herrschenden Klasse einen letzten Dienst. Vor allem ihre Kampagnen über den Tod des Kommunismus schienen von der Wirklichkeit selbst bestätigt zu werden. Das Abweichen des Stalinismus von einem gut funktionierenden Kapitalismus war so schwerwiegend und so weitreichend, dass er den Menschen als nicht-kapitalistisch erschien. So lange er sich aufrechterhalten konnte,  schien er zu beweisen, dass Alternativen zum Kapitalismus möglich sind. Selbst wenn diese besondere Alternative alles andere als attraktiv für die meisten Arbeiter_innen war, so hatte dennoch er eine Lücke im ideologischen Arsenal der herrschenden Klasse hinterlassen. Das Wiederaufleben des Klassenkampfes in den sechziger Jahren konnte von dieser Lücke profitieren, um die Vision einer Revolution zu entwickeln, die gleichzeitig antikapitalistisch und antistalinistisch ist und sich nicht auf einer Staatsbürokratie oder einem Einparteienstaat stützt, sondern auf Arbeiterräte. Wenn die Weltrevolution in den sechziger und siebziger Jahren, wenn überhaupt, als eine unrealisierbare Utopie betrachtet wurde, als "Luftschloss", so lag dies an der immensen Macht der herrschenden Klasse oder was als ein uns innewohnender egoistischer und zerstörerischer Charakterzug unserer Spezies gesehen wurde. Solche Gefühle der Hoffnungslosigkeit konnten jedoch, und taten dies auch gelegentlich, ein Gegengewicht in den Massenkämpfen und der Solidarität des Proletariats finden. Nach 1989, mit dem Zusammenbruch der "sozialistischen" Regimes, tauchte ein qualitativ neuer Faktor auf: der Eindruck der Unmöglichkeit einer modernen Gesellschaft, die nicht auf kapitalistischen Prinzipien beruht. Unter diesen Umständen war es fürs Proletariat schwieriger, nicht nur sein Klassenbewusstsein und eine Klassenidentität, sondern selbst seine defensiven, ökonomischen Kämpfe zu entwickeln, da die Logik der Bedürfnisse der kapitalistischen Ökonomie viel schwerer wiegen, wenn sie ohne jegliche Alternative zu sein scheinen.

In diesem Sinn hat sich - obwohl es freilich nicht notwendig ist, dass die Arbeiterklasse als Ganzes marxistisch wird oder eine klare Vision über den Kommunismus entwickelt, um eine proletarische Revolution zu machen - die unmittelbare Lage des Klassenkampfes beträchtlich verändert und ist davon abhängig, ob breite Bereiche der Klasse den Kapitalismus als etwas betrachten, das in Frage gestellt werden kann.

14. Doch indem er auf heimtückischere Weise wirkt, zernagt der fortschreitende Zerfall im Allgemeinen und "für sich genommen" die Klassenidentität und das Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse. Dies war besonders offenkundig unter den Langzeitarbeitslosen und teilweise unter den Beschäftigten, die vom Strukturwandel "zurückgelassen" wurden, der in den 1980er Jahren eingeleitet wurde: Während in der Vergangenheit die Arbeitslosen die Vorhut der Arbeiterkämpfe gewesen waren, waren sie nun viel anfälliger für die Verlumpung, das Bandenunwesen und die Verbreitung nihilistischer Ideologien wie den Dschihadismus oder den Neofaschismus. Wie die IKS unmittelbar nach den Ereignissen 1989 vorhergesagt hatte, war die Klasse im Begriff, eine lange Periode des Rückzugs anzutreten. Aber die Länge und das Ausmaß dieses Rückzugs hat sich als noch größer herausgestellt, als wir selbst erwartet hatten. Wichtige Bewegungen einer neuen Generation der Arbeiterklasse im Jahr 2006 (die Anti-CPE-Bewegung in Frankreich) und zwischen 2009 und 2013 in zahllosen Ländern überall auf der Welt (Tunesien, Ägypten, Israel, Griechenland, USA, Spanien...) machten es zusammen mit einem gewissen Wiedererwachen eines an kommunistische Ideen interessierten Milieus möglich zu denken, dass der Klassenkampf einmal mehr in den Mittelpunkt rückt und eine neue Phase in der Entwicklung der revolutionären Bewegung dabei ist, sich aufzutun. Doch eine Reihe von Entwicklungen des vergangenen Jahrzehnts hat gezeigt, wie tiefgreifend die Schwierigkeiten sind, denen sich das Weltproletariat und seine revolutionäre Avantgarde gegenübersehen.

15. Die Kämpfe rund um 2011 waren ausschließlich mit den Auswirkungen der sich vertiefenden Wirtschaftskrise verknüpft, ihre Protagonisten wiesen häufig zum Beispiel auf die prekären Beschäftigungsverhältnisse und die mangelnden Berufsaussichten für junge Leute selbst nach etlichen Jahren der universitären Ausbildung hin. Doch es gibt keine automatische Verknüpfung zwischen der Verschlimmerung der Wirtschaftskrise und der qualitativen Entwicklung des Klassenkampfes - eine Schlüssellehre aus den dreißiger Jahren, als die Große Depression eine bereits geschlagene Arbeiterklasse noch mehr demoralisiert hatte. Und angesichts der langen Jahre des Rückzugs und der Desorientierung, die ihm vorausgingen, sollte das finanzielle Erdbeben von 2007/08 größtenteils negative Auswirkungen auf das Bewusstsein des Proletariats haben.

Ein wichtiges Element  dabei war die Auswucherung des Kreditsystems, das im Zentrum der wirtschaftlichen Expansion in den 1990er und 2000er Jahren gestanden hatte, dessen systemimmanente Widersprüche aber nun den Crash herbeiführten. Dieser Prozess der "Finanzialisierung" wirkte nun nicht nur auf der Ebene der großen Finanzinstitutionen, sondern auch im Leben von Millionen von Arbeiter_innen. In dieser Hinsicht unterschied sich die Lage deutlich von den 1920ern und 1930ern, als der größte Teil der so genannten Mittelschichten (kleine Eigentümer, die akademischen Berufe, etc.), aber nicht die Arbeiter_innen ihre Ersparnisse verloren hatten; und wo die staatlichen Versicherungen kaum ausgereicht hatten, um den Hunger der Arbeiter_innen zu vermeiden. Wenn daher einerseits die unmittelbare materielle Situation vieler Arbeiter_innen in solchen Ländern immer noch weniger dramatisch ist als acht oder neun Jahrzehnte zuvor, so befinden sich andererseits Millionen von Arbeiter_innen genau in diesen Ländern in einer Zwangslage, die in den 1930ern kaum existiert hatte: Sie sind Schuldner geworden, oft in einem erheblichen Umfang. Im 19. Jahrhundert und auch zu einem großen Teil vor 1945 waren die einzigen Gläubiger, mit denen es die Arbeiter_innen zu tun hatten, die örtlichen Kneipen oder Cafés und der Lebensmittelhändler gewesen. In besonders schweren Zeiten  mussten sie sich auf ihre eigene Klassensolidarität verlassen. Die Verschuldung von Arbeiter_innen in größerem Umfang begann mit den Wohnungs- und Eigenheimkrediten, um dann in den jüngsten Jahrzehnten mit der massenhaften Ausbreitung von Konsumentenkrediten zu explodieren. Die immer raffiniertere, listigere und tückischere Weiterentwicklung dieser Kreditwirtschaft für einen größeren Teil der Arbeiterklasse hat äußerst negative Konsequenzen für das proletarische Bewusstsein. Die Enteignung des Arbeitereinkommens durch die Bourgeoisie wird versteckt  und scheint unverständlich, wenn sie die Form einer Entwertung von Ersparnissen, des Bankrotts von Banken oder Versicherungssystemen oder der Verpfändung von Hauseigentum auf dem Markt annimmt. Die wachsende Prekarität der staatlichen "Wohlfahrt" und ihrer Finanzierung macht es leichter, die Arbeiter_innen zwischen jenen, die in dieses öffentliche System einzahlen, und jenen zu spalten, die von Letzterem über Wasser gehalten werden, ohne entsprechend einzuzahlen. Und die Tatsache, dass Millionen von Arbeiter_innen verschuldet sind, ist ein neues, zusätzliches und mächtiges Mittel zur Disziplinierung des Proletariats.

Auch wenn das Reinergebnis des Crashs die Sparpolitik für die Vielen und ein immer schamloserer Transfer von Reichtum an eine kleine Minderheit gewesen ist, bewirkte das allgemeine Resultat des Crashs nicht ein besseres und erweitertes Verständnis der Wirkungsweise des kapitalistischen Systems: Der Unmut über die wachsende Ungleichheit richtete sich größtenteils gegen die "korrupte urbane Elite"; ein Motto, das zu einem Hauptverkaufsschlager des Rechtspopulismus geworden ist. Und selbst wenn die Reaktion auf die Krise und die dazugehörige Ungerechtigkeit proletarischere Kampfformen erzeugte, wie die Occupy-Bewegung in den USA, so war auch sie erheblich durch die Tendenz belastet, die Schuld den gierigen Bankern oder gar Geheimgesellschaften in die Schuhe zu schieben, die den Crash bewusst herbeigeführt hätten, um ihre Kontrolle über die Gesellschaft zu stärken.

16. Die revolutionäre Welle 1917-23 wurde, wie frühere aufständische Bewegungen der Klasse (1871, 1905), vom imperialistischen Krieg ausgelöst, was Revolutionäre dazu verleitete, davon auszugehen, dass der Krieg die günstigsten Bedingungen für die proletarische Revolution schafft. In Wahrheit zeigte die Niederlage der revolutionären Welle, dass der Krieg tiefe Spaltungen in der Klasse bewirken kann, insbesondere zwischen den "Sieger"- und "Verlierer"-Nationen. Ferner hatte die Bourgeoisie, wie die Ereignisse Ende des Zweiten Weltkriegs demonstrierten, die nötigen Lehren aus den Geschehnissen von 1917 gezogen und ihre Fähigkeit bewiesen, die Möglichkeit von proletarischen Reaktionen auf den imperialistischen Krieg einzuschränken, nicht zuletzt durch die Entwicklung von Strategien und Formen der Militärtechnologie, die die Fraternisierung zwischen feindlichen Armeen zunehmend erschweren.

Entgegen den Versprechungen der westlichen herrschenden Klasse nach dem Fall des russischen imperialistischen Blocks war die neue historische Phase, die sich eröffnete, keine Epoche des Friedens und der Stabilität, sondern des wachsenden militärischen Chaos, der zunehmend unlösbaren Kriege, die ganze Schneisen der Verwüstung in Afrika und Nahost geschlagen haben und schon an den Toren Europas rütteln. Sicherlich hat die Barbarei, die sich im Irak, in Afghanistan, Ruanda und jetzt im Jemen und in Syrien zeigt, für Entsetzen und Empörung in beträchtlichen Sektoren des Weltproletariats - einschließlich des Proletariats in den kapitalistischen Zentren, dessen eigene Bourgeoisien direkt in diesen Kriegen verwickelt waren - gesorgt,  jedoch haben die Kriege des Zerfalls nur sehr wenige proletarische Formen der Opposition erzeugt. In den am meisten betroffenen Ländern war die Arbeiterklasse zu schwach gewesen, sich selbst gegen die örtlichen militärischen Gangster und ihre imperialistischen Sponsoren zu organisieren. Dies wird am offenkundigsten im aktuellen Krieg in Syrien, das nicht nur eine gnadenlose Dezimierung der Bevölkerung durch Luft- und andere Formen der Bombardements erlebt, vor allem durch die offiziellen Streitkräfte des syrischen Staates, sondern auch das Entgleisen eines anfangs noch sozialen Unmuts durch die Schaffung militärischer Fronten und die Anwerbung von Opponenten des Regimes durch unzählige bewaffnete Banden, von denen die eine brutaler als die andere ist. In den kapitalistischen Zentren haben diese entsetzlichen Geschehnisse hauptsächlich Gefühle der Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgerufen - nicht zuletzt weil es den Anschein hat, als ob jeder Versuch des Aufbegehrens gegen das gegenwärtige System die Dinge nur noch schlimmer macht. Das grauenvolle Schicksal des "Arabischen Frühlings" kann leicht als ein weiteres Argument gegen die Möglichkeit einer Revolution benutzt werden. Darüber hinaus hat die brutale Verstümmelung ganzer Länder in den Peripherien Europas in den letzten paar Jahren begonnen, einen Bumerang-Effekt auf die Arbeiterklasse im Herzen des Systems auszuüben. Dies kann in zwei Fragen zusammengefasst werden: auf der einen Seite die weltweite und wachsend chaotische Entwicklung einer Flüchtlingskrise, die wahrhaft planetarischen Ausmaßes ist; und auf der anderen Seite die Entfaltung des Terrorismus.

17. Das auslösende Moment der Flüchtlingskrise in Europa war die Öffnung der Grenzen Deutschlands (und Österreichs) für die Flüchtlinge auf der "Balkan-Route" im Sommer 2015. Die Motive für diese Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel waren zweierlei Art. Erstens die wirtschaftliche und demografische Lage in Deutschland (eine florierende Industrie, die konfrontiert ist mit der Aussicht auf eine Verknappung qualifizierter und "motivierter" Arbeitskräfte). Zweitens die Gefahr des Zusammenbruchs von Recht und Ordnung in Südosteuropa durch die Konzentration von Hunderttausenden von Flüchtlingen in Ländern, die außerstande waren, sie zu bewältigen. Die deutsche Bourgeoisie verkalkulierte sich jedoch bei den Konsequenzen ihrer einseitigen Entscheidung für den Rest der Welt, insbesondere für Europa. Im Nahen Osten und in Afrika begannen Millionen von Flüchtlingen und andere Opfer des kapitalistischen Elends Pläne zu schmieden, sich nach Europa, insbesondere nach Deutschland aufzumachen. In Europa machten EU-Regularien wie "Schengen" oder das "Dubliner Flüchtlingsabkommen" Deutschlands Problem zu einem Problem Europas insgesamt. Eines der ersten Resultate dieser Situation war daher eine Krise der Europäischen Union - möglicherweise die ernsteste bis heute.

Die Ankunft so vieler Flüchtlinge in Europa stieß anfangs auf eine spontane Welle der Sympathie in breiten Bevölkerungsschichten - ein Impuls, der in Ländern wie Italien oder Deutschland immer noch stark ist. Doch dieser Impuls wurde bald vom Aufstieg der Fremdenfeindlichkeit in Europa erstickt. Letzterer wurde nicht nur von den Populisten angeführt, sondern auch von den Sicherheitskräften und den professionellen Vertretern der bürgerlichen Rechtsordnung, die alarmiert waren über den plötzlichen und unkontrollierten Zustrom von häufig nicht identifizierten Personen. Die Furcht vor einem Zustrom von terroristischen Agenten ging Hand in Hand mit der Befürchtung, dass das Erscheinen so vieler Muslime die Entwicklung von migrantischen Parallelgesellschaften innerhalb Europas befördern könnte, die sich nicht mit dem Nationalstaat des Landes identifizieren, in dem sie leben. Diese Ängste verstärkten sich angesichts der Zunahme terroristischer Anschläge in Frankreich, Belgien und Deutschland. In Deutschland selbst gab es eine starke Zunahme rechtsterroristischer Angriffe gegen Flüchtlinge. In Teilen der früheren DDR entwickelte sich eine regelrechte Pogromatmosphäre. In Westeuropa insgesamt wurde die Flüchtlingskrise neben der Wirtschaftskrise zum zweiten wichtigen Faktor (verstärkt durch fundamentalistischen Terror) beim Entfachen des Feuers des Rechtspopulismus. So wie sich in der Wirtschaftskrise nach 2008 tiefe Spaltungen innerhalb der Bourgeoisie in der Frage auftaten, wie man am besten die Weltwirtschaft managt, markierte der Sommer 2015 den Anfang vom Ende ihres Konsenses in der Migrationsfrage. Die Grundlage dieser Politik war bis dahin das Prinzip der halb-durchlässigen Grenze gewesen. Die Mauer gegen Mexiko, die Donald Trump bauen möchte, existiert bereits, wie jene um Europa herum (auch in Gestalt von militärischen Patrouillenbooten oder Flughafengefängnissen). Doch der Zweck der aktuellen Mauern ist es, die Einwanderung zu drosseln und zu regulieren, nicht sie zu verhindern. Die Migranten zu zwingen, illegal das Lad zu betreten, kriminalisiert sie und zwingt sie so, für einen Hungerlohn unter fürchterlichen Bedingungen ohne jegliche Sozialhilfeansprüche zu arbeiten. Mehr noch, indem Menschen gezwungen werden, ihr Leben zu riskieren, um Einlass zu erlangen, wird das Grenzregime zu einer Art von barbarischem Selektionsmechanismus, in dem nur der Wagemutigste, Entschlossenste und Dynamischste hineinkommt.

Der Sommer 2015 war in der Tat der Beginn des Kollapses des existierenden Einwanderungssystems. Das Ungleichgewicht zwischen der stetig anwachsenden Zahl von Zuflucht Suchenden auf der einen Seite und der schrumpfenden Nachfrage nach Arbeitskräften in den Ländern, die sie betreten, auf der anderen Seite (Deutschland ist in gewisser Weise eine Ausnahme), ist unhaltbar geworden. Und wie üblich haben die Populisten eine einfache Lösung zur Hand: Die halb-durchlässige Grenze muss undurchlässig gemacht werden, welches Ausmaß an Gewalt dies auch immer erfordert. Hier erneut scheint das, was sie vorschlagen, sehr plausibel vom bürgerlichen Standpunkt aus. Es läuft mehr oder weniger auf nichts anderes hinaus als auf die Anwendung der Logik der "gated communities" auf der Ebene ganzer Nationen...

Auch hier sind die Auswirkungen dieser Situation auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse für den Moment sehr negativ. Der Zusammenbruch des Ostblocks wurde als Beweis für den ultimativen Triumph des demokratischen Kapitalismus westlicher Prägung präsentiert. Angesichts dessen gab es die Hoffnung, dass vom Standpunkt des Proletariats aus die Entwicklung der Krise der kapitalistischen Gesellschaft auf allen Ebenen letztendlich mithelfen würde, dieses Image des Kapitalismus als das bestmögliche System zu unterminieren. Doch heute - und trotz der Weiterentwicklung der Krise - kann die Tatsache, dass viele Millionen von Menschen (nicht nur Flüchtlinge) bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Zugang zu den alten kapitalistischen Zentren zu erlangen, die Europa und Nordamerika sind, nur den Eindruck verstärken, dass diese Zonen (zumindest vergleichsweise), wenn nicht Paradiese, so doch mindestens Oasen des relativen Wohlstandes und der Stabilität sind.

Anders als die Große Depression der 1930er, als der Zusammenbruch der Weltwirtschaft sich auf die USA und Deutschland konzentrierte, werden heute dank eines globalen, staatskapitalistischen Managements die zentralen kapitalistischen Länder allem Anschein nach die letzten sein, die zusammenbrechen. In diesem Kontext ist insbesondere (aber nicht nur) in Europa und den Vereinigten Staaten eine Situation entstanden, die an die Lage einer belagerten Festung erinnert. Die Gefahr ist real, dass die Arbeiterklasse in diesen Zonen, auch wenn sie nicht aktiv hinter der Ideologie der herrschenden Klasse mobilisiert ist, Schutz sucht bei ihren "eigenen" Ausbeutern ("Identifizierung mit dem Aggressor" nennt man das in der Psychologie) gegen das, was man als gemeinsame Gefahr von außen wahrnimmt.

18. Der "Gegenschlag" der aus den Kriegen im Nahen und Mittleren Osten resultierenden terroristischen Attacken begann lange vor der aktuellen Flüchtlingskrise. Die Anschläge von al-Qaida auf die Twin Towers 2001, denen weitere Gräueltaten gegen die öffentlichen Verkehrssysteme in Madrid und London folgten, deuteten bereits an, dass die wichtigsten kapitalistischen Staaten jetzt den Sturm ernten, den sie mit ihren Kriegen in Afghanistan und im Irak gesät haben. Doch die aktuellere Flut von Morden in Deutschland, Frankreich, Belgien, der Türkei, den USA und anderswo, die dem Islamischen Staat zugeschrieben werden, hat - trotz ihres offenkundig eher amateurhaften und gar zufälligen Charakters, was es immer schwieriger macht, einen ausgebildeten terroristischen "Soldaten" von einem isolierten und gestörten Individuum zu unterscheiden, und angesichts dessen, dass sie in Verbindung mit der Flüchtlingskrise aufkam - das Gefühl des Misstrauens und der Paranoia in der Bevölkerung weiter verstärkt, was dazu führt, dass Letztrere sich an den Staat wendet, um Schutz zu erheischen vor einem amorphen und unberechenbaren "Feind unter uns". Gleichzeitig bietet die nihilistische Ideologie des Islamischen Staates und seiner Nachahmer einen kurzen Moment des Ruhms für unzufriedene, junge Migranten, die keine Zukunft für sich in den Semi-Ghettos der westlichen Großstädte sehen. Der Terrorismus, der in der Zerfallsphase immer mehr zu einem Mittel der Kriegsführung zwischen Staaten und Proto-Staaten geworden ist, macht auch den Ausdruck des Internationalismus überaus schwierig.

19. Der gegenwärtige populistische Aufschwung ist somit von all diesen Faktoren genährt worden - vom Crash von 2008, vom Terrorismus und von der Flüchtlingskrise - und erscheint als ein konzentrierter Ausdruck des Zerfalls des Systems, der Unfähigkeit beider Hauptklassen in der Gesellschaft, der Menschheit eine Perspektive für die Zukunft anzubieten. Vom Standpunkt der herrschenden Klasse aus bedeutet er die Erschöpfung des "neoliberalen" Konsenses, der dem Kapitalismus ermöglicht hatte, die Akkumulation seit Ausbruch der offenen Wirtschaftskrise in den den 70ern und insbesondere der Erschöpfung der keynesianischen Politik, die den Nachkriegsboom geleitet hatte, aufrechtzuerhalten und gar auszuweiten. Im Anschluss an den Crash 2008, der die bereits beträchtliche Wohlstandskluft zwischen den wenigen Superreichen und der breiten Mehrheit weiter vergrößerte, sind die Deregulierung und die "Globalisierung", die "freie Bewegung" von Kapital und Arbeit in einem Rahmen, der von den mächtigsten Staaten der Welt ersonnen wurde, von einer wachsenden Sektion der Bourgeoisie in Frage gestellt worden, versinnbildlicht durch die populistische Rechte, auch wenn diese in derselben Wahlkampfrede  den Neoliberalismus und gleichzeitig den Neokeynesianismus vorschlagen kann. Die Essenz der populistischen Politik ist die politische und juristische Formalisierung der Ungleichheit der bürgerlichen Gesellschaft. Was die Krise von 2008 besonders klarzumachen mithalf, ist, dass diese formale Gleichheit die wahre Grundlage einer immer eklatanteren sozialen Ungleichheit ist. In einer Situation, in der das Proletariat unfähig ist, seine revolutionäre Lösung vorzuschlagen - die Etablierung einer Gesellschaft ohne Klassen -, ist die populistische Antwort die Ersetzung der existierenden, heuchlerischen Pseudo-Gleichheit durch ein offenes und "ehrliches" System der legalen Diskriminierung. Dies ist der Kern der "konservativen Revolution", die vom Berater von Präsident Trump, Steve Bannon, befürwortet wird.

Ein erstes Anzeichen, was mit Slogans wie "America first" gemeint ist, wurde vom Wahlkampf des Front National ("France d'abord") geliefert. Er schlägt vor, französische Bürger in Sachen Beschäftigung, Steuern und Sozialfürsorge gegenüber Menschen aus anderen EU-Ländern zu privilegieren, die ihrerseits Vorrang vor anderen Ausländern haben sollen. Es gibt eine ähnliche Debatte in Großbritannien, ob nach dem Brexit EU-Bürgern ein Zwischenstatus zwischen Einheimischen und anderen Ausländern gewährt werden soll. Im Vereinigten Königreich bestand das Hauptargument, das zugunsten dem Brexit vorgebracht wurde, nicht in Einwänden gegen die EU-Handelspolitik oder in irgendeinem Impuls der Briten gegenüber Kontinentaleuropa, sondern im politischen Willen, bezüglich der Einwanderung und des nationalen Arbeitsmarktes die "nationale Souveränität wiederzuerlangen". Die Logik dieser Argumentation besteht darin, dass in Abwesenheit einer längerfristigen Perspektive des Wachstums der nationalen Wirtschaft die Lebensbedingungen der Einheimischen nur mehr oder weniger stabilisiert werden können, wenn alle anderen diskriminiert werden.

20. Statt ein Gegenmittel zum langen und ausgeprägten Rückfluss des Klassenbewusstseins, der Klassenidentität und des Kampfgeistes nach 1989 zu sein, hatten die so genannte Finanz- und Eurokrise den gegenteiligen Effekt. Namentlich die schädlichen Auswirkungen des Verlustes der Solidarität in den Reihen des Proletariats fielen immer mehr ins Gewicht. Insbesondere sehen wir den Aufstieg des Phänomens des Sündenbockverhaltens, von Denkweisen, die Personen - auf die alles Übel der Welt projiziert wird - für alles, was falsch läuft in der Gesellschaft, die Schuld zuzuschreiben. Solche Gedanken öffnen die Tür zum Pogrom. Der heutige Populismus ist die auffälligste, aber bei weitem nicht die einzige Manifestation dieses Problems, das dazu neigt, alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu durchdringen. Auf Arbeit und im Alltag der Arbeiterklasse schwächt es zunehmend die Kooperation und leistet der Atomisierung und Entwicklung des gegenseitigen Misstrauens und Mobbings Vorschub.

Die marxistische Arbeiterbewegung hat lange die theoretischen Erkenntnisse vertreten, die dieser Tendenz entgegenzuwirken helfen. Die zwei wichtigsten Erkenntnisse waren a) dass im Kapitalismus die Ausbeutung unpersönlich geworden ist, da sie den "Gesetzen" des Marktes gemäß (Wertgesetz) funktioniert; selbst die Kapitalisten sind gezwungen, diesen Gesetzen zu gehorchen; b) dass trotz dieses maschinenartigen Charakters der Kapitalismus ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen Klassen ist, da dieses "System" auf einen Willensakt des bürgerlichen Staates (die Bildung und Verstärkung von kapitalistischem Privateigentum) beruht und durch ihn bewahrt wird. Der Klassenkampf ist daher nicht persönlich, sondern politisch. Statt Personen zu bekämpfen, richtet er sich direkt gegen ein System - und eine Klasse, die es verkörpert -, um die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwandeln. Diese Erkenntnisse immunisieren keinesfalls gegen das Sündenbockverhalten, auch nicht die klassenbewussteren Schichten des Proletariats. Aber sie machen es widerstandsfähiger. Sie erklären  zum Teil, warum selbst inmitten der Konterrevolution, selbst in Deutschland, das Proletariat dem Aufkommen des Antisemitismus stärker und länger als andere Teile der Gesellschaft widerstanden hatte. Diese proletarischen Traditionen hatten auch dort weiterhin positive Auswirkungen, wo die Arbeiter_innen sich nicht mehr in irgendeiner bewussten Weise mit dem Sozialismus identifizierten. Die Arbeiterklasse blieb die einzige wirkliche Barriere gegen diese Art von Gift, selbst wenn einige Teile der Klasse ernstlich von ihm betroffen waren.

21. All dies hat zu einer veränderten politischen Einstellung der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt geführt; eine Stimmung jedoch, die im Moment überhaupt nicht zugunsten des Proletariats ist. In Ländern wie den Vereinigten Staaten oder Polen, wo Populisten heute an der Regierung sind, gab es Massenproteste auf den Straßen vor allem für die Verteidigung der existierenden kapitalistischen Demokratie und ihrer "liberalen" Regeln. Ein anderes Thema, das die Massen mobilisiert, ist der Kampf gegen die Korruption (Brasilien, Südkorea, Rumänien oder Russland). Die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien wird hauptsächlich von dieser Frage angetrieben. Die Korruption, die im Kapitalismus heimisch ist, nimmt in seiner Endphase epidemische Ausmaße an. Soweit sie Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit hemmt, gehören jene, die sie bekämpfen, zu den besten Vertretern der Interessen des nationalen Kapitals. Die Massen von Nationalfahnen bei solchen Protesten sind also kein Zufall. Es gibt auch ein wiedererwecktes Interesse am bürgerlichen Wahlprozess. Manche Teile der Arbeiterklasse fallen, unter dem Eindruck des Rückzuges der Solidarität oder als eine Art Protest gegen die etablierte politische Klasse, der Stimmabgabe für die Populisten zum Opfer. Eine der Barrieren gegen die Weiterentwicklung der Sache der Emanzipation heute ist der Eindruck dieser Arbeiter_innen, dass sie die herrschende Klasse eher durch eine populistische Wahl denn durch den proletarischen Kampf schocken und unter Druck setzen können. Die vielleicht größte Gefahr ist jedoch, dass die modernsten und globalisierten Sektoren der Klasse im Zentrum des Produktionsprozesses - sei es aus Empörung über die widerliche Ausgrenzungspolitik der Populisten oder aus einem mehr oder weniger klaren Verständnis, dass diese politischen Strömungen die Stabilität der herrschenden Ordnung gefährden - in die Falle der Verteidigung des herrschenden demokratischen kapitalistischen Regimes zu tappen.

22. Der Aufstieg des Populismus und des Anti-Populismus hat gewisse Ähnlichkeiten mit den 1930er Jahren, als die Arbeiterklasse im Schraubstock von Faschismus und Antifaschismus gefangen war. Doch trotz dieser Ähnlichkeiten ist die aktuelle Lage nicht dieselbe wie in den 1930ern. Damals hatte das Proletariat in der Sowjetunion und in Deutschland nicht nur eine politische, sondern auch eine physische Niederlage erlitten. Im Gegensatz dazu entspricht die heutige Lage nicht einer Konterrevolution. Aus diesem Grund ist die Wahrscheinlichkeit, dass die herrschende Klasse versuchen wird, eine physische Niederlage des Proletariats herbeizuführen, gegenwärtig gering.

Es gibt einen weiteren Unterschied gegenüber den dreißiger Jahren: Die ideologische Bindung von Proletariern am Populismus oder Anti-Populismus ist überhaupt nicht definitiv. Viele Arbeiter_innen, die heute für populistische Kandidaten stimmen, können sich von einem Tag zum nächsten im Kampf vereint mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern befinden; dasselbe trifft auch auf Arbeiter_innen zu, die von anti-populistischen Demonstrationen eingefangen sind.

Die Arbeiterklasse heute, vor allem jene in den alten Zentren des Kapitalismus, ist nicht bereit, ihr Leben für die Interessen der Nation zu opfern, trotz des wachsenden Einflusses des Nationalismus auf einige Sektoren der Klasse; sie hat auch nicht die Möglichkeit verloren, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen, und dieses Potenzial dringt weiterhin an die Oberfläche, auch wenn zersplitterter und flüchtiger als in der Periode zwischen 1968 und 1989 sowie in den Kämpfen zwischen 2006 und 2013. Gleichzeitig setzt sich trotz Schwierigkeiten und Rückschläge der Prozess der Reflexion und der Reifung in einer Minderheit von Proletariern fort, und dies wiederum spiegelt einen eher unterirdischen Prozess wider, der in breiteren Schichten des Proletariats stattfindet.

Unter diesen Bedingungen wäre der Versuch, die Klasse zu terrorisieren, politisch gefährlich und höchstwahrscheinlich kontraproduktiv. Es würde die herrschenden Illusionen der Arbeiter_innen in den demokratischen Kapitalismus stark eintrüben, die einen der wichtigsten ideologischen Vorteile der Ausbeuter bilden.

Aus all diesen Gründen ist es vielmehr im objektiven Interesse der kapitalistischen Klasse, die negativen Effekte des zerfallenden, in der Sackgasse befindlichen Kapitalismus zu nutzen, um die Arbeiterklasse zu schwächen.

Teil 3: 1917, 2017 und die Perspektive des Kommunismus

23. Eine der Haupttaktiken der "liberalen" Bourgeoisie gegen die Oktoberrevolution von 1917 war und ist der angebliche Gegensatz zwischen den demokratischen  Verheißungen des Februaraufstandes und dem "Staatsstreich" der Bolschewiki im Oktober, der Russland in die Katastrophe und Tyrannei gestürzt habe. Doch der Schlüssel zum Verständnis der Oktoberrevolution war, dass sie auf der Notwendigkeit beruhte, die imperialistische Kriegsfront zu durchbrechen, die von allen Fraktionen der Bourgeoisie, nicht zuletzt von ihrem "demokratischen" Flügel,  aufrechterhalten wurde, und somit zum ersten Schlag der Weltrevolution auszuholen. Es war die erste deutliche Antwort des Weltproletariats auf den Eintritt des Kapitalismus in die Epoche seines Niedergangs; vor allem in dieser Hinsicht ist die Oktoberrevolution alles andere als eine Ruine aus einem untergegangenen Zeitalter, sondern der Wegweiser in die Zukunft der Menschheit.

Heute mag die Arbeiterklasse nach all den Gegenschlägen durch die Weltbourgeoisie sehr weit von einer Wiedergewinnung ihres revolutionären Projekts entfernt zu sein. Und dennoch: "In gewissem Sinne befindet sich die Frage des Kommunismus im Zentrum des Dilemmas der Menschheit von heute. Er dominiert gegenwärtig die Weltlage in Gestalt der Leere, die er durch seine Abwesenheit geschaffen hat." (Bericht über die Weltlage, 22. Kongress der IKS) Die mannigfaltige Barbarei des 20. und 21. Jahrhunderts, von Auschwitz und Hiroshima zu Fukushima und Aleppo, ist der hohe Preis, den die Menschheit für das Scheitern der kommunistischen Revolution all die Jahrzehnte seither bezahlt hat. Und wenn in diesem fortgeschrittenen Stadium der Dekadenz der bürgerlichen Zivilisation die Hoffnungen auf eine revolutionäre Transformation endgültig enttäuscht werden würden, wären die Konsequenzen für das Überleben der Menschheit noch schwerwiegender. Und doch sind wir überzeugt, dass diese Hoffnungen noch immer leben, noch immer auf realen Möglichkeiten beruhen.

Andererseits basieren sie auf der objektiven Möglichkeit und Notwendigkeit des Kommunismus, die im verstärkten Zusammenprall der Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen enthalten sind. Dieser Zusammenprall ist akuter geworden, gerade weil der Kapitalismus in der Dekadenz im Gegensatz zu früheren Klassengesellschaften, die ganze Epochen der Stagnation überdauert hatten, nicht aufgehört hat, global zu expandieren und jede Pore des sozialen Lebens zu durchdringen. Dies kann in mehrfacher Hinsicht beobachtet werden:

  • im Widerspruch zwischen dem in der modernen Technologie enthaltenen Potenzial und ihrer aktuellen Verwendung im Kapitalismus: Die Informationstechnologie und die künstliche Intelligenz, die helfen könnten, die Menschheit von der Schinderei zu befreien und den Arbeitstag drastisch zu kürzen, haben zur Dezimierung der Beschäftigung einerseits und zur Verlängerung des Arbeitstages andererseits geführt;
  • im Widerspruch zwischen dem weltweiten, assoziierten Charakter der kapitalistischen Produktion und ihrer privaten Aneignung, der einerseits die Beteiligung von Millionen von Proletarier_innen an der Produktion von gesellschaftlichem Reichtum und andererseits seine Aneignung durch eine winzige Minderheit betont, deren Arroganz und Verschwendung zu einem Affront gegen die stagnierenden Lebensbedingungen oder die absolute Verarmung der riesigen Mehrheit wird. Der objektiv globale Charakter der Arbeitsassoziation hat in den letzten Jahrzehnten auf spektakuläre Weise zugenommen, insbesondere mit der Industrialisierung Chinas und anderer asiatischer Länder. Diese neuen proletarischen Bataillone, die sich des Öfteren als äußerst kämpferisch gezeigt haben, bilden potenziell eine unermessliche, neue Quelle der Stärke des globalen Klassenkampfes, selbst wenn das Proletariat Westeuropas den Schlüssel zur politischen Reifung der Arbeiterklasse  bis zur revolutionären Konfrontation mit dem Kapital behält;
  • im Widerspruch zwischen dem Gebrauchswert und dem Tauschwert, der vor allem in der Krise der Überproduktion und all der Mittel zum Ausdruck kommt, die der Kapitalismus benutzt, um sie zu überwinden, insbesondere die massive Flucht in die Schulden. Die Überproduktion, jene einmalige Absurdität des Kapitalismus, deutet die Möglichkeit des Überflusses und gleichzeitig die Unmöglichkeit an, ihn im Kapitalismus zu erreichen. Auch hier ein Beispiel aus den technologischen Entwicklungen, um ein Schlaglicht auf diese Absurdität zu werfen: Das Internet hat es ermöglicht, alle Arten von Güter unentgeltlich zu liefern (Musik, Bücher, Filme, etc.), und doch muss der Kapitalismus wegen der Notwendigkeit, das Profitsystem zu erhalten, eine riesige Bürokratie schaffen, um sicherzustellen, dass jegliche unentgeltliche Verbreitung beschränkt wird oder hauptsächlich als ein Forum operiert, auf dem für Waren geworben wird. Mehr noch, die Überproduktionskrise mündet in fortgesetzte Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse und in die Verarmung großer Massen der Menschheit.
  • im Widerspruch zwischen der globalen Expansion von Kapital und der Unmöglichkeit, über den Nationalstaat hinauszugehen. Die besondere Phase der Globalisierung, die in den 1980ern begonnen hatte, hat uns näher denn je an den Punkt gebracht, den Marx in den Grundrissen vorhergesagt hatte: "Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eignen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben."[1] Dieser Widerspruch konnte freilich bereits von den Revolutionären zurzeit des Ersten Weltkrieges wahrgenommen werden, da der Krieg selbst der erste klare Ausdruck war, dass, obwohl der Nationalstaat sich überlebt hat, das Kapital nicht wirklich über ihn hinausgehen konnte. Und heute wissen wir, dass die Überwindung - eigentlich der Verfall - des Kapitals nicht eine rein ökonomische Gestalt annehmen wird: Je er mehr in eine ökonomische Sackgasse gerät, desto stärker wird der Überlebenskampf mittels militärischer Mittel auf Kosten anderer sein. Die offen nationalistische Streitlust der Trumps, Putins u.a. bedeutet, dass die kapitalistische Globalisierung, weit entfernt davon, die Menschheit zu vereinen, uns immer mehr in die Selbstzerstörung treibt, auch wenn dieser Abstieg in den Abgrund nicht zwangsläufig die Form eines Weltkrieges annehmen muss.
  • im Widerspruch zwischen kapitalistischer Produktion und der Natur, von Anfang an vom Kapitalismus als "Zugabe" betrachtet (Adam Smith), der heute, in der Phase des Zerfalls, beispiellose Ausmaße erreicht hat. Dies wird am offenkundigsten vom offenen Vandalismus der Leugner des Klimawandels ausgedrückt, die die USA kontrollieren, und der Aufstieg ihres Erzfeindes, China, wo die fieberhafte Jagd nach Wachstum um jeden Preis dazu geführt hat, dass in den Städten die Luft nicht geatmet werden kann, was erheblich zur Gefahr beiträgt, dass die globale Erwärmung aus dem Ruder läuft, und das - in einer bizarren Kombination von altertümlichen Aberglauben und modernem Raubtierkapitaliusmus - die Ausrottung ganzer Spezies in Afrika und anderswo beschleunigt, und dies für die magische Heilkraft ihrer Hörner oder Häute. Der Kapitalismus kann nicht ohne diese Manie des Wachstums existieren, aber sie ist unvereinbar mit dem Wohlergehen der natürlichen Umwelt, in der der Mensch lebt und atmet. So bedroht die bloße Fortdauer des Kapitalismus die Existenz der menschlichen Spezies nicht nur in militärischer Hinsicht, sondern auch auf der Ebene ihres Austausches mit der Natur.

Die unerträgliche Zuspitzung der o.g. Widersprüche weisen vor allem auf eine Lösung hin: eine assoziierte Weltproduktion für den Gebrauch, nicht für Profite, eine Assoziation nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Natur. Der vielleicht wichtigste Ausdruck des Potenzials dieser Transformation ist, dass innerhalb der zentralen und meisten modernen Sektoren des Weltproletariats die junge Generation, obwohl sie sich zunehmend des Ernstes der Lage bewusst ist, nicht mehr die "No future"-Hoffnungslosigkeit der letzten Jahrzehnte teilt. Dieses Vertrauen stützt sich auf das Bewusstsein über die eigene assoziierte Produktivität: auf das Potenzial, das der wissenschaftliche und technologische Fortschritt repräsentiert, auf die "Akkumulation" von Kenntnissen und der Mittel, um Zugang zu ihnen zu erlangen, und auf das Wachstum eines tieferen und kritischeren Verständnisses der Interaktion zwischen der Menschheit und dem Rest der Natur. Gleichzeitig ist sich dieser Teil des Proletariats - wie wir in den Bewegungen Westeuropas 2011 gesehen haben, die auf ihrem Höhepunkt den Schlachtruf der "Weltrevolution" anstimmten - weitaus bewusster über den internationalen Charakter der Arbeiterassoziation heute und somit besser in der Lage, die Möglichkeiten der internationalen Vereinigung der Kämpfe zu begreifen.

Doch die globale Vereinigung des Proletariats ist eine Lösung, die das Kapital um jeden Preis verhindern muss, auch wenn es Mittel anwenden muss, die die innewohnenden Grenzen der Produktion zum Zweck des Tausches aufzeigen. Die Entwicklung des Staatskapitalismus in der dekadenten Epoche ist gewissermaßen eine Art verzweifelte Suche nach einem Weg, die Gesellschaft durch totalitäre Mittel zusammenzuhalten, ein Versuch der herrschenden Klasse, in einer Periode Kontrolle über das Wirtschaftsleben auszuüben, in der die "natürlichen Gesetze" des Systems selbiges in den eigenen Untergang drängen.

24. Zwar kann der Kapitalismus die Notwendigkeit des Kommunismus nicht wegzaubern, aber wir wissen, dass diese Produktionsweise nicht automatisch entstehen kann, sondern das bewusste Eingreifen der revolutionären Klasse, des Proletariats, erfordert. Trotz der extremen Schwierigkeiten, denen sich die Arbeiterklasse heute gegenübersieht, trotz ihrer scheinbaren Unfähigkeit, ihre "Eigentumsrechte" am kommunistischen Projekt zu erneuern, haben wir bereits unsere Gründe erläutert, warum wir darauf beharren, dass diese Erneuerung, die Rekonstitution des Proletariats als Klasse für den Kommunismus, heute immer noch möglich ist. Denn so wie der Kapitalismus die objektive Notwendigkeit des Kommunismus nicht wegzaubern kann, so kann er in der Klasse der Assoziation, dem Proletariat, niemals vollständig  die subjektive Sehnsucht nach einer neuen Gesellschaft oder die Suche nach einem Weg dahin unterdrücken.

Das Gedenken an die wahre Bedeutung der Oktoberrevolution und, ja, auch die Erinnerung, dass die deutsche Revolution und die weltweite revolutionäre Welle, die durch den Oktober in Gang gesetzt wurden, überhaupt jemals geschehen war, wird nicht völlig verschwinden. Sie sind sozusagen verdrängt worden, doch alle verdrängten Erinnerungen sind dazu verurteilt, wieder aufzutauchen, wenn die Bedingungen dazu reif sind. Und es gibt in der Arbeiterklasse stets eine Minderheit, die standgehalten und die wahre Geschichte sowie ihre Lehren auf bewusster Ebene erarbeitet hatte, bereit, den Denkprozess der Klasse zu befruchten, wenn diese die Notwendigkeit entdeckt, der eigenen Geschichte einen Sinn zu geben.

Die Klasse kann dieses hohe Prüfungsniveau in ihrer Masse nicht erreichen, ohne durch die harte Schule der praktischen Kämpfe zu gehen. Diese Kämpfe, eine Antwort auf die zunehmenden Angriffe des Kapitals, sind die granitene Basis für die Entwicklung des Selbstvertrauens und der uneingeschränkten Solidarität, die durch die Realität der assoziierten Arbeit erzeugt werden.

Doch die Sackgasse, in der die rein defensiven, ökonomischen Schlachten des Proletariats seit 1968 stecken, erfordert auch auf der einen  Seite einen theoretischen Kampf, ein Streben nach Verständnis seiner "tiefen" Vergangenheit und seiner möglichen Zukunft, ein Streben, das nur auf die Notwendigkeit für die Klassenbewegung hinweisen kann, vom Lokalen und Nationalen zum Universellen, vom Ökonomischen zum Politischen, von der Defensive in die Offensive überzugehen. Während der unmittelbare Kampf der Klasse mehr oder weniger eine Tatsache im Leben des Kapitalismus ist, gibt es keine Garantie, dass dieser nächste, hochwichtige Schritt getan wird. Doch er deutet sich, wie limitiert und konfus auch immer, in den Kämpfen der gegenwärtigen Generation von Proletariern an, vor allem in Bewegungen wie die Indignados in Spanien, die durchaus Ausdruck einer echten Empörung über das gesamte System waren - ein "überholtes" System, wie Demonstranten auf ihren Spruchbändern verkündeten. Er deutet sich in in dem Begehren an, zu verstehen, wie dieses System arbeitet und was es ersetzen könnte, und gleichzeitig die organisatorischen Mittel zu entdecken, die benutzt werden können, um aus den Institutionen der herrschenden Ordnung auszubrechen. Und siehe da, diese Mittel waren im Grunde nicht neu: die Generalisierung der Massenversammlungen, die Wahl mandatierter Delegierter waren ein klares Echo aus den Tagen der Sowjets 1917. Dies war eine klare Demonstration des Wirkens des "alten Maulwurfs" im Untergrund des Gesellschaftslebens.

Es verschaffte auch einen ersten, flüchtigen Eindruck vom Potenzial für die Entwicklung der, wie wir sie nennen, politisch-moralischen Dimension des proletarischen Kampfes: das Aufkommen einer tiefen Ablehnung der herrschenden Lebens- und Verhaltensweisen durch breitere Sektoren der Klasse. Die Evolution dieses Moments ist ein sehr wichtiger Faktor für die Vorbereitung und Reifung sowohl von Massenkämpfen auf einem Klassenterrain als auch einer revolutionären Perspektive.

Gleichzeitig weist das Scheitern der Indignados-Bewegung, eine echte Klassenidentität wiederherzustellen, auf die Notwendigkeit hin, diese einsetzende Politisierung auf den Straßen und Plätzen mit dem ökonomischem Kampf zu verknüpfen, mit der Bewegung am Arbeitsplatz, wo die Arbeiterklasse immer noch ihre ausgeprägteste Existenz hat. Die revolutionäre Zukunft liegt nicht in einer "Negation" des ökonomischen Kampfes, wie die Modernisten verkünden, sondern in einer echten Synthese der ökonomischen und politischen Dimensionen der Klassenbewegung, wie in Luxemburgs Massenstreik beobachtet und befürwortet.

25. In der Entwicklung dieser Kapazität, die Verbindung zwischen den ökonomischen und politischen Dimensionen ihrer Bewegung zu sehen, haben kommunistische politische Organisationen eine unverzichtbare Rolle zu spielen, und daher wird die Bourgeoisie alles Erdenkliche tun, um die Rolle der bolschewistischen Partei 1917 zu diskreditieren, indem sie sie als eine Konspiration von Fanatikern und Intellektuellen darstellt, die lediglich daran interessiert gewesen seien, die Macht für sich zu erringen. Die Aufgabe der kommunistischen Minderheit ist es nicht, Kämpfe zu provozieren, sondern in ihnen zu intervenieren, um die Methoden und Ziele der Bewegung zu erläutern.

Die Verteidigung des Roten Oktobers erfordert freilich die Darlegung, dass der Stalinismus keineswegs irgendeine Kontinuität mit der Oktoberrevolution repräsentierte, sondern die bürgerliche Konterrevolution gegen sie war. Diese Aufgabe ist heute umso wichtiger angesichts des Gewichts der Idee, wonach der Zusammenbruch des Stalinismus die ökonomische Undurchführbarkeit des Kommunismus bewiesen habe. Die negativen Auswirkungen auf die politisch suchenden Minderheiten - das instabile Milieu zwischen der kommunistischen Linken und der Linken des Kapitals - sind beträchtlich. Während vor 1989 konfuse, aber erkennbare antikapitalistischen Ideen, beispielsweise einer rätistischen oder autonomistischen Spielart, verhältnismäßig einflussreich in solchen Zirkeln waren, hat es seither einen bedeutenden Vormarsch von Konzeptionen gegeben, die darauf beruhen, Netzwerke des gegenseitigen Austausches auf örtlicher Ebene zu bilden, Bereiche der Subsistenzwirtschaft oder des noch immer existierenden "Gemeingutes" zu bewahren und auszuweiten. Das Vordringen solcher Ideen zeigt an, dass selbst die politisierteren Schichten des Proletariats heute  häufig außerstande sind, sich eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus auch nur vorzustellen. Unter diesen Umständen ist einer der notwendigen Faktoren, der die Entstehung einer künftigen Generation von Revolutionären vorbereitet, dass die existierenden revolutionären Minderheiten heute so tiefgehend und überzeugend wie möglich darlegen, warum der Kommunismus heute nicht nur eine Notwendigkeit ist, sondern auch eine sehr reale und praktikable Möglichkeit.

Angesichts des äußerst dezimierten und zersplitterten Zustandes der heutigen kommunistischen Linken und der enormen Schwierigkeiten, denen sich ein breiteres Milieu von Elementen gegenübersieht, die auf der Suche nach politischer Klarheit sind, ist es offensichtlich, dass von der heutigen kleinen revolutionären Bewegung bis zu einer künftigen Fähigkeit, als eine authentische Vorhut von proletarischen Massenbewegungen zu agieren, noch eine riesige Wegstrecke zurückgelegt werden muss. Die Revolutionäre und die politisierten Minderheiten sind nicht rein passive Produkte dieser Situation, da ihre eigenen Konfusionen auch dazu beigetragen haben, ihre Uneinigkeit und Desorientierung zu verschlimmern. Doch im Wesentlichen ist die Schwäche der revolutionären Minderheit ein Ausdruck der Schwäche der Klasse in ihrer Gesamtheit, und keine organisatorischen Rezepte oder aktivistischen Slogans werden in der Lage sein, sie zu überwinden.

Die Zeit ist nicht auf der Seite der Arbeiterklasse, doch sie kann nicht über ihren eigenen Schatten springen. In der Tat ist sie dazu gezwungen, viel von dem wiederherzustellen, was sie nicht nur seit 1917, sondern auch seit den Kämpfen von 1968-89 verloren hat. Von den Revolutionären erfordert dies eine langfristige, geduldige Arbeit der Analyse der realen Klassenbewegung und der Perspektiven, die durch die Krise der kapitalistischen Produktionsweise offenbar werden, und, auf der Grundlage dieser theoretischen Anstrengungen, die Beantwortung der Fragen, die von jenen Elementen gestellt werden, die zu kommunistischen Positionen streben. Und der wichtigste Aspekt dieser Arbeit ist, dass sie als Teil der politischen und organisatorischen Vorbereitung der künftigen Partei betrachtet werden muss, wenn die objektiven und subjektiven Bedingungen einmal mehr die Frage der Revolution in den Raum stellen. Mit anderen Worten, die Aufgaben der revolutionären Organisation heute ähneln denen einer kommunistischen Fraktion, wie sie am deutlichsten von der iatlienischen Fraktion der kommunistischen Linken in den 1930er Jahren entwickelt worden war.

IKS, April 2017


[1] Notizbuch IV, das Kapitel über das Kapital. Zirkulationsprozess, Überproduktion, S. 313f.

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Internationale Revue 55

Späte Antwort an eine revolutionäre Anarchistin: Emma Goldman und die Russische Revolution

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Wir veröffentlichen hier eine Antwort auf die Analyse welche Emma Goldman (1869-1940) in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution 1917 erarbeitete. Nach ihrer Deportation aus den USA im Januar 1920, verbrachte sie zwei Jahre in Russland und veröffentlichte danach drei Bücher[1].

„Ich war der Meinung und bin es heute noch, dass das russische Problem viel zu kompliziert ist, als dass man darüber mit einigen leichtfertigen Worten hinweggehen könnte“, schrieb sie in der Einleitung zu ihrem ersten Buch.

Wir antworten auf Emma Goldman weil sie eine zentrale Figur der revolutionären Arbeiterbewegung in den USA zur Zeit des Ersten Weltkrieges war. Wegen ihrer Entschlossenheit eine klare internationalistische Position gegen den Krieg zu erheben, wurde sie von der amerikanischen herrschenden Klasse als „Rote Emma - die gefährlichste Frau Amerikas“ bezeichnet. Es gibt aber noch zwei andere Gründe Goldmans Positionen näher zu betrachten. Einerseits wegen ihres großen Einflusses im anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Milieu bis heute – die „Rosa Luxemburg der Anarchisten“, und andererseits weil ihre früh formulierte Analyse zur Entwicklung und den aufgetauchten Problemen in der Russischen Revolution von großer Ehrlichkeit und Verantwortung zeugen. Goldmans Anstrengungen sind noch heute ein wertvoller Beitrag die Degeneration der Russischen Revolution zu verstehen, auch wenn man einige ihrer Positionen nicht teilen kann.

Goldman, Anarchistin mit familiären Wurzeln in Russland, lehnte sich an die Theorien der einflussreichen anarchistischen Autorität Peter Kropotkin an, repräsentierte jedoch in ihren Aktivitäten eine anarcho-syndikalistische Haltung. Den Marxismus als politische und theoretische Orientierung verwarf sie klar. Was Goldman von Kropotkin unterschied, war ihre Entschlossenheit mit anderen wie Malatesta und Berkman im Februar 1915 eine entschiedene Stellung gegen das sogenannte Manifest der 16 zu beziehen, mit dem sich Kropotkin und andere Anarchisten zur beschämenden Zustimmung für den Ersten Weltkrieg heruntergelassen hatten. Goldman vertrat eine klar internationalistische Position die jegliche Beteiligung, Unterstützung oder auch nur Duldung des Krieges verurteilte, und sie wurde damit zu einem internationalistischen Orientierungspunkt in den USA.

Es ist unser Anliegen, in diesem Artikel den politischen Ausgangspunkt Goldmans gegenüber der Russischen Revolution, ihre Erfahrungen, sowie ihre Schlussfolgerungen zu betrachten. Um es vorwegzunehmen: Ihre Beobachtungen, getragen von einem tiefen proletarischen Instinkt, eine ausgeprägte Errungenschaft Goldmans, müssen von einigen ihrer zentralen politischen Schlussfolgerungen getrennt werden. Um einen ausreichenden Einblick in die Position Goldmans zu erlauben, kommt man nicht umhin auch längere Zitate einzufügen. Da es nicht möglich ist auf alle Aspekte ihrer Analyse einzugehen, sind wir gezwungen eine Auswahl zu treffen und zu einer direkten Lektüre ihrer Schriften zur Russischen Revolution sowie ihrer Autobiografie aufzurufen.

Zwei Fragen beschäftigten Goldman stetig: Die Verschmelzung der Bolschewiki mit dem Staatsapparat und deren Konsequenzen, und ihre eigene schmerzhafte Zerrissenheit über den Zeitpunkt, der es erlaubt oder gar erfordert, ihre Kritik gegenüber den Bolschewiki offen darzulegen - etwas das sie nach monatelangem schmerzhaftem Zögern auch tat. Andere politische Sorgen Goldmans können wir hier nicht aufgreifen, wie den „Roten Terror“, die Tscheka, Brest-Litowsk, die Machno-Bewegung in der Ukraine, die Rastwojartska (die unnachgiebige Eintreibung von Lebensmitteln bei der Bauernschaft, was somit auch das Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse und den Bauern beinhaltet), die katastrophale Situation des Kindes[2] oder ihre Position zu den Arbeiterräten. Ihre Erfahrungen und Analysen zum Aufstand vom März 1921 in Kronstadt sind jedoch wichtig, da dies Goldmans Bruch mit den Bolschewiki bedeutete.

„Die Wahrheit über die Bolschewiki“

Der Ausbruch der Oktoberrevolution erfüllte sie mit großem Enthusiasmus: „Zwischen November 1917 und Februar 1918, auf Kaution aus der Haft wegen meiner Haltung gegen den Krieg freigelassen, reiste ich durch Amerika um die Bolschewiki zu verteidigen. Ich veröffentlichte eine Broschüre zur Aufklärung über die Russische Revolution und zur Rechtfertigung der Bolschewiki. Ich verteidigte sie trotz ihrer marxistischen Theorie als praktische Verkörperung des Geistes der Revolution.“ [3]

In der anarchistischen Zeitschrift MOTHER EARTH veröffentlichte sie 1918 einen Artikel mit dem Titel Die Wahrheit über die Bolschewiki: „Die Russische Revolution bedeutet nichts, außer sie vernichtet die Landgebühr und setzt dem entthronten Zaren seinen kapitalistischen Partner, den entthronten Großgrundbesitzer, zur Seite. Dies erklärt den historischen Hintergrund der Bolschewiki und ihre soziale und ökonomische Rechtfertigung. Sie sind mächtig, weil sie das Volk verkörpern. Im Moment wo sie aufhören dies zu tun müssen sie gehen, so wie die Provisorische Regierung Kerenskis. Denn niemals wird das russische Volk zufrieden sein, oder der Bolschewismus hört auf, bis das Land und die Lebensmittel zum Erbe der Kinder Russlands werden. Sie haben zum ersten Mal seit Jahrhunderten bestimmt dass sie gehört werden sollen, und dass ihre Stimmen das Herz nicht der herrschenden Klassen erreichen werden – denn sie wissen, dass diese kein Herz haben - aber die Herzen der Völker der Welt, einschließlich der Leute der Vereinigten Staaten. Darin liegt die tiefe Bedeutung der Russischen Revolution, wie sie von den Bolschewiki symbolisiert wird. (...) Die Bolschewiki sind gekommen, um die Welt herauszufordern. Sie kann nie mehr ruhen in ihrer alten schmutzigen Bequemlichkeit. sie muss die Herausforderung annehmen. Sie hat es bereits in Deutschland, in Österreich und Rumänien, in Frankreich und Italien, ja sogar in Amerika akzeptiert. Wie plötzliches Sonnenlicht breitet sich der Bolschewismus über die ganze Welt aus, erleuchtet die große Vision und erwärmt sie ins Sein - das neue Leben der menschlichen Brüderlichkeit und des sozialen Wohlergehens.“ [4]

Goldmans Standpunkt gegenüber den Bolschewiki war 1918 alles andere als ablehnend. Ganz im Gegenteil, ihre Verteidigung der Russischen Revolution und der Bolschewiki war eine höchst verantwortungsvolle Reaktion gegenüber der Lügenkampagne der Amerikanischen Bourgeoisie und deren Rolle innerhalb des international koordinierten, brutalen Feldzugs gegen das revolutionäre Russland. Ihre radikale Kritik nach zwei Jahren in Russland war immer von der Absicht getragen, die Oktoberrevolution gegen die äußeren Feinde, als auch gegen die innere Degeneration zu verteidigen. Das war die Hauptsorge ihrer Aktivitäten und Schriften.

Enthusiasmus und Enttäuschung

Der Wechsel in Goldmans Einschätzung über die Entwicklungen in Russland kann in eindrücklicher Weise durch zwei kurze Zitate aufgezeigt werden. Ihre Ankunft im Januar 1920 in Petrograd beschreibt sie mit überschwänglichsten Worten: „Sowjetrussland! Geheiligter Boden, magisches Volk! Nun bist du zum Symbol der Hoffnungen der Menschheit geworden, du allein bist dazu bestimmt die Welt zu erlösen. Ich bin hier um dir zu dienen, geliebte Matuschka. Nimm mich an deine Brust, lass mich in dir aufgehen, mein Blut mit deinem mischen, meinen Platz in deinem heroischen Kampf finden und mich das Äußerste für dich geben!“ [5]

Doch dann, zwei Jahre später, als letzte Beschreibung ihres Aufenthalts in Russland finden wir folgendes: „Im Zug, 1. Dezember 1921! Meine Träume zerstört, mein Glaube gebrochen, mein Herz ein Stein. „Matuschka Rossija“ blutend aus tausend Wunden. Ihre Erde bedeckt mit Toten. Ich klammerte mich an den Griff der vereisten Fensterscheibe, biss die Zähne zusammen und unterdrückte mein Schluchzen.“ [6] “Es waren nun beinahe ein Jahr und elf Monate vergangen seit ich meinen Fuß auf das gesetzt hatte, das mir das gelobte Land zu sein schien. Die russische Tragödie lastete schwer auf meinem Herzen. Nur noch ein Gedanke beschäftigte mich: Ich muss meine Stimme gegen die Verbrechen im Namen der Revolution erheben. Ich muss gehört werden, unabhängig ob von Freund oder Feind.“ [7] Was war also zwischen ihrer Ankunft 1920 und der Abreise zwei Jahre später geschehen? War ihre Enttäuschung lediglich Ergebnis einer naiven Erwartung, die nun von der Realität eingeholt worden war? Wir werden am Ende des Artikels nochmal auf die zweite Frage eingehen.

Die Isolation der Russischen Revolution

Goldman maß der internationalen Isolierung der Russischen Revolution eine große Bedeutung zu, welche ihrer Meinung nach in den ersten Jahren der Sowjetmacht eine entscheidende Rolle spielte. Wie wir aber später sehen werden, findet man in ihren Schriften kaum eine Beschreibung der politischen Isolierung und weshalb die Arbeiterklasse in den anderen Ländern die Macht nicht ergreifen konnten. Nur eine Ausdehnung der Revolution hätte die Fehler der Bolschewiki korrigieren können.

In Ihrem Buch Der Niedergang der Russischen Revolution von 1922, unterstreicht Goldman zu Beginn, wie die Isolation Russlands der Revolution allen Atem nahm und dass die Situation eines Weltkrieges die schlechtesten Bedingungen für eine Revolution schuf: „Der Kreuzzug gegen Russland begann. Die Eindringlinge mordeten Millionen von Russen, durch die Blockade verhungerten Hunderttausende von Frauen und Kindern, und Russland verwandelte sich in eine ungeheure Einöde, wo die Agonie und die Verzweiflung ihre Heimstätte aufgeschlagen hatte. Die Russische Revolution wurde zu Boden geschlagen, und das Regime der Bolschewiki verstärkte sich ins Unermessliche. Dies ist das Endergebnis der vierjährigen Verschwörung der Imperialisten gegen Russland.“ [8]

Der international koordinierte Krieg gegen Russland bedeutete eine brutale Strangulation. Diese tragische Situation außer Acht zu lassen wäre für jede Analyse über die Degeneration und das Scheitern der Russischen Revolution eine komplett falsche Grundlage, und Goldman erwähnt dies auch immer wieder in ihren persönlichen Erfahrungen. So beschreibt sie zum Beispiel die schreckliche Situation die 1920/21 für Millionen von Kindern durch die erbarmungslose Aushungerung Russlands entstand, welche durch die selbstbereichernden Machenschaften vieler Staatsbürokraten aufs Schlimmste verschärft wurde. In dieser Frage verteidigt Goldman trotz all ihrer harschen Kritik an den Bolschewiki deren Anstrengungen zur Verbesserung der Situation der Kinder: „Es ist wahr, dass die Bolschewiki in Bezug auf das Kind und die Erziehung ihr Möglichstes getan haben. Es ist auch wahr, dass, wenn es ihnen nicht gelungen ist, den Nöten der Kinder in Russland Einhalt zu gebieten, dieses mehr die Schuld der Feinde der Russischen Revolution als ihre eigene Schuld gewesen ist. Die furchtbaren Folgen der Intervention und Blockade fielen am schwersten auf die schwachen Schultern der Kinder und Kranken. Aber sogar unter günstigeren Bedingungen würde das bürokratische Monstrum des bolschewistischen Staates die besten Absichten und die gewaltigsten Anstrengungen, welche die Kommunisten zugunsten des Kindes und der Erziehung bekundeten, gelähmt und vereitelt haben. (…) Mehr und mehr musste ich erkennen, dass die Bolschewiki tatsächlich versuchten, alles was in ihrer Kraft stand für das Kind zu tun, dass aber all ihre Bemühungen von der schmarotzenden Bürokratie zunichte gemacht wurden, die ihr Staat selbst ins Leben gerufen hatte.“ [9]

Konkret beschreibt sie die so genannten „Toten Seelen“ [10] : fiktive Kinder, selbst-kreierte oder schon verstorbene, die in den Lebensmittel-Bezugslisten der unteren Bürokratie geführt wurden. Die Bürokraten verbrauchten diese erschwindelten Lebensmittel selbst oder verkauften sie. All dies auf Kosten von Hunderttausenden hungernder Kinder, den hilflosesten Opfer der Ausblutung durch die internationale Blockade!

Goldman kann nicht vorgeworfen werden ihre Analyse über den Niedergang der Russischen Revolution außerhalb der alles bestimmenden und tödlichen Situation der Isolation Russland gestellt zu haben. Sie versuchte darüber hinaus, wie in den Zitaten ersichtlich, eine Unterscheidung zu machen zwischen den Bolschewiki und der Staatsbürokratie, worauf wir später eingehen.

Ihre Schwäche liegt vielmehr im Fehlen einer klaren Analyse darüber, dass der Krieg und die Blockade gegen Russland nur möglich waren, weil die Arbeiterklasse gerade in Westeuropa Schritt für Schritt geschlagen wurde, allem voran in Deutschland. Die Arbeiterklasse in Westeuropa und auch in den USA war mit einer viel erfahreneren Bourgeoisie und ausgefeilteren Staatsapparaten konfrontiert als in Russland. Es war aber nicht nur die Niederlage der internationalen revolutionären Welle, welche die ausweglose Situation Russlands produzierte, sondern auch die Verspätung der internationalen Arbeiterklasse im Vergleich zu Russland.

In Deutschland begann der Revolutionsversuch erst mehr als ein Jahr nach dem Oktober 1917, was der Strategie der Isolation Russlands lange Zeit freie Hand gab, wie dies die Monate nach den Verhandlungen von Brest-Litowsk zeigten. Eine Machtübernahme des Proletariats in den zentralen Staaten Westeuropas wäre der einzige Weg gewesen, die Ausblutung der Russischen Revolution zu durchbrechen und die Interventionsarmeen zu stoppen. Die Wurzeln der Niederlage der Russischen Revolution zu verstehen, ist nur bei einem genauen Betrachten des internationalen Kräfteverhältnisses zwischen dem Proletariat und der Bourgeoise möglich. Ein Aspekt der in Goldmans Schriften zwar punktuell auftaucht, jedoch kaum entwickelt ist und den Eindruck hinterlässt als hätte sich das Schicksal der Revolution vor allem auf russischem Boden entschieden.

Die Isolierung und Ausblutung Russlands nach dem Oktober 1917 erklärt niemals alle Aspekte der inneren Degeneration, welche schlussendlich die erschütterndste Erfahrung für die Arbeiterklasse war, noch weniger soll sie als Rechtfertigung der Degeneration von innen dienen. Es ist entscheidend zu verstehen, dass der katastrophale Fehler der Bolschewiki, sich mit dem Staatsapparat zu identifizieren, nur durch den Einfluss einer erfolgreichen revolutionären Arbeiterklasse in anderen Ländern hätte korrigiert werden können, was tragischerweise nicht der Fall war.[11]

Bei genauer Betrachtung springt ein Widerspruch in den zentralen Thesen Goldmans über das Verhältnis zwischen der internationalen Situation und den Ursachen der Degeneration der Russischen Revolution ins Auge. Einerseits schreibt sie: „Meine Beobachtungen und Studien von zwei Jahren haben mir bis zur Gewissheit klar gemacht, dass das russische Volk, wäre es nicht die ganze Zeit von außen bedroht gewesen, die große Gefahr, die ihm von innen drohte, sehr bald wahrgenommen und abgewendet haben würde, (…).“ Andererseits jedoch: “Wenn jemals ein Zweifel darüber bestand, ob die größte Gefahr für die Revolution in den Angriffen von außen her oder an der Ausschaltung des Volkes an den Ereignissen und der Lähmung seiner Interessen für die Revolution von innen her zu suchen sei, so hat die Russische Revolution jeden Zweifel darüber in dieser Frage ein für allemal behoben. Die Gegenrevolution, unterstützt von den Alliierten durch Geld versagte vollständig.“ [12]

Wie schon erwähnt, die Isolierung Russlands darf in keiner Weise Ausrede für Fehler sein. Doch Goldman macht eine kuriose Schlussfolgerung in der sie ihren „Beobachtungen und Studien“, wie zuerst zitiert, widerspricht: Die Rettung der Revolution sei im Wesentlichen von den Kräften der Arbeiterklasse im Innern Russlands abhängig gewesen, wobei die internationale Situation viel mehr ein zweitrangiger Faktor gewesen sei. Goldman entwickelt hier eine Logik welche an diejenige Volins[13] erinnert, auch wenn sie nicht soweit geht wie dieser. Sie   behauptet, dass aufgrund der eintretenden Niederlage der Alliierten, die Intervention der überwindbare Teil der Konterrevolution gewesen sei, da die Alliierten schlussendlich ja zurückgeschlagen werden konnten

Was in dieser simplen Logik untergeht, ist die Auswirkung der komplett demoralisierenden und das Leben zehntausender von entschlossensten Revolutionären fordernden Schlächterei[14], welche Goldman ja selbst treffend beschrieben hat. Diese gefallenen, bewussten Revolutionäre, welche sich zu tausenden freiwillig an die Front stellten, hätten der inneren Konterrevolution wohl am ehesten etwas entgegensetzen können.

Die beiden Faktoren, die Strangulation und die Fehler der Bolschewiki, verstärkten sich gegenseitig. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass der Krieg gegen Russland für alle ersichtlich war, während die Degeneration im Inneren viel verdeckter begann und schlussendlich für die internationale Arbeiterklasse zum Trauma des Jahrhunderts wurde. Goldmans Schlussfolgerungen sind im wesentlichen Ausdruck des großen Problems die Konterrevolution von außen und deren Auswirkungen auf die konterrevolutionäre Degeneration von innen zu verstehen, eine Schwierigkeit, mit der alle Revolutionäre in den 1920er Jahren konfrontiert waren.

Der Krieg schafft schlechte Bedingungen für die Revolution

Ein zu anerkennender Beitrag Goldmans die Niederlage der Russischen Revolution zu verstehen ist ihr Standpunkt über die Bedingungen für die Revolution während und nach einem Krieg, auch wenn wir ihre Schlussfolgerung nicht teilen: „Vielleicht war das Schicksal der russischen Revolution bereits bei ihrer Geburt entschieden. Die Revolution folgte einem vierjährigen Kriege direkt auf den Fersen, einem Kriege, der Russland seiner besten Manneskraft beraubt, sein Blut in Strömen vergossen und das ganze Land verwüstet hatte. Unter solchen Umständen wäre es begreiflich gewesen, wenn die Revolution nicht die nötige Kraft hätte aufbringen können, um dem wütenden Anprall der ganzen übrigen Welt zu widerstehen.“ [15]

Hier unterstreicht sie richtigerweise das direkte Ergebnis des Krieges und gibt eine Antwort auf falsche, schematische Auffassungen nach denen die Krise automatisch den Krieg, der Krieg automatisch das Klassenbewusstsein vertieft und dann die Revolution ermöglicht. Goldman streicht hier die Erschöpfung in Russland selbst durch den Krieg hervor, die unbestreitbar nur zu Ungunsten der Arbeiterklasse war. Aber der Gedanke, das Schicksal der Revolution sei womöglich „bereits bei ihrer Geburt entschieden“, ist eine eigenartig fatalistische Herangehensweise.

Es gab einen gewichtigen Faktor, der sich nicht in Russland selbst ausdrückte. Der Erste Weltkrieg endete im November 1918, also ein Jahr nach dem Oktober 1917. Wie schon unterstrichen, war die alleinige Hoffnung des Oktobers das schnellstmögliche Übergreifen der Revolution auf andere Länder, und vor allem eine schnell folgende revolutionäre Welle in Westeuropa. Dies war eine Perspektive welche historische möglich gewesen ist und die Arbeiterklasse hatte keine andere Wahl als ihren Kampf in diese Richtung voranzutreiben.

Der Krieg endete mit Gewinner- und Verliererländern. Wenn die Niederlage der Verliererstaaten deren Regierungen schockte, sie schwächte und eine revolutionäre Dynamik stärkten, so war dies in den gestärkten Siegerstaaten nicht der Fall. In den Siegerstaaten, in denen die Arbeiterklasse vier Jahre lang von der herrschenden Klasse schmerzhaft durch die Kriegsschlächterei getrieben worden war, untergrub der Wunsch nach Friede und Stabilität die revolutionären Anstrengungen des Proletariats enorm, so in Ländern wie Frankreich, England, Belgien, Holland und Italien. Es war nicht nur das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Staaten welches nach dem Krieg anders aussah, sondern auch der unterschiedliche Geist in den Massen der auf den Schultern der Arbeiterklasse lastete und sie in Sieger und Verlierer spaltet. Goldman wirft das Problem der schlechten Bedingungen eines Krieges für die Revolution auf, sie reduziert es aber alleine auf die Auswirkungen dieser Situation Russland selbst.

Welche Möglichkeiten nach einer Revolution?

Was war in Russland an Veränderungen überhaupt möglich, in einer Zeit der kompletten Einkreisung und Aushungerung? Im Lager der Anarchisten gab es darüber sehr unterschiedliche Auffassungen. Bezeichnend aber war die große Erwartung an sofortige Verbesserungen, gerade auf der Ebene von wirtschaftlichen Maßnahmen und dem Umkrempeln der Produktion, und damit Verbesserungen im täglichen Leben, das verzweifelt nach einer Veränderung schrie. Was waren die Erwartungen Goldmans in einer Zeit, kaum zwei Jahre nach dem Oktober 1917? Erwartete sie bei ihrer Ankunft im Januar 1920 mit Ungeduld eine in Russland schon existierende Gesellschaft anzutreffen, welche den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird? In ihrer ersten Begegnung mit Maxim Gorki, in einem Zug nach Moskau, erklärte sie ihm: „Du glaubst mir hoffentlich auch, wenn ich sage, dass obwohl ich Anarchistin bin, nicht so naiv bin zu meinen, dass sich der Anarchismus über Nacht aus den Trümmern des alten Russlands erhebt.“ [16]

Aus Gesprächen mit Alexander Berkman, ihrem über Jahrzehnte hinweg engsten politischen und persönlichem Gefährten, berichtet sie folgendermaßen: “Er wies die Anschuldigungen (gegen die Bolschewiki) als unverantwortliches Geschwätz unfähiger ewig nörgelnder Leute zurück. Die Anarchisten in Petrograd wären wie so viele in unseren Reihen in Amerika, die nichts täten und nur kritisieren, sagte er. Vielleicht wären sie so naiv gewesen und hätten erwartet, dass der Anarchismus über Nacht aus den Ruinen der Autokratie, aus dem Krieg und den Fehlern der provisorischen Regierung hervorgehen würde.“ [17] Goldman maß die Russische Revolution nicht mit einer blauäugigen, lediglich auf sofortige Verbesserungen der Lebensbedingungen und der Wirtschaft ausgerichteten Elle.[18]

Bei der Frage der sofortigen Möglichkeiten zur Umwälzung der Gesellschaft im Interesse der Arbeiterklasse und anderen unterdrückten Schichten, wie in Russland das Millionen zählende  Bauerntum, stellt Goldman ihre Ansichten wieder in einen Rahmen der die internationale Situation nicht außer Acht lässt. Sie war auch nicht zu scheu, Anstrengungen der Bolschewiki (wie wir es bei der Frage der Situation der Kinder gesehen haben, welche sofortige und drastische Maßnahmen forderten) zu verteidigen und Positionen anderer Anarchisten scharf zu kritisieren. Goldman verfiel nicht in Allianzen des gegenseitigen unkritischen Schweigens mit anderen Anarchisten. Wir wissen nicht wie sie gegenüber ungeduldigen Anarchisten, welche nur das sofortige Umwälzen der Gesellschaft erwarteten argumentierte. Doch diese Auseinandersetzungen in den Reihen der Anarchisten zeigen auf, dass es im Russland der Revolution keineswegs einen homogenen Anarchismus gab.

Die Frage von möglichen Sofortmaßnahmen zur schnellen Linderung des Leidens stellte sich für die Arbeiterklasse und das Bauerntum in ihrer Gesamtheit in höchstem Maße und war nicht lediglich Thema ungeduldigster Teile des Anarchismus, bei denen diese Frage oft einzig und allein über ihr Verhältnis gegenüber den Bolschewiki entschied. Für die Arbeiterklasse ist die Revolution keine abstrakte historische Folgerichtigkeit. Geknüppelt durch jahrzehntelange brutale Ausbeutung und leidend unter der Schlächterei des Weltkrieges von 1914-1918 waren größte Hoffnungen auf eine Sonne am Horizont des Lebens mehr als angebracht und verständlich. Sie stellten eine bedeutende Triebkraft zur revolutionären Überzeugung und zur Kampfbereitschaft dar die den Oktober ermöglichte. Angesichts der unmittelbaren Realität einer Strangulation des revolutionären Russlands, des Hungers und des Krieges gegen die Weißen Armeen, erhob sich die erwartete Sonne am Horizont nicht. Ausblutung und Demoralisierung lasteten schwer auf der Arbeiterklasse. In dieser fast ausweglosen Situation nahm Goldman eine verantwortungsvolle Haltung der Geduld und des Durchhaltens ein, welche aber in der schrittweisen Niederschlagung der weltrevolutionären Welle nach dem Krieg für alle Revolutionäre nur mit enormem Willen und politischer Klarheit aufrecht erhalten werden konnte. 

Die Bolschewiki und der Staatsapparat: Schiffbruch des Marxismus?

In ihrer Analyse zur Frage der Dynamik des anwachsenden Staatsapparates nach dem Oktober wurde Goldman ihrem Anspruch gerecht, dass das russische Problem viel zu kompliziert sei, als dass man darüber mit einigen leichtfertigen Worten hinweggehen könnte. Sie widmet dieser Frage große Aufmerksamkeit und zeichnet sich durch präzise Beobachtungen und Reflexionen aus. Dennoch sind viele ihrer Schlussfolgerungen nicht zu teilen! Ihre Schriften beinhalten Widersprüche zur Frage des Verhältnisses zwischen den Bolschewiki und dem aufkommenden Staatsapparat.

1922 war sie noch nicht fähig eine tiefe Analyse mit Distanz zu machen, so wie es Ende der 20er und anfangs der 30er Jahre möglich war, als sich die Italienische Kommunistische Linke dieser Aufgabe stellte. Sehr dominierend bei ihrer Analyse und ihren Schlussfolgerungen sind zweifellos einige anarchistische Prinzipien zur Frage des Staates.

Es ist notwendig, zuerst Goldmans Gedanken dazu in ausgedehnter Form zu betrachten: „Die ersten sieben Monate meines Aufenthalts in Russland hatten mich nahezu vernichtet. Ich war angekommen mit so viel Begeisterung im Herzen, ganz und gar beseelt von dem leidenschaftlichen Verlangen, mich in die Arbeit stürzen zu können und mitzuhelfen, die heilige Sache der Revolution zu verteidigen. Aber was ich in Russland fand, überwältigte mich geradezu. Ich war nicht fähig, irgend etwas zu tun. Das Rad der sozialistischen Staatsmaschine ging über mich hinweg und lähmte meine Energie. Das furchtbare Elend und die Bedrängnis des Volkes, die kaltherzige Ignorierung seiner Wünsche und Bedürfnisse, die Verfolgungen und Unterdrückungen lagen mir wie ein Berg auf der Seele und machten mir das Leben unerträglich. War es die Revolution, die Idealisten in wilde Bestien verwandelt hatte? Wenn dies der Fall war, so waren die Bolschewiki bloß Schachfiguren in der Hand eines unvermeidlichen Schicksals. Oder war es der kalte, unpersönliche Charakter des Staates, dem es gelungen war, durch verwerfliche und unehrliche Mittel die Revolution in sein Joch zu spannen, um sie nun auf Wege zu peitschen, die ihm unentbehrlich waren? Ich fand keine Antwort auf diese Fragen - wenigstens nicht im Juli 1920.“ [19]

„In Russland jedoch vertreten die Gewerkschaften weder im konservativen und noch weniger im revolutionären Sinne die Bedürfnisse der Arbeiter. Sie sind dort nicht mehr wie das untergeordnete und militaristisch ausgebildete Werkzeug des bolschewistischen Staates. Die "Schule des Kommunismus", wie Lenins These über die Aufgabe der Gewerkschaften lautet. Aber sie sind sogar das nicht. Eine Schule setzt den freien Meinungsausdruck und die Initiative des Schülers voraus, während die Gewerkschaften in Russland bloß militärische Kasernen für mobilisierte Arbeiterarmeen sind, denen jeder auf Kommando des Staates beizutreten gezwungen ist.“ [20]

„Ich bin überzeugt, dass weder Lunatscharski noch Gorki davon (die Inhaftierung von Kindern durch die Tscheka) eine Ahnung hatten. Aber darin liegt ja gerade der Fluch des ganzen verhängnisvollen Systems. Es nimmt denen, die an der Spitze stehen, die Möglichkeit, zu wissen, was der Schwarm ihrer Untergebenen tut. (…) Sind Lunatscharski solche Fälle bekannt? Wissen andere führende Kommunisten davon? Manche zweifellos. Aber sie sind so sehr mit "wichtigen Staatsangelegenheiten" beschäftigt. Außerdem sind sie gegen solche "Kleinigkeiten" unempfindlich geworden. Und dazu sind sie selbst in denselben verhängnisvollen Kreis hinein gebannt, ist doch jeder von ihnen nur ein Teil des großen bolschewistischen Beamtenapparates. Sie wissen, daß die Zugehörigkeit zur Partei eine Menge Sünden zudeckt.“ [21]

Und bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Staatsapparat und seinen Bürokraten: „In der Kleinstadt in dem er (Kropotkin) lebte, im kleinen Dimitrov, gab es mehr bolschewistische Beamte als es je unter dem Regime der Romanovs gegeben hatte. Sie lebten alle abseits der Massen. Sie waren Parasiten am Körper der Gesellschaft, und Dimitrov war nur ein kleines Beispiel von dem was sich überall in Russland abspielte. Es war nicht der Fehler irgendwelcher bestimmter Individuen: es war vielmehr der Staat der sie kreiert hatte, es diskreditierte jegliches revolutionäres Ideal, erstickte jegliche Initiative und setzte auf Inkompetenz und Verschwendung.“ [22]

Goldmans Beobachtungen zur konkreten Wirklichkeit des Staates beschreiben sehr genau wie der Staat sich mehr und mehr ausbreitet und unaufhaltsam alles einzuverleiben beginnt. Es ist ihre Stärke, detaillierte Eindrücke über das „tägliche Leben“ des bürokratischen Apparates und seine tiefen Konflikte mit den Interessen der Arbeiterklasse und den anderen ausgebeuteten Schichten zu schildern. Ihre Schilderungen waren 1922 nur berechtigt, gegen all die Glorifizierungen, die in der internationalen Arbeiterbewegung über die Situation in Russland die Runde machten und der Blindheit gegenüber den großen Problemen, die sich in Russland stellten. Zweifellos war Goldmans Stoßrichtung, vor der Gefahr des Staates wie er sich in Russland entwickelte zu warnen in dieser Zeit kostbar, auch wenn ihre Analyse noch vielmehr Bestandsaufnahme und ein erster Anlauf war.

Welche Schlussfolgerungen zieht sie jedoch daraus?  „Es wäre ein Fehler zu glauben, dass das Scheitern der Revolution ausschließlich dem Charakter der Bolschewiki zuzuschreiben ist. Grundsätzlich ist es Resultat der Prinzipien und Methoden des Bolschewismus. Es sind der autoritäre Geist und die Prinzipien des Staates welche die libertären und befreienden Aspirationen ersticken. Auch wenn irgendeine andere politische Partei die Kontrolle über die Regierung in Russland hätte, das Resultat wäre grundsätzlich dasselbe. Es sind nicht so sehr die Bolschewiki welche die Russische Revolution erwürgten, sondern vielmehr die bolschewistischen Ideen. Es war der Marxismus, jedoch ein modifizierter, kurzum fanatische Staatsmentalität. (…) Ich habe weiter aufgezeigt, dass nicht nur der Bolschewismus versagte, sondern der Marxismus selbst. Es ist die STAATSIDEE, das autoritäre Prinzip welche durch die russische Erfahrung den Bankrott erlitt. Wenn ich meine ganze Argumentation in einem Satz zusammenfassen will: Die inhärente Tendenz des Staates ist es zu konzentrieren, zu verengen, und alle sozialen Aktivitäten zu monopolisieren; die Natur der Revolution ist, im Gegenteil, zu wachsen, zu erweitern, und sich weiter auszubreiten. Mit anderen Worten, der Staat ist institutionell und statisch, die Revolution fließend und dynamisch. Diese zwei Tendenzen sind unvereinbar und zerstören sich gegenseitig. Die Staatsidee ermordete die Russische Revolution, und sie wird in allen anderen Revolutionen denselben Ausgang nehmen, es sei denn die libertäre Idee überwiegt. (…) Der Hauptgrund der Niederlage der Russischen Revolution liegt tiefer. Er befindet sich im ganzen sozialistischen Revolutionskonzept selbst.“ [23]                 

„Und während die Arbeiter und Bauern Russlands so heroisch ihr Leben einsetzten, wuchs der innere Feind immer mächtiger heran. Langsam aber sicher errichteten die Bolschewiki einen zentralistischen Staat, der die Sowjets zerstörte und die Revolution niederschlug, einen Staat, der sich, was Bürokratie und Despotismus anbelangt, heute mit jedem Großstaat der Welt vergleichen kann.“ [24]

„Es war die marxistische Staatskunst der Bolschewiki, die Taktik, die man zuerst als für den Erfolg der Revolution unumgänglich notwendig gepriesen hatte, um sie später, nachdem sie überall Elend, Misstrauen und Antagonismus verbreitet hatte, als schädlich beiseite zu werfen, welche langsam den Glauben des Volkes an die Revolution untergrub.“ [25]

Goldmans These ist demnach folgende: Der Marxismus an sich erweist sich aufgrund der Politik der Bolschewiki gegenüber dem Staat nach der Revolution als unbrauchbar. Im Gegensatz zu eingefleischt organisationsfeindlichen Teilen des Anarchismus stand Goldman nie auf der Position, dass die Probleme der Bolschewiki lediglich daher rühren dass sie als organisatorischer Körper, eine feste Partei seien. Vielmehr wies sie deren   konkrete Politik zurück. In zwei Punkten liegt sie absolut richtig, wenn sie sagt, dass der Staat in seinem Charakter „institutionell und statisch“ ist. Sie bezieht sich offenbar auf die Erfahrung mit dem bürgerlichen Staat und dessen Charakter vor der Revolution. Goldmans Position ist nicht lediglich emotional, so wie es ihre gewisse Anarchisten damals immer vorgeworfen hatten, sondern sie stützt sich auf der geschichtlichen Erfahrung ab. Der Staat im Feudalismus und im Kapitalismus ist in seinem Wesen durch und durch statisch, und überdies durch die bedingungslose Verteidigung der Interessen und Macht der herrschenden Klasse offen reaktionär. Zweitens teilen wir die Sichtweise, dass das Problem nicht bei einzelnen Persönlichkeiten in den Reihen der Bolschewiki lag, sondern ihren enormen Konfusionen gegenüber dem Staat nach einer Revolution.  

Selbst nach einer weltweiten Proletarischen Revolution (was zur Zeit der Russischen Revolution nie der Fall war da sie weitgehend auf Russland beschränkt blieb) bleibt ein notwendiger, aber auf ein Minimum  beschränkter, durch die Arbeiterräte kontrollierter und absterbender „Halb-Staat“ in seinem Wesen immer konservativ und statisch, und ist keineswegs Treibkraft zur Verwirklichung einer kommunistischen Gesellschaft oder gar ein Organ der Arbeiterklasse. Wie es die Italienische Kommunistische Linke beschrieb: „Der Staat, auch wenn er oft als „proletarisch“ bezeichnet wird, bleibt ein Organ des Zwangs, er bleibt ein akuter und permanenter Gegenspieler der Verwirklichung des kommunistischen Programms; er ist in gewissem Maße die Offenbarung der Beharrlichkeit der kapitalistischen Gefahr während all der Phasen und Entwicklungen in der Übergangsperiode.“[26] Deshalb ist es absolut falsch von einem „proletarischen Staat“ als Organ der Revolution zu sprechen, so wie es die Trotzkisten bezüglich Russland behaupten, aber auch die bordigistische Strömung auf einer theoretischen Ebene bezüglich der Übergangsperiode. Eine solche Idee ist komplett blind gegenüber der lauernden Gefahr einer Vermischung zwischen den Arbeiterräten und der politischen Partei mit dem Staatsapparat – so wie es sich in Russland tragischerweise entwickelte.

Um falsche Diskussionen zu vermeiden ist eine Bemerkung notwendig: Goldman spricht oft von einem „zentralisierten Staat“ welcher von den Bolschewiki aufgebaut wurde. Dies aber nicht weil sie Fürsprecherin eines föderalistischen Konzepts war, so wie Rudolf Rocker der die politische Losung eines enorm föderalistischen Klassenkampfes vertrat.[27] Goldmans Bezeichnung „zentralistisch“ war vielmehr Beschreibung des undurchschaubaren, trägen, korrupten und hierarchischen Staatsapparates in Russland, der auch noch so kleine Maßnahmen zugunsten der Arbeiterklasse und den anderen unterdrückten Schichten der Gesellschaft wie dem Bauerntum sabotierte.

Doch erlitt der Marxismus durch die Prüfung der Revolution kompletten Schiffbruch wie Goldman behauptet? Und wurde im Gegensatz der Anarchismus durch die Russische Revolution bestätigt? Wenn wir die Russische Revolution verstehen wollen, so ist eine solche, bezüglich zweier historischer politischer Strömungen Schiedsrichter-artige Herangehensweise welche dem „Spielfeld der Revolution“ einen Gewinner und einen Verlierer zuspricht, nicht hilfreich.

Wir können in dieser Antwort nicht auf alle Aspekte der tragischen Degeneration der Bolschewiki und der Russischen Revolution eingehen, dies haben wir schon in zahlreichen Texten der IKS getan. Doch auf den sogenannten Schiffbruch des Marxismus als Ganzes müssen wir Goldman antworten. Die Bolschewiki degenerierten, was sich durch ihre Verschmelzung mit den Staatsapparat deutlich ausdrückte, dies ist ein Faktum – doch der Marxismus  scheiterte nicht „in corpore“.

Wie erklärt sich Goldman mit ihrer Methode die Tatsache, dass angesichts der Kriegsfrage und des Internationalismus exakt innerhalb der marxistischen Arbeiterbewegung und auf der Basis ihres historischem Erbes die klarsten und beharrlichsten internationalistischen Positionen entstanden, wie sie durch die Konferenz in Kienthal 1916 verkörpert wurden? Und all dies mit einer marxistischen Organisation, den Bolschewiki, als Speerspitze gegen den Reformismus der gegenüber der Kriegsfrage in die Knie ging.

Wie erklärt sie sich mit dieser Methode die Tatsache, dass wie zu Beginn dieses Artikels erwähnt und von Goldman richtigerweise denunziert, innerhalb des Anarchismus und sogar rund um seine wohl zentralste Person der damaligen Zeit, Kropotkin, eine Tendenz entstand, welche die internationalistischen Prinzipien  verließ und sie in einem Manifest offen formulierte - ein Abgleiten das innerhalb der anarchistischen Reihen eine große Unsicherheit, Spannungen und einen Widerstand hervorrief? Goldmans Methode folgend hätte der Anarchismus hier Schiffbruch erlitten, da gerade von einflussreichsten Vertretern wie Kropotkin der Internationalismus über Bord geworfen wurde. Ähnlich wie innerhalb der marxistischen Arbeiterbewegung entstand in der Prüfung des Krieges eine scharfe Auseinandersetzung, und ein entschlossener internationalistischer Teil zu dem auch Goldman zählte, bekämpfte jegliche Zustimmung für das eine oder andere Kriegslager.

Es wäre absolut falsch zu behaupten, dass der Anarchismus als Ganzes 1914 Schiffbruch erlitten hätte. Im Gegenteil, gerade weil innerhalb des Anarchismus und innerhalb der marxistischen Arbeiterbewegung eine harte Scheidung stattfand, war es möglich, dass im Kampf gegen den Krieg und im Oktober 1917 die revolutionären internationalistischen Anarchisten mit dem revolutionären Marxismus Schulter an Schulter kämpfen konnten. Wenn das „Spielfeld des Krieges und der Revolution“  tatsächlich ein Resultat hervorbrachte, dann die sich sowohl bei den Marxisten und den Anarchisten herausschälende Entschlossenheit, welche konsequent den Internationalismus und  die Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse verkörperte.   

Weiter noch. Wie erklärt sich Goldman mit ihrer Herangehensweise und der These eines schiffbrüchigen Marxismus die Tatsache, dass die Bolschewiki, eine Organisation der marxistischen Tradition, fähig waren, 1917 mit den Aprilthesen, formuliert durch ihre entschlossensten Vertreter, Klarheit gegen die in der Arbeiterklasse Russlands noch existierenden demokratischen Konfusionen zu bringen?

Es ist eine Tatsache, dass die Mehrheit der Bolschewiki sich Schritt für Schritt vom Geist der Oktoberrevolution entfernte, ihr den Rücken zukehrte und durch ihre Vermischung mit dem Staatsapparat sowie durch Repressionsmaßnahmen gegen Kritiken unter dem Vorwand, damit die Revolution retten zu können, zur Verkörperung der Konterrevolution von Innen wurde. Aber es war nicht die Gesamtheit, welche diesen Weg einschlug, denn es entstanden verschiedene organisierte Reaktionen innerhalb der Partei auf diese Anzeichen der Degeneration.

Goldman beschreibt ihre große Sympathie und Nähe zu einer dieser   Oppositionsgruppen innerhalb der Bolschewistischen Partei, die „Arbeiteropposition“ rund um Kollontai und Schljapnikov. Offenbar war der Marxismus fähig, eine kämpferische revolutionäre Opposition hervorzubringen, welche Goldman ausdrücklich begrüßte. Auf der anderen Seite beschreibt sie (und noch ausführlicher ihr politischer Weggefährte Alexander Berkman) organisierte Tendenzen innerhalb des Anarchismus in Russland, die so genannten „Sowjet-Anarchisten“, welche offen die Politik der Bolschewiki unterstützten, und dies sogar noch 1920 als der Terror der Tscheka[28] schon um sich griff. Sie schreibt in ihrer ehrlichen Art auch folgendes: „Leider, und es war unter diesen Umständen nicht zu vermeiden, fanden fremde Ideen auch Eintritt in die Reihen der Anarchisten. Trümmer die von der revolutionären Flut an Land gespült wurden. (…) Macht ist korrumpierend, und Anarchisten sind nicht davor gefeit“ [29]. Scheiterte also, wenn wir Goldmans Methode folgen, der Anarchismus aufgrund solcher Tatsachen ebenfalls in seiner Gesamtheit? Eine solche Schlussfolgerung wäre unseres Erachtens falsch. Ihre Herangehensweise und Schlussfolgerung lässt alle Auseinandersetzungen nach dem Oktober 1917 innerhalb des sog. „gescheiterten Marxismus“ außer Acht.

Die Frage des Staates nach der Revolution war zur damaligen Zeit innerhalb der Arbeiterbewegung nicht geklärt. Das trifft auch für die Anarchisten zu. Ein wesentlicher Grund dafür war das Fehlen einer konkreten historischen Erfahrung wie sie sich nach 1917 in Russland stellte. Die unüberwindbare Isolation der Russischen Revolution und der entstandene Zwang das Territorium zu verteidigen förderten auf brutale Art und Weise die Ausblutung der Revolution und ihre Degenerierung. Der Staat und die bolschewistische Partei „fusionierten“ dabei zu einem aktiven Faktor dieser Dynamik.

Auch Goldmans politische Orientierung „Vater Kropotkin“, wie ihn sein politisches Umfeld nannte,  war in seinem Buch  Der Staat – seine historische Rolle nicht in der Lage die Rolle und Funktion des Staates nach einer Revolution zu beantworten. Das radikale Verwerfen des Staates auf der Basis eines instinktiven Misstrauens wie es von der absoluten Mehrzahl der Anarchisten vertreten wurde, war auf der Erfahrung der  brutalen Konfrontation mit den Staat unter dem Feudalismus und dem kapitalistischen Staatsapparat entstanden und forderte richtigerweise die Zerstörung des bürgerlichen Staates durch eine proletarische Revolution, so wie dies auch im Buch Lenins Staat und Revolution verteidigt wird. Auch wenn der anarchistischen Bewegung dieser Verdienst zukommt, so dominierte in ihren Reihen ein tückisches Konzept: Das Organisieren der Gesellschaft unmittelbar nach der Revolution durch die Arbeiterräte, Gewerkschaften und Genossenschaften. Ein solches Szenario treibt die politischen und dynamischen Organe der Arbeiterklasse, die Arbeiterräte, bedingungslos in die Vermischung mit dem „organisierenden Körper“ (den wir  einen reduzierten und kontrollierten Übergangsstaat nennen[30]), oder sie werden selbst zur Bürokratie und verlieren damit ihre politische Unabhängigkeit als Organ der Arbeiterklasse. Diese Position finden wir auch bei Goldman, auch wenn nur in einer angedeuteten und nicht entwickelten Form.

Zurück zur Frage des angeblichen Schiffbruchs des Marxismus. Ein Großteil der Anarchisten kritisierte die tragischen Entwicklungen in Russland. Doch der Anarchismus wurde dadurch in der Russischen Revolution nicht „in corpore“ bestätigt, sowenig wie der Marxismus keineswegs als Ganzes scheiterte. Zweifellos gab es bei den Bolschewiki eine falsche Auffassung über das Verhältnis zwischen den Arbeiterräten, dem Staat und der politischen Partei. Zur Zeit der Russischen Revolution dominierte das Konzept einer Einheit zwischen Partei und Staatsapparat, der Partei also welche neben den Arbeiterräten an der Macht beteiligt sein müsse. Die Partei – eine Minderheit innerhalb der Arbeiterklasse - sei berechtigt, im Namen der Arbeiterklasse und aufgrund deren Vertrauens in die Partei, die Macht zu übernehmen. Diese Sicht drückte immer noch deutlich die existierende Unreife über die Frage des Staates nach der Revolution aus.

Durch ihre Auffassungen über den nach-revolutionären Staat und ihr Verhältnis ihm gegenüber, gerieten die Bolschewiki als Akteur der Realität in eine tragische Spirale, welche sich in der Situation der kompletten Isolierung der Revolution von einer falschen Konzeption in eine Tragödie verwandelte. Auch wenn die Bolschewiki nie offen das Prinzip der Machtübernahme durch die Arbeiterräte verwarfen, war eines der ersten Anzeichen der Degeneration die schrittweise Entmachtung der Räte bei der die Bolschewiki eine entscheidende Rolle spielten.

Es ist keine fatalistische Feststellung, sondern eine historische Tatsache zu sagen, dass erst die tragische Erfahrung der Russische Revolution in all diese Fragen Klarheit gebracht hat. Die einzige Rettung wäre die internationale Ausdehnung der Revolution auf der Basis der Lebendigkeit der Räte gewesen. Dies hätte auch jeglichen retrospektiven Determinismus, dass das Schicksal der Russischen Revolution bereits bei ihrer Geburt entschieden war Lügen gestraft. Die Rettung der Revolution mit der Waffe eines „starken Staates“, was die Bolschewiki zu propagieren begannen, war eine schlichte Unmöglichkeit.

Eine Schwäche in Goldmans Methode bezüglich der stetig anwachsenden Dominanz des Staatsapparats nach dem Oktober und dem Degenerationsprozess ist ihre statische Schlussfolgerung. Sie lässt die Dynamik der Dominanz des Staates, den Kampf dagegen innerhalb der marxistischen Reihen und die enormen Schwierigkeiten der Anarchisten dieser Situation gegenüber außer Acht, auch wenn sie all dies ausführlich in ihren Beobachtungen schildert. Diese Schwäche paart sich mit ihrer Auffassung, dass die Bolschewiki – als Teil des Marxismus, und gerade deswegen – von Beginn weg aufgrund ihres angeblich alleinigen Ziels die Macht zu ergreifen zum Scheitern verurteilt waren. Es scheint, dass Goldman zufolge schon die reine Existenz marxistischer Positionen über das Schicksal der Revolution entschieden habe. Auch negiert sie in ihrer Schlussfolgerung zur Frage des Staates exakt die Tatsache, dass es sich aufgrund der internationalen Situation (auf die sie an anderen Stellen selber immer wieder hingewiesen hatte) um einen Prozess der Degeneration handelte, und keinesfalls um eine von Beginn weg entschiedene Sache. Mit ihrer Deklaration des „Scheiterns des Marxismus“ in der Erfahrung der Russischen Revolution macht sie es sich etwas allzu leicht, was sie schlussendlich zu einer weiteren These führt.

„Der Zweck heiligt die Mittel“, und Kronstadt als Bruch mit den Bolschewiki

Eine der wohl am weitest gehenden Thesen Goldmans ist folgende: „Die Bolschewisten bilden den Jesuitenorden in der marxistischen Kirche. Nicht daß sie als Menschen unehrlich oder von schlechten Absichten beseelt sind.  Es ist ihr Marxismus, der ihre Politik und ihre Methoden bestimmt hat. Dieselben Mittel, die sie zur Anwendung brachten, haben die Verwirklichung ihrer ursprünglichen Ziele verhindert Kommunismus, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit - alles, wofür die russischen Massen sich den größten Leiden unterzogen hatten, ist durch die bolschewistische Taktik, durch ihren jesuitischen Grundsatz, dass der Zweck alle Mittel heilige, diskreditiert und in den Kot gezogen worden (...) Doch Lenin ist ein schlauer und listiger Jesuit, und so machte er den allgemeinen Schrei des Volkes: "Alle Macht den Räten!" zu seinem eigenen Motto. Erst als er und seine jesuitischen Gefolgsleute sich fest im Sattel fühlten, begann die Abtragung der Sowjets. Heute sind sie, wie alle anderen Dinge in Russland, nur noch ein Schattengebilde, dessen körperliche Substanz entschwunden ist. (…) Kein Zweifel, Lenin gibt oft seiner Reue Ausdruck. Von jeder allrussischen Konklave der Kommunisten tönt uns ein Mea Culpa, "Ich habe gesündigt!" entgegen. Ein junger Kommunist sagte mir einst: "Ich würde nicht überrascht sein, wenn Lenin eines Tages die Oktober-Revolution für einen Irrtum erklären würde.“  [31]

Ja, die Ziele der Bolschewiki, der Kommunismus, Sozialismus, Gleichheit, Freiheit, die Goldman den Bolschewiki hier als ihr eigentliches Ziel nicht streitig macht, konnten nicht verwirklicht werden. Sie beschreibt an anderen Stellen ihrer Schriften über Russland, wie sie von vielen führenden Bolschewik immer wieder mit der hoffnungsvollen Frage konfrontiert war: „Kommt die Revolution in Deutschland und den USA bald?“. So auch von Lenin in einem Treffen mit Goldman. Die Bolschewiki mit denen sie darüber sprach erhofften angespannt eine positive Antwort von ihr zu erhalten, da sich ja in den USA gut auskannte. Es war nach ihren Beschreibungen offensichtlich, dass die Bolschewiki in einer permanenten Angst lebten immer mehr isoliert zu werden, und mit Verzweiflung auf kleinste Anzeichen revolutionärer Entwicklungen in anderen Ländern hofften. Sie selbst gibt den Beweis, wie auch zur Zeit der immer unübersehbarer werdenden Degeneration der bolschewistischen Partei - welche alles andere als homogen war - in deren Reihen die Hoffnung auf eine weltweite Revolution weiterlebte. Also nicht die angebliche Gier nach der Macht in Russland, wie sie sich in ihren Ideen zum „Jesuitismus“ der Bolschewiki versteigt.

Die Sorge Goldmans drehte sich um den Widerspruch zwischen den ursprünglichen Zielen der Bolschewiki und ihrer konkreten Politik und Methoden. Dies führte sie zu einem definitiven Bruch, nachdem bei der blutigen Niederschlagung des Aufstandes in Kronstadt im März 1921 unter dem Banner die Revolution zu retten eine brutale Anwendung von Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse stattfand, was in einem schreienden Widerspruch zu kommunistischen Prinzipien steht. Bei ihrem Bruch mit den Bolschewiki spielte ihre Erfahrung mit der Tscheka ebenfalls eine entscheidende Rolle.

Die Methode, dass der Zweck die Mittel heiligt ist durch die Arbeiterklasse vehement zu bekämpfen. Es ist Goldmans Ehrlichkeit, ihre eigenen Schwankungen darüber nicht im Verborgenen zu lassen. Doch gerade ihre Schilderungen widerlegen die These, dass die Bolschewiki in ihrem Denken die „Jesuiten des Marxismus“ seien, welche bei der Verfolgung ihres Ziels keine Rücksicht kennen, und hier ein grundlegender Unterschied zwischen den Bolschewiki und dem Anarchismus bestünde.

Wie stellte sich diese Frage in den Reihen der Anarchisten? Sie beschreibt ihre Diskussionen mit Berkman zur Frage der erlaubten Mittel zur Verteidigung der Revolution: „Es wäre absurd, die Bolschewiken für die drastischen Maßnahmen, die sie anwandten, verantwortlich zu machen, sagte Sascha nachdrücklich. Wie sollen sie sonst Russland vom Würgegriff der Konterrevolution und Sabotage befreien? Was das betraf, so glaubte er, dass keine Maßnahme dagegen zu hart wäre. Die Anforderung der Revolution rechtfertigt jedes Mittel, wie sehr auch immer es unseren Gefühlen widersprechen mochte. Solange die Revolution in Gefahr wäre, müssten diejenigen, die sie unterwandern wollten, dafür büßen. Mein alter Freund war so aufrichtig und umsichtig wie immer. Ich war seiner Meinung, aber dennoch, die grässlichen Schilderungen meiner Genossen beunruhigten mich weiterhin.“ [32]

Diese Auseinandersetzung mit Berkman ging in schärfster Art und Weise weiter: „Stundenlang warf er mir meine Ungeduld, mein mangelndes Urteilsvermögen in Bezug auf langfristige Ziele vor, sprach davon, dass ich die Revolution mit Samthandschuhen anpacken wollte. Schon immer hätte ich den ökonomischen Faktor als die Hauptursache des kapitalistischen Übels zu wenig beachtet, behauptete er. Könnte ich jetzt nicht sehen, dass gerade diese ökonomische Notwendigkeit die treibende Kraft der Leute am sowjetischen Ruder war? Die ständige Gefahr von außen, die natürliche Trägheit der russischen Arbeiter, die es nicht geschafft hatten, die Produktion zu steigern, der Mangel an den notwendigen landwirtschaftlichen Geräten und die Weigerung der Bauern die Städte zu versorgen, hätten die Bolschewiki zu diesen verzweifelten Maßnahmen gezwungen. Natürlich hielt er solche Methoden für konterrevolutionär, die notwendig ihren Sinn verfehlen mussten. Doch es wäre lächerlich, Männer wie Lenin und Trotzki eines vorsätzlichen Verrats an der Revolution zu bezichtigen. Hatten sie doch ihr Leben der Sache gewidmet, waren verfolgt, verleumdet, für ihre Ideale ins Gefängnis und ins Exil geschickt worden! Sie konnten sich nicht so weit von ihnen entfernt haben!“ [33]

Für die Arbeiterklasse dürfen die angewendeten Mittel nicht in einem Widerspruch zu ihren grundlegenden Zielen stehen.[34] Wir weisen aber die Behauptung zurück, dass ausschließlich der Marxismus, und hier vor allem die Bolschewiki, mit der Gefahr in solche Methoden abzugleiten, also mit dem Eindringen der Ideologie der herrschenden Klasse in sein Denken, konfrontiert ist und dagegen kämpfen muss. Die von Goldman beschrieben Diskussionen sind kennzeichnend dafür, dass der Anarchismus diesbezüglich immer enorme Schwierigkeiten hatte. Ein Beispiel der Anwendung von Mitteln, welche dem Ziel vieler Anarchisten widersprechen, ist das Attentat von Fanny Kaplan am 30. August 1918 auf Lenin, mit der Rechtfertigung Lenin habe die Revolution verraten. Aufgrund einer langen Tradition von Attentaten auf verhasste Exponenten des zaristischen Regimes, welches die Anarchisten einer brutalen Repression unterwarf, griff ein Teil des russischen Anarchismus mit der sog. „Propaganda der Tat“ immer wieder auf Mittel zurück, welche durch den Zweck geheiligt würden. Und wie das Attentat auf Lenin zeigt, nun auch innerhalb der Arbeiterklasse!

Es geht nicht darum den verhassten Figuren des Zarismus Tränen nachzuweinen. Die Methoden eines Teils des russischen Anarchismus drückten vielmehr auch das reduzierte Verständnis aus, den Feudalismus an Personen festzumachen. Dieser fußte aber nicht, wie es Berkman richtig gegenüber Goldman vertrat, auf der Böswilligkeit einzelner, sondern auf sozialen und ökonomischen Grundlagen, die in einem Widerspruch zu den Bedürfnissen der ausgebeuteten Schichten stand. Die „Propaganda der Tat“, die individuelle Gewalt gegen verhasste Exponenten des Feudalismus, verstanden als „Zündfunke zum Denken“, drückte aber auch eine falsche Auffassung über die Entwicklung des Klassenbewusstseins aus, da diese Methoden keinesfalls die Notwendigkeit eines solidarischen Kampfes als gesamte Klasse gegen die Grundlagen der Ausbeutung aufzeigen.

Es ist nachvollziehbar, weshalb sich Goldman für Kaplan als Gefangene engagierte, da diese von der Tscheka gefoltert wurde. Sie rief selbst nicht zu solchen Methoden auf, zu denen Kaplan gegriffen hatte. Weshalb jedoch wagte sie sich in dieser Situation nicht einen Schritt weiter zu gehen und eine Kritik an „jesuitischen“ Methoden in den Reihen des Anarchismus zu machen, es stattdessen aber auf die Bolschewiki zu reduzieren?

Goldman litt schwer unter den Hinrichtungen befreundeter Anarchisten wie Fanya Baron durch die Tscheka im September 1921, auf Billigung Lenins. Auch wenn Lenin eine der entschlossensten und klarsten Persönlichkeiten in der Oktoberrevolution war, sind solche Schritte unannehmbar. Goldman formulierte eine immer stärkere Antipathie vor allem gegenüber Trotzki und Lenin, den sie als schlauen und listigen Jesuiten bezeichnete. [35]

Die unkontrollierbar gewordene Tscheka begann mit Erschießungen zur Einschüchterung, Geiselnahmen zur Erpressung und mit Folter. Dies oft auch gegenüber politischen Oppositionsgruppen aus den Reihen der Bolschewiki selbst, gegen Anarchisten, aber auch gegen Arbeiter, die sich an Streiks beteiligten. Goldmans Kritik gegen Todesstrafen an Gefangenen - also wehrlosen Individuen - seien es auch Mitglieder bürgerlicher konterrevolutionärer Organisationen, Kriminelle oder inhaftierte Mitglieder der Weißen Armeen, ist absolut berechtigt, da solche Schritte nicht nur sinnlose Gewaltakte darstellten, sondern vielmehr auch Ausdruck einer Haltung, dass Menschen ihre Auffassungen, Verhaltensweisen und politischen Positionen nicht ändern können und deshalb kurzum liquidiert werden müssten.[36]

Innerhalb der Bolschewiki entbrannte schon 1918 ein Kampf gegen die Unterdrückung oppositioneller Stimmen in der Partei und der Arbeiterklasse. Obwohl Goldman selbst Zeugin unterschiedlicher Positionen und Auseinandersetzungen in den Reihen der Bolschewiki wurde, so zeichnet sie zu deren Verurteilung als „Jesuiten des Marxismus“ ein allzu simples Bild, als wären diese wie aus einem Stück Eisen und Feuer geschmiedet, was nie der Realität entsprach. Das zentrale Problem war ein Abgleiten in eine militaristische Herangehensweise an politische Probleme, welche das Leben innerhalb der Arbeiterklasse überging, welcher die Mehrheit der Bolschewiki erlag, im falschen Glauben, damit die bedrängte Revolution zu retten. Es war keine in ihren Wurzeln angelegte marxistische Gier nach der Macht.

Der Marxismus stand nie auf dem Prinzip, dass der Zweck die Mittel heiligt, und es war auch keinesfalls ein Prinzip oder eine Praxis der Bolschewiki vor und in der Oktoberrevolution. Kronstadt jedoch, tragischer Höhepunkt der zunehmenden Repression, zeigte, wie weit die Degeneration schon fortgeschritten war und welche Formen und welche Logik sie annahm. Deren politische Rechtfertigung beinhaltete tatsächlich die Idee des Zwecks (den „eisernen Zusammenhalt“ Russlands gegenüber den internationalen Angriffen), der die Mittel (eine blutige Niederschlagung) rechtfertige.

Goldmans persönliche und absolut demoralisierende Erfahrungen in Kronstadt führte zum Bruch mit den Bolschewiki und stellte einem Wendepunkt dar. Sie war in den letzten Tagen vor der Niederschlagung der Kronstädter Matrosen, Soldaten und Arbeiter Mitglied einer Delegation (Perkus, Pertrowski, Berkman, Goldman), welche versuchte, zwischen den Kronstädtern und der Roten Armee zu verhandeln. „Kronstadt zerschnitt den letzten Faden, der mich noch mit den Bolschewiki verband. Die mutwillige Schlächterei, die sie durchgeführt hatten, sprach deutlicher gegen sie als alles je zuvor. Was immer auch für Täuschungen schon in der Vergangenheit gemacht worden waren, die Bolschewiki stellten sich jetzt als die verderblichsten Feinde der Revolution heraus. Ich konnte mit ihnen nichts mehr zu tun haben.“ [37]

Kronstadt war eine furchtbare Tragödie, viel mehr als lediglich ein „Fehler“.

Die Niederschlagung Kronstadts mit mehreren Tausend toten Proletariern (auf beiden Seiten!), gründete auf einer absolut falschen Einschätzung der führenden Bolschewiki über den Charakter dieses Aufstandes. Dies vor allem, weil die internationale Bourgeoisie perfide den Moment ergriff und sich heuchlerisch mit den Aufständischen „solidarisch“ erklärte, aber auch in Angst und Panik, Kronstadt würde ins Lager der Konterrevolution überlaufen oder sei bereits Ausdruck der Konterrevolution. Goldman antwortet richtig auf diese zwei Aspekte. Die wichtigste Lehre aus der Kronstädter Tragödie jedoch konnte sie in ihrer Autobiografie von 1931 nicht ziehen, gleich wie die Marxistische Linke, welche   zur Zeit des Aufstandes dessen Niederschlagung im Wesentlichen unterstützte, mit Ausnahme von Miasnikov welcher sich von Beginn weg dagegen gewehrt hatte. Selbst mit zeitlichem Abstand gelang es Goldman nicht, im Unterschied zu einigen Teilen der Kommunistischen Linken, zu formulieren, dass die Gewalt gerade innerhalb der Arbeiterklasse unnachgiebig zu verwerfen ist und ein Prinzip darstellen muss. [38]

Wie schon bei der Frage des Staates macht Goldman es sich auch bei der Frage des angeblichen „Jesuitismus von Beginn weg“ der Bolschewiki etwas allzu leicht. Sie deklariert die Bolschewiki als Jesuiten, was absolut nicht mit deren Geschichte übereinstimmt. Die Dynamik der Mehrheit der Bolschewiki, die 1921 in Kronstadt nicht vor der Anwendung der Gewalt als angeblich auserwähltes Mittel im Klassenkampfe zurückschreckte, war mitnichten „ihre Tradition“, sondern vielmehr Ausdruck ihres fortschreitenden Degenerationsprozesses.

Statt sich ganz grundsätzlich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Mittel überhaupt im Klassenkampf und in der Revolution angewendet werden dürfen, vor der ausnahmslos alle Revolutionäre standen, war Goldmans leichtfertige Jesuiten-Etikette, welche sie den Bolschewiki anhängte, vielmehr eine Barriere davor, die Degenerierung der Revolution als einen schrittweisen Prozess zu verstehen.

Schweigen oder Kritik?

Eine Frage zieht sich wie ein roter Faden durch Goldmans Schriften über Russland: Wann ist es berechtigt, eine offene Kritik gegenüber den Bolschewiki zu formulieren? Mit großer Empörung beschreibt sie ein Treffen mit Anarchisten in Petrograd: „Diese Beschuldigungen und Denunziationen trafen mich wie ein Schlag mit dem Hammer, und ich war wie betäubt. Angespannt lauschte ich mit jeder Faser und ich war kaum in der Lage zu begreifen, was ich hörte. Das konnte nicht wahr sein – diese ungeheuerlichen Anschuldigungen! (…) Die Männer in jenem düsteren Saal mussten verrückt sein, dachte ich. Unmögliche, lächerliche Geschichten, böswillige Verurteilungen der Kommunisten, sie mussten doch wissen, dass die konterrevolutionären Bande, die Blockade und die Weißen Generäle, die die Revolution angriffen, dafür verantwortlich waren. Ich sagte, was ich dachte, doch meinen Stimme ging in Hohn und Spottgelächter unter.“ [39]

Wie schon bei der Frage der unmittelbar nach der Revolution zu erwartenden Veränderungen, zeigt Goldmans Konsternation über die Positionen anderer Anarchisten auf, dass es alles andere als einen einheitlichen Anarchismus, gerade bezüglich der Loyalität gegenüber den Bolschewiki, gab. Der Anarchismus in Russland hatte sich erneut in verschiedene Lager gespalten.[40] Die folgenden Passagen aus den Schriften Goldmans zeugen erneut von ihrer verantwortungsvollen Haltung, eigene Unsicherheiten nicht zu verschweigen, sie zeigen aber auch die Entwicklung ihrer Haltung gegenüber den Bolschewiki.

„Ich verstand die Haltung meiner ukrainischen Freunde sehr gut. Sie hatten während des letzten Jahres enorm gelitten, sie sahen die großen Erwartungen an die Revolution zerschellen und Russland unter der Ferse des bolschewistischen Staates zerbrechen. Dennoch konnte ich ihren Wünschen nicht folgen. Ich glaubte noch an die Bolschewiki und an deren revolutionäre Ehrlichkeit und Integrität. Dazu war ich überzeugt, dass ich, solange Russland von außen bedroht war, Kritik aussprechen dürfe. Ich wollte kein Öl ins Feuer der Konterrevolution gießen. Deshalb musste ich Schweigen und an der Seite der Bolschewiki, den organisierten Verteidigern der Revolution, stehen. Doch meine russischen Freunde gähnten über diese Sichtweise. Sie meinten ich würde die Kommunistische Partei mit der Revolution verwechseln, doch dies sei nicht dasselbe, sondern im Gegenteil einander entgegengestellt, ja sogar antagonistisch.“ [41]

„Bei den ersten Nachrichten vom Krieg mit Polen hatte ich meine kritische Haltung zurückgestellt und meine Dienste als Frontschwester angeboten. (…) Er (Sorin) versprach, die zuständigen Behörden über mein Angebot zu unterrichten. Aber nichts geschah. Das hatte selbstverständlich keinen Einfluss auf meinen Entschluss, dem Land zu helfen, in welcher Eigenschaft auch immer. Nichts war wichtiger in diesem Augenblick. (…) Weder bestritt ich Machnos Verdienste an der Revolution im Kampf gegen die Truppen der Weißen noch die Tatsache, dass seine Armee eine spontane Massenbewegung der Bauern war. Ich glaubte allerdings nicht, dass der Anarchismus sich irgendetwas von militärischen Aktivitäten versprechen konnte oder dass unsere Propaganda von militärischen und politischen Siegeszügen abhängen sollte. Das war jedoch nebensächlich. Ich konnte mich weder ihnen noch weiterhin den Bolschewisten anschließen. Ich war bereit, offen zuzugeben, dass ich mich schwer geirrt hatte, als ich Lenin und seine Partei als die wahren Verfechter der Revolution verteidigt hatte. Aber ich wollte nicht in offene Opposition zu ihnen treten, solange  Russland von den äußeren Feinden angegriffen wurde.“ [42]

„Die große Schuld die ich gegenüber den Arbeitern in Europa und Amerika hatte bedrückte mich: Ich musste ihnen die Wahrheit über Russland mitteilen. Doch konnte ich dies tun, solange das Land an verschiedenen Fronten belagert war? Ich würde damit in die Hände von Polen und Wrangel arbeiten. Zum ersten Mal in meinem Leben hielt ich mich zurück, große soziale Übel aufzudecken. Ich hatte das Gefühl, das Vertrauen der Massen zu verraten, vor allem der amerikanischen Arbeiter, deren Glauben ich sehr liebte.“ [43]

„Ich hielt es für notwendig, solange zu schweigen, wie die vereinten Mächte des Imperialismus Russland an der Gurgel hielten. (…) Nun aber ist die Zeit des Schweigens vorüber. Ich werde daher offen aussprechen, was ausgesprochen werden muss. Dabei bin ich mir der Schwierigkeiten bewusst. Ich weiß, dass die Reaktionäre, die Feinde der Russischen Revolution, meinen Worten eine falsche Deutung geben werden, ich weiß auch, dass ihre sogenannten Freunde, welche die Kommunistische Partei Russlands mit der Russischen Revolution verwechseln, über mich den Stab brechen werden. Es ist daher notwendig, meine Stellung zu beiden klarzulegen.“ [44]

Es gab andere Revolutionäre wie Rosa Luxemburg, welche schon sehr früh eine Kritik an den Bolschewiki formuliert hatte, auch wenn sie ihnen ihre ganze Solidarität zusprach und ihre entscheidende Rolle in der Russischen Revolution verteidigte. Sie schrieb 1918 ihre Broschüre Zur Russischen Revolution, zur gleichen Zeit als Goldman in MOTHER EARTH mit überschwänglichem Enthusiasmus den Artikel Die Wahrheit über die Bolschewiki veröffentlichte. Gerade das Beispiel Rosa Luxemburgs zeigt auf, wie schwierig es war den Entscheid zur Veröffentlichung einer Kritik im richtigen Moment zu fällen, immer mit dem Zweifel der Revolution den Rücken zu fallen. Luxemburg legte in ihrem Text, im Gefängnis von Moabit geschrieben, eine entschiedene Kritik an den Bolschewiki dar, mit dem Ziel, durch einen Klärung der in Russland gestellten Probleme, eine solidarische Unterstützung zu leisten: „Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h. für Diktatur nach bürgerlichem Muster. (…) Aber diese Diktatur muss das Werk der KLASSE, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d.h. sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen. Genauso würden auch bisher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Zwang des Weltkriegs, der deutschen Okkupation und aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte sozialistische Politik verzerren müssen. (...) Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen.“

Luxemburg hielt sich nicht zurück. Weshalb folgte Goldman dem Beispiel Rosa Luxemburgs nicht, obwohl sie in ihren Schriften mehrmals ihre Trauer über die Ermordung Luxemburgs im Januar 1919 ausgedrückt hatte und deren Positionen kannte? Weshalb nahm sie in ihrer Broschüre Der Niedergang der Russischen Revolution nie Bezug zur Kritik Luxemburgs, obwohl diese schon drei Jahre zuvor niedergeschrieben worden war? Der Grund dafür ist einfach. Luxemburgs Text wurde Opfer der enormen Angst mit einer Kritik der Revolution ein Messer in den Rücken zu stoßen und der Bourgeoise einen Dienst zu erweisen. Die Veröffentlichung von Luxemburgs Kritik an den Bolschewiki, welche sie sofort nach der Niederschrift publizieren wollte, wurde von ihren nächsten politischen Gefährten bewusst verhindert und erst vier Jahre später, 1922, veröffentlicht. [45]

Leider hatte Goldman nicht Gelegenheit von Luxemburgs Kritik an den Bolschewiki inspiriert zu werden. Ihre Überschwänglichkeit bei der Ankunft in Russland ist angesichts des Horrors mit dem der Weltkrieg die Menschheit in eine Dunkelheit geworfen hatte verständlich. Goldmans „Sowjetrussland! Geheiligter Boden“ und ihre spätere totale Desillusionierung sind aber auch ein Beispiel dafür, dass eine Euphorie meist dazu verdammt ist in großer Enttäuschung zu enden. Es ist nicht verwunderlich, dass sie ihre anfängliche Verteidigung der Bolschewiki 13 Jahre später sogar als „naiv“ bezeichnete.

Luxemburg hatte nie den Hang zur politischen Überschwänglichkeit und machte ihre Kritik auf der Basis erster Erfahrungen in den Monaten nach dem Oktober 1917. Sie schloss mit den berühmten Worten, dass die Zukunft dem Bolschewismus gehört. Goldman schrieb ihre Kritik drei Jahre danach, auf der Basis ihrer eigenen Erfahrung im Russland einer späteren Phase der Revolution - nach der Entmachtung der Arbeiterräte, in einer Zeit der entfesselten Gewalt der Tscheka und dem nicht mehr aufzuhaltenden Verschmelzen der Bolschewistischen Partei mit dem Staatsapparat. Dennoch hegte sie größte Hoffnungen: „Lenin und seine Gefolgsleute fühlen die Gefahr. Ihre Angriffe auf die Arbeiteropposition und die Verfolgungen der Anarchosyndikalisten nehmen fortgesetzt zu an Schärfe und Heftigkeit. Wird der Stern des Anarcho-Syndikalismus im Osten aufgehen? Wer weiß - Russland ist das Land der Wunder.“ [46] Was die Analyse Luxemburgs zu Ende 1921 gewesen wäre, nach dem Einzug einer unübersehbaren Degeneration und nach Kronstadt, bleibt traurigerweise eine Hypothese.

Goldman schwankte zwischen Schweigen und ihrem „Ich muss meine Stimme gegen die Verbrechen im Namen der Revolution erheben“. Doch wie sollte Letzteres geschehen? Sie wurde schon während ihrer Zeit in Russland mehrmals von der bürgerlichen New Yorker Zeitung WORLD angefragt Artikel über Russland zu veröffentlichten. Goldman lehnte erst ab, nach harten Auseinandersetzungen mit Berkman der strickte gegen solche Schritte war, mit dem Argument alles in der bürgerlichen Presse Veröffentlichte würde lediglich der Konterrevolution in die Hände arbeiten, und vorschlug eigene Flugschriften zur Verteilung an die Arbeiter herzustellen. Einige Wochen nachdem Goldman Russland Ende 1921 verlassen hatte, erlaubte sie WORLD ihre Texte zu publizieren. „Ich schrieb, dass ich es eigentlich vorzöge, meine Meinung in der liberalen Arbeiterpresse der Vereinigten Staaten kundzutun und eher geneigt wäre, denen meine Artikel sogar gratis zu überlassen, als sie der New Yorker WORLD oder ähnlichen Publikationen zu überlassen. (…) Nun da ich die Wahrheit wusste, sollte ich sie unterdrücken und schweigen? Nein, ich musste protestieren, ich musste hinausschreien, welch ungeheurer Betrug sich als Recht und Wahrheit ausgab, und wenn es in der bürgerlichen Presse sein müsste.“ [47]     

Auch wenn Goldman in Russland monatelang vor öffentlicher Kritik zurückschreckte, da sie der Revolution nicht in den Rücken fallen wollte, so wurde mit diesem unüberlegten Entscheid tatsächlich der Stab über sie gebrochen. „Nicht nur meine kommunistischen Ankläger schrien: „Kreuzigt sie!“ Es gab auch einige anarchistische Stimmen im Chor. Es waren genau die Leute, die mich auf Ellis Island, auf der „Budford“ und während des ersten Jahres in Russland bekämpft hatten, weil ich mich geweigert hatte, die Bolschewiki zu verdammen, bevor ich nicht die Möglichkeit gehabt hatte, ihr Konzept zu überprüfen. Täglich bestätigten die Nachrichten aus Russland über die dauerhafte politische Verfolgung jede Tatsache, die ich in meinen Artikeln und meinem Buch beschrieben hatte. Es war verständlich, dass Kommunisten ihre Augen vor der Realität verschlossen, doch auf Seiten derer, die sich Anarchisten nannten, war es verachtenswert, besonders nach der Behandlung die Mollie Steimer in Russland erhalten hatte, nachdem sie in Amerika so tapfer für das Sowjetregime eingetreten war.“ [48]

Der Vorwurf von Teilen der amerikanischen Arbeiterklasse, als Verräterin aufzutreten, raubte ihrer Analyse und ihren Reflexionen viel Anerkennung und Beachtung. In einer Welt, in der sich zwei Klassen absolut antagonistisch gegenüberstehen, ist es eine enorme Illusion, ja und höchst gefährlich, dass irgendein Instrument der Bourgeoisie, auch wenn nur punktuell, als Sprachrohr für die Arbeiterklasse nutzen zu wollen. Schade, dass eine so standfeste Militante in diese Falle tappte!

Das Gemeinsame an Goldman und Rosa Luxemburg ist zweifellos der gewaltige Wille die Probleme der Russischen Revolution zu verstehen, den revolutionären Charakter des Oktobers 1917 zu verteidigen und die dramatische Situation nicht unkritisch zu übergehen. Goldman akzeptierte nie eine taktische Methode die Bolschewiki lediglich als das „geringere Übel“ zu betrachten und sie nur deshalb, solange der Krieg gegen die Weißen Truppen andauerte, zu unterstützen. Eine Position, die in Russland vom Anarchisten Machajaski in der Zeitschrift THE WORKERS REVOLUTION offen vertreten wurde.

Eine Kritik an der Politik der Bolschewiki offen zu vertreten war außerhalb Russlands weniger riskant als in Russland selbst. Doch die Zweifel Goldmans rührten nicht von einer Angst oder Repressionsmaßnahmen gegen ihre Person. Aufgrund ihres Status als bekannte Revolutionärin aus den USA genoss sie einen viel größeren Schutz als andere revolutionäre Immigranten. Sie direkt der Repression zu unterwerfen hätte den Ruf der Bolschewiki innerhalb der amerikanischen Arbeiterklasse stark gefährdet. Auch wenn sie ihre Sympathie mit der Arbeiteropposition nicht verbarg und sich für inhaftierte Anarchisten engagierte (z.B. als Sprecherin an der Beisetzung Kropotkins), wurde sie von der Tscheka lediglich mit dem Ziel einer „sanften“ Abschreckung überwacht.

Hätte eine Kritik das leuchtende Beispiel der Oktoberrevolution innerhalb der internationalen Arbeiterklasse zerstört? Sicher nicht. Die Alternative war nicht Mund halten oder Anprangern der Bolschewiki. Im Gegenteil, eine reife politische Kritik an der Politik der Bolschewiki war damals eine politische Unterstützung für die gesamte internationale revolutionäre Welle. Die Arbeiterklasse ist die Klasse des Bewusstseins, nicht der unüberlegten Aktion. Deshalb ist die Kritik am eigenen Vorgehen und den gemachten Fehler ein Erbe der Arbeiterbewegung, welches gerade auch in solch dramatischen Zeiten aufrechterhalten werden musste. Es entspricht nicht dem Charakter der Arbeiterklasse ihre Probleme zu verheimlichen, so wie es die Bourgeoisie in ihrem innersten Wesen repräsentiert. Wie der Text Luxemburgs aufzeigt, sollte eine Kritik an den Bolschewiki nicht lediglich auf Empörung beschränkt sein. Und sie sollte zur Unterstützung des Kampfs gegen die Degeneration der Revolution eine Reife ausdrücken. Dies war später ein Kriterium für die Italienische Kommunistische Linke, keine hastige Analyse und Kritik zu äußern, welche es nicht ermöglicht, Lehren zu ziehen.

Goldmans Analyse der Russischen Revolution war keineswegs auf Empörung beschränkt. Doch sie zeigt an verschiedenen Stellen eine Gefahr auf: Mit ihren Beschreibungen Lenins und Trotzkis als „listige Jesuiten“ manifestiert sie das Abgleiten in eine Methode der Kritik, die sich auf Personen fixiert, auch wenn diese einen großen Einfluss auf die Politik der Bolschewiki ausübten und ein Charisma besaßen. Lenin ist nicht die Entmachtung der Räte und die Verschmelzung mit dem Staat, Trotzki nicht die Niederschlagung Kronstadts.

Gegenüber Trotzki vertrat Goldman später die Position, dass er aufgrund seiner Taten – v.a. Kronstadt – ein Wegbereiter des Stalinismus gewesen sei.[49] Die angewendete Gewalt als Kommandant der Roten Armee in Kronstadt basierte nicht auf persönlichen Neigungen, sondern auf der Entscheidung der gesamten bolschewistischen Macht und - erinnern wir uns daran - im damaligen Moment von der ganzen Marxistischen Linken vertreten wurde. Die Tragödie von Kronstadt war eine Illustration einerseits der Unreife der Arbeiterbewegung bezüglich der Frage der Gewalt (Gewalt innerhalb der Arbeiterklasse), und andererseits der Degeneration der Russischen Revolution, welche später in die offen konterrevolutionäre Politik des „Sozialismus in einem Land“ und das Auftauchen Stalins als Führer der weltweiten Konterrevolution führte. Was auch immer die Unzulänglichkeiten in Trotzkis politischer Denunzierung Stalins, seines organisierten Repressionsapparates und der physischen und politischen Niederschlagung der Arbeiterklasse waren, sie stellte dennoch eine proletarische Reaktion dar.      

Der Wert von Goldmans Analyse besteht darin, die zentralen Fragen vor der die Russische Revolution stand aufgeworfen zu haben. Die Widersprüche in ihrer Analyse und diejenigen Schlussfolgerungen, welche wir absolut nicht teilen sind nicht Grund ihre Anstrengungen in Bausch und Bogen zu verwerfen oder sie zu ignorieren. Sie sind im Gegenteil Ausdruck der enormen Schwierigkeit schon 1922 eine gradlinige Analyse des russischen Problems zu erstellen. Damit stand sie nicht alleine. Es kommt ihr aber das Verdienst zu, die Verschmelzung mit dem Staatsapparat, die Machtergreifung durch die Partei oder die Niederschlagung Kronstadts verworfen zu haben.

In diesem Sinne leistete sie einen wichtigen Beitrag für die Arbeiterklasse, der begrüßt, aber auch kritisiert werden muss. Goldman behauptete nie, dass der Oktober 1917 die Geburt des späteren Stalinismus gewesen sei, wie es die verlogenen Kampagnen der herrschenden Klasse bis heute tun, sondern sie verteidigte aufs hartnäckigste die Oktoberrevolution.

7.1.2018       Mario


[1] Der Niedergang der Russischen Revolution (1922), ihre erste und kompakteste Analyse. My disillusionment in Russia (1923/24), Gelebtes Leben (1931) v.a. Kapitel 52 über Russland.

[2] Diese Frage beschäftigte sie enorm, was angesichts der katastrophalen Situation der Kinder mehr als verständlich ist. In dieser Situation der Misere waren die Kinder, welche oft eines oder gar beide Eltern durch den Krieg verloren hatten, die Hilflosesten. Dies vor allem auch gegenüber den herzlosen kleinen Bürokraten, welche weder Skrupel noch Moral besaßen. Sie war dem gegenüber sicher besonders sensibel, da sie als Krankenschwester die Möglichkeit hatte „Vorzeigeinstitutionen“ zu besuchen.

[3] My disillusionment in Russia, Vorwort (dieses Buch existiert nicht in deutscher Sprache. Die Übersetzungen sind von uns)

[4] Die Wahrheit über die Bolschewiki

[5]Gelebtes Leben, Kapitel 52

[6]ebenda

[7]My disillusionment in Russia, Kapitel The socialist republic resorts to deportation

[8]Der Niedergang der Russischen Revolution, Vorwort

[9]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Lage des Kindes in Russland

[10]Ein Ausdruck in Anlehnung an das berühmte Buch von Nikolaj Gogol aus dem Jahr 1842. Die Methoden und das Schmarotzertum der Staatsbürokratie waren eine tragische Wiederholung gewisser Techniken der Selbstbereicherung unter dem Feudalismus.

[11]Dazu unser Artikel Der Niedergang der Russischen Revolution https://de.internationalism.org/rusrev06 [164]

[12]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Kräfte die die Revolution niederschlugen

[13]Volin (W.M. Eichenbaum) Die unbekannte Revolution, Kapitel Die Konterrevolution. Volin geht sogar soweit zu behaupten, dass die internationale Intervention gegen Russland meist übertrieben dargestellt sei und zu einer Legende gemacht wurde, welche durch die Bolschewiki in die Welt gesetzt worden sei.

[14]Siehe dazu unseren Artikel Die internationale Bourgeoisie gegen die Oktoberrevolution in der Internationalen Revue Nr. 160, engl., franz., span. Ausgabe

[15]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Kräfte die die Revolution niederschlugen

[16]Gelebtes Leben, Kapitel 52

[17]ebenda

[18]Die Übergangsperiode eröffnet sich nach der Machtübernahme der Arbeiterräte bis zur Abschaffung des Staates. Während dieser Periode muss eine Reihe von Maßnahmen getroffen werden, wie die Abschaffung der geldlichen Form des Lohns und die Sozialisierung des Konsums und der öffentlichen Güter (Transport, Wohnungen, Erholung, etc.). Dazu empfehlen wir unsere Artikel Der Staat in der Übergangsperiode in der Internationalen Revue Nr. 7 in Deutsch und Probleme der Übergansperiode in Nr. 1 (engl., franz., span. Ausgabe der Revue). Selbst wenn die sofort eingeführten Maßnahmen beschränkt sind, müssen einige sofort und mit größter Entschlossenheit durchgesetzt werden. So zum Beispiel der kostenlose Transport, die Unterbringung von Obdachlosen in öffentlichen Wohnhäusern oder solchen von Reichen. Überdies das Verbot von Kinderarbeit und jeglicher Form von Zwangsarbeit und von Prostitution.

[19]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Mein Besuch bei Peter Kropotkin

[20]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Gewerkschaften in Russland

[21]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Lage des Kindes in Russland

[22]My disillusionment in Russia, Kapitel Another visit to Peter Kropotkin

[23]My disillusionment in Russia, Nachwort

[24]Der Niedergang der Russischen Revolution, Einführung

[25]ebenda, Kapitel Die Kräfte welche die Revolution Niederschlugen

[26]OCTOBRE Nr. 2, März 1938, Die Frage des Staates

[27]Rudolf Rocker, Über das Wesen des Föderalismus im Gegensatz zum Zentralismus, 1922

[28]Goldman beschreibt die Tscheka sehr treffend mit folgenden Worten: „Anfangs wurde die Tscheka durch das Kommissariat des Innern, die Sowjets und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei kontrolliert. Nach und nach aber entwickelte sie sich als die mächtigste Organisation in ganz Russland. Die Tscheka ist heute nicht mehr ein Staat im Staate, sondern ein Staat über dem Staate. Ganz Russland, bis zu den entlegensten Dörfern, ist mit einem Netze von Tschekas bedeckt.“ Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Tscheka  

[29]My disillusionment in Russia, Kapitel Die Verfolgung der Anarchisten

[30]Siehe unsere Broschüre The period of transition from capitalism to socialism - The withering away of the state in the marxist theory 

[31]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Kräfte die die Revolution niederschlugen und Die Sowiets. Der Jesuiten-Orden wird meist als Symbol einer machtbesessenen, rücksichtslosen Politik verwendet, welche dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ folgt.

[32]Gelebtes Leben, Kapitel 52

[33]ebenda

[34]Siehe dazu auch unseren Artikel Terror, Terrorismus und Klassengewalt

[35]Volin ging sogar soweit, Lenin und Trotzki als brutale Reformisten die nie Revolutionäre gewesen waren und bürgerliche Methoden anwenden zu bezeichnen. Die unbekannte Revolution Kapitel Der bolschewistische Staat. Die Konterrevolution   

[36]Diese Frage wird ausführlich im Buch „Das sittliche Antlitz der Revolution“ (1923) behandelt. Geschrieben vom Volkskommissar für Justiz bis März 1918, Isaak Steinberg.

[37]My disillusionment in Russia, Kapitel Kronstadt

[38]Siehe dazu: Kronstadt verstehen. Internationale Revue Nr. 28

[39]Gelebtes Leben, Kapitel 52

[40]Im Frühling 1918 (historisch schon gespalten in Pan-Anarchisten, Individualistische Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten und Anarcho-Kommunisten, deren Abgrenzungen schwer zu definieren sind) polarisierte die Frage des Verhältnisses gegenüber den Bolschewiki aufs Stärkste. Die Frage der Gewalt oder der Einschätzung des Charakters der Oktoberrevolution spielten eine zweitrangige Rolle. Von offener Unterstützung der Bolschewiki (die sog. Sowjet-Anarchisten) bis hin zur Sichtweise, dass die Bolschewiki die Revolution verraten hätten und mit Gewalt anzugreifen seien fand man alles vor. Siehe dazu Paul Avrich: The Russian Anarchists, 1967, Kapitel The Anarchists and the Bolshevik regime      

[41]My disillusionment in Russia, Kapitel In Charkov

[42]Gelebtes Leben, Kapitel 52

[43]My disillusionment in Russia, Kapitel Back in Petrograd

[44]Der Niedergang der Russischen Revolution, Vorwort

[45]Paul Frölich, einer ihrer politischen Gefährten, beschreibt, in seiner Luxemburg-Biografie Gedanke und Tat von 1939 diesen legendenumwobenen Hergang: Paul Levi publizierte Zur Russischen Revolution im Laufe des Jahres 1922 (also nach Goldmans Broschüre), nachdem er mit der KPD gebrochen hatte. Levi behauptete, Leo Jogiches (der sich gegen die Veröffentlichung gewandt hatte, mit dem Argument Luxemburg hätte in der Zwischenzeit ihre Meinung geändert) habe das Manuskript vernichtet. J.P. Nettl legt in glaubwürdiger Weise dar, dass es Levi selbst war, der starken Druck auf Luxemburg ausgeübt hatte, den Text zurückzuhalten, mit dem Argument, die Bourgeoise werde ihn gegen die Bolschewiki missbrauchen. Klar ist, dass Luxemburgs Text nicht zufällig in den Wirren der Revolution in Deutschland unterging, sondern im Gegenteil in den „Wirren der Konfusionen“ über die Notwendigkeit einer offenen Kritik verhindert wurde!              

[46]Der Niedergang der Russischen Revolution, Kapitel Die Gewerkschaften in Russland

[47]Gelebtes Leben, Kapitel 53

[48]ebenda, Kapitel 54

[49]Trotzki protestiert zu viel, Juli 1938

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Internationale Revue 55

Internationale Revue – 2019

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