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Weltrevolution - 2005

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Weltrevolution Nr. 128

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Beschäftigungspakte: Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse

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Nachdem im Herbst 2004 bereits bei Karstadt und bei Opel durch "Beschäftigungspakte" zwei "namhafte" Konzerne und damit Tausende von Arbeitsplätze "gerettet" worden sein sollen, folgte Volkswagen wenige Wochen später diesem Beispiel. Nachdem die rund 100.000 Beschäftigten im Inland Maßnahmen hinnahmen, welche dem Konzern bis zum Ende des Jahrzehnts Einsparungen bis zu 30% bescheren sollen, kündigte VW an, vorläufig auf die angedrohten 30.000 betriebsbedingten Kündigungen verzichten zu wollen.

Überhaupt wurde das Jahr 2004 im Rückblick als das Jahr der Beschäftigungspakte gefeiert. Nachdem Siemens (in Bocholt und Kamp-Lintfort) und Daimler-Chrysler mit "gutem Beispiel" vorangegangen waren, folgten der Reihe nach die Großkonzerne der Automobilbranche und der Exportwirtschaft. Das Dienstleistungsgewerbe sowie der öffentliche Dienst zogen nach. Auch wenn die Deutsche Bahn oder die Krankenhäuser nicht ohne weiteres mit "Standortverlagerungen" wie in der Industrie drohen können: Die Drohung, Arbeitsplätze radikal abzubauen, wenn man nicht bereit sei, für weniger Geld länger zu arbeiten, reichte zumeist aus, um die Beschäftigten erfolgreich im Sinne des Kapitals zu erpressen. Dennoch stießen diese Erpressungen auf den Widerstand der Arbeiterklasse. Vor allem bei Daimler-Chrysler und bei Opel setzten sich die Arbeiter zur Wehr. Und auch gegenüber den Hartz-Angriffen gegen die Erwerbslosen, und damit gegen die gesamte Arbeiterklasse, gingen die Lohnabhängigen auf die Straße. Somit war das Jahr 2004, vom Standpunkt der Arbeiterklasse, ein Jahr der Wiederaufnahme des Kampfes.

Wie recht die Arbeiter damit hatten, sich selbst zu verteidigen, statt den verlogenen Versprechungen der "Beschäftigungspakte" Glauben zu schenken, bestätigt inzwischen die Entwicklung bei Opel. Nachdem die Betriebsräte und Gewerkschaftsvertreter dort - wie zuvor bei Karstadt - ebenso stolz wie verlogen die Abwendung betriebsbedingter Kündigungen verkündet hatten, kam Mitte Januar 2005 die Wahrheit heraus. Da bis dahin nur 100 Personen sich "freiwillig" für eine "Auffanggesellschaft" gemeldet hatten, welche nur deshalb gegründet wurde, um die Massenentlassungen bei Opel zu kaschieren, hieß es nun, dass zunächst bis zu 6.500 betriebsbedingte Kündigungen nunmehr doch unvermeidbar geworden seien.

Ein heilsamer Prozess der Desillusionierung

Auch wenn die Arbeiterklasse noch kein Mittel gefunden hat, um sich wirkungsvoller gegen die Erpressungen ihres Klassenfeindes zu wehren, ist es bereits positiv, wenn sie den Täuschungen der Besitzenden misstraut. Der Verlust der Illusionen kann zwar zunächst noch lähmend auf die Kampfkraft der Arbeiter wirken - wenn man noch keine eigene, positive Kampfperspektive besitzt. Die Ernüchterung angesichts der Realität erzeugt weder automatisch noch sofort, eine proletarische Perspektive. Aber der Verlust der Illusionen ist die Vorbedingung dafür, indem es die Klasse erahnen läßt, dass es innerhalb des Kapitalismus keine Lösung gibt. Gerade deshalb hat der Marxismus stets darauf hingewiesen, dass es die Aufgabe der Revolutionäre ist, die Wahrheit auszusprechen, "zu sagen, was ist", wie Rosa Luxemburg es formulierte.

Die Erpressung mittels angedrohter "Standortverlagerung" ist jedenfalls sehr geeignet, um die Illusionen der "Sozialpartnerschaft" zu vernichten, welche in den Nachkriegsjahrzehnten gedeihen konnten. Damals wurde die Lüge verbreitet, dass die friedliche Zusammenarbeit der Klassen "beiden Seiten" zugute käme, indem durch eine immer höhere Produktivität der Arbeit sowohl die Profite des Unternehmens als auch steigende Löhne gesichert werden könne. Im Kapitalismus - und erst recht im niedergehenden, weltweit vorherrschenden, an seiner eigenen Überproduktion erstickenden Kapitalismus - lässt die steigende Produktivität der Arbeit v.a. das Heer der Arbeitslosen anschwellen. Dadurch wird keine Steigerung, sondern ein freier Fall der Löhne bewirkt. Ein Ergebnis, welches die Lohnabhängigen heute überall am eigenen Leib feststellen können. Wenigstens die Einstellung des Unternehmens ist heute klar geworden. Solange es die Arbeiterklasse noch nicht gelingt, sich wirksamer zu wehren, profitieren die Unternehmen von den Folgen der Massenarbeitslosigkeit auf der ganzen Linie, um die Löhne zu drücken. Indem sie ihre Beschäftigten mit Standortverlagerungen drohen, befinden sie sich in einer sog. "win-win" Situation. Denn ob die Beschäftigten radikale Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen hinnehmen (wodurch es u. U. zunächst wieder lohnenswerter wird, weiterhin in den Industriestaaten produzieren zu lassen), oder ob die Produktion tatsächlich nach Osteuropa oder nach Asien ausgelagert wird: so oder so können die Bosse ihr Ziel der Verbilligung der Produktion erreichen.

Jedoch ist es notwendig dass die Arbeiterklasse ihre Illusionen nicht nur gegenüber den Unternehmern, sondern auch gegenüber den Gewerkschaften verliert. Auch dieser entscheidende Aspekt der proletarischen Desillusionierung ist bereits im Gang. Denn der bewusstere und nachdenklichere Teil der Klasse beginnt festzustellen, dass weder die Gewerkschaften insgesamt noch ihre betrieblichen und basisorientierten Strukturen wie z.B. die Betriebsräte oder die Vertrauensleutekörper im Stande sind, die Interessen der Arbeiter wirksam zu verteidigen. Es ist auch tatsächlich so, dass die auf rein ökonomische Kämpfe ausgerichteten, permanenten, legalen und damit im Staat integrierten "Verhandlungspartner", welche stellvertretend die Interessen bestimmter Gruppen von Arbeitern zu verfechten behaupten, völlig außerstande sind, wirkungsvoll den Angriffen des Kapitals entgegenzutreten. Nur der massive, branchen- und letztendlich grenzübergreifende, selbstorganisierte Kampf, in welchem der politische, revolutionäre Inhalt des ökonomischen Kampfes der Arbeiterklasse bewusst wird, ist dazu im Stande.

Die Gewerkschaften als Speerspitze des kapitalistischen Angriffs

Doch die Gewerkschaften versuchen, ihre wirkliche Rolle in der heutigen, kapitalistischen Gesellschaft eben dadurch zu vertuschen, dass sie sich als die unschuldigen Opfer der Offensive des Kapitals hinstellen. So bilanzierte das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut die Tarifrunde 2004: "In allen Tarifbereichen sehen sich die Gewerkschaften mit Verschlechterungen und Einschnitten in die Tarifstandards konfrontiert." Die Arbeiter, Angestellten und Erwerbslosen sollen aber daraus schlussfolgern: Die Mitglieder, besser noch die Arbeiter insgesamt, sollten sich anstrengen, damit die Gewerkschaften etwas von ihrer früheren Wirksamkeit im Dienste des Proletariats zurückerobern können.

Dieser Sichtweise blendet aus: erstens, dass die Unwirksamkeit der Gewerkschaften nichts Neues ist, sondern sich bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts bemerkbar zu machen begann; und zweitens, dass die Gewerkschaften bereits während des 1. Weltkrieges auf das eigene Überholt-Sein im Dienste der Arbeiterklasse dadurch reagierten, indem sie mit dem bürgerlichen Staat verschmolzen. Sie wurden dadurch zu Waffen der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse.

Unter solchen Illusionen leiden heute auch die politisierten Minderheiten, welche den Kapitalismus ablehnen und sich für die Sache des Proletariats interessieren. So findet man in fast jeder Ausgabe der kapitalismuskritischen, aber eher universitär ausgerichteten Zeitschrift Gegenstandpunkt eine Geißelung der Hilflosigkeit und Unterwürfigkeit der Gewerkschaften - ohne aber die aktive und eigenständige Rolle der Gewerkschaften im Dienste des nationalen Kapitals zu erkennen. Auch eine Gruppe wie die GIS, welche den kapitalistischen Charakter der Gewerkschaften z.T. zur Kenntnis nimmt, erkennt diese aktive Rolle nicht. In der im August 2004 veröffentlichten "Politischen Plattform der Gruppe Internationaler SozialistInnen" liest man: "Heute fungieren die Gewerkschaften auf der Grundlage der politischen Akzeptanz des Lohnsystems als bürgerliche Vermittlungsinstanzen zwischen Arbeitern und Kapitalisten".

Dieser Vorstellung der Gewerkschaften als "Vermittlungsinstanzen" zwischen den Klassen kommt daher, dass man nicht versteht, dass sich die Rolle der Gewerkschaften mit dem Eintritt der bürgerlichen Gesellschaft in seine Niedergangsphase grundlegend gewandelt hat. Nur ein solch historisches Verständnis wird die Arbeiterklasse grundlegend begreifen lassen, dass die Gewerkschaften nicht die Opfer, sondern die Speerspitze der kapitalistischen Angriffe sind und gewiss nicht zwischen zwei Stühlen sitzen.

Die Gewerkschaften als Strategen des nationalen Kapitals

Tatsache ist, dass nicht die Unternehmer, sondern die Gewerkschaften die treibende Rolle bei der Ausarbeitung und Durchsetzung der nationalistischen "Beschäftigungspakte" in Deutschland wie auch anderswo übernehmen. Während die international operierenden deutschen Konzerne zunächst zufrieden sein können, wenn sie ihre Kosten reduzieren, egal wie, kann es den Gewerkschaften alles anders als gleichgültig sein, ob diese Kostenreduzierung durch Produktionsverlagerungen ins Ausland oder durch Lohnraub und Verlängerung der Arbeitszeit "in der Heimat" erzielt werden. Die Gewerkschaften, ebenso wie die Sozialdemokratie, das Militär, die Geheimdienste oder die Ministerialbürokratie, gehören zu den am meisten politisch und strategisch denkenden, die Interessen des nationalen Kapitals insgesamt berücksichtigenden Teile der Bourgeoisie. Diese Fraktionen erkennen am ehesten die politischen Grenzen der Politik der Auslagerung von Produktionsanlagen ins Ausland. Unbegrenzt weitergeführt, würde eine solche Politik zur Untergrabung der sozialen Stabilität an der "Heimatfront" führen. Die Gewerkschaften können, da sie vom Kapital direkt mit der Kontrolle der Arbeiterklasse betraut sind, am wenigsten daran interessiert sein. Darüber hinaus würde eine solche Politik die Finanzquellen des Staates untergraben und damit seine politische und militärische, sprich seine imperialistische Handlungsfähigkeit gefährden. Andererseits kann die nationale Bourgeoisie die Produktion längerfristig nur dann im eigenen Lande halten, wenn diese wirtschaftlich tragbar ist, d.h. die Konkurrenzfähigkeit der eigenen nationalen Unternehmen nicht beschädigt wird. Deshalb sind die Gewerkschaften aktive, bewusste, vorantreibende Faktoren bei der Verarmung der Arbeiterklasse - und keineswegs Opfer oder Vermittler in diesem Prozess.

Für die Arbeiterklasse jedoch kann diese nationalistische Standortkonkurrenz nur ein Resultat haben: die Verschärfung der Abwärtsspirale, welche immer mehr Unsicherheit und Verelendung, immer mehr Krieg und Barbarei mit sich bringt. Nur der solidarische, immer internationaler werdende Klassenkampf der Arbeiterklasse, welche die Überwindung des Kapitalismus vorbereitet und ermöglicht, kann darauf eine wirksame Antwort finden. 20.01.05

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in Deutschland [1]

Geographisch: 

  • Deutschland [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [3]

Die Schwierigkeiten des Bruchs mit der kapitalistischen Linken

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In Weltrevolution 126 veröffentlichten wir einen Artikel unter dem Titel "Politische Klärung ist ein unerlässlicher Bestandteil der Intervention", welcher die Schwierigkeiten von Genossen mit linkskapitalistischer Vergangenheit thematisierte, sich eine proletarische Herangehensweise anzueignen und so einen wirklichen Bruch mit der Bourgeoisie zu vollziehen. Daraufhin erhielten wir einen Leserbrief aus Baden-Württemberg, welcher sich zu diesem Artikel bzw. zu dieser Problematik äußert. Wir drucken an dieser Stelle Auszüge aus dem Brief ab, welche sich mit dieser Problematik befassen. Dabei übt der Genosse hauptsächlich Kritik an der Haltung solcher, aus dem linksbürgerlichen Milieu stammender Gruppen. Aber auch bestimmte Einstellungen der Gruppen der Kommunistischen Linken kritisiert er. Es folgen aus Platzgründen nur einige kurze Bemerkungen unsererseits dazu. In einer späteren Ausgabe der Weltrevolution werden wir weitere Auszüge aus diesem Brief abdrucken, welche sich mit der Frage befassen, ob und inwiefern die neuen Gruppen Ausdruck einer unterirdischen Reifung innerhalb der Klasse insgesamt darstellen.

Leserbrief

Liebe Genossen,

wie versprochen, hier ein paar Gedanken zu Eurem Artikel "politische Klärung" in WR 126. In den letzten Jahren ist in Deutschland eine Reihe von Gruppen hervorgetreten, die sich alle auf den historischen Linkskommunismus beziehen. Ihr schreibt dazu, "die Verwerfung des Antifaschismus und die Ablehnung der nationalen Befreiungsbewegungen spiegeln eine wichtige Bewusstseinsentwicklung wieder" (da stimme ich zu), "wie überhaupt das Entstehen dieser Gruppen ein Zeichen einer unterirdischen Reifung in der Klasse darstellt" (das bezweifele ich). Ihr charakterisiert dann unter der Zwischenüberschrift "Wie die Narben der Vergangenheit ablegen" die Schwierigkeiten, vor denen Gruppen, die den Bruch mit der bürgerlichen Linken vollzogen haben, stehen - dass nämlich der Bruch ein Prozeß gründlicher Klärung sein muss und nicht schon die Übernahme linkskommunistischer Positionen automatisch den "Linkskommunisten" hervorbringt, sondern oftmals alte Herangehensweisen, Mentalitäten etc. mit in die neue Position eingebracht werden. Als Beispiel nennt Ihr die zu beobachtende Neigung einiger dieser Gruppen, baldmöglichst mit der Intervention zu beginnen, um schnell Einfluss zu erringen und dabei "die Notwendigkeit der größtmöglichen politischen Klarheit in der Intervention stark unterschätzen". Vor allem werde das Kommunizieren der eigenen Klärungsprozesse, die Debatte darüber mit anderen Gruppen nicht auch als wichtige Intervention begriffen; auf Kritik seitens der IKS gar nicht reagiert. Es ist genau, wie Ihr es darstellt - ein beklagenswerter Zustand. Um ihn zu überwinden, müssen wir genauer ausleuchten, wie es zu dem Wunsch kommt, mit der Linken zu brechen, und warum die Genossen es dabei regelmäßig so eilig haben, sich als linkskommunistische Gruppe zu konstituieren (und das auf einer sehr schmalen Kenntnisgrundlage. Wenn man sich Veröffentlichungen der Gruppen anschaut, sieht man daran, was zitiert wird, dass der Zugang in erster Linie über die Lektüre der IKS-Publikationen und hier und da mittels einiger im Antiquariat aufgetriebener Texte aus der IKP-Zeitung "Kommunistisches Programm" stattfand - in jüngster Zeit gibt´s freilich auch zig Texte im Netz).

Meine These: es geht bei diesem Bruch zu sehr um die Identität als Kommunist, die gerettet oder nun endlich erreicht werden soll, und zu wenig um die Klärung der Frage, warum man eigentlich mit derselben Entschiedenheit Positionen vertreten oder bekämpft hat, mit der man nun schon wieder dabei ist, "die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen" zu spielen - diesmal unter linkskommunistischem Signet. Wäre es nicht näherliegend, dass man, nachdem man Jahre lang eine nun als "kleinbürgerlich" erkannte Position vertreten hat (und das in der Regel ja nicht im stillen Kämmerlein), diese Praxis und die dahinter stehenden programmatischen, strategischen Vorstellungen Stück für Stück aufarbeitet und mit jedem Schritt des Begreifens, wie es dazu kommen konnte, dass man so leichtfertig dies und jenes als einzig revolutionären Standpunkt verfochten hat, eine Art ironische Distanz gewinnt und diese aufgearbeitete Erfahrung zukünftig wie beim Kopfrechnen als ein? im Sinn behält. Möglicherweise haltet Ihr meine Ausführungen für "Psychologisieren" - worauf ich hinaus will, ist, dass der Bruch mit der Linken immer nur so ausfallen kann, wie die Voraussetzungen, die gesellschaftlichen Verhältnisse gestaltet sind, innerhalb derer er stattfindet. Das mag banal erscheinen, ist aber häufig etwas, was außer Acht gelassen wird. Ich meine, der bislang erfolgte Prozess einer Neuorientierung am Linkskommunismus konnte gar nicht anders ausfallen, als von Euch richtig dargestellt und zu Recht kritisiert.

Zum einen, weil die wenigen Genossen, die den Biss hätten, dran zu bleiben, in einer recht verzweifelten Stimmung sind. Sie haben vieles durchdacht und versucht, aber irgendwie den Schlüssel zum Ganzen nicht mehr gefunden (...) Dies alles unter Voraussetzungen, in denen "Klasse" und "Klassenbewusstsein" mehr unterstellt als praktisch vorfindbar waren.

Es sind also nicht Strömungen im Klassenkampf, anhand derer man in der Lage wäre, die eine oder andere These zu überprüfen und zu gewichten. Sondern es spielt sich alles notwendig in der Form von "Schauen, welche Gruppen es gibt" ab - und da stößt man früher oder später auf die Linkskommunisten. Dieses Aha-Erlebnis führt regelmäßig zu dem Gefühl, endlich den Schlüssel in der Hand zu halten. Man wähnt sich jenseits der bürgerlichen Linken und will den Schlüssel natürlich sofort ausprobieren. Der Schlüssel (also die "authentisch proletarische Position", kein Befreiungsnationalismus, keine interklassistischen Bündnisse, gegen die bürgerliche Demokratie..) gibt den Blick frei auf eine Geschichte der Klassenkämpfe, in der die wirklich proletarische Position nie gänzlich vernichtet werden konnte und in der Form insbesondere der "Italienischen Fraktion" ein Erbe bereithält, das es ermöglicht, wieder die entscheidende Waffe zu schmieden.

Bei diesem Enthusiasmus der Genossen nach dieser Entdeckung überrascht in der Tat, wie gering ihr Mitteilungsbedürfnis bezüglich des Prozesses ihrer Neuorientierung ist. Warum reagierten Gruppen, die Ihr in mehreren Artikeln vorgestellt und solidarisch kritisiert habt, nicht? Warum führen die Gruppen nicht untereinander eine Debatte über das Woher und Wohin (sondern stellen gleich Themenblöcke zur Diskussion, nachdem sie sich gerade erst notdürftig ein paar linkskommunistische Texte dazu angelesen haben)? Warum erfährt man fast nichts über die internen Differenzen? (Man muß dabei ja nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber es kann sehr hilfreich für Genossen sein zu erfahren, dass in anderen verwandten Gruppen ähnliche Probleme oder Praktiken auftreten - und es ist allemal interessant nachzuvollziehen, warum es in Gruppen, die sich gerade erst konstituiert haben, zu Ausschlüssen kommt).

Nun sagt Ihr ganz richtig, es fehlt halt an der richtigen Methode und Herangehensweise. Die muß erlernt werden. Okay. Wo? Bei den bestehenden linkskommunistischen Organisationen - klar. Zumindest in der Auseinandersetzung mit ihnen. Einverstanden. Das Angebot dazu macht Ihr mit jeder Nummer Eurer Zeitung, mit jeder Veranstaltung. Wie kommt es, dass die Genossen dieses Angebot ausschlagen? Nun, ich denke, wer aus einer trotzkistischen, maoistischen oder sonst wie gestrickten Gruppe kommt, hat aufgrund der Sachen, die er da hat wegstecken müssen, erst mal nicht das Bedürfnis, sich einer neuen Gruppe verbindlich einzugliedern. Bleibt aber die Frage, was die Genossen daran hindert, verbindliche Diskussionen mit Euch zu führen? Ich sage es mal salopp: Die Genossen spielen kraft Proklamation linkskommunistischer Position nun in einer Liga, für die sie sich gar nicht fähig genug halten. Und natürlich wird klar (wie Ihr schreibt), der erhobene Anspruch verlangt Konsequenzen von einer Reichweite, die den Genossen erst nach und nach klar wird.

Meine Kritik geht nach zwei Seiten: einmal gegenüber den Genossen, die beim Proklamieren linkskommunistischer Positionen über ihre eigene authentische Position (Befindlichkeit) hinwegsehen, nicht mehr die gemeinsame Anstrengung der Gruppe in den Mittelpunkt stellen, sondern (wie gehabt) Programmatiken (mit dürftiger Unterfütterung) festschreiben, die man zu 100% teilt oder "keinen Platz in der Organisation hat."

Zum anderen kritisiere ich die linkskommunistischen Organisationen, die die Theorie und Praxis der "Linkskommunisten" bzw. der "Italienischen Fraktion" nicht als eine historische Strömung behandeln, von der auch heute Grundlegendes zu lernen ist, sondern als Programm übernehmen. Ein Programm, dass hinsichtlich seiner Tauglichkeit, zum Orientierungspol für mehr als eine Hand voll Genossen zu werden, noch wenig überprüft worden ist.

Aber das ist ein Thema für einen eigenen Brief...

(...) Natürlich kritisiere ich hier nicht, dass Ihr das linkskommunistische Erbe anders bewertet [als ich], sondern dass Ihr mit Eurem Auftreten als eine Art Inkarnation des historischen Linkskommunismus die Latte so hoch hängt, dass die "kleinbürgerlichen Linken" von Gestern, die heute sich am Linkskommunismus orientieren, quasi als Zugangsberechtigung zum "proletarischen Milieu" erst mal fast alle linkskommunistischen Positionen übernehmen, anstatt die Fragen anzugehen, die sie seit Jahren vor sich hertragen oder bislang noch nicht mal richtig aufgeworfen haben. Ich nenne mal ein paar der wichtigsten: Was haben sie all die Jahre gemacht, von welchen Vorstellungen über Kapitalismus, Arbeiterklasse und revolutionärer Strategie war diese Praxis getragen? War das "kleinbürgerliche Politik" und warum? War überhaupt eine andere "Praxis" möglich bzw. was kann unter Verhältnissen, in denen die Arbeiterklasse ein Bild abgibt, wie hier in Deutschland seit langem (und man kann sich sogar fragen ob es sinnvoll ist, von Arbeiterklasse im politischen Sinne zu sprechen) der Kern der Tätigkeit von Kommunisten sein? Welche Schlüsse kann man aus einer gründlichen Analyse der Geschichte der Klassenkämpfe ziehen?.....

Unsere Anmerkungen

Der Genosse aus den Südwesten Deutschlands hat sehr wohl verstanden, dass unsere Kritik an den Gruppen und Personen, welche sich ungenügend vom linksbürgerlichen Lager lösen, solidarisch gemeint und politisch notwendig war. Er teilt in vielen Punkten unsere Darstellung dieses Problems. Darüber hinaus macht er eine Reihe selbstständige, sehr interessante Beobachtungen. Diese Überlegungen können nicht zuletzt für die Betroffenen selbst sehr hilfreich sein, sofern sie ehrlich bemüht sind, den Einfluss ihrer bürgerlichen politischen Vergangenheit abzuschütteln. So ist es beispielsweise völlig zutreffend, darauf hinzuweisen, dass es für solche Leute politisch schädlich ist, sich einseitig mit den programmatischen Positionen der Kommunistischen Linken zu befassen. Die aus stalinistischen oder trotzkistischen Organisationen stammenden Genossen nehmen in der Regel irrtümlicherweise an, dass sie das ABC des Marxismus bereits beherrschen und sich nicht mehr damit befassen müssen, was die Arbeiterklasse ist oder dass eine proletarische Praxis grundlegend anders als die der Bourgeoisie aussehen muss. Doch das Gegenteil ist der Fall. Im Wirklichkeit ist der Stalinismus bzw. der Trotzkismus keine opportunistische Strömung der Arbeiterklasse, (und auch nicht kleinbürgerlich), sondern genau so Bestandteil der Bourgeoisie wie der Faschismus oder die Sozialdemokratie. Dies bedeutet, dass diese Genossen alles wieder vergessen müssen, was sie von der Bourgeoisie "gelernt" haben. Sie müssen erkennen dass sie einer ganz verkehrten Vorstellung von der Arbeiterklasse und von proletarischer Politik aufgesessen waren.

Der Brief weist darauf hin, dass manche Genossen aus diesen Kreisen die Debatte mit den bestehenden revolutionären Organisationen deshalb meiden, weil sie sich dazu nicht "fähig genug" fühlen. Das bedeutet aber, dass diese Genossen noch gar nicht begriffen haben, dass das Kennzeichen einer proletarischen Haltung in der politischen Debatte nicht der Grad des Wissens ist, sondern der Wille, alles, auch die eigene persönliche Stellung, den Bedürfnissen einer furchtlosen politischen Klärung unterzuordnen. M.a.W. sie hängen einer bürgerlichen, von Konkurrenz geprägten Sicht der politischen Arbeit an.

Auf der anderen Seite kritisiert der Brief, dass die "linkskommunistischen Organisationen" das Erbe ihrer Tradition nicht als eine "historische Strömung behandeln, von der auch heute Grundlegendes zu lernen ist, sondern als Programm übernehmen". Außerdem führt er an, dass dieses Programm in der geschichtlichen Praxis "noch wenig geprüft worden ist." All das führe dazu, gegenüber jenen, welche den Bruch mit der Bourgeoisie heute wagen, die "Latte zu hoch zu hängen".

Zwar gab es und gibt es Strömungen der "Italienischen Linken", welche von einer Art "Orthodoxie" innerhalb des Marxismus ausgehen und abgesehen von Marx, Engels und Lenin darüber hinaus gehende Beiträge anderer Marxisten bzw. Massenkämpfe (etwa die Einsichten Rosa Luxemburgs und Anton Pannekoeks oder bestimmte Lehren der Deutschen Revolution) davon ausschließen. Diese Sichtweise ist in der Tat kaum dazu geeignet, Leuten, welche zuvor Stalin, Mao oder Trotzki blind angebetet hatten, zu helfen, mit ihrer Vergangenheit zu brechen.

Für die Italienische Fraktion der 30er Jahre hingegen gehörte die Gesamtheit der grundlegenden Erfahrungen der Arbeiterklasse sowie die auf marxistischer Grundlage gewonnenen theoretischen Einsichten zum programmatischen Erbe des Proletariats. Aus dieser Sicht gibt es kein von der restlichen Geschichte der Arbeiterbewegung abgesondertes "Programm des Linkskommunismus", sondern allein ein lebendiges, sich fortentwickelndes Programm und einen Erfahrungsschatz des Proletariats, wozu die sog. Linkskommunisten einen sehr wichtigen Beitrag geleistet haben. Deshalb ist es aus unserer Sicht auch nicht zutreffend, dass diese Positionen in der Praxis noch wenig überprüft worden seien. Beispielsweise waren die Lehren, welche die Linkskommunisten in den 20er und 30er Jahren gezogen hatten, das Ergebnis der Massenkämpfe und die Erfahrungen der Niederlage der revolutionären Welle am Ende des 1. Weltkriegs.J edenfalls ist es richtig, dass auch die bestehenden revolutionären Organisationen mitverantwortlich dafür sind, die bestmöglichen Bedingungen dafür zu schaffen, damit der Bruch mit der Bourgeoisie auch gelingen kann. – Fortsetzung folgt. – IKS

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Linksextreme [4]

Diskussionsveranstaltung des IBRP in Berlin

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Die Einschätzung des Klassenkampfes und die Intervention der Revolutionäre

Am 11. Dezember fand die dritte Veranstaltung des Internationalen Büros für die Revolutionäre Partei (IBRP) des Jahres 2004 in Berlin statt. Diesmal fungierte die Gruppe Internationale Sozialisten (GIS) als einladende Gruppe. Die Einladungsplakate gaben an, dass das IBRP zum Thema Klassenkampf referieren würde. Auf der Veranstaltung wurden zwei Referate gehalten. Das IBRP hielt das Einleitungsreferat zum Thema Klassenkampf, Krise und Neuzusammensetzung der Klasse. Über die Agenda 2010, Hartz IV und die Streiks und Demonstrationen in Deutschland sprach ein Sympathisant des IBRP aus Österreich. Wir werden uns in diesem Artikel auf das Referat des IBRP konzentrieren sowie auf die sich anschließende Diskussion - welche auch den Großteil der Gesamtdebatte ausmachte.

Anwesend waren zeitweise etwas mehr als 20 Genossinnen und Genossen, darunter Leute von der GIS sowie von den Freunden der klassenlosen Gesellschaft, ein ehemaliges Mitglied der Gruppe Aufbrechen (der jetzt bekennender Sympathisant des IBRP ist) sowie einige Mitglieder eines Diskussionszirkels aus Köln (darunter Sympathisanten der IKS). Leider fehlten viele GenossInnen aus Berlin, welche in den letzten paar Jahren sich für linkskommunistische Positionen zu interessieren begonnen haben. Dafür waren einige neue Personen erschienen, von denen allerdings kaum eine bis zum Schluss blieb.

Die Schwierigkeiten des Klassenkampfes

Die Einleitung des IBRP beinhaltete sehr viel, mit dem die IKS übereinstimmt. Deshalb beschäftigte sich der erste Diskussionsbeitrag unserer Organisation ausschließlich damit, diese Aussagen aus der Einleitung zu unterstützen. Diese Übereinstimmungen betrafen vor allem die Einschätzung des Klassenkampfes. Das Referat wies darauf hin, dass es derzeit eine Belebung der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse gibt, dass aber diese Kämpfe ganz überwiegend isoliert bleiben. Der Genosse des IBRP kam auf das Beispiel des Bergarbeiterstreiks Mitte der 80er Jahre in Großbritannien zurück, um zu unterstreichen, dass isolierte, auf einzelne Sektoren der Klasse beschränkte Kämpfe für die Bourgeoisie in der Regel gut kontrollierbar sind, und dass eine Ausdehnung und Generalisierung des Widerstands erforderlich ist, um das Kräfteverhältnis zu Gunsten des Proletariats zu verändern. Der Bergarbeiterstreik habe außerdem gezeigt, dass der Klassenfeind auf die Kämpfe der Arbeiterklasse vorbereitet ist, eine eigene Strategie dagegen besitzt und in der Lage ist, sehr geschickt vorzugehen.

Die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse wurden in einen historischen Rahmen gestellt. Da die Bourgeoisie den Zusammenbruch des Ostblocks als ein "Scheitern des Kommunismus" hinstellen konnte, leidet die Klasse an einem Verlust des Selbstvertrauens und der Klassenidentität, wodurch sie für Klassen übergreifende Ideologien anfälliger wird. Auch die Angst vor der Massenarbeitslosigkeit mache es nicht immer einfach, in den Kampf zu treten. Mit Hinweis auf die Erfahrungen der englischen Arbeiterklasse wies das IBRP darauf hin, dass es für das Proletariat schwieriger ist, gegen Entlassungen und Werkschließungen als um die Höhe des Lohns zu kämpfen.

Die Einleitung stellte diese Entwicklung im Rahmen der Krise des Kapitalismus dar, welche nun 30 Jahre andauere und durch den Fall der Profitrate verursacht sei. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts habe der Kapitalismus drei Akkumulationszyklen durchlaufen, die durch neue Arbeitsorganisationen und Technologien geprägt gewesen seien. Die ersten beiden Zyklen seien durch die beiden Weltkriege abgeschlossen worden. Durch technologische Erneuerungen und Angriffe auf die Arbeiterklasse sei es zwar gelungen, die Profitrate zeitweise wieder anzuheben, nicht aber, einen neuen Akkumulationszyklus einzuleiten.

Diese Sicht der Krise teilt die IKS nicht. Denn das marxistische Konzept der Dekadenz des Kapitalismus wurde dabei vollkommen außer Acht gelassen. Außerdem wird für das System die Möglichkeit eingeräumt, durch eine Kapitalzerstörung großen Ausmaßes eine neue Blütezeit des Kapitalismus einzuleiten. Mit anderen Worten, die historische Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise von heute wird verneint.

Dennoch sind wir während der Veranstaltung nicht auf diese Fragen eingegangen. Denn wir haben bereits bei den letzten Veranstaltungen des IBRP in Berlin und Paris die Sichtweise des Büros hierzu ausführlich kritisiert (siehe Weltrevolution 126 und 127). Außerdem wollten wir uns an die Ankündigungen der Veranstalter selbst halten, welche die Fragen des Klassenkampfes in den Mittelpunkt gestellt hatten.

Es bleibt noch anzumerken, dass die einleitenden Ausführungen sich fast ausschließlich mit den Arbeiterkämpfen in Großbritannien und Italien befassten. Dabei gab es aus unserer Sicht eine deutliche Tendenz, sowohl das Niveau der Kämpfe in diesen beiden Ländern als auch den Einfluss der Revolutionäre darauf zu überschätzen. So erfuhren die zum Teil erstaunten Teilnehmer, dass die Intensität der Berichterstattung über den Klassenkampf in den Publikationen des IBRP in der letzten Zeit ein Ausmaß erreicht habe, das einmalig in den letzten 20 Jahren sei. Dies sei ein deutliches Zeichen für die wachsende Kampfbereitschaft der Klasse und sehr ermutigend.

Wir lassen es dahingestellt, inwiefern die Häufigkeit der Berichterstattung von Seiten des IBRP ein verlässlicher Gradmesser für die Kampfkraft der Klasse sein kann. Noch auffallender war für uns die Behauptung im Einleitungsreferat, dass während des besagten englischen Bergarbeiterstreiks Mitglieder des IBRP direkt beteiligt waren an Versuchen, den Kampf auszudehnen. Wir haben bereits während der Veranstaltung unsere Überraschung über diese Aussage zum Ausdruck gebracht. Am meisten hat uns die Bescheidenheit des IBRP erstaunt, erst jetzt, nach 20 Jahren, die Öffentlichkeit über diese Aktivitäten seiner Militanten zu informieren. Aber vielleicht ist damit eher die allgemeine, politische Teilnahme am Kampf für die Ausdehnung mittels Flugblätter und die revolutionäre Presse gemeint. In diesem Fall ist es aber unverständlich, weshalb von einzelnen Mitgliedern und nicht von dem IBRP als Organisation die Rede ist.

Das Ganze erinnerte uns ein wenig an frühere Zeiten, als kaum eine aus dem "Ausland" stammende politische Organisation gegenüber einem in Sachen Klassenkampf unerfahrenen deutschen Publikum der Versuchung widerstehen konnte, durch eine Übertreibung der Kämpfe im "eigenen Land" sowie der Wirkung der eigenen Intervention Eindruck zu schinden. Allein, die Zeiten haben sich geändert. Im letzten Jahr jedenfalls fanden die international wichtigsten Arbeiterkämpfe eindeutig nicht in Italien oder Großbritannien, sondern in Deutschland statt.

Die Frage der Fabrik- und Territorialkomitees

Was für Kontroversen in der anschließenden Diskussion sorgte, war v.a. die am Ende des Referates aufgestellte Perspektive des Klassenkampfes. Das IBRP betonte zunächst die Notwendigkeit der Entwicklung des Klassenbewusstseins sowie der Entdeckung der eigenen Stärke. Anschließend sprach es in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit der Entwicklung neuer Organisationsformen der Arbeiterklasse. In den Zeiten des "Fordismus" sei es Praxis des IBRP gewesen, so genannte Fabrikkomitees zu bilden, die sowohl Mitgliedern als auch Nicht-Mitgliedern offen standen. Mit der Abkehr von den großen Produktionsstätten und ihrer Verlagerung in die Dritte Welt sei der Arbeiterklasse die Möglichkeit genommen, ihren Kampf von den Großbetrieben aus zu starten. Daher sei es heute notwendig, das Hauptaugenmerk auf die Bildung so genannter Territorialkomitees zu legen.

Kontrovers war aber vor allem die Behauptung des IBRP, dass die bereits erwähnten Fabrik- bzw. Territorialkomitees ein Hauptmittel der Generalisierung der Kämpfe werden sollen.

Gleich zu Beginn der Diskussion stellte eine junge Frau die Frage nach der Zweckmäßigkeit der sog. Territorialkomitees, die nach ihrer Auffassung in gewisser Weise in einem Gegensatz zur aktuellen Entwicklung des Klassenkampfes stünden. Schließlich seien die Streiks von FIAT/Melfi und Opel Bochum doch Ausdruck des alten, von den Großbetrieben ausgehenden Kampfes. Wir sollten einfügen, dass auch das anschließend von dem Genossen aus Österreich gehaltene Referat über die jüngsten Kämpfe in Deutschland sehr deutlich auf die große Rolle der Belegschaften von Großbetrieben wie Daimler oder Opel hingewiesen hat.

Der Genosse des IBRP räumte daraufhin ein, dass eine Wiederbelebung der Fabrikkomitees, von denen - nach seinen Angaben - das IBRP erst eines gebildet habe, durchaus möglich sei. Auf die Frage einer Sympathisantin der IKS, wer die Streiks der Arbeiterklasse organisiere, die revolutionäre Organisation oder die kämpfenden Arbeiter selbst, antwortete der Vertreter des IBRP, diese Fragestellung sei abstrakt. Aufgabe der Partei wie der Territorialkomitees sei es, die Streiks über die Grenzen hinweg in andere Länder zu tragen.

Ein anderer Teilnehmer, welcher sich im Übrigen selbst als Antileninist bezeichnete, vertrat die Auffassung, dass die Revolutionäre am ehesten zur Ausdehnung der Kämpfe beitragen könnten, nicht indem sie willkürlich irgend welche Komitees bilden, sondern indem sie innerhalb der bestehenden Kämpfe das Endziel einer anderen Gesellschaft hochhalten.

Auch der Sympathisant des IBPR aus Berlin hinterfragte dieses Konzept, wenn auch von einer anderen Warte aus. Er wollte wissen, weshalb eine solch starke Organisation wie das IBRP überhaupt die Vermittlung ähnlicher Komitees nötig habe, um die Ausdehnung und Generalisierung anzuführen.

Die IKS wertete die Perspektive der Generalisierung der Kämpfe mittels der Komitees des IBRP entweder als Bluff oder als Ausdruck der Panik, d.h. des schwindenden Vertrauens des Büros in die revolutionäre Kraft der Arbeiterklasse. Wir wiesen darauf hin, dass unsere eigene Organisation nur über sehr bescheidene Mittel und über einen sehr geringen Einfluss heute verfügt, dass aber das IBRP leider noch viel kleiner sei und über noch wesentlich bescheidenere Mittel verfüge. Wenn die Ausdehnung und Generalisierung auch nur teilweise vom Organisationstalent des IBRP abhinge, wäre es wahrlich schlecht bestellt um die Perspektiven des Klassenkampfes. Das IBRP hat außerdem selbst darauf hingewiesen, wie wenig Erfolg es in den letzten Jahren mit seinen Komitees hatte! Hier wärmt das IBRP die alten substitutionistischen Vorstellungen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg wieder auf, denen zu Folge die Revolutionäre die Arbeiterkämpfe organisieren sollen. Dabei war es eines der Verdienste der Kommunistischen Linken, darauf hingewiesen zu haben, dass in der Niedergangsphase des Kapitalismus die Revolutionäre erst in einer unmittelbar vorrevolutionären Lage einen Ausschlag gebenden Einfluss auf den Verlauf der Arbeiterkämpfe gewinnen können. Dabei besteht ihre Aufgabe in der Dekadenzphase insgesamt darin, nicht mehr die Arbeiterkämpfe zu organisieren, sondern sich an die Spitze der Bemühungen der Arbeiterklasse zu stellen, ihre Kräfte zu vereinigen. Es fiel uns auf, dass das Referat des IBRP kein Wort über das Phänomen der unterirdischen Bewusstseinsentwicklung verlor, das heute innerhalb der Klasse feststellbar ist.

Darauf antwortete das IBRP, dass das, was die Arbeiterklasse spontan zur Ausdehnung der Kämpfe beitrage, ruhig der Klasse selbst überlassen werde könne. Für uns als Revolutionäre müsse es vor allem um die Frage gehen, welchen Beitrag wir dazu leisten. Die IKS teilt nicht die Auffassung, welche die Aufgabe der Revolutionäre vom Geschehen innerhalb der Klasse insgesamt dergestalt abtrennt. Denn die Bemühungen des Proletariats um seine Vereinigung gehen keineswegs nur spontan vonstatten und benötigen die Unterstützung der Revolutionäre, nicht zuletzt um die Gegenstrategien der Bourgeoisie zu konterkarieren.

Anstatt Zeit damit zu vergeuden, an phantasievollen Strukturen herumzubasteln, welche lediglich den Anschein einer Intervention erwecken, sollten die Revolutionäre von der Realität ausgehen und erkennen, dass die klassischen Mittel der Vereinigung der Arbeiterkämpfe wie Massenversammlungen, fliegende Streikposten, überbetriebliche Streikkomitees und gemeinsame Straßendemonstrationen weiterhin auf der Tagesordnung der Geschichte stehen.

Die Gewerkschaften und die Frage der Dekadenz

Eine andere Sympathisantin der IKS wies darauf hin, dass die vom IBRP vorgeschlagenen Komitees permanente Organisationen sein sollen, welche die Ausdehnung der Kämpfe organisieren sollen. Als solche weisen sie gewissermaßen einen gewerkschaftlichen Charakter auf. Denn die Organisierung der Abwehrkämpfe der Arbeiterklasse erst unmittelbar im Kampf ist historisch die Antwort des Proletariats auf die Unmöglichkeit der permanenten, gewerkschaftlichen Organisierung. Somit warf die Genossin auch die Gewerkschaftsfrage auf. Es sei ihr aufgefallen, dass das IBRP in seiner Presse die Gewerkschaften oft als Vermittler und als Verkäufer der Ware Arbeitskraft bezeichne. Die Genossin wollte also wissen, ob das IBRP nicht, oder nicht mehr, die Auffassung vertritt, dass die Gewerkschaften als ehemalige Organisationen der Arbeiterklasse mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase ihren Klassencharakter geändert haben. Die Genossin erinnerte daran, dass die Änderung im Klassencharakter der Gewerkschaften geschichtlich nicht zuletzt daran abzulesen ist, wie diese Frage von den politischen Minderheiten eingeschätzt wurde. Zur Zeit der I. Internationalen lehnten alle kleinbürgerlich beeinflussten oder geschichtlich überholten Strömungen innerhalb der IAA (die von Bakunin, Blanqui, Proudhon, Lassalle) die Notwendigkeit des gewerkschaftlichen Kampfes ab, welche allein die Marxisten konsequent vertraten. In der heutigen Zeit hingegen sind es allein die konsequenten Marxisten, welche den bürgerlichen Charakter der Gewerkschaften erkennen.

Das IBRP erklärte in seiner Antwort, dass die von ihr vertretenen Komitees gar nicht permanent genug sein können. Um die Gefahr neuer Gewerkschaften herunterzuspielen, wies der Genosse des IBRP auf die bis dato fast vollständige Erfolglosigkeit der Bemühungen des IBRP hin, solche Komitees überhaupt zu Stande zu bringen und am Leben zu erhalten. (Man muß sich immerhin wundern über eine Taktik, deren Unschädlichkeit durch ihre Verteidiger dadurch bewiesen werden muss, indem sie auf deren Vergeblichkeit hinweisen!)

Aber auch die programmatische Standhaftigkeit des IBRP soll verhindern, dass gewerkschaftsähnliche Organisationen daraus werden.

Was es mit der besagten programmatischen Standfestigkeit des Büros auf sich hat, erwies sich wenig später, als das IBRP daran ging, auf die Frage der Einschätzung der Gewerkschaften zu antworten. Wie die IKS in einer späteren Intervention aufzeigte, tat der Vertreter des IBRP so, als ob er die Frage der Genossin nicht verstanden habe. Denn er ging mit keinem Wort auf die Frage der Dekadenz ein und behandelte die Sache so, als ob die Position der Kommunistischen Linken zur Gewerkschaftsfrage im Prinzip dieselbe sei wie die von Marx im 19. Jahrhundert. Während die CWO, der britische Ableger des IBRP, einst eine leidenschaftliche Vertreterin der Theorie der Dekadenz sowie der Auffassung war, dass die Gewerkschaften in der Niedergangsphase zu Waffen der Bourgeoisie geworden sind, ist das IBRP insgesamt nun dabei, seine bisherige Position zu diesen beiden Grundfragen stillschweigend zu ändern.

Der Opportunismus des IBRP in Organisationsfragen

Auch Fragen bezüglich der Organisation der Revolutionäre tauchten mehrfach im Verlauf dieser Veranstaltung auf. Als beispielsweise der "antileninistische" Genosse für die Vielfalt der politischen Überzeugungen eintrat, antwortete das IBRP darauf, dass die Partei keine Organisation von Führern und Geführten sei. Das IBRP lehnte eine zu strenge Kohärenz der revolutionären Organisation ab, da eine solche Kohärenz ihren Mitgliedern keinen Spielraum für Divergenzen lasse. Der Sympathisant des Büros in Österreich hingegen wandte sich ausdrücklich gegen den Parteienpluralismus. Ziel sei eine einheitliche Partei als Ausdruck der Einheit der Arbeiterklasse. Dies sei keine repressive Einheit, sondern erlaube offene Diskussionen. Der Genosse beklagte in diesem Zusammenhang die große Zersplitterung der Revolutionäre von heute.

Am Ende der Veranstaltung wiesen wir auf die Tatsache hin, dass seit Wochen auf der Website des IBRP eine "Erklärung" eines angeblichen Zirkels aus Argentinien prangte (1), welche nichts als Lügen und Verleumdungen zum Inhalt hat - wie wir bereits ausführlich belegt haben. Wir richteten in diesem Zusammenhang drei Fragen an das IBRP: Erstens, ob es inzwischen selbst eingesehen hat, dass diese "Erklärung" nichts als Lügen beinhaltet. Zweitens, ob das Büro bereit sei, dazu eine Richtigstellung zu veröffentlichen, worin steht, dass es ein großer Fehler gewesen ist, diesen Text verbreitet zu haben. Drittens, ob das IBRP mit uns darin übereinstimmt, dass nicht allein programmatische Positionen, sondern auch die Notwendigkeit, der Arbeiterklasse stets die Wahrheit zu sagen, ein programmatisches Klassenprinzip sei.

Da es nicht möglich war, dieses Thema im Rahmen dieser Veranstaltung weiter zu diskutieren, verwiesen wir auf den "Offenen Brief der IKS an die Mitglieder des IBRP" (2), den wir am Ende der Veranstaltung in mehreren Sprachen verteilten, in dem der Betrug des so genannten Circulo offen gelegt wird. Was das IBRP

selbst betrifft, so beschränkte es sich darauf, bekanntzugeben, dass es etwas später, in schriftlicher Form, auf unseren Offenen Brief antworten würde. Diese Erklärung wurde durch die Ankündigung ergänzt, der IKS eine Lektion zu erteilen, wenn sie darauf bestehe - aber nicht jetzt.

Es bleibt noch hinzuzufügen, dass das Büro inzwischen seine Antwort auf unseren Offenen Brief (auf seiner Website) tatsächlich veröffentlicht hat. Darin steht, dass das IBRP.... nicht vor hat, der IKS zu antworten.

Wir finden, dass diese Antwort klar genug ist. Das IBRP antwortet nicht - weil es keine Antwort weiß.

Heute steht eine neue Generation von Arbeitern vor einer sich zuspitzenden Wirtschaftskrise, die eine Reihe von massiven Angriffen auf die Soziallöhne, die Lebens- und Arbeitsbedingungen und Massenentlassungen mit sich bringen wird. Eine neue Generation hat angefangen, sich mit Politik zu befassen, und dies unter neuen und anderen Bedingungen als die Generation, die aus dem historischen Wiedererstarken der Arbeiterklasse 1968 hervorgegangen war. Vor allem muss die neue Generation sich mit den Fragen befassen, vor denen die Arbeiterklasse stand, aber unfähig war, während der Welle von Kämpfen in den 80er Jahren eine Antwort darauf zu finden: Wie setzt man sich gegen Massenentlassungen zur Wehr? Wie kann die Solidarität der Arbeiter alle Spaltungen zwischen Betrieben, Branchen und Staaten überwinden? Und vor allem welche Antwort kann die Arbeiterklasse gegenüber der schrecklichen Zukunft, die uns der Kapitalismus bereithält, anbieten?

Es waren genau diese Fragen, die während der Diskussion aufgeworfen wurden. Wenn diese Veranstaltung eines gezeigt hat, dann dies, dass das IBRP völlig unfähig ist, darauf Antworten zu liefern. Das IBRP bekräftigt die Notwendigkeit der Entwicklung neuer Organisationsformen der Arbeiterklasse. Schön und gut, aber was hat denn das IBRP anzubieten? Nichts, rein gar nichts, sondern eine Wiederaufwärmung seines alten Rezeptes zur Intervention in der Arbeiterklasse: die sog. Fabrikkomitees. Und auf die Frage, ob es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass die Fabrikkomitees sich nicht zu einer anderen, arbeiterfeindlichen Gewerkschaft entwickeln könnten, war seine einzige Antwort, dass diese Gefahr nicht bestünde, da diese Komitees so gut wie nie bestanden hatten und dass seine gesamte Strategie zumindest in den letzten 15 Jahren gescheitert ist. Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so tragisch wäre.

Weltrevolution, Januar 2005

Fussnoten:

(1) Es handelt sich um die "Erklärung" vom 12 Oktober 2004 mit der Überschrift "Gegen die ekelerregenden Methoden der IKS", welche hinter dem Rücken der Mitglieder der argentinische Gruppe NCI, aber in ihrem Namen, verfasst wurde (2) Dieser "Offene Brief an die Mitglieder des IBRP" sowie eine Reihe von Texte und Erklärungen der IKS zu den feigen Angriffen gegen unsere Organisation sind auf unsere Website auf Deutsch und in vielen anderen Sprachen nachzulesen.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Internationales Büro für die Revolutionäre Partei [5]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [6]

Schweiz: Anzeichen einer Reifung der Kampfbereitschaft

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Die Gewerkschaften in der Schweiz haben im Sommer 2004 einen heißen Herbst angekündigt. Dass sie damit ihre eigenen Veranstaltungen meinten und kein Interesse daran haben, dass sich die Arbeiter gemeinsam und wirklich gegen die zugespitzte Ausbeutung wehren, stellten wir bereits in der letzten Ausgabe der Weltrevolution dar (Nr. 127, Wo ist der heiße Herbst geblieben?).

Trotzdem kam es im Spätherbst in der Schweiz zu einer Reihe von zwar nicht spektakulären, aber trotzdem bedeutsamen Arbeiterkämpfen, die eine Antwort auf die Verschärfung der wirtschaftlichen Krise darstellten. Bezeichnenderweise fanden diese Streiks in den offiziellen Medien kaum ein Echo. Auch die Gewerkschaften unternahmen nichts, um ihnen über den lokalen Raum hinaus eine Öffentlichkeit zu geben; dafür hängten alle Tageszeitungen und Fernsehstationen eine Blockadeaktion der Gewerkschaft Kommunikation bei der Paketpost an die große Glocke - eine vierstündige Aktion von gut 200 Gewerkschaftern im gleichen Zeitraum (November 2004). Je selbständiger sich die Arbeiter wehren und je weniger die Gewerkschaften von A-Z das Heft in der Hand haben, desto geringer ist die Bereitschaft der bürgerlichen Medien, darüber zu berichten. Um so wichtiger ist es, diese Kämpfe hier zur Sprache zu bringen und dabei auch zu versuchen, eine Bilanz ziehen - sowie Lehren für die künftigen Kämpfe.

Piatti, Swissmetal, Filtrona und weitere

Einer der ersten Streiks, der diese Serie im Spätherbst 2004 ankündigte, war derjenige beim Küchenbauer Bruno Piatti AG in Dietlikon/ZH. Am 18. Oktober traten die Angestellten der Abteilung Spedition wegen bevorstehender Lohnkürzungen in einen Streik. Arbeiter aus anderen Abteilungen des Unternehmens solidarisierten sich mit ihren Kollegen und schlossen sich dem Kampf an. Am Abend des gleichen Tages nahm die Piatti AG die geplante Lohnkürzung zurück.

Der größte Streik mit rund 400 Arbeitern fand vom 16. bis am 25. November 2004 beim Buntmetall-Hersteller Swissmetal statt. Der Chefmanager der Swissmetal-Gruppe in Olten feuerte den Bereichsleiter Industrie in Reconvillier/BE. Gleichzeitig sollten die Löhne und die Arbeitszeiten weiter flexibilisiert werden, nachdem die Bedingungen schon seit mindestens einem Jahr laufend verschlechtert worden waren: Abschaffung medizinischer Beratung, Kürzung diverser Lohnbestandteile usw. Der Kampf begann mit einer Demonstration im Betrieb, worauf die ganze Belegschaft in den Streik trat, als die sofortige Freistellung des Bereichsleiters bekannt wurde. Die Gewerkschaft Unia schaltete sich ein und führte ab dem 19. November Verhandlungen mit der Geschäftsleitung der Swissmetal. Am 24. November kam es im Dorf, das etwa 2500 Einwohner hat, zu einer Demonstration von 4000 Leuten zur Unterstützung der Streikenden. Nachdem ein erster Vereinbarungsvorschlag der Gewerkschaft und der Unternehmensleitung von der Belegschaft abgelehnt worden war, trat die kantonale Volkswirtschaftsdirektorin Elisabeth Zölch als "Vermittlerin" auf. Am 25. November einigten sich die Gewerkschaft und der Verwaltungsrat der Swissmetal auf eine Vereinbarung, die vorsah, dass der Standort Reconvillier erhalten bleiben soll, dass das dortige Werk von einem eigenen Werksdirektor geleitet wird und dass über den Lohn mit der Gewerkschaft weiter verhandelt wird.

Einen Streik unter schwierigsten Bedingungen haben die 150 Arbeiter der Filtrona in Crissier/VD am 29. November begonnen. Es geht hier um die Schließung des Betriebes, der Zigarettenfilter herstellt. Bereits während des Streiks wurden die Maschinen abtransportiert. Heute, bei der Fertigstellung dieses Artikels, ist der Kampf immer noch im Gang. Andere kleine Streiks erwähnen wir aus Platzgründen nicht.

Auch das Personal des öffentlichen Dienstes protestiert in den verschiedenen Kantonen immer wieder im Rahmen von Kundgebungen, zu denen die gewerkschaftlichen Personalverbände aufrufen, aber natürlich nie gemeinsam, sondern immer schön örtlich und zeitlich verzettelt.

Die Bedeutung der Kämpfe der letzten Monate

Es ist unverkennbar, dass die Kampfbereitschaft in der Arbeiterklasse zunimmt. Bereits vor einem Jahr sahen wir in der Schweiz eine Zunahme von Kämpfen - eine Tendenz, die sich seither bestätigt hat. Dass sich diese gegenwärtig nicht in spektakulären Formen ausdrückt, kann uns nach der langen Zeit des Rückflusses im Arbeiterkampf nicht verwundern.

Die Anzahl und die Größe der Streiks sind immer noch bescheiden, gemessen an den massiven Angriffen, denen wir unaufhörlich ausgesetzt sind. Auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern steht die Schweiz sicher nicht an der Spitze der Kampfbereitschaft. Doch dies ist nicht der entscheidende Punkt. Wesentlich ist die Dynamik, die seit rund einem Jahr erkennbar ist: Es gibt ein langsames Erwachen, das zwar noch auf Hindernisse stößt; es wird auch Rückschläge geben; aber die Arbeiterklasse ist daran, sich wieder als solche zu Wort zu melden und ihre Identität zurück zu gewinnen.

Nicht nur von der Anzahl und der Größe der Streiks her sollten wir realistisch bleiben, sondern auch was ihren Grad der Selbstorganisierung betrifft. Die oben beschriebenen Kämpfe sind zwar in ihrer Mehrheit aufgrund der eigenen Initiative der betroffenen Arbeiter und Arbeiterinnen begonnen worden. Doch im Normalfall waren die Gewerkschaften sofort zur Stelle und übernahmen das Zepter im Namen der Streikenden. Viele der kämpferischen Arbeiterinnen und Arbeiter, haben immer noch Hoffnungen in die Gewerkschaften und rufen sie zu Hilfe. Die Gewerkschaften werden noch nicht verbreitet in Frage gestellt und als unverzichtbarer Teil des Ausbeutungssystems erkannt. In den oben angeführten Streiks spielten die Gewerkschaften meist von Beginn weg eine mehr oder weniger aktive Rolle. Diesbezüglich hat sich also auf den ersten Blick noch nicht viel verändert.

Doch bei genauerem Hinsehen stellt man doch eine Veränderung in der Strategie der Gewerkschaften fest - eine Veränderung, die Rückschlüsse auf die Kampfbereitschaft in der Klasse selbst zulässt. Im Herbst 2002 veranstalteten die Gewerkschaften mit viel Tamtam den Bauarbeiterstreik, über den wir auch in der Weltrevolution berichteten (Nr. 115: Die Salami-Taktik der Gewerkschaften). Damals bestand das Ziel der Gewerkschaft Bau und Industrie (heute: unia) offensichtlich darin, "die Arbeiter daran zu hindern, selbständig den Kampf zu beginnen. Sie sollen nach dem Willen der Bourgeoisie (und die Gewerkschaften gehören dazu) möglichst getrennt voneinander, in kleinen Tranchen und zeitlich gestaffelt etwas Luft ablassen" (aus dem Artikel in Weltrevolution Nr. 115). Die Gewerkschaften besetzten also vor zwei Jahren vorzeitig das Terrain, um zu verhindern, dass die Arbeiter selber die Initiative ergriffen. Bei den Kämpfen der letzten Monate ist aber unverkennbar, dass sich in diesem Punkt etwas verschoben hat: Der Impuls geht jetzt vermehrt von den Arbeitern aus (die Ausnahme ist die Blockadeaktion bei der Post); die Gewerkschaften sind zwar gleich zur Stelle, aber im Gegensatz zum Bauarbeiterstreik vor zwei Jahren zurückhaltend mit der Werbetrommel. Es geht ihnen also nicht mehr um vorbeugende Kampagnen, sondern darum, die reifere Kampfbereitschaft möglichst umgehend zu kontrollieren.

Die Gewerkschaften werden auch vermehrt gezwungen sein, in den Kämpfen als Saboteure aufzutreten, doch geschieht dies im Moment noch verdeckt. In den hier aufgeführten Fällen kam es vor, dass die Belegschaften Verhandlungsergebnisse ablehnten. Die Gewerkschaften mussten teilweise auf Druck der Arbeiter "bessere" Ergebnisse herausholen. Beim Swissmetal-Streik überließ man aber schließlich die Verhandlung über die gestellten Lohnansprüche weiteren Treffen zwischen der Geschäftsleitung und der Personalvertretung, sprich: der Gewerkschaft. Damit verloren die Arbeiter und Arbeiterinnen definitiv die Kontrolle über ihre Forderungen. Mitte Dezember 2004 konnte man in den Zeitungen lesen, dass die Löhne bei Swissmetal 2005 um durchschnittlich 1,8 Prozent erhöht werden, was weniger ist als die Teuerung über zwei Jahre.

Die Arbeiter und Arbeiterinnen verlassen sich zwar noch auf die Gewerkschaften, aber sie haben auch eine Erwartungshaltung, die es für die Gewerkschaften schwieriger macht, ihrem angeblichen Anspruch auf Interessensvertretung gerecht zu werden. Die Erfahrungen aus diesen und den künftigen Kämpfen werden dazu führen, dass die Gewerkschaften vermehrt in Frage gestellt werden.

Wichtig ist auch der Kampf bei Filtrona. Die Arbeiter wurden vor eine vollendete Tatsache gestellt: Der Betrieb wird geschlossen. Hier geht es plötzlich um weit mehr als die Erhaltung des bisherigen Standards. Die Auslagerung der Produktion und die Schließung von Fabriken zeigt den Bankrott des kapitalistischen Systems und die Notwendigkeit seiner Überwindung auf. Solange nach der Logik der Profits gearbeitet und produziert wird, gibt es auf der einen Seite je länger je mehr Arbeitslose, auf der anderen Seite immer größeren Stress für die noch Beschäftigten.

Die Perspektiven

Viele Arbeiter und Arbeiterinnen kämpfen heute zwar mit dem Rücken zur Wand. Zuerst bleibt scheinbar und im besten Fall noch die Verteidigung des bisherigen Zustands.

Entscheidend ist aber, dass in diesen Kämpfen die Klassenidentität zurück gewonnen wird und die Solidarität mit anderen Arbeitern zum Tragen kommt. Dass dabei die gewerkschaftliche Kontrolle abgeschüttelt werden muss, ist eine der Erfahrungen aus den Kämpfen in den 1970er und 80er Jahren.

"Das Mittel, welches wir angesichts des jetzigen Standes der Angriffe des Kapitals benötigen, ist der Massenstreik aller Betroffenen. Eine solche Abwehraktion der gesamten Arbeiterklasse wäre imstande, den Lohnabhängigen das Selbstvertrauen zu geben, um der Arroganz der Herrschenden zu trotzen. Darüber hinaus können massive Mobilisierungen dazu beitragen, das gesellschaftliche Klima zu verändern, indem die Notwendigkeit erkannt wird, die Bedürfnisse zur Leitlinie gesellschaftlichen Handelns zu machen. Diese Infragestellung des Kapitalismus wiederum würde die Entschlossenheit der Beschäftigten und Erwerbslosen steigern, ihre Interessen jetzt schon zu verteidigen.

Natürlich sind solche massiven, gemeinsamen, solidarischen Aktionen heute noch nicht durchführbar. Das bedeutet aber keineswegs, dass man jetzt nichts unternehmen und nichts erreichen kann. Doch ist es notwendig zu erkennen, dass der Streik nicht die einzige Waffe des Klassenkampfes ist. Alles, was heute schon das Erkennen der Gemeinsamkeit der Interessen aller Lohnabhängige fördert, und alles, was die Tradition der Arbeitersolidarität wieder belebt, erschreckt die herrschende Klasse, macht sie in ihren Angriffen weniger forsch und selbstsicher, steigert die Bereitschaft des Gegners, hier und da tatsächliche Zugeständnisse, zumindest vorübergehend, zu gewähren." (abgedruckt in Weltrevolution Nr. 127)

HA/MI, 17.01.05

Fussnote:

1) vgl. die IKS-Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in der Schweiz [7]

Geographisch: 

  • Schweiz [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [3]

Tödliche Flutwelle in Südasien

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Die wahre soziale Katastrophe ist der Kapitalismus!

Das Jahr 2004 ging mit einer gewaltigen menschlichen Tragödie in Südasien zu Ende. Das außergewöhnlich starke Seebeben hat im Indischen Ozean eine Flutwelle mit Zerstörungen in mehr als einem Dutzend Anrainerstaaten ausgelöst. Innerhalb von wenigen Stunden riss die Flutwelle mehr als 160.000 Menschen in den Tod, Zehntausende sind noch verschwunden, Hunderttausende verletzt, fünf Millionen Menschen obdachlos. Diese schreckliche Bilanz ist bislang nur eine vorläufige, denn viele Gebiete, insbesondere in Indonesien, Thailand und Sri Lanka sind nicht zugänglich, da das gesamte Straßennetz zerstört wurde.

In den Küstengebieten wurden ganze Dörfer ausgelöscht, unzählige Fischerboote sind beschädigt und das Salzwasser hat die Felder für die Landwirtschaft zerstört, womit mehr als 5 Mio. Menschen ohne Dach, ohne Essen, ohne Trinkwasser dahinvegetieren, was wiederum nur noch neue Opfer fordern kann. So befürchten die Hilfsorganisationen tödliche Epidemien, mit Zehntausenden von Toten. Erneut sind die Ärmsten der Bevölkerung, darunter Lohnabhängige, die insbesondere in der Tourismusbranche arbeiten, die Hauptleidtragenden dieser Tragödie.

Der Kapitalismus ist der einzig Verantwortliche für diese menschliche Katastrophe

Wie bei jeder Katastrophe dieser Art beruft man sich auf die Hilflosigkeit der Menschen gegenüber der „Mutter Natur“, das Unglück, die Fatalität, oder auch die Rückständigkeit der betroffenen Länder, die keine Technik erwerben könnten, um solchen Naturkatastrophen vorzubeugen. Dummes Zeug und Lügen!

Warum und wie konnte ein Naturereignis wie Tsunamis, das dazu noch so gut bekannt ist, innerhalb von wenigen Stunden zu einer gesellschaftlichen Katastrophe mit solch einem Ausmaß werden?

Natürlich kann man dem Kapitalismus nicht vorwerfen, für das Seebeben verantwortlich zu sein, das diese gigantische Flutwelle ausgelöst hat. Dagegen kann man ihm die totale Nachlässigkeit und die Unverantwortlichkeit der Regierungen dieser Region der Welt und ihrer westlichen Gegenstücke vorhalten, die zu dieser gewaltigen menschlichen Katastrophe geführt haben.

Tatsache ist: Alle wussten, dass dieser Teil der Erde besonders erdbebengefährdet ist. „Die örtlichen Experten wussten jedenfalls, dass ein Drama im Anzug war. Im Dezember hatten indonesische Seismologen am Rande einer Physikertagung in Jakarta das Thema mit einem französischen Experten erörtert. Sie waren sich voll der Gefahr von Tsunamis bewusst, denn in diesem Teil der Erde kommt es ständig zu Beben“ (Libération, 31.12.04).

Nicht nur waren die Experten im Bilde, sondern auch der ehemalige Direktor des Internationalen Tsunami-Informationszentrums in Hawai, George Pararas-Carayannis, teilte mit, dass ein größeres Beben zwei Tage vor der Katastrophe vom 26. Dezember stattgefunden habe. „Der Indische Ozean verfügt über eine Basisinfrastruktur, um Maßnahmen gegen Beben zu treffen und Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stellen. Und niemand hätte überrascht sein sollen, denn am 24. Dezember war ein Beben mit der Größenordnung von 8,1 auf der Richterskala gemessen worden. Allein dadurch hätten schon die Behörden gewarnt sein sollen. Aber es fehlt vor allem der politische Willen der betroffenen Länder und eine internationale Abstimmung entsprechend den Maßnahmen, wie sie im Pazifik getroffen wurden“ (Libération, 28.12.04).

Niemand hätte überrascht sein dürfen und trotzdem ist das Schlimmste eingetreten. Aber die Nachlässigkeit der herrschenden Klasse hört da noch nicht auf!

Als der US-amerikanische Wetterdienst in Hawaii 15 Minuten nach dem Seebeben 26 Länder informierte, dass die Gefahr von Tsunamis nach dem Beben besteht, hat der japanische Wetterdienst diese Information an seine Nachbarn nicht weitergegeben, weil der Wetterbericht für Japan keinen Anlass zur Besorgnis gab.

In Indien ist der Generalstab der indischen Luftwaffe entsprechend informiert worden, aber die Luftwaffe muss einen streng hierarchischen und bürokratischen Meldeweg einhalten. Das Fax mit der Warnung ist bei der Weiterleitung verlorengegangen, denn der Wetterdienst besaß nicht die neue Faxnummer des Wissenschaftsministeriums, da diese seit der neuen Regierung im Mai 2004 geändert worden war! „Das gleiche Szenario in Thailand, wo der Wetterdienst keine nationale Warnung ausrufen wollte aus Angst, eine überflüssige allgemeine Panik zu verursachen. Dabei war ihm bekannt, dass um 8.10 h ein großes Seebeben eingetreten war, d.h. lange bevor die Tsunamis sich über die Küste bei Phuket ergossen“ (Libération, 31.12.04).

Das Prinzip der einfachen Vorsicht (ohne vom Prinzip der vorbeugenden Maßnahmen zu sprechen) hätte verlangt, dass man die Bevölkerung warnt. Auch ohne entsprechende technische Ausrüstung, über die die USA und Japan verfügen, standen ausreichend Informationen über die zu erwartende Katastrophe zur Verfügung, um zu handeln und Menschenleben zu retten.

Dies ist keine Nachlässigkeit, sondern eine kriminelle Politik, die die tiefgreifende Verachtung der herrschenden Klasse für die Bevölkerung und die Arbeiterklasse offenbart, die die Hauptopfer der bürgerlichen Politik der Regierungen vor Ort sind.

Tatsächlich gibt man sogar von offizieller Seite zu, dass keine Warnung ausgesprochen wurde, weil man Angst hatte.... die Tourismusbranche zu treffen! Mit anderen Worten: Um ihre schmutzigen ökonomischen und finanziellen Interessen zu schützen, wurden Zehntausende Menschenleben geopfert.

Dieses unverantwortliche Handeln der Regierungen verdeutlicht erneut die Lebensform dieser Räuberklasse, die das Leben und die Produktion in dieser Gesellschaft verwalten. Wenn es darum geht, die Ausbeutung und den kapitalistischen Profit aufrechtzuerhalten, sind die bürgerlichen Staaten bereit, so viele Menschenleben zu opfern.

Immer bestimmen die kapitalistischen Interessen die Politik der herrschenden Klasse, und im Kapitalismus ist die Vorbeugung keine rentable Angelegenheit, wie heute von den Medien eingestanden wird: „Die Länder in der Region haben sich bislang taub gestellt, wenn es darum ging, ein Warnsystem einzuführen, weil die Kosten zu hoch wären. Experten zufolge kostet ein Warnsystem mehrere Millionen Dollar, aber damit könnten mehrere Zehntausend Menschenleben gerettet werden“ (Les Echos, 30.12.04).

Wenn man in den Fernsehberichten Bilder von den Zehntausenden Toten, dezimierten Familien, Waisenkindern sieht, kann man nur zutiefst empört sein zu hören, dass die Regierungsstellen, die für diesen Massentod der Menschen verantwortlich sind, nun mit einem unglaublichen Zynismus ankündigen, man werde in Asien ein Erdbeben- und Tsunami-Warnsystem einführen, wie es schon in den USA und in Japan existiert.

Das menschliche Drama, das sich in Südasien abspielt, ist ein neuer Ausdruck dieser unglaublichen Barbarei eines Systems, das die Menschheit ins Verderben stürzt. Denn dieses niedergehende System ist der wahre Verantwortliche für die sich immer wiederholenden Katastrophen. Letztes Winter starben Zehntausende Menschen in einem Erdbeben im Iran, kurz davor kamen Unzählige in der Türkei, in Armenien ums Leben. Es wird zugelassen, dass sich Menschen in erdbebengefährdeten Gebieten ansiedeln, zudem noch in baufälligen Häusern, während heute die Technologie existiert, um zu verhindern, dass solche Naturereignisse diese Art gesellschaftliche Katastrophen hervorrufen.

Und wenn der Tsunami im Indischen Ozean auch so viele Opfer unter den Touristen hervorgerufen hat, muss man hervorheben, dass der Kapitalismus Ferienanlagen in der wildesten, planlosesten Manier errichtet hat, wobei Mangroven zerstört wurden, die als natürlicher Schutz dienen, die wellenbrechend wirken und auch die von den Flutwellen angespülten Gegenstände auffangen können.

Diesen gleichen Wahnsinn findet man in den Industriestaaten, wo man Wohnungen in gefährdeten Gebieten gebaut hat, die potenziell von Überschwemmungen heimgesucht werden können.

Mehr als je zuvor kann der Kapitalismus, weil er von der gnadenlosen Jagd nach Profiten und der Rentabilität der Betriebe und nicht für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse lebt, nur noch neue Katastrophen hervorbringen. Während in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus die Entfaltung eines gewaltigen technologischen und industriellen Potenzials möglich gewesen war, und dieser zu einer gewissen Beherrschung der Kräfte der Natur neigte, ist das in seinem Niedergang befindliche System nicht mehr in der Lage, die Menschheit voranzubringen. Anstelle dessen scheint die Natur sich „das zu zurückzunehmen“, was ihr genommen wurde, obgleich die Entwicklung der Technik es ermöglichen könnte, dass die Menschheit mit ihr in Harmonie lebt.

Der Kapitalismus ist heute ein im Zerfall befindliches System. Er ist zu einer Fessel und einer Bedrohung für das Überleben der Gattung Mensch geworden. Den auf Teilaspekte beschränkten, vor allem aber lügnerischen und zynischen Erklärungen der herrschenden Klasse müssen die Revolutionäre die Analyse des Marxismus entgegenstellen.

„In dem Maße, wie sich der Kapitalismus entfaltet und dann auf der Stelle verfault, prostituiert er immer mehr diese Technik, die für seine Bedürfnisse der Ausbeutung, der Herrschaft und der imperialistischen Plünderung eine befreiende Rolle spielen könnte. Das geht soweit, dass der Kapitalismus der Technik seine eigene Fäulnis einpflanzt und diese gegen die Gattung Menschen richtet (...) Während der ‚friedlichen‘ Phasen, die er uns manchmal zwischen zwei imperialistischen Massakern oder zwei Unterdrückungsmaßnahmen zugesteht, ist das von der ständigen Jagd nach einer höheren Profitrate angetriebene Kapital in allen Lebensbereichen des Alltags dazu gezwungen, die Menschen mit Hilfe der prostituierten Technik auf engstem Raum zusammenzupferchen, sie zu vergiften, zu ersticken, zu verstümmeln und zu massakrieren (...) Der Kapitalismus ist nicht unschuldig an den sogenannten „Naturkatastrophen“. Ohne die Kräfte der Natur außer Acht zu lassen, auf die der Mensch keinen Einfluss nehmen kann, zeigt der Marxismus auf, dass viele Katastrophen indirekt durch gesellschaftliche Ursachen hervorgerufen oder verschlimmert wurden (...) Nicht nur kann die bürgerliche Zivilisation diese Katastrophen direkt durch ihre Jagd nach Profiten und durch den vorherrschenden Einfluss der Geschäftswelt auf den Verwaltungsapparat hervorrufen (...) , sondern sie erweist sich als unfähig, einen wirksamen Schutz zu organisieren, da die Vorbeugung keine rentable Aktivität ist“ (Amadeo Bordiga, „Die Gattung Mensch und die Erdrinde“).

Die Heuchelei und der Zynismus der Weltbourgeoisie

Trotz des großen Ausmaßes der Katastrophe brauchte die internationale Bourgeoisie mehrere Tage, um in Gang zu kommen und ihre Hilfskräfte in die Katastrophengebiete zu schicken. Und dabei sind die Hilfsgüter noch lange nicht vor Ort angelangt: So wurde ein Feldlazarett, das von Frankreich nach Indonesien geschickt wurde, zwei Wochen lang aufgehalten, weil man auf die Hubschrauber wartete, die das Material und das medizinische Betreuungspersonal transportieren sollen.

Wenn es darum geht, ihre imperialistischen Interessen in den angeblich „humanitären“ Kriegen zu verteidigen, haben diese Staaten immer ihre schnelle Einsatzbereitschaft gezeigt, um ihre Truppen, Material und Waffen ins Land zu schicken, mit denen die Bevölkerung mit immer komplizierteren Waffensystemen bombardiert und Tod und Verderben in alle Erdteile gebracht wurde. Und diese kapitalistischen Gangster haben nie gezögert, astronomische Summen in die Rüstungsproduktion zu stecken, um ganze Länder zu vernichten.

Was die Finanzhilfe angeht, die in der ersten Phase von den Regierungen der Welt versprochen wurde, insbesondere von den höchst entwickelten Staaten, war diese so lächerlich gering, dass der für UN-Hilfsaktionen zuständige Leiter, Jan Egeland, die „internationale Gemeinschaft“ gar als knauserig und geizig bezeichnet hat.

Gegenüber dem Ausmaß dieses Desasters haben sich die verschiedenen kapitalistischen Staaten wieder als wahre Aasgeier erwiesen, die im Konkurrenzkampf miteinander stehen, wer gegenüber seinem Rivalen am meisten „gespendet“ hat.

So haben die USA 350 Millionen $ anstatt der anfänglich angekündigten 35 Millionen $ angeboten (während sie jede Woche eine Milliarde $ im Irak und eine Milliarde $ im Monat für den Afghanistankrieg ausgeben), Japan 500 Millionen, die EU 436 Millionen. Frankreich glaubte gar eine Zeit lang, mit seinen 50 Millionen $ die Spitze der Geberländer übernommen zu haben (während seine Militärinterventionen mindestens eine Milliarde Euro pro Jahr kosten), gefolgt von Australien, England und Deutschland usw.

Jedes Mal, wie bei einer Versteigerung, bot ein Staat nach dem anderen mehr Finanzhilfe an als die Rivalen.

Diese verbale Überbietung ist um so ekelhafter, da es sich ohnehin nur um ein Scheinhilfen handelt, weil den Spendenzusagen oft keine Taten folgen. So hatte diese „internationale Gemeinschaft“ im Dezember 2003 den Erdbebenopfern im Iran 115 Millionen $ zugesagt; bislang hat Teheran aber ganze 17 Mio. $ erhalten. Das Gleiche konnte man in Liberia beobachten: eine Milliarde Dollar wurden versprochen, weniger als 70 Mio. $ sind bislang eingetroffen.

An Beispielen fehlt es nicht; ohne all die in Vergessenheit geratenen Konflikte zu erwähnen, und für die es nicht mal Zusagen gibt wie Dafour oder den Kongo, wo sich menschliche Dramen abspielen, die vom gleichen Ausmaß sind wie die Tsunami in Asien.

Und was den Vorschlag angeht, einen Schuldenerlass für die von der Katastrophe betroffenen Länder zu beschließen, so ist dies nichts als Sand in die Augen, denn es handelt sich nur um einen Zahlungsaufschub für die fälligen Zinsen, nicht aber um das Streichen der Schulden insgesamt. Übrigens müssen die fünf am meisten verschuldeten Länder, die von der Flutwelle betroffen wurden, nächstes Jahr 32 Milliarden $ zahlen, d.h. zehnmal mehr als die Summe, die sie angeblich unter dem Titel „menschliche Hilfe“ bekommen werden (eine ohnehin viel zu hoch angesetzte Summe im Verhältnis zu dem, was sie tatsächlich bekommen werden). Natürlich wird diesen Ländern nicht das Privileg eingeräumt, von der US-Armee besetzt zu werden, wie im Falle Iraks; denn dann hätten sie von der gesamten Streichung ihrer Schulden profitieren können.

Nicht nur erzählt uns die Bourgeoisie schändliche Lügen über ihre angebliche „Spendenfreude“, sondern sie verheimlicht die wahren Ziele ihrer „humanitären Spendenüberbietung“.

Die „humanitäre“ Hilfe dieser Regierungen ist in Wirklichkeit nur ein Vorwand zur Verschleierung ihrer imperialistischen Appetite.

Hinter den ideologischen Schleierwolken der humanitären Propaganda fällt auf, dass jeder Staat sich wie in einem Konkurrenzkampf beeilt, seine Repräsentanten in die Katastrophengebiete zu schicken, obwohl es in Wirklichkeit darum gehen würde, eine internationale Abstimmung der Hilfe zu sicherzustellen. Tatsächlich verteidigt nämlich jede nationale Bourgeoisie ihre eigenen Interessen als kapitalistische und imperialistische Macht in der Region, welche von großem strategischen und militärischen Wert ist.

Die tiefgreifenden Interessensgegensätze, die zwischen den verschiedenen imperialistischen Staaten beim Afghanistan- oder Irakkrieg aufgetreten waren, werden hier wieder sichtbar. So machte sich der Außenminister Frankreichs mit einem Flugzeug voll von Medikamenten auf den Weg, und Chirac schlug mit Deutschlands Unterstützung die Schaffung einer „schnellen humanitären Eingreiftruppe“ vor, die unter der Kontrolle der europäischen Staaten und im Dienste der UNO stehen sollte.

Die Reaktion der USA folgte prompt: Nicht nur schickten die USA Kriegsschiffe und Kriegsflugzeuge mit in den Indischen Ozean, sondern sie kündigten die Schaffung einer „internationalen humanitären Koalition“ an (unter Beteiligung Australiens, Japans und Indiens), um die „Hilfe zu koordinieren“.

Wie im Irakkrieg zielt die US-amerikanische Politik darauf ab, den anderen Mächten zu verdeutlichen, dass die USA der Boss sind, und dass sie auch gegenüber dieser Lage willens sind, ihre Führungsrolle zu verteidigen. Der US-Außenminister, Colin Powell, und der Bruder des US-Präsidenten Bush wurden vor Ort geschickt, um die „Werte des handelnden Amerikas“ zu preisen. Colin Powell, der oberste US-Befehlshaber im ersten Golfkrieg, und der den Befehl gab, dass die irakischen Frontsoldaten lebendig begraben werden sollten, scheute sich nicht Krokodilstränen zu vergießen, als er nach einem Flug über das Katastrophengebiet in Banda Aceh erklärte: „Ich kenne den Krieg, ich habe Wirbelstürme und Tornados und andere Krisengebiete gesehen. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen“ (Libération, 6.1.05).

All diese Reibereien zwischen den Großmächten, wo jeder Nationalstaat versucht, dem anderen eins auszuwischen, zeigen die wirklichen Motive der „humanitären“ Hilfsaktionen dieser kapitalistischen Geier. Wie ein US-Vertreter sagte: „Das ist eine wahre Tragödie, aber auch eine Gelegenheit, eine Chance zu ergreifen. Eine schnelle und großzügige Hilfe der USA könnte dazu beitragen, die Beziehungen der USA zu den asiatischen Staaten zu verbessern“.

In Anbetracht der strategischen Bedeutung Indonesiens im Indischen Ozean liegt es auf der Hand, dass die USA versuchen, diese Katastrophe auszuschlachten, um militärisch Fuß zu fassen (was das indonesische Militär Washington verwehrt hatte, als diese dem USA vorwarfen, sich in die inner-indonesischen Angelegenheiten einzumischen, nachdem die USA 1999 ihre Militärhilfe an Jakarta aufgrund der Gräueltaten des indonesischen Militärs in Osttimor ausgesetzt hatten). Darüber hinaus hat ihre „humanitäre Hilfe“ in Sri Lanka die Gestalt einer „Landung“ mit Amphibienfahrzeugen angenommen, die natürlich eine „friedliche“ Mission verfolgen (und nicht bewaffnet sind, wie ein Offizier versicherte), und die nicht das Ziel verfolgen, „zu zerstören“, sondern „der Bevölkerung zu Hilfe zu eilen“.

Die europäischen Staaten wiederum wollen auch militärisch und diplomatisch in der Region präsent sein. Was China angeht, will es seine Rolle als Gendarm in Asien wahren; es prallt dabei mit Japan zusammen. Und wenn Indien jegliche ausländische Hilfe verweigert hat, womit es einen Teil der betroffenen Bevölkerung wie Ratten krepieren lässt, stecken dahinter seine Bestrebungen, seine Interessen als Regionalmacht zu verteidigen.

Dies steckt hinter all dem Chaos der „humanitären Hilfe“ der Weltbourgeoisie: Die Verteidigung ihrer schmutzigen imperialistischen Interessen. Die Schmach und die grenzenlose Heuchelei der Herrschenden der Welt sind ekelerregend.

Erneut hat sich der Kapitalismus mit seinen Profitgesetzen und seiner herrschenden Klasse als eine Katastrophe für die Menschheit erwiesen, die einzig in der Lage ist, gerade mal die Toten zu zählen und immer nur noch mehr Zerstörung bringt. Zum gleichen Zeitpunkt, wo sie zulassen, dass die gigantischen Flutwellen große Teile der Bevölkerung auslöschen, verschärfen sie das Chaos in Afghanistan, verüben sie noch mehr terroristische Attentate und üben sie noch mehr Repression mit immer mehr Blutvergießen im Irak und Palästina aus, lassen sie es zu, dass noch mehr Menschen in Dafour an Hunger sterben, werden noch mehr Menschen im Kongo massakriert.

Diese blutige Spirale belegt, dass der Kapitalismus der Menschheit nur noch mehr Zerstörung anzubieten hat, mit immer blutigeren Katastrophen, mit immer barbarischen Kriegen, noch mehr Misere, Hunger und Epidemien. Dieses auf der Stelle verfaulende System zerstört Stück für Stück unseren Planeten immer mehr.

Welche Solidarität mit der von der Katastrophe betroffenen Bevölkerung?

Gegenüber dieser menschlichen und sozialen Tragödie müssen die Revolutionäre und das gesamte Weltproletariat laut und deutlich ihre Klassensolidarität gegenüber den Opfern bezeugen.

Wir können nur den Elan der weltweiten menschlichen Solidarität, die sofort zum Ausdruck kam, begrüßen. Ohne auf Hilfe zu warten, haben die Betroffenen sich gegenseitig geholfen; sowohl die asiatische Bevölkerung den Touristen als auch die Touristen der einheimischen Bevölkerung. Spontan haben Millionen Menschen, insbesondere die Arbeiter in allen Ländern angeboten, Lebensmittel, Kleidung und Geld zu spenden.

Aber diese natürliche Solidarität, die die Grundlage der gesellschaftlichen Existenz und des Überlebens der Gattung Mensch darstellt, wurde sofort von der herrschenden Klasse und den NGO (Nicht-Regierungsorganisationen) instrumentalisiert.

Die Informationsflut und die schockierenden Bilder aus dem Katastrophengebiet dienen dazu, das Nachdenken über die Ursachen dieser sozialen Katastrophe zu verhindern.

Da wir ‚hilflos‘ gegenüber solchen Ereignissen sind, wäre das einzige, was wir den Herrschenden gemäß ihren Medien und Spezialisten der „humanitären Hilfe“ machen können, Geld für die NGO zu spenden; dazu wird uns gleich versichert, dass die Spenden auch bei den Menschen vor Ort ankämen.

Diese „NGO“ (Nicht-Regierungsorganisationen) haben erneut bewiesen, dass sie im Dienst der Regierungen stehen. Das Chaos bei den Hilfeleistungen vor Ort unterstreicht dies erneut: Jedes nationale Fernsehen betreibt Werbung für diese oder jene NGO, die je nach Ursprungsland, damit beauftragt ist, die jeweiligen Interessen der einen oder anderen Regierung auf Kosten und gegen die anderen NGO’s zu vertreten. So wird die Solidarität in den Händen der Herrschenden zum Chauvinismus.

Die Empörung der Arbeiterklasse über dieses Drama, ihre spontane Solidarität mit den Opfern wurde von der herrschenden Klasse manipuliert und von ihr durch eine „humanitäre“ Hilfskampagne instrumentalisiert. So konnte die herrschende Klasse mit Hilfe der NGOs den wirklichen Spendenelan der Bevölkerung auf eine rein karitative Ebene lenken. Mit den Aufforderungen zur finanziellen Unterstützung für die hilfsbedürftige Bevölkerung haben die bürgerlichen Staaten einen wahren Erpressungsversuch gestartet, indem der Weltbevölkerung, insbesondere der Arbeiterklasse, das Gefühl eingeimpft wird, man könne sein „Gewissen befriedigen“, indem man für die „humanitären“ Aktionen der Regierungen Geld spendet.

Diese, von den Medien täglich angefachte Kampagne, ist ein ideologisches Trommelfeuer, das dazu dient, das Bewusstsein der Menschen zu trüben und die Arbeiter daran zu hindern, über die wirklichen Ursachen der Katastrophe nachzudenken.

Indem die Arbeiter daran gehindert werden sollen, zu begreifen, was tatsächlich hinter dem Kapitalismus steckt, der als einziger für diese Katastrophe verantwortlich ist, versucht man die Klassensolidarität der Arbeiterklasse zu entstellen und sie in Sackgassen zu lenken.

Die Solidarität der Arbeiterklasse aber kann im Gegensatz zu dem, was uns die Herrschenden und die NGO’s glauben machen wollen, nicht auf eine einfach karitative Handlung beschränkt werden. Einerseits, weil die Geldspenden nur einen Tropfen auf den heißen Stein sein können in Anbetracht des Ausmaßes des Desasters.

Andererseits können die gesammelten Spendengelder die Misere und die Hoffnungslosigkeit all dieser Menschen, die ihre Angehörigen verloren haben, und deren Körper nie gefunden werden oder die ohne Bestattung in den Massengräbern beerdigt wurden, nicht erleichtern.

Das Geld kann das Irreparable nicht wiedergutmachen

Geld war noch nie ein Mittel gegen moralisches Leiden! Schließlich können diese Gesten finanzieller Solidarität das Problem nicht an der Wurzel packen. All diese Spenden können nicht verhindern, dass sich solche Katastrophen in anderen Teilen der Welt wiederholen. Deshalb kann die Klassensolidarität der Arbeiterklasse nie die der Kirchen und der NGO’s sein.

Die Arbeitersolidarität verfolgt nicht das Ziel, das „Gewissen zu beruhigen“ oder Seelen zu retten, indem dem Schuldgefühl, das uns die herrschende Klasse einflößen will, nachgegeben wird.

Diese Klassensolidarität kann sich nur entfalten auf der Grundlage der Entblößung des einzig Schuldigen für diese Katastrophe: die herrschende Klasse, die das kapitalistische System führt.

Die Arbeiter auf der ganzen Welt müssen begreifen, indem sie ihren Kampf gegen die Herrschenden führen, indem sie deren mörderisches System überwinden, würdigen sie wirklich die Toten, all diese auf dem Altar des Profit und der Rentabilität geopferten Menschenleben.

Sie müssen ihren Kampf und ihre eigene Klassensolidarität gegen alle Staaten und Regierungen entfalten, die sie nicht nur ausbeuten und ihre Lebensbedingungen angreifen, sondern die auch noch die Unverschämtheit haben, „Geld zu spenden“, um die durch den Kapitalismus verursachten Schäden zu bezahlen.

Nur durch den alltäglichen Kampf gegen dieses System, bis hin zu dessen Überwindung, kann die Arbeiterklasse ihre wahre Solidarität gegenüber den Arbeitern und der Bevölkerung der von der Flutwelle zerstörten Gebieten zeigen.

Auch wenn diese Solidarität natürlich keine unmittelbare Wirkung zeigen kann, ist sie alles andere als das Strohfeuer, das von den Herrschenden und den NGO’s gezündet wurde.

In wenigen Monaten wird für die herrschende Klasse und ihre karitativen Organisationen diese Katastrophe begraben sein. Die Arbeiterklasse dagegen darf diese nicht vergessen, genauso wenig wie sie die Masssaker im Golfkrieg und all die anderen Kriege und sogenannten „Naturkatastrophen“ vergessen darf. Die Arbeiter auf der ganzen Welt dürfen solche Ereignisse nicht einfach vergessen. Sie müssen in ihr Gedächtnis eingeprägt bleiben und ihnen als Kompass dienen, um ihre Entschlossenheit zu stärken, gegen die Barbarei des Kapitalismus ihre Kämpfe und ihre Einheit als Klasse zu entfalten.

Die Arbeiterklasse ist in der gegenwärtigen Gesellschaft die einzige Kraft, die dazu in der Lage ist, all den Opfern der bürgerlichen Gesellschaft eine wirkliche Gabe anzubieten, indem der Kapitalismus überwunden und eine neue Gesellschaft aufgebaut wird, die nicht auf dem Profit aufgebaut ist, sondern auf der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Und sie ist die einzige Klasse, die aufgrund ihrer revolutionären Perspektive in der Lage ist, der Menschheit eine Zukunft anzubieten.

Deshalb muss die Arbeitersolidarität weit über die gefühlsmäßige Solidarität hinausgehen. Sie darf sich nicht auf diese Gefühle der Ohnmacht oder ein Schuldgefühl stützen, sondern vor allem auf ihr Bewusstsein.

Nur die Entfaltung ihrer eigenen Klassensolidarität, die sich auf das Bewusstsein des Bankrotts des Kapitalismus stützt, wird dazu in der Lage sein, die Grundlagen einer Gesellschaft zu schaffen, in der die Verbrechen, die uns die Bourgeoisie als ‚Naturkatastrophen‘ darstellt, niemals vergessen werden, und wo diese schreckliche Barbarei endgültig überwunden und abgeschafft werden kann.

„Der in seinem Todeskampf dahinsiechende Kapitalismus will uns an all diesen Horror gewöhnen, und dass wir die Barbarei, für die er verantwortlich ist, als ‚normal‘ betrachten. Die Arbeiter müssen reagieren, indem sie sich empören über diesen Zynismus und ihre Solidarität mit den Opfern dieser endlosen Konflikte und Massaker, die von allen kapitalistischen Banden verübt werden, zeigen (wobei die Opfer der ‚Naturkatastrophen‘ noch hinzukommen). Die Ablehnung und der Ekel gegenüber dem, was der verfaulende Kapitalismus der Gesellschaft aufzwingt, die Solidarität unter den Mitgliedern einer Klasse, die nur gemeinsame Interessen haben, sind wesentliche Faktoren bei der Bewusstwerdung darüber, dass eine andere Perspektive möglich ist und eine vereinte Arbeiterklasse die Mittel hat, diese durchzusetzen“ (Internationale Revue, engl., französisch, spanische Ausgabe, Nr. 119).

Die Arbeiter auf der ganzen Welt können ihre Solidarität gegenüber den Opfern der Katastrophe nur zeigen, indem sie durch ihren Kampf gegen die Ausbeutung, die Misere und die kapitalistische Barbarei mit ihrem eigenen Beispiel beweisen, „Nieder mit allen Regierungen, Nieder mit dem Kapitalismus, Arbeiter aller Länder, vereinigt Euch.“ DM, 8.1.05

Geographisch: 

  • Asien [9]

Theoretische Fragen: 

  • Umwelt [10]

Verleumdungskampagne gegen die IKS

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Nach der öffentlichen Veranstaltung des Internationalen Büros für die Revolutionäre Partei (IBRP) in Paris, die mit der "politischen und materiellen Unterstützung" der 'Internen Fraktion der IKS' (IFIKS) durchgeführt wurde - wir haben darüber in dem Artikel 'Das IBRP wird von Schlägern als Geisel genommen' auf unserer Website berichtet -, wurde die IKS Opfer einer neuen Verleumdungskampagne. Diese Kampagne wird auf einer internationalen Ebene organisiert, nicht nur von einer parasitären Gruppe, der IFIKS, sondern auch vom IBRP und einer argentinischen Gruppe, die sich selbst unter dem Namen 'Circulo de Comunistas Internacionalistas' präsentiert und die behauptet, Nachfolger des 'Nucleo Comunista Internacional (NCI)' zu sein (von dem die IKS mehrere Beiträge in ihrer Presse veröffentlicht hat). So sind:

- auf der Website der IFIKS zwei Erklärungen dieses 'Circulos' zu finden, die ein Lügennetz und Verleumdungen gegen die IKS darstellen

- und auf der Website des 'Circulo' (www.geocities.com/cci [11] 1917) drei Texte zu finden, die Anschuldigungen gegen die IKS erheben, wobei sie die gleichen Propagandathemen aufgreifen wie die IFIKS: Die IKS wird beschuldigt, eine stalinistische Organisation zu sein

- und auf der IBRP-Website ebenfalls die Erklärung des 'Circulo' vom 12. Oktober zu finden, die die "ekelerregenden Methoden der IKS" anprangert.

Auch hat das IBRP soeben auf seiner Website eine Antwort auf unseren Artikel 'Das IBRP wird von Schlägern als Geisel genommen' veröffentlicht. Dieser Artikel 'Eine Antwort auf die stupiden Beschuldigungen einer Organisation, die dabei ist sich aufzulösen' ist eine Kriegserklärung an die IKS. In diesem Artikel bestätigt das IBRP, dass seine Verbindungen mit der IFIKS "bestehen und weiter Bestand haben werden". Dieser Text verficht nicht nur die Sache der IFIKS, sondern er sanktioniert und rechtfertigt auch den Diebstahl unserer Abonnentenadressenliste durch diese so genannte Fraktion. Gleichzeitig behauptet das IBRP, dass es nicht vorhat, der IKS oder irgend jemand sonst Rechenschaft abzulegen über seine Handlungsweisen. Was bedeutet, dass es sich weigert, auf unsere Frage in unserem Brief (verteilt am 2. Oktober auf der öffentlichen Veranstaltung des IBRP in Paris uns auf unserer Website veröffentlicht) zu antworten: "Wie kommt der Handzettel des IBRP, der zu der Veranstaltung aufruft, an die Postadressen von manchen unserer Abonnenten, wenn diese ihre Adressen nur der IKS gegeben haben?" Unsere Antwort 'Lügen und Verleumdungen sind keine Mittel der Arbeiterklasse' auf die Stellungnahme des IBRP ist kürzlich auf unserer Website auf Französisch veröffentlicht worden und wird bald auf Englisch verfügbar sein. Verschiedene andere Punkte, die sich mit dieser Angelegenheit befassen, vor allem die Korrespondenz mit dem IBRP, sind auf unserer Website veröffentlicht worden, einige von ihnen sind auch ins Englische übersetzt.

Unsere Abonnenten haben auch die Ekel erregenden Texte des 'Circulo' über die IFIKS erhalten, die unsere Adressenliste gestohlen hat, um ihre Verleumdungskampagne entfalten zu können. Heute zwingen uns diese Kampagnen, bei denen das IBRP, die IFIKS und der 'Circulo' zusammenfinden, dazu, einen neuen Kampf gegen Praktiken zu eröffnen, die dem Proletariat fremd sind, wie Diebstahl, Denunziantentum und Verleumdungen.

Aus diesem Grund wollen wir hier erneut bekräftigen, wie wir es schon auf unserer Website getan haben:

1. dass die drei Erklärungen des 'Circulo' in Argentinien ein übles Lügengewebe sind;

2. dass dieser 'Circulo' im Gegensatz zu dem, was er behauptet, nicht der Nachfolger des NCI ist. Er ist aus dem Nichts entstanden, da er nirgends das geringste politische Argument geliefert hat, um zu erklären, warum der NCI sich entschlossen hat, seinen Namen und seine Standpunkte zu ändern. Ebenso wenig gibt es ein Argument, das die 180°-Wendung in der Stellungnahme des NCI, die das destruktive Verhalten der IFIKS verurteilt, erklären würde. (Diese Stellungnahme des NCI ist veröffentlicht in Revue International, unserer Zeitung in Frankreich, in Accion Proletaria, unserer Zeitung in Spanien, und auf unserer Website.) Außerdem zeigt die jüngste Erklärung des NCI, dass der 'Circulo' nicht von allen Genossen dieser Gruppe gebildet wurde, sondern nur von einem früheren Mitglied, das hinter dem Rücken der übrigen Genossen handelte; zudem bekräftigt der jüngste Text des NCI seine politische Solidarität mit der IKS. Dieser Text, genauso wie die Einleitung der IKS dazu, wurde in World Revolution, Nr. 280 veröffentlicht. Eine weitere Bestätigung des wirklichen Verhaltens des NCI kann in dem Bericht der jüngsten IKS-Delegation in Argentinien gefunden werden, veröffentlicht als Beilage zu World Revolution Nr.280 auf der Website.

Es sollte auch darauf hingewiesen werden, dass der 'Circulo', der sich mit der IFIKS und dem IBRP solidarisiert, auf seiner Website Links zu allen möglichen stalinistischen und linksextremistischen Gruppen hat. Die Genossen sollten sich diese Website ansehen. Sie können sich so davon überzeugen, dass es richtig ist, was wir sagen. So gibt es für den 'Circulo' eine Kontinuität der "marxistischen Autoren", die von Marx zu.... Mao und Che Guevara reicht. Die IKS versichert hier erneut, dass sie mit dem 'Circulo' nichts zu tun hat. Im Gegenteil, wir haben ihn von Anfang an denunziert.

3. Wenn das IBRP, eine Organisation der kommunistischen Linken, jetzt begonnen hat, Kampagnen gegen die IKS aufzugreifen und mitzutragen, die die IFIKS schon seit über zwei Jahren betreibt, dann geschieht dies aufgrund seines Opportunismus. Und dieser Opportunismus hat das IBRP nun veranlasst, ein Bündnis mit parasitären Gruppen wie der IFIKS einzugehen.

Wir müssen einen Unterschied zwischen dem opportunistischen Charakter des IBRP und dem parisitären Wesen der IFIKS machen.

Obwohl die IKS allseits von solchen Verleumdungen umgeben ist, wird sie sich durch diesen internationalen Tumult nicht beirren lassen. Dieses Phänomen ist nicht neu. Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll von solchen Vorfällen, wo Militante, wie Marx, Lenin oder Trotzki, und revolutionäre Organisationen die Opfer von Verleumdungen geworden sind. Das ist Teil des Kampfes nicht nur gegen den Kapitalismus, sondern auch gegen die Infiltration bürgerlicher Methoden in die Organisationen des proletarischen Lagers (wie es heute beim IBRP der Fall ist). Die IKS wird ohne Zugeständnisse und mit Geduld und Ausdauer für die Verteidigung proletarischer Prinzipien kämpfen. Es ist unsere Verantwortung, diesen Kampf zu führen, nicht nur um uns gegen solche Angriffe selbst zu verteidigen, sondern auch um mit den Waffen der Kritik, den Waffen der marxistischen Methode zu versuchen, das IBRP zu retten (ohne zu viele Illusionen zu hegen, weil wir es nicht zwingen können, einen anderen Weg einzuschlagen).

Wir fordern die Genossen, die lange an unserer Seite gestanden haben, auf, weiter Vertrauen in die IKS zu haben und uns ihre Unterstützung in diesem Kampf zu geben, wie sie es immer getan haben.

IKS, November 2004

 

siehe auch:

Einleitung der IKS zur Erklärung des NCI vom 27. Oktober 2004 [12]

Erklärung des Nucleo Comunista Internacional (Kern internationaler Kommunisten) zu den Erklärungen des “Circulo de Comunistas Internacionalistas” (Zirkel internationalistischer Kommunisten) [13]

 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Parasitismus [14]

Wahlen in der Ukraine

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Großmächte verbreiten Chaos

 

Nach einem langen Machtkampf hat der neue Präsident Juschtschenko sein Amt angetreten. Der bürgerlichen Propaganda zufolge ging es um die Verteidigung der Demokratie, aber hinter dieser Fassade geht es keineswegs um den Kampf für die Demokratie. Auf der Tagesordnung steht die sich verschärfende Konfrontation zwischen den Grossmächten, im speziellen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten. Letztere wollen mit ihrer "Verdrängungsstrategie" die Ukraine der russischen Einflusssphäre entziehen. Der Ärger Putins richtet sich bezeichnenderweise vor allem gegen die USA, da diese hinter dem Kandidaten Juschtschenko und seiner "orangefarbenen" Bewegung stehen.

Im Lauf einer in Neu Delhi gehaltenen Rede vom 5. Dezember beschuldigte der Chef des Kremls die Vereinigten Staaten, sie wollten "die Verschiedenheiten der Zivilisation umgestalten und sie einer unipolaren Ordnung angleichen, ähnlich einer Kaserne", und sie wollten "die internationalen Angelegenheiten einer Diktatur, gespickt mit einer schönen pseudo-demokratischen Phraseologie unterwerfen." Putin konfrontierte zudem die Vereinigten Staaten mit der Realität ihrer Situation im Irak. Er erklärte dem irakischen Premierminister am 7. Dezember 04 in Moskau, er könne sich nicht vorstellen "wie man unter den Umständen einer totalen Besetzung durch ausländische Truppen Wahlen organisieren könne"! In dieselbe Logik gehört der Widerstand Putins gegen die gemeinsam von den 55 Staaten der OSZE unterzeichnete Erklärung zur Unterstützung der Ukraine, um den Ausgang aus der Krise zu ermöglichen und die Rolle der OSZE bei der Sicherung der dritten Präsidentschaftswahlrunde vom 26. Dezember zu bestätigen.

Seit dem Zusammenbruch der UdSSR und der zum Scheitern verurteilten Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) im Jahr 1991, welche die Überreste des ehemaligen Imperiums retten sollte, bröckeln die Grenzen Russlands. Russland ist dem Druck Deutschlands und der Vereinigten Staaten ausgesetzt, aber auch im Landesinnern herrscht eine permanente Tendenz zur Zersplitterung. Die 1992 und 1996 unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus lancierten tschetschenischen Kriege entblössten die Brutalität einer sich im Abstieg befindlichen Macht. Russland wollte seine Herrschaft in der strategisch lebenswichtigen kaukasischen Region bewahren, koste es, was es wolle. Für Moskau geht es in diesem Krieg um den Widerstand gegen die gegnerischen imperialistischen Avancen Washingtons und Berlins. Deutschland entwickelte dabei eine unübersehbare imperialistische Aggressivität, wie sie schon im Frühjahr 1991 in seiner Rolle beim Ausbruch des Jugoslawienkonflikts zum Ausdruck kam.

Die Regelung der Kaukasusfrage ist noch weit entfernt, da die Vereinigten Staaten ihre Avancen entschieden fortführen. Sie standen auch hinter der Ausschaltung von Schewardnadse im Jahr 2003 durch die "Rosenrevolution", die einer pro-amerikanischen Clique den Weg zur Macht eröffnete. Die USA konnten neben den schon in Kirgisien und Usbekistan und im Norden Afghanistans präsenten amerikanischen Einheiten nun weitere Truppen im Landesinneren etablieren und dadurch ihre Militärpräsenz im Süden Russlands sowie seine Umzingelung verschärfen. Die ukrainische Frage war für Russland schon lange von grosser Bedeutung, sowohl zurzeit der Zaren als auch der Sowjetrepublik. Heute stellt sich dieses Problem für den russischen Staat in noch viel grösserem Masse.

Auf ökonomischer Ebene ist die "Zusammenarbeit" zwischen der Ukraine und Russland von grosser Bedeutung für Moskau. Aber vor allem auf strategischer und militärischer Ebene ist die Kontrolle über die Ukraine noch wichtiger als die Kontrolle über den Kaukasus.

Dies vor allem, weil die Ukraine wegen der atomaren Militärstützpunkte, die sie vom Ostblock geerbt hat, die dritt grösste Nuklearmacht der Welt ist. Russland trachtet danach, diese Tatsache für sich zu nutzen und so das imperialistische Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten zu ändern. Darüber hinaus bildet die Ukraine für Moskau, nachdem letztgenanntes jeden direkten Zugang zum Mittelmeer verloren hat, den einzigen und letzten Zugang nach Asien und über das Schwarze Meer zur Türkei. Hier befinden sich auch die russische Nuklearbasis von Sebastopol und die russische Flotte. Ausserdem würde Russland durch den Verlust der Ukraine gegenüber den europäischen Ländern und vor allem Deutschland extrem an Boden verlieren. Russlands Einflussmöglichkeiten auf das Schicksal Europas und der osteuropäischen Länder, in ihrer Mehrzahl schon weitgehend pro-amerikanisch, würde eingedämmt. Eine dem Westen zugekehrte (und also vom Westen und im Besonderen von den Vereinigten Staaten kontrollierte) Ukraine würde mehr denn je die Impotenz der russischen Macht zur Schau stellen. Das Phänomen der Zersplitterung der GUS mit ihren negativen Auswirkungen würde daher verschärft. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden durch eine solche Situation ganze Regionen Russlands (in denen lokale Despoten zur Rebellion aufrufen) dazu ermutigt, ihre Unabhängigkeit zu erklären, und dadurch würden die anderen Grossmächte in ihren Ambitionen noch mehr gestärkt.

Die ukrainische Frage ist daher eine Frage auf Leben und Tod, die sich dem bedrängten russischen Imperialismus in naher Zukunft aufdrängt. Ohne Zweifel wird Putin alles daran geben, um die Ukraine in seinem Schoss zu halten, oder, sollte er daran scheitern, wenigstens seinen Teil zu ergattern, was zur Auflösung der Ukraine führen würde.

In diesem Sinne drängt Moskau ganze Regionen der Ukraine, vor allem im Osten und Süden, zur Abspaltung und nährt dadurch das Chaos und die Destabilisierung der Region.

Moskau bietet somit der Logik seines amerikanischen Rivalen, die Bush-Administration, Paroli, welche durch ihre imperialistische Politik Tag für Tag die grauenhafte Barbarei verschärft.

Mit ihrem Versuch, die Ukraine unter ihre Fittiche zu nehmen, verstärken die Vereinigten Staaten also ihren Druck auf Russland, um ihre Einflusssphäre auf seine Kosten zu erweitern. Gleichzeitig aber führt die USA ihre Politik der Einkreisung Europas weiter. Begonnen hat diese Politik mit dem Ausbruch des Krieges in Afghanistan, und sie zielt vor allem darauf ab, die Ausdehnung Deutschlands Richtung Osten zu blockieren.

Osteuropa ist tatsächlich das "traditionelle" imperialistische Expansionsgebiet Deutschlands. Am stärksten zum Ausdruck kam dies zur Zeit des Dritten Reichs, aber auch während des Ersten Weltkriegs. Und wenn die deutsche Bourgeoisie auf eigene Rechnung den Diskurs gegen ihren amerikanischen Rivalen aufnimmt, um Russland und seine "neokolonialistische" Politik in der Ukraine zu "verurteilen", so tut sie das nur, um daraus künftig Vorteile für sich selbst zu ernten.

In der Ukraine haben daher nicht nur zwei, sondern drei Mächte ihre Hände im Spiel, und dieses Spiel bereitet der ukrainischen Bevölkerung keineswegs eine schöne Zukunft. Ganz im Gegenteil: Wenn bis jetzt nämlich die Ukraine in den Fängen der russischen Bourgeoisie war, sind es jetzt drei Räuber, die sich gegenseitig zerfleischen und nichts anderes können als Chaos zu stiften, mit all den Folgen, die eine solche Situation auf regionalem und internationalem Niveau nach sich ziehen würde.

Es ist unbestreitbar, dass die Auswirkungen dieses amerikanischen Vorstosses nicht nur die Ukraine, Russland und die GUS, sondern auch die Gesamtheit Zentralasiens betreffen werden. Und wenn auch die Grossmächte die Hauptverursacher des Chaos sind, so darf man keineswegs übersehen, dass Regionalmächte wie die Türkei und der Iran gleichermaßen Unheil stiften. Letztere bleiben nicht passiv und speisen ebenfalls die Dynamik des Chaos. Es herrscht hier in dieser weiten Region eine Tendenz zur Zersplitterung und zum permanenten Bürgerkrieg vor und wird durch den Irakkrieg verschärft. Diese Tendenz erhält durch den neuen Brennpunkt indirekt weiteren Auftrieb. Und diese Destabilisierung kann bei einer weiteren Eskalation im Irakkrieg, die von zahlreichen Ländern und an erster Stelle von den USA in ihrem Wettlauf um die Kontrolle der Welt entfacht wird, nur verheerende Konsequenzen haben. Neue Krisenherde würden entstehen.

Die Arbeiterklasse darf sich nicht vom demokratischen Täuschungsmanöver in die Irre führen lassen

Die demokratische "Wahl" in der Ukraine war ein Täuschungsmanöver und eine Falle. Die ukrainische Bevölkerung wird auf die Rolle von Schachfiguren reduziert. Sie wird manipuliert und hinter die eine oder andere rivalisierende bürgerliche Fraktion gelockt. Der "Sieg der Demokratie" wird in keiner Weise die miserable Situation der ukrainischen Arbeiterschaft verbessern. Vielmehr soll dieser Sieg die Arbeiter zur Verteidigung des "demokratischen" Vaterlandes mobilisieren (nachdem die vorhergehenden Generationen das "sozialistische" Vaterland zu verteidigen hatten). Dadurch sollen die "orangefarbenen" Opfer, welche die zukünftigen Führer der Ukraine unvermeidbar von den Arbeiter fordern, akzeptiert werden. Erinnern wir uns daran, dass der "Demokrat" Juschtschenko als Premierminister und Bankier der damaligen pro-russischen Regierung (die er heute so eifrig verurteilt), nicht minder Opfer von der Arbeiterklasse forderte. Die Clique, die sich auf die Machtergreifung vorbereitet, steht der vorhergehenden in nichts nach, und ihre internen Streitigkeiten lassen keine Aussicht auf Stabilität zu. Die verlogenen demokratischen Perspektiven dienen dazu, Illusionen über die Möglichkeit einer Reformierung des kapitalistischen Systems aufrechtzuerhalten. Sie fordern vom Proletariat, dass es klein beigibt und die "höheren" Interessen des demokratischen Staates über seine eigenen "kleinlichen" Forderungen nach besseren Lebensbedingungen stellt.

Die Perspektive, "eine Welt von Bürgern" zu schaffen in einer Demokratie, die den Weg zu einer glücklichen Menschheit eröffne, ist bare Illusion. Sie soll das Bewusstsein zermürben, dass der immer mehr Barbarei und Chaos stiftende Kapitalismus von der Arbeiterklasse gestürzt werden muss.

(leicht gekürzte Fassung eines Artikels aus unserer Zeitung in Frankreich, Anfang Januar)

– eine ausführlichere Analye dieser Frage haben wir in dem Editorial der Internationalen REview Nr. 120 auf englisch-französich-spanisch entwickelt - siehe unsere Webseite

Die “Plattform" und das "Manifest der IKS” sowie unsere Broschüre “Nation oder Klasse” sind jüngst auf russisch erschienen.

Interessierte Leser können sie bei uns anfordern.

 

Geographisch: 

  • Europa [15]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [16]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [17]

Weltrevolution Nr. 129

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Das marxistische Konzept der Dekadenz des Kapitalismus

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Was heute einem Beobachter dieser Welt zunächst ins Auge sticht, ist das unglaubliche Chaos, das überall zu sehen ist: Schreiendes Elend breitet sich immer mehr aus bis in die Zentren der hochindustrialisierten Länder; massenhafte Langzeitarbeitslosigkeit, die jeden Arbeiter bedroht; Kriege zwischen Staaten auf allen Kontinenten. Doch trotz dieser ständigen Zerstörungen hört die herrschende Klasse nicht auf, von Wohlstand und Fortschritt zu sprechen: Wo ist aber Fortschritt angesichts all der Kriege, die fast überall die Bevölkerung massakrieren und Städte, Felder und Wälder zerstören? Wo ist Wohlstand, wenn Tausende von Menschen täglich den Hungertod erleiden? Wo ist der Wohlstand, wenn kein Arbeiter mehr weiß, was ihm die Zukunft bietet.

Angesichts dieses eklatanten Widerspruchs zwischen Propaganda und Realität stellt man sich unweigerlich Fragen: Warum produziert eine Gesellschaft, die angeblich den Fortschritt, Wohlstand und Sicherheit bringen soll, genau das Gegenteil für die Menschheit? Woher rührt dies? Ist es Schicksal? Die Bourgeoisie hat Antworten: Sie versichert uns, dass das Problem im bösen Wesen des Menschen begründet sei, oder im Mangel an Demokratie, oder in vorübergehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten wegen einer ungenügenden Kontrolle der Finanzströme, dass es mit dem Anstieg der Rohstoffpreise auf den Märkten zu tun habe, oder mit der unmoralischen Gier der Spekulanten. Doch diese schönen Reden stehen in starkem Kontrast zur tatsächlichen Lage der Welt. Besonders wenn man berücksichtigt, dass diese Art von Argumenten schon seit geraumer Zeit vorgetragen wird, während sich die Situation immer weiter verschlechtert. Warum ein solches Desaster nach allem Fortschritt, den die Menschheit früher erreicht hat? Warum so viel Elend, wenn es doch scheinbar so viele Reichtümer auf der Welt gibt? Tatsächlich gehen jene Erklärungen über das angeblich böse Wesen des Menschen etc. an der Sache vorbei, und zwar absichtlich. Sache ist, dass es eine Krise gibt. Wenn wir als revolutionäre Marxisten über die Krise heute sprechen, geschieht dies auf einer anderen Grundlage als das Gerede der Bourgeoisie von der Krise. Die periodischen Krisen haben zwar schon immer zum Kapitalismus gehört, haben ihn seit den Anfängen seiner Entwicklung begleitet. Aber heute geht es um eine andere Krise: sie ist nicht eine vorübergehende, sie steht vielmehr für den Bankrott des kapitalistischen Systems selber.

Diese Feststellung beruht nicht auf einer "photographischen" Beobachtung sondern auf die marxistische Analyse der Entwicklung des Kapitalismus. Wir behaupten auf dieser Grundlage, dass der Kapitalismus vor fast einem Jahrhundert in seine niedergehende Phase eingetreten ist, und dass in dieser Phase, anders als in der aufsteigenden, die kapitalistische Krise unüberwindbar wird, so dass ihr Ausgang entweder die Auslöschung der Menschheit und aller Errungenschaften ihrer Entwicklung im Laufe der Geschichte sein wird, oder aber die Aufhebung der mörderischen Widersprüche des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse in ihrem Kampf für den Aufbau einer neuen Gesellschaft.

In diesem Sinn ist für uns Marxisten die Dekadenz der grundlegende Rahmen für die Analyse der Situation. Ohne diesen Rahmen es nicht nur unmöglich, die Realität der heutigen Welt zu verstehen, sondern es ist auch unmöglich, eine realistische Perspektive zu entwickeln. Das marxistische Verständnis der Dekadenz ist weit entfernt davon, zu einer Haltung der Demoralisierung, der Zukunftsangst oder des Fatalismus zu verleiten; vielmehr begründet es die kommunistische Perspektive, die nicht einfach ein Hirngespinst ist und auch nicht aus dem reinen Willen der Menschen resultiert, sondern auf der Grundlage einer umfassenden Analyse der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft beruht, kurz, auf dem, was wir den historischen Materialismus nennen.

Die Entwicklung früherer Gesellschaften

Das Konzept der Dekadenz ist keine Erfindung der IKS. Sie ist vielmehr eine Auffassung, die im Zentrum der marxistischen Analyse der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften steht. Von Anfang an haben Marx und Engels eine Arbeitsmethode angewandt, die darin bestand, für das Verständnis der aktuellen Gesellschaft zuerst die gesellschaftliche Entwicklung der Menschheit zu analysieren. Bei diesen Untersuchungen entdeckten die beiden Begründer des Marxismus, dass die menschliche Gesellschaft um die Produktion, d.h. die erste und zentrale Tätigkeit des Menschen, organisiert wurde. Die Verhältnis der Produzenten zu den Produktionsmitteln bestimmt im wesentlichen die Form der gesellschaftlichen Beziehungen überhaupt.

Sie packten die Frage auf geschichtlicher Ebene an und stellten fest, wie die Entwicklung der Produktionsmittel und ihrer Organisation die gesellschaftliche Organisation beeinflusste. Und dabei hat sich, kurz auf das Wesentliche zusammengefasst, gezeigt, dass die Entwicklung der Produktionsmittel und Technik, die angesichts der zu befriedigenden Bedürfnisse nötig ist, so abläuft, dass die Organisation dieser Mittel (d.h. die Produktionsverhältnisse) mit dem Ziel der Produktion in Widerspruch traten und schliesslich zur Fessel desselben wurde(n). Es wurde nötig, die Organisation der Produktion von Grund auf zu ändern, damit die jeweiligen Produktionsmittel wirklich benützt werden können und ihre Weiterentwicklung fortgesetzt werden kann. (1)

Diese Veränderung läuft nicht behutsam ab: Um die Produktion herum organisiert sich die Gesellschaft, haben wir gesagt, und bis heute musste die Menschscheit mit dem Mangel leben. Daraus entstand notwendigerweise der Besitz, das Eigentum, die Ausbeutung .... Um die Produktion kristallisierten sich folglich die Interessen und die Macht. Wenn man die Organisation der Produktion in Frage stellte, betraf dies unmittelbar auch die wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Stellung der herrschenden Klassen. Solche Veränderungen vollziehen sich nur über einen mehr oder weniger heftigen Bruch, der in jedem Fall radikal ist.

Deshalb erfolgte die Entwicklung der Produktionsmittel nicht linear und bruchlos, mit einem kontinuierlichen Anstieg. Und deshalb durchlief jedes Produktionssystem eine Phase des Niedergangs, während der die Entwicklung der Produktionsmittel gegen ihre eigene Organisation rebelliert, und während der sich in der Gesellschaft selbst revolutionäre Kräfte bilden angesichts der herrschenden Klasse, die an ihren Privilegien festhält.

In der römischen Gesellschaft war die Produktion organisiert zwischen Sklaven einerseits, die arbeiteten, und Sklavenhaltern andererseits, die sie arbeiten ließen. Diese Produktionsweise erlaubte die Entwicklung der Produktion, bis sie ein Niveau erreichte, das ein Problem aufwarf: um fortzufahren zu produzieren, benötigte man mehr Sklaven, die eigentlich Gefangene waren, die die Römer in Kriegen gemacht hatten. Und die damals geführten Kriege stießen aufgrund der eingesetzten Mittel auf ihre geographischen Grenzen. Außerdem erforderte die Weiterentwicklung der Produktionstechniken eine reifere Arbeitskraft, als sie die Sklaverei zur Verfügung stellen konnte… Man sieht an diesem Beispiel, dass die Art und Weise, in der die Produktion organisiert wurde, je länger je weniger den Bedürfnissen der Produktion entsprach. Wenn man fortfahren wollte mit der Entwicklung der Produktion, wurde diese Organisation der Arbeit, die bisher eine Entwicklung erlaubt hatte, zu einem Hindernis.

Aus diesem Grund wurden die Sklaven befreit und zu Leibeigenen gemacht. Das Feudalsystem erlaubte wiederum die Entwicklung der Produktion, bis sie ein solches Niveau erreichte, dass man wieder auf Hindernisse stieß. Effektiv verwandelten die kapitalistischen Verhältnisse den Produzenten des Mittelalters in den freien Menschen, der seine Arbeitskraft dem Kapitalisten verkauft. Die Produktion fand erneut eine Organisationsform, die fähig war, ihre Entwicklung zu begünstigen. Eine sehr schnelle Entwicklung, wie es sie nie zuvor gegeben hatte und die es der Menschheit zum ersten Mal erlaubte, die Gesellschaft des Mangels hinter sich zu lassen.

Wenn der Übergang von einer Produktionsweise zur anderen sich nicht in einer linearen Weise und ohne Zusammenstöße vollzog (quasi von einem Aufstieg zum nächsten), so liegt dies darin begründet, dass eine Produktionsweise in bestimmten gesellschaftlichen Beziehungen zum Ausdruck kommt, in denen die herrschende Klasse alles daran setzt, ihre Vorherrschaft zu verteidigen und eine gesellschaftliche Umwälzung zu verhindern. Während einer solchen Zeit wird der Widerspruch zwischen dem Niveau, das die Produktion eigentlich erreicht hat, und der Form, in der sie organisiert wird, immer schreiender, was sich in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Spannungen, Zusammenstößen und Explosionen ausdrückt.

Der Niedergang einer Produktionsweise beginnt folglich dann, wenn die Produktionsverhältnisse zu einem Hindernis für die Entwicklung der Produktion werden. Sie dauert so lange an, als sich keine neuen Produktionsverhältnisse gebildet haben. Die Dekadenz ist die Periode des Bankrotts der alten Gesellschaft, der Zeitraum, bis die neue Gesellschaft aufgebaut werden kann.

Der Kapitalismus ist, wie wir gesehen haben, keine Ausnahme von dieser Regel. Aber der Niedergang des Kapitalismus unterscheidet sich von den Dekadenzphasen früherer Gesellschaftsformationen darin, dass sich in der Vergangenheit jeweils die Keime der neuen Gesellschaft bereits innerhalb der alten gebildet und bis zu einem gewissen Grad auch entwickelt haben. Innerhalb der Feudalgesellschaft eroberte die Bourgeoisie ihre wirtschaftliche Macht Schritt für Schritt und konnte gleichzeitig einen Großteil der Produktion nach ihren Vorstellungen umwandeln, bevor sie auch die politische Macht ergriff. Im Kapitalismus gibt es nichts von all dem. Die revolutionäre Klasse, das Proletariat, kann nicht neue Produktionsverhältnisse errichten, ohne die zu zerstören, die gegenwärtig bestehen. Darin besteht das Problem der kapitalistischen Dekadenz.

Wir sehen somit, dass die Dekadenz für die Marxisten nicht ein moralisches Konzept ist. Wir Marxisten entwickeln die Auffassung über die Dekadenz als wissenschaftliches, materialistisches Konzept, d.h. begründet auf der materiellen Entwicklung der menschlichen Gesellschaften. Dass diese Perioden durch Gier und Sittenzerfall gekennzeichnet waren, bestreiten wir überhaupt nicht: wir wissen sehr wohl, dass die historische Blockade der Entwicklung der Produktivkräfte ihr Abbild in der Gesellschaft auf allen Ebenen findet. Die Dekadenz ist nicht eine Wirtschaftstheorie; Marx hat übrigens nie nur die Kritik der Ökonomie betrieben. Das ändert aber nichts daran, dass die Erklärung des Niedergangs einer Produktionsweise auf materialistischer Grundlage steht.

Die Besonderheiten der Dekadenz des Kapitalismus

Als die Kommunistische Internationale 1919 vom Zeitalter der Kriege und der Revolutionen sprach, hätte sie nicht besser zusammenfassen können, was der dekadente Kapitalismus den Menschheit noch anzubieten hatte. Der Kapitalismus hatte während seines Aufstiegs den idealen Rahmen seiner Entwicklung geschaffen, nämlich den der Nation. Ausgehend vom Nationalstaat hatte der Kapitalismus seine Entwicklung vorangetrieben und abgesichert. Er bildete das Sprungbrett für die Jagd nach Kolonien. Und auf dieser Grundlage der Nationalstaaten wird noch heute der verschärfte Konkurrenzkampf ausgetragen, der durch die Krise auf die Spitze getrieben wird. Für die Bourgeoisie war die einzige Lösung der Überproduktionskrise der Krieg. Dieser führte zu einer Phase des Wiederaufbaus, die dann schließlich in einer neuen Überproduktionskrise mündete.

Der Kapitalismus ist zu Beginn des 20. Jhd. in seine Niedergangsperiode eingetreten: der erste Weltkrieg drückte diese Tatsache klar aus. Der Wiederaufbau nach dem Krieg führte schnell zur nächsten Krise, die in den 1930er Jahren ein Ausmaß erreichte wie keine zuvor. Darauf folgte der zweite Weltkrieg. Es zeichnete sich ein Zyklus von Krise - Krieg - Wiederaufbau - neue Krise ab - aber es war kein sich endlos wiederholender Zyklus. Im Gegenteil: es war eine höllische Spirale, ein Strudel, der alles verschlingt. Während der Kapitalismus die Überproduktionskrisen in seiner aufsteigenden Phase noch durch seine Expansion und die fortschreitende Proletarisierung der Bevölkerung überwinden konnte, sind jetzt die Grenzen erreicht, und die Krise ist zu einem Dauerphänomen geworden. Der einzige "Ausweg" ist der Krieg. Die Dekadenz ist somit ein Zeitalter der Kriege. Aber wie die Kommunistische Internationale gesagt hat, ist die Dekadenz auch ein Zeitalter der Revolution.

Der Kapitalismus schuf während seiner Entwicklung auch seinen Totengräber: Das Proletariat, die einzige gesellschaftliche Kraft, die den Kapitalismus überwinden und eine neue Gesellschaft gründen kann. Indem der Kapitalismus seine Grenzen erreicht, öffnet er auch die Tür zu seiner Überwindung. Somit steht das Proletariat vor dieser gewaltigen Aufgabe, auf den Ruinen des Kapitalismus, den es zerstören muss, eine neue Gesellschaft aufzubauen, die fähig ist, mit dem Überfluss umzugehen und den Produktivkräften einen Rahmen anzubieten, der ihrer Entwicklung entspricht und sie fördert.

Die kommunistische Perspektive ist nicht neu. Die Idee eine Gesellschaft aufzubauen, die von der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit befreit ist, wurde auch in der Antike und im Mittelalter schon verfochten. Aber es reicht nicht, eine neue Gesellschaft nur zu wollen, damit sie sich auch verwirkliche. Die materiellen Bedingungen dafür müssen erfüllt sein. Ebensowenig ist der Aufstand von Unterdrückten etwas Neues: die Sklaven schrieben Geschichte mit der Auflehnung gegen ihre Stellung, mit dem Spartakusaufstand. Aber diese Aufstände waren zur Niederlage verurteilt, da es die materielle Situation, das Niveau der Produktion, der Menschheit nicht ermöglichte, aus der Klassengesellschaft und der Ausbeutung auszubrechen: Solange die Menschheit den Mangel verwalten musste, konnte sie keine gerechte Gesellschaft errichten.

Erst der Kapitalismus erlaubt es der Menschheit, eine solche Perspektive nicht nur zu erträumen, sondern zu verwirklichen. Nun erreicht die Produktion ein Niveau, das es ermöglicht, den Mangel zu überwinden: die Vorgeschichte kann aufhören. Die kommunistische Perspektive ist nicht länger ein blosses Ideal oder eine Utopie, sie ist vielmehr eine materielle Möglichkeit und sogar mehr: sie ist eine Notwendigkeit, damit die Entwicklung der Produktion weiter geht. Wir sagen sogar noch mehr: sie ist eine Notwendigkeit, um den Kapitalismus in seiner zerstörerischen Spirale zu stoppen, die droht, die Menschheit in die Steinzeit zurück zu werfen.

Die Dekadenz des Kapitalismus ist deshalb eine besondere Dekadenz, weil sie das Ende der Vorgeschichte darstellt, das Ende des langen Marsches der Menschheit vom Mangel zum Überfluss. Aber dieser Abschluss ist nicht in Stein gemeißelt: Das Ende der Vorgeschichte könnte auch das Ende der Geschichte schlechthin sein, wenn niemand die Barbarei stoppt, die den Planeten verwüstet. Der Kommunismus ist noch keine Gewissheit: Er wird durch das Proletariat in einem harten Kampf errichtet werden müssen, und der Ausgang dieses Kampfes ist noch nicht bekannt. Deshalb müssen sich die Revolutionäre so gut wie möglich rüsten, damit sie wiederum die Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen die Bourgeoisie und für den Aufbau einer neuen Gesellschaft bewaffnen können.

Die Dekadenz gehört zu diesem politischen Rüstzeug. Es ist ein grundlegender Rahmen, der durch den Marxismus seit seinen Anfängen entwickelt worden ist. Marx und Engels sprechen schon in der Deutschen Ideologie von der Dekadenz, also schon vor dem Kommunistischen Manifest. Die Auffassung über den Niedergang der verschiedenen Produktionsweisen prägt die ganze marxistische Analyse der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften. Indem der Marxismus die Abfolge von Perioden des Aufstiegs und des Niedergangs in der Geschichte erklärt, ermöglicht er das Verständnis darüber, wie die Menschheit sich organisieren und entwickeln konnte; er ermöglicht es zu verstehen, wie und warum die Welt so ist, wie sie heute ist, und schließlich, macht er es möglich, zu verstehen, dass es möglich ist, diese Situation zu überwinden und eine andere Welt aufzubauen.

G. 17.12.2004

Fußnote

(1) Das haben Marx und Engels in den folgenden Sätzen zusammengefasst, als sie in den Grundrissen über den Kapitalismus sprachen: "Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital; also das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit. Auf diesem Punkt angelangt, tritt das Kapital, d.h. Lohnarbeit, in dasselbe Verhältnis zur Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkräfte, wie Zunftwesen, Leibeigenschaft, Sklaverei, und wird als Fessel notwendig abgestreift. Die letzte Knechtgestalt, die die menschliche Tätigkeit annimmt, die der Lohnarbeit auf der einen, des Kapitals auf der anderen Seite, wird damit abgehäutet, und diese Abhäutung selbst ist das Resultat der dem Kapital entsprechenden Produktionsweise; die materiellen und geistigen Bedingungen der Negation der Lohnarbeit und des Kapitals, die selbst schon die Negation früherer Formen der unfreien gesellschaftlichen Produktion sind, sind selbst Resultate dieses Produktionsprozesses. In schneidenden Widersprüchen, Krisen, Krämpfen drückt sich die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihren bisherigen Produktionsverhältnissen aus " (S. 635)

Die IKS hat jüngst Diskussionsveranstaltungen zum Thema Dekadenz durchgeführt und steht in Debatte mit verschiedenen Gruppen über diese zentrale Frage des Marxismus, siehe zum Beispiel die jüngten Ausgaben unserer Internationalen Revue. Wir werden in unserer Presse auf diese Debatten zurückkommen.

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [18]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [19]

Die unterirdische Reifung des Klassenbewussteins und der Zusammenschluss der Revolutionäre

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In Weltrevolution Nr. 128 veröffentlichten wir einen ersten Auszug aus einem Leserbrief aus Baden-Württemberg, welcher sich mit den Schwierigkeiten von Genossen mit linkskapitalistischer Vergangenheit befasste, sich eine proletarische Herangehensweise anzueignen. Nachfolgend drucken wir weitere Auszüge aus demselben Brief ab.

“Warum sehe ich im Auftauchen der hier behandelten Gruppen nicht wie ihr ‚Zeichen einer unterirdischen Reifung in der Klasse.’ Oder gar, wie ihr im Artikel zum IBRP schreibt: ‚Die Generation von Revolutionären, die heute in Deutschland auftaucht, ist nicht in erster Linie das Ergebnis des Wirkens des linkskommunistischen Milieus, sondern sie ist der weitestgehende Ausdruck einer breiten unterirdischen Bewusstseinsreifung, die in der Arbeiterklasse insgesamt stattfindet.’ Von Revolutionären würde ich nicht sprechen – sei es drum – wichtiger ist die Diskussion der Frage, ob das Auftauchen der besagten Gruppen ein Reifen in der Klasse ausdrückt? Ich bin kein Erbsenzähler, was Begriffe angeht und es hilft erfahrungsgemäß wenig, im Interesse der Eindeutigkeit Vorgänge “passend” zu machen, die ambivalent daherkommen und vor allem nichts Statisches sind. Dennoch müssen wir klar trennen zwischen der Klasse im Sinne. von Lohnarbeit (gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, weil sie nichts anderes haben, um ihre Reproduktion zu gewährleisten und so den Wechselfällen der Kapitalbewegung unterworfen, d.h. potentiell immer von Arbeitslosigkeit bedroht) und Klasse im politischen Sinne, wo nämlich die Eigenständigkeit des Arbeiterinteresses artikuliert wird und man sich Instrumente schafft (das, was man bisher Arbeiterbewegung genannt hat), woraus sich Organisationen entwickeln, die um den Antagonismus von Kapital und Lohnarbeit wissen und ihn verkörpern. Wann, wie und mit welchem Verlauf es dazu kommt, hängt von vielem ab, nicht zuletzt aber davon, ob es gelingt, eine Dialektik von Klassenbewegung und revolutionärer Organisation (es werden derer mehrere sein und so spreche ich lieber von Polen der Polarisierung und der Kristallisation eines radikalen Interesses am Bruch mit den kapitalistischen Verhältnissen) herzustellen. Dialektik passiert nicht einfach, so dass nur noch organisiert werden müsste, was eh schon auf den Bruch drängt, sie kann aber auch nicht “hergestellt” werden im Sinne von “die revolutionäre Organisation führt den Bruch herbei” etc. Ich kann das hier nicht vertiefen.” [...]

“Natürlich gibt es nicht (wie man in der Schule lernt) hier Kommunisten, mit einer Idee oder Utopie und da die Arbeiter oder Armen etc. und nun suchen die Kommunisten nach Ausführern ihrer Idee. Aber Kommunistisches Programm und Arbeiterkämpfe (und seien sie noch so militant) berühren sich von Anbeginn nur selten.” [...]

“Wenn ein paar Genossen aus linken Organisationen sich “umgruppieren” – warum sollte das einer (unterirdischen) Reifung in der Klasse entsprechen? Dazu müsste man handfeste Argumente über eine begonnene neue Stufe von Klassenauseinandersetzung auf den Tisch legen. Dass die Akzeptanz und das Interesse gegenüber linkskommunistischen Positionen gewachsen ist, reicht dazu nicht aus. Zumal wir ja nicht zum erstenmal ein solches, wenn auch minimales Interesse erleben. Wir hatten Ende der 80er die Gruppen GIK (Gruppe Internationaler Kommunisten in Austria), IRK (Internationale Revolutionäre Kommunisten), den Revolutionären Funken, die alle bald wieder verschwunden waren, wir hatten davor die IKP-Kommunistisches Programm, wovon in gutsortierten Antiquitäten mit viel Glück noch etwas aufzutreiben ist.

M.E. ist das heute die zweite (und letzte) Bewegung aus den Gruppen der Neuen Linken heraus von wenigen Genossen, die das “Ende der Fahnenstange” erreicht hatten und dann auf der Suche auf den Linkskommunismus gestoßen sind – worauf sie sich sofort gemüßigt sahen, wieder “Fahne zu hissen” – statt eine Bestandsauffassung der vorausgegangenen Praxis, der eigenen wie der anderer linker Gruppen vorzunehmen wie überhaupt die Frage nach dem Stand der Klassenauseinandersetzung gründlich anzugehen.

In euerer oben zitierten Einschätzung wird Reifen in der Klasse und Umgruppierung/Schritte auf das revolutionäre Milieu zu ineins gesetzt. Der Begriff “unterirdisch” macht die Sache nicht klarer, sondern bietet sich geradezu an, Projektionen vorzunehmen. So kann man im Übrigen das Nichtvorhandensein einer selbsttätigen Klasse (Klassenbewusstsein) übergehen. Damit will ich überhaupt nicht sagen, der Begriff “unterirdisches Reifen” sei unzutreffend. Wer sich eingehender mit der Geschichte von Arbeiterkämpfen befasst hat, weiß, wie treffend damit Vorgänge, Entwicklungen, erklärt werden können. Aber es passt nicht, um das Auftauchen linkskommunistischer Orientierung zu erklären. Es mag sich so anhören, als schätze ich dieses Auftauchen nun meinerseits als unbedeutend ein – das ist nicht der Fall. Dass es kommunistische Stimmen gegen Befreiungsnationalismus, Demokratiefetisch, Arbeitertümelei a la K-Gruppen gibt, ist wichtig. Noch wichtiger wäre, wenn diese Artikulation sich um eine Analyse, sowohl der Geschichte der Arbeiterkämpfe und der kommunistischen Organisationen, also auch der gegenwärtigen Kapital- und Klassenbewegung bemühen würde. Wenn sie dies tun so kann, nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit den bestehenden linkskommunistischen Organisationen, ein Projekt entstehen, das nicht nur zum Anziehungspol für suchende Genossen, sondern auch zu einem nicht zu übergehenden Faktor in kommenden Auseinandersetzungen “vor Ort” werden kann.”

Unsere Anmerkungen

Der Autor dieser Leserzuschrift stimmt mit uns sowohl darin überein, dass das Phänomen der unterirdischen Bewusstseinsreifung einen bedeutenden Faktor der Entwicklung des Klassenkampfes darstellt, als auch darin, dass das wachsende Interesse an “linkskommunistischen” Positionen wichtig ist. Er äußert allerdings Zweifel gegenüber unserer Einschätzung des Zusammenhangs dieser beiden Faktoren. Sein Einwand: “Wenn ein paar Genossen aus linken Organisationen sich “umgruppieren” – warum sollte das einer (unterirdischen) Reifung in der Klasse entsprechen? Dazu müsste man handfeste Argumente über eine begonnene neue Stufe von Klassenauseinandersetzung auf den Tisch legen. Dass die Akzeptanz und das Interesse gegenüber linkskommunistischen Positionen gewachsen ist, reicht dazu nicht aus.”

Dieser Einwand leuchtet uns ein. Die These vom Auftauchen einer neuen Generation von Revolutionären als Ausdruck einer unterirdischen Reifung in der Klasse müsste sich auf mehr stützen als auf die Feststellung einer Zunahme von am Linkskommunismus interessierten Gruppen. Als beispielsweise im Kampf gegen die stalinistische Konterrevolution Ende der 1920er und Anfang der 1930er während kurzer Zeit ein wachsendes Interesse oppositioneller proletarischer Gruppen an linkskommunistischen Positionen zu verzeichnen war, zeigte es sich bald, dass dies ein letztes Aufbäumen entschlossener Minderheiten war, und keineswegs Ausdruck einer breiteren Reifung innerhalb der Klasse. Am Ende standen die Linkskommunisten noch isolierter da als zuvor, während das Gros des Proletariats sich für den zweiten imperialistischen Weltkrieg mobilisieren ließ.

Dieses Beispiel erinnert uns daran, dass es keine einfache Übereinstimmung zwischen der Entwicklung der Klasse insgesamt und der Entwicklung revolutionärer Minderheiten geben kann. Dennoch gibt es zwischen beiden eine Verbindung. Diese “Dialektik” ist komplexer als manche Rätekommunisten es wahr haben wollen, welche die Entwicklung revolutionärer Ideen als unmittelbaren Ausdruck von Arbeiterkämpfen, z.B. von Streikbewegungen begreifen. Und die Verbindung ist weitaus inniger als manche Nachfolger der italienischen Linken meinen, welche in Anlehnung an Bordiga sich einbilden, dass eine Klassenpartei völlig unabhängig vom Stand des Klassenkampfes ewig und unabänderlich fortexistieren kann.

Wir finden, dass unser Leser recht hat darauf hinzuweisen, dass eine neue Stufe der Klassenauseinandersetzungen als Maßstab dafür dienen sollte, um feststellen zu können, ob eine unterirdische Entwicklung im Gange ist, welche der Klasse insgesamt, einschließlich den revolutionären Minderheiten, den Rahmen vorgibt. Aus unserer Sicht hat die italienische Fraktion der kommunistischen Linken in den 1920er bis 30er Jahren am besten das Rätsel aufsteigender und absteigender Entwicklungen proletarischer Parteien gelöst. Die von “Bilan” angefertigten Studien zu dieser Frage zeigten auf, dass Entwicklungsphasen im politischen Leben des Proletariats einher gingen mit einer wachsenden Bereitschaft der Klasse, sich mit neuen historischen Begebenheiten auseinanderzusetzen. Solche Reifungsphasen der Klassen bahnen den revolutionären Minderheiten den Weg, einen wirklichen, gegebenenfalls sogar entscheidenden Einfluss auf den Gang des Klassenkampfes zu gewinnen. Doch schmerzliche Niederlagen der Klasse, welche mit einer Art historischer Zäsur einhergehen, können diesen Prozess unterbrechen, die Revolutionäre von der Klasse wieder isolieren, und die entstehende oder faktisch entstandene Klassenpartei dazu verdammen, entweder sich aufzulösen (wie es sich mit dem Bund der Kommunisten am Ende der Phase der bürgerlichen Revolutionen 1848-49, oder mit der 1. Internationalen nach der Niederlage der Pariser Kommune am Ende der Phase der fortschrittlichem Bildung von Nationalstaaten in Westeuropa ereignete) oder ins Lager der Bourgeoisie überzuwechseln (wie es die Parteien der 2. Internationalen 1914 am Ende der aufsteigenden Phase des Kapitalismus, oder die Parteien der 3. Internationalen nach der Niederlage der ersten revolutionären Welle von 1917-23 taten). Auch die Massenstreiks ab 1968 bedeuteten eine historische Zäsur. Mit dem Ende der langen Phase der bürgerlichen Konterrevolution öffnete sich eine neue geschichtliche Phase der Reifung der Klasse, wo es wieder möglich wurde, die Abwehrkämpfe der Klasse mit der Perspektive der Revolution in Verbindung zu bringen. Die damals neue Generation von Revolutionären war nicht der einzige Ausdruck dieser Entwicklung. Denn 1968 in Frankreich oder 1969 in Italien debattierten Millionen Arbeiter über eine solche Perspektive. Aber dieser erste Anlauf, eine eigene Klassenperspektive am Ende der Konterrevolution wiederzuerlangen, scheiterte. Er scheiterte daran, dass die Arbeiter aus Angst vor der Vereinnahmung durch die bürgerliche Linke Zuflucht suchten in einer bornierten Verwerfung der Politik. So entwickelte sich die Pattsituation zwischen den beiden Hauptklassen der Gesellschaft, welche die Zerfallsphase des Kapitalismus einleitete. Da die Bourgeoisie keine entscheidenden Schritte hin zum generalisierten Krieg tun konnte, und das Proletariat der Perspektive der Revolution auch nicht näher kam, löste sich Ende der 1980er Jahre die Nachkriegsordnung auf. Dies geschah aber, ohne dass die Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage im Kampf erlitten hätte. Daher die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit, einen zweiten proletarischen Anlauf zur Gewinnung einer eigenen Klassenperspektive zu machen. Dies erfordert freilich, dass das Proletariat dort ansetzt, wo es im ersten Anlauf gescheitert ist, indem es immer bewusster seine Verteidigungskämpfe mit der Zukunft der Gesellschaft insgesamt verknüpft – und damit die bisherige “apolitische” Haltung überwindet. Dies der tiefere Grund, weshalb wir das zunehmende Befassen kleiner Minderheiten mit proletarischer Politik als ein wichtiges Anzeichen der unterirdischen Reifung der Klasse begreifen.

Die Tatsache, dass diese Fragestellung heute überhaupt auftaucht, ist ein Zeichen der Reifung, weil es einem objektiven Bedürfnis der gesamten Klasse entspricht, auch wenn dies zur Zeit (noch) von einer verschwindend geringen Minderheit der Klasse geäußert wird.

Während wir also unsere These aufrechterhalten, wollen wir unserem Leser auch in einer anderen wichtigen Frage recht geben. Nämlich, dass das Auftauchen solcher Minderheiten keineswegs ausreicht, damit sie bereits den aktiven Ausdruck einer unterirdischen Bewusstseinsentwicklung bilden. Wichtig ist vielmehr, dass diese neuen Kräfte sich nicht zerstreuen und zersplittern, wie dies z. Z. teilweise der Fall ist, sondern sich mit den bestehenden revolutionären Organisationen auseinandersetzen, um einen “Anziehungspol für suchende Genossen” wie für kämpfende Arbeiter “vor Ort” zu bilden. Wie das bereits oben erwähnte Beispiel der 1930er Jahre zeigt, ist das Kennzeichen der proletarischen Reifung nicht das bloße Hervorbringen, sondern die Vereinigung der revolutionären Kräfte.

Weltrevolution

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [20]

Frankfurter Flugblatt: Bilanz von Anti-Hartz

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Wir haben von der "Gruppe k-21" (die Kürzeln stehen für "Kommunismus im 21. Jahrhundert) aus Frankfurt am Main ein Flugblatt erhalten. Unter dem Titel: "Nach den Protesten ist vor der Revolution" wird dort eine Bilanz der "Anti-Hartz" Proteste gezogen. Wir stimmen den meisten Hauptaussagen dieses Flugblatts zu, beispielsweise der Ablehnung der Verteidigung des Sozialstaates. So schreibt K21: "Skandalisiert wurde der Abbau des Sozialstaates. Hierin bestand der Denkfehler. Denn der Sozialstaat wird keineswegs abgebaut. Vielmehr wird mit den gegenwärtigen Maßnahmen ein sozialstaatliches Netz aus Repression und Kontrolle geschaffen [...]." Wir stimmen auch der Ablehnung des Rufes nach Arbeit zu, wenn K21 schreibt: "Aber auch diejenigen, denen nichts originelleres einfiel, als ihren Unmut mit der Forderung nach mehr Arbeit zu verbinden, haben damit ihre Anschlussfähigkeit an den herrschenden Diskurs demonstriert. Denn wer Arbeitswilligkeit artig bekundet, dem soll auch Arbeit besorgt werden. Es fragt sich nur zu welchem Preis." Wir stimmen weiter der Einschätzung des Aktionstages vom 3. Januar ("Sturm auf die Arbeitsagenturen") zu, wenn K 21 ausführt: "Es scheint mal wieder so gewesen zu sein, als ob die Aktion "Agenturschluss" nur eine weitere Kampagne gewesen wäre, die sich auf einen Tag X konzentriert und dann folgenlos verpufft."

Obwohl hier Bilanz gezogen wird, fehlt dennoch eine wirkliche Analyse der Ereignisse. "Der öffentlich gewordene Zorn über die Härten von Hartz IV hat sich verzogen. Der von Teilen der "radikaleren Linken" erhoffte und staatlicherseits befürchtete, Ansturm wutentbrannter ALG-II-Empfänger auf die Ämter blieb aus." Richtig. Aber warum? Die Proteste gegen "Hartz" waren zweifelsohne eine Klassenbewegung gegen die Angriffe des Kapitals. Wie ist die herrschende Klasse aber damit umgegangen? Das Flugblatt geht mit keinem Wort auf die Mär der linkskapitalistischen Kräfte ein, demzufolge diese Bewegung spontan entstanden wäre. Dabei lag es ganz und gar im Interesse der Bourgeoisie, dass diese Bewegung sich längst verausgabte, bevor ab Januar 2005 die Masse der Erwerbslosen die Härte der Angriffe am eigenen Leib zu spüren bekam. Diese vorzeitige Auslösung der Proteste entsprach auch den Vorstellungen der bürgerlichen Linken vom Kampf der Arbeitslosen als demokratischer, außerparlamentarischer "pressure group" gegenüber der parlamentarischen Gesetzgebung nach dem Motto: Ist das neue Gesetz einmal beschlossen, kann man eh nichts mehr dagegen ausrichten.

Das Flugblatt leidet aus unsrer Sicht unter der Denkweise der Ideologen des "Kampfes gegen die Arbeit". Im Flugblatt scheinen die Angriffe gegen die Erwerbslosen lediglich als eine Ausgeburt des Willens, alle Menschen zur Arbeit zu zwingen. Doch gerade im Kapitalismus wird der Zwang zur Arbeit nicht mehr wie in der Sklavenhaltergesellschaft oder im Feudalismus in erster Linie durch Repression und staatliche Einmischung ausgeübt, sondern durch die vollständige Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln. Im Flugblatt erscheint es rätselhaft, weshalb gerade jetzt, und nicht etwa vor 15 oder vor 30 Jahren "der größte Angriff gegen die gesamte Arbeiterklasse seit dem Zweiten Weltkrieg" stattfindet. Mit keinem Wort wird darauf eingegangen, dass die Massenarbeitslosigkeit von heute Ausdruck des Bankrotts des Kapitalismus ist, und dass es die Überschuldung des Staates ist, welche die Bourgeoisie jetzt zwingt, die Bezüge der Erwerbslosen radikal zu kürzen, obwohl diese Zahlungen jahrelang dazu beigetragen haben, den "sozialen Frieden" zu bewahren.

Kurzum: Auch wenn wir dieses Fazit hier aus Platzgründen nicht näher entwickeln können, meinen wir, dass das Flugblatt noch unklar lässt, wie seine Autoren zum Marxismus stehen. Wir werden später ausführlicher darauf zurückkommen.

(Das Flugblatt wird auf unserer Website vollständig veröffentlicht.).

Kontakt: [email protected] [21]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [22]

Libanon, Syrien, Iran...: Neue imperialistische Zusammenstösse

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Libanon, Syrien, Iran...: Neue imperialistische Zusammenstöße

Mit der Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierministers Rafic Hariri ist im Nahen Osten ein alter Herd imperialistischer Zusammenstöße reaktiviert worden. Diese neue Episode der kapitalistischen Barbarei, die sich weltweit und insbesondere im Nahen und Mittleren Osten entfaltet und sich durch blutige Abrechnungen und eine endlose Spirale zielloser terroristischer Attentate gegen die Bevölkerung äußert, verdeutlicht erneut, dass all die Verheißungen der Herrschenden, sowohl der kleinen als auch der großen Länder, von Frieden nur unverschämte und zynische Lügen sind. Diese nationalen Fraktionen der Bourgeoisie, wie z.B. die USA im Irak oder Frankreich in Afrika, die sich nicht damit zufrieden geben, massiv Tod zu säen, manipulieren die terroristischen Banden auf der Welt.

Der ständige Konflikt unter den Großmächten um den Mittleren Osten

Das Attentat gegen Rafic Harir liefert ein klares Dementi gegenüber all dem Getose um die Wahl Ahmud Abbas an die Spitze der Palästinenser Verwaltung, die als ein Friedenspfand für die Region dargestellt wurde.

Dieses Ereignis ermöglicht es Frankreich und den USA, die im September 2004 die UN-Resolution 1559 zur Verabschiedung vorgelegt hatten, in welcher der Rückzug der syrischen Armee aus dem Libanon gefordert wird, sich in der politischen Landschaft des Libanons erneut zu positionieren, nachdem sie mit Nachdruck Syrien als Drahtzieher des Attentats bezichtigt habt. Dabei geht es ihnen gar nicht darum, die "Freiheit" der libanesischen Bevölkerung zu verteidigen. Ganz im Gegenteil. Für Chirac, der seine alte "Freundschaft" mit Hariri unterstrich, war es eine willkommene Gelegenheit, die Gelegenheit auszunützen, um Frankreich wieder in dem Land ins Spiel zu bringen, aus dem es seit den 1980er Jahren schrittweise und seit 1991 endgültig verdrängt worden war, insbesondere nachdem sein libanesischer Schützling, der General Aoun aus dem Amt vertrieben worden war. Für die USA handelt es sich um eine Etappe bei ihrer Strategie für Süd-West-Asien, bei der sie insbesondere den Druck gegenüber Syrien erhöhen wollen, das regelmäßig seit letztem Jahr von der Bush-Regierung als ein Hort für die Aktivititäten der El-Qaida und die Mitglieder des ehemaligen irakischen Staates bezeichnet wird. So hat Washington mehrfach und vor allem in der jüngsten Zeit Syrien gewarnt, dass die USA auch militärisch gegen das Land zuschlagen würden.

So geht es bei der heute gegenüber dem Libanon und Syrien bestehenden Entente wischen den amerikanischen und französischen imperialistischen Räubern darum, jeweils ihre eigenen imperialistischen Interessen in der Region zu verteidigen. In Wirklichkeit werden daraus nur neue Rivalitäten entstehen, bei denen stellvertretend handelnde Terroristen eingreifen werden und somit das Chaos in der Region nur noch vergrößern.

Die Schwierigkeiten der US-Bourgeoisie

Die jüngsten diplomatischen Reisen der Kamarilla Washingtons geben keinen Anlass, sich irgendwelche Illusionen über die Zukunft zu machen. Während der letzten Wochen hat die US-Diplomatie intensiv um Europa geworben. Nach der Reise der US-Außenministerin C. Rice, kam D. Rumsfeld zur 41. Münchener Wehrkundetagung; schließlich kam der Boss persönlich zum Nato-Gipfel und zum Besuch der EU; weitere Treffen mit anderen europäischen Staatschefs folgten, insbesondere mit denjenigen, die sich der US-Militärintervention im Irak entgegengestellt hatten, nämlich mit Chirac, Schröder und Putin. Warum solch ein reges diplomatisches Treiben? Was wird hinter den Kulissen ausgeheckt? Was steckt hinter den heuchlerischen Umarmungen zwischen den rivalisierenden Staatschefs, zwischen Uncle Sam und den Europäern? Was soll man von dem Gerede von Partnerschaft zur Entwicklung der Freiheit auf der Welt halten?

Wenn die USA die Tonlage geändert haben, bedeutet das nicht, dass die USA darauf verzichtet hätten, ihre militärische Schlagkraft zur Verteidigung ihrer ökonomischen, politischen und militärischen Interessen auf der Welt einzusetzen, sondern dass sie nur versuchen, ihre Strategie und ihre ideologische Vorgehensweise an ihre wachsenden Schwierigkeiten anzupassen, insbesondere nachdem sie immer mehr im irakischen Sumpfloch versinken. Die von ihnen im Irak betriebene Politik verschärft überall auf der Welt die Feindschaft gegenüber der ersten Weltmacht und trägt zu ihrer internationalen Isolierung bei. Da sie sich nicht mehr aus dem Irak zurückziehen können, weil sonst ihre weltweite Autorität sehr stark geschwächt würde, gerät Uncle Sam in immer unlösbarere Widersprüche. Neben dem finanziellen Fass ohne Boden, liefert der Irak ständig Nährboden für die Kritiken ihrer größten imperialistischen Rivalen. Zudem haben die jüngsten Wahlen im Irak zum Sieg der vereinigten Liste der schiitischen Parteien, die eher der iranischen Regierung nahe stehen, zur Niederlage ihres Schützlings, des irakischen Übergangpremiers Allaoui, geführt. "Diese Regierung wird ausgezeichnete Beziehungen zum Iran haben… In regionaler geopolitischer Hinsicht war das nicht das Ergebnis, das sich die USA erhofft hatten" (Courriere International, Nr. 746). Neben dieser Abschwächung ihres Einflusses hinsichtlich der irakischen politischen Parteienlandschaft kommt das Klima des Terrors hinzu, das weiterhin im ganzen Land herrscht, wo ein tödlicheres Attentat und Erschießungen dem anderen folgt. Der angebliche Sieg der irakischen Demokratie, der aufgrund der Abhaltung dieser Wahlen eingetreten sei, hat keineswegs das Risiko der Teilung des Landes gemäß den Interessensgebieten der jeweiligen religiösen und ethnischen Gruppierungen aus der Welt geschafft. Übrigens wird von allen vermutet, dass der bewaffnete Widerstand fortdauern und wahrscheinlich an Intensität zunehmen wird.

Deshalb verfolgt die diplomatische Offensive der USA und ihre Anstrengungen, als auf der ‚gleichen Wellenlänge' wie die Europäer zu erscheinen, vor allem das Ziel, diese davon zu überzeugen, die USA bei der Verteidigung und Propagierung der Demokratie auf der Welt zu unterstützen, insbesondere im Nahen und Mittleren Osten. Die Bush-Administration verfolgt weiterhin die gleichen militärischen Ziele wie während der ersten Amtszeit nach dem 11. September 2001, aber die ideologische Verpackung ist ein wenig verändert worden, um sich den neuen Bedingungen anzupassen. Dabei geben sie den Europäern zu verstehen, dass die USA nichts unternehmen würden ohne die Europäer vorher zu konsultieren, da alle die gleichen menschlichen, demokratischen und freiheitlichen Werte teilen wie die USA. Man kann nicht ausschließen, dass im Rahmen dieser Verstellung einigen Ländern wie z.B. Frankreich gewisse Versprechungen einer privilegierten Rolle bei der Regelung des Konfliktes im Irak gemacht wurden, natürlich zum Preis einer größeren Beteiligung an amerikanischer Seite.

Ungeachtet der US-Offensive, die deutlich auf ein Bild der Einheit achtet, sind die Divergenzen jedoch keineswegs verschwunden; sie nehmen im Gegenteil sogar zu. Wie ein hohes Tier der Nato zu erkennen gab: "Der alte Rumsfeld hat uns hier bezirzen wollen, genau wie letzte Woche C. Rice" (Le Monde, 15.02.05). Während bislang die Bush-Regierung eine Politik der ‚harten Hand' betrieben hatte, handelt sie jetzt mit"‚harter Hand in Samthandschuhen". Rumsfeld hat behauptet, dass aus der Sicht der USA der "(militärische) Auftrag die Koalition bestimmt". Mit anderen Worten, Amerika wird sich an die Nato nur dann wenden, wenn es seinen strategischen Interessen dient. Die Europäer wiederum, insbesondere Deutschland mit Frankreichs Unterstützung reden offen von der Notwendigkeit der Reform der Nato und das Bündnis durch eine Expertengruppe zu ersetzen, die die US-amerikanischen, vor allem aber die europäischen Interessen vertreten. So behauptete Deutschland unverhohlen, dass "sich das Land im Rahmen Europas für die Stabilität und die internationale Ordnung mit verantwortlich fühlt", und dass es aus diesem Grunde einen Sitz als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates fordert. In Anbetracht der unmittelbaren Weigerung der USA, die Nato zu reformieren, schlägt Deutschland durch seinen Außenminister Fischer einen schärferen Ton an, als dieser erklärte: "Wir müssen wissen, ob die USA sich innerhalb oder außerhalb des Systems der UNO stellen".

Diese Spannungen um die Rolle der Nato kamen durch die Weigerung der Europäer zum Ausdruck, zur Ausbildung von militärischen und Polizeieinheiten beizutragen oder nur in einem sehr geringen Umfang. Gegenüber Afghanistan haben die Europäer zugestimmt, die Zahl der unter Nato-Kommando stehenden Truppen der IFOR zu erhöhen, denn diese sind einem französischen General unterstellt und das größte Kontingent wird aus deutschen und französischen Soldaten gebildet. Aber die Europäer wollen nicht, dass diese militärischen Streitkräfte irgendwann unter das Kommando von "Enduring Freedom" gestellt werden, weil dieses unter US-Kommando steht. Die Frage der Nato ist bei weitem nicht die einzige Frage, die die Divergenzen widerspiegelt. Nachdem sie uns die Symphonie von den Menschenrechten gegenüber der Unterdrückung der Studentenbewegung auf dem Tienanmen Platz in Beijing 1989 vorgespielt haben, sind die Europäer als gute Waffenhändler bereit, das Waffenembargo gegenüber China aufzuheben. Weder die USA noch Japan sind damit einverstanden; dieses ist natürlich nicht auf eine Frage der Menschenrechte zurückzuführen, sondern einfach weil dies den Rüstungswettlauf in Asien anfachen und ihren Einfluss in der Region untergraben würde. Dabei steht diese Region schon unter starken militärischen Spannungen, die in der letzten Zeit nochmals durch Nordkorea verschärft wurden, nachdem das Land offiziell eingestand, Atomwaffen zu besitzen. Der Besuch des US-Präsidenten in Europa läutet damit keine neue Ära der Einheit ein, genauso wenig werden dadurch die transatlantischen Beziehungen verbessert. Im Gegenteil nehmen die Divergenzen weiter zu und die Positionen werden immer unvereinbarer. Unterschiedliche Interessen und Strategien stoßen aufeinander, denn jeder verteidigt seine Nation, seine staatskapitalistischen Interessen. Es wäre falsch, auf der einen Seite die "bösen" Amerikaner und auf der anderen Seite die "guten" Europäer zu stellen. Alle sind imperialistische Räuber und die Politik des "jeder für sich", die hinter der vorgetäuschten ‚entente cordiale' erscheint, kann auf Dauer nur zu neuen Erschütterungen und Zusammenstößen und schließlich zu neuen Kriegen führen, bei denen der Iran und Syrien die nächsten Zielscheiben sein könnten. Die Hauptdivergenz unter den Großmächten - die auch die größten Auswirkungen in dieser Region haben wird - ist die Politik gegenüber dem Iran. Die europäischen Staaten, England eingeschlossen, treten im Allgemeinen für eine Fortsetzung der Verhandlungen mit dem Iran ein, damit so - zumindest behaupten sie es - ein Atomwaffenprogramm des Irans verhindert wird. Auf nuklearer Ebene ist Moskau wiederum der erste Partner Teherans, und es hat keineswegs die Absicht, seine Politik zu ändern. Die USA wiederum können in Anbetracht des Gewichtes des Irans als Regionalmacht, dessen Stellung nach dem Wahlsieg der Schiiten im Irak noch verstärkt wurde, ihren Druck auf die Europäer und Putin nur noch erhöhen, um ihre Interessen zu verteidigen. So droht die Bush-Clique mit der Anrufung des Sicherheitsrates der UNO, womit sich mittelfristig dahinter eine neue militärische Eskalation anbahnt, die zu nur noch mehr Chaos und Barbarei in dieser Region führen wird.

Die US-Politik kann nur eine Kanonenbootpolitik sein

Wie wir immer wieder in unserer Presse aufgezeigt haben, sind das Chaos und die militärischen Konflikte, die sich seit mehreren Jahren weltweit entfaltet haben und keinen Kontinent aussparen, direkt das Ergebnis der neuen Periode, die 1989 mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem darauf folgenden Auseinanderbrechen des westlichen Blocks eröffnet wurde. Weit davon entfernt, ein "neuer Zeitraum des Friedens" zu sein, wie es seinerzeit Bush sen. behauptete, haben wir damals schon unterstrichen, dass die Welt sich auf ein viel größeres, blutiges und mörderisches Chaos zu bewegen werde, gegenüber dem der US-Gendarm versuchen werde, ein Mindestmaß an Ordnung aufrechtzuerhalten, indem er immer massiver und brutaler seine Militärmaschinerie einsetzt (1).

Vom Golfkrieg 1991 bis Jugoslawien, von Ruanda bis Tschetschenien, von Somalia bis Ost-Timor, von den Attentaten gegen das World Trade Center bis zu den Attentaten in Madrid, um nur einige der gewalttätigsten Erschütterungen des zerfallenden Kapitalismus zu erwähnen (2), jedes Mal sind es imperialistischen Zusammenstöße zwischen den Staaten, ob klein oder groß, die für diese Massaker verantwortlich sind. Für die USA, deren nationalen Interessen mit der Aufrechterhaltung einer Weltordnung übereinstimmen, die für sie vorteilhaft wirkt, bedeutet diese Zuspitzung des Chaos der imperialistischen Konflikte, dass es immer schwieriger wird, ihre weltweite Führungsrolle aufrechtzuerhalten. Da die russische Gefahr nicht mehr besteht, verteidigen die ehemaligen Verbündeten der USA, insbesondere die Europäer, mit Frankreich und Deutschland an der Spitze, ihre eigenen Interessen als kapitalistische Nationalstaaten. Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise verschärft die imperialistischen Appetite aller Staaten und lässt den USA keine andere Möglichkeit, als sich in Eroberungsfeldzüge, Destabilisierungsversuche ihrer Rivalen zu stürzen und vor allem wiederholt ihre militärischen Mittel einzusetzen, was dazu führt, dass das Chaos und die Barbarei in den Gebieten, wo diese Militärexpeditionen stattfinden, nur noch zunehmen. Auf diesem Hintergrund ist die von der Bush-Administration eingeschlagene Strategie nach den Anschlägen vom 11. September 2001, der "Krieg gegen den Terrorismus", ein Versuch der USA, gegenüber der Schwächung ihrer Führungsrolle zu reagieren. Gegenüber den wachsenden Herausforderungen durch die anderen imperialistischen Mächte benutzen die USA den Vorwand der Attentate und die Notwendigkeit, gegen die nebulöse Al-Qaida und Bin Laden zu kämpfen, um selbst eine bislang dagewesene weltweite militärische Offensive einzuschlagen. Diese langfristig angelegte militärische Vorgehensweise der USA hat sich eine Reihe von "Schurkenstaaten" ausgesucht, die militärisch zu Boden geworfen werden sollen. Dies trifft auf Afghanistan, Irak, Nordkorea und den Iran zu. Jedesmal müssen die USA noch globalere und umfassendere Ziele auswählen, die auch die Notwendigkeit einer entscheidenden Präsenz in Zentralasien einschließen, um so die Kontrolle über diese Region zu gewinnen, aber auch im Mittleren Osten und auf dem indischen Subkontinent. Das langfristige Ziel der USA ist die Einkreisung Europas und Russlands. Dabei sind die USA vor allem danach bestrebt, eine unumstößliche Kontrolle der Hauptenergiequellen und deren Versorgungswege zu erreichen, damit sie bei zukünftigen imperialistischen Krisen ihren imperialistischen Rivalen, hauptsächlich die Staaten Europas, Rusalnd, Japan und China diese vorenthalten können. Seit 2001 haben die USA versucht, solch eine Politik umzusetzen, aber man muss feststellen, dass sie große Schwierigkeiten haben, diesen Kurs beizubehalten, denn ihre Rivalen sind wild entschlossen, auch wenn sie weniger mächtig sind, ihre imperialistischen Interessen um jeden Preis zu verteidigen. Daraus ist bislang schon das größte Chaos in der Geschichte entstanden, und dieses wird weiter zunehmen.

Donald, 24.02.05,

Fußnoten (1) siehe unseren Artikel "Militarismus und Zerfall", Internationale Revue Nr. 13 (2) Siehe unsere Thesen zum "Zerfall, letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus" Internationale Revue Nr.13 deutsch, Internationale Revue Nr. 62, engl., franz., span.

Geographisch: 

  • Naher Osten [23]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [16]

Massenarbeitslosigkeit: Bankrotterklärung des Kapitalismus

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In diesem Winter übersprang die ALK zum ersten Mal seit den 1930er Jahren die 5-Millionenmarke. Dabei weiß jeder, dass die offiziellen Zahlen dank statistischer Tricks frisiert sind, denn tatsächlich liegt die Arbeitslosigkeit bei rund 8 Millionen.

Auch wenn die Regierung, Opposition, Kirche, Gewerkschaften und das Unternehmerlager sich ‚bestürzt' zeigen und so tun, als ob sie mit gemeinsamen Anstrengungen (Jobgipfel usw.) nun versuchen würden, die Konjunktur wieder mehr ans Laufen zu bringen, hat das jahrzehntelange Anschwellen der Massenarbeitslosigkeit deutlich gemacht, dass das Kapital keine Lösung für die Arbeitslosigkeit hat.

Seit dem Wiederausbruch der Wirtschaftskrise Ende der 60er Jahre ist die Arbeitslosigkeit unaufhaltsam gestiegen. Zuvor herrschte knapp zwei Jahrzehnte lang ‚Vollbeschäftigung', weil der 2. Weltkrieg ein solches Ausmaß an Zerstörungen hinterlassen hatte, dass der nachfolgende Wiederaufbau eine Zeit lang Vollbeschäftigung ermöglichte. Aber seit Mitte der 60er Jahre, als der Wiederaufbau abgeschlossen und die Märkte wieder gesättigt waren, geht das Gespenst der Arbeitslosigkeit wieder um.

Trotz aller heuchlerischen Beteuerungen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, kann das Kapital in Wirklichkeit die Arbeitslosigkeit nur noch verschlimmern. Denn die Gesetze des Marktes und der immer heftiger werdende Konkurrenzkampf zwingen jeden Kapitalisten, seine Kosten zu senken, d.h. die Löhne zu drücken, unrentable Abteilungen zu schließen und den Betrieb ganz dicht zu machen, wenn die Waren nicht mehr abgesetzt werden können.

Jahrelang wurden vor allem Stellen im Bergbau, der Stahlindustrie und bei den Werften gestrichen, danach standen die Beschäftigten in der Automobilindustrie und High-Tech-Branchen wie Informationstechnologie und Telekommunikation bis hin zu den Banken vor Massenentlassungen. Und gleichzeitig werden schon seit Jahren Zehntausende von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst abgebaut. Somit bleibt kein Teil der Arbeiterklasse mehr von dieser Geißel ausgespart.

Immer rücksichtsloser nutzen die Kapitalisten die Drohung des Arbeitsplatzabbaus und eventueller Werksschließungen dazu, um die noch Beschäftigten mit allen Tricks zu erpressen. Das Beispiel des jüngsten "Beschäftigungspaktes" bei Opel, wo man keine "betriebsbedingten" Kündigungen bis zu Beginn des neuen Jahrzehnts versprochen hat (ein ‚Versprechen', was ohnehin keine Firma wirklich einhalten, denn wenn die Waren sich nicht absetzen lassen, weil man keine Käufer findet, nützen die schönsten Versprechen nichts) spricht Bände. Da wurde ein Teil der Beschäftigten aus dem Betrieb gejagt und gelockt, indem man ihnen Stellen in "Auffanggesellschaften" und einige Prämien versprochen hat - d.h. Maßnahmen, die auch keinen neuen, ‚dauerhaften' Arbeitsplatz garantieren, sowie eine Prämie, die schnell aufgebraucht sein wird, wenn man später doch arbeitslos wird und seine "Ersparnisse" offen legen muss, weil man nur Anspruch auf staatliche Zahlungen hat, nachdem zuvor die Ersparnisse aufgebraucht wurden. Die im Betrieb Verbliebenen müssen dramatische Lohneinbußen hinnehmen.

Ob Lohnsenkung und längere Arbeitszeiten - die Kapitalisten nützen die Angst vor der Arbeitslosigkeit schamlos aus, um die Betroffenen einzuschüchtern und zu den unglaublichsten Opfern zu zwingen. Sowohl diejenigen, die noch eine Arbeit haben, sind gezwungen immer länger, immer härter, immer billiger zu arbeiten, als auch diejenigen, die ihre Arbeit verloren haben, werden mit 345 Euro abgespeist, wenn sie denn darauf Anspruch haben. Und dabei ist die Massenarbeitslosigkeit nur die Spitze einer ganzen Reihe von Angriffen gegen unsere Lebensbedingungen.

Das Kapital hat keine Lösung für die Arbeitslosigkeit

Aber egal wie hart und unverfroren die Kapitalisten auch versuchen, Geld zu sparen und ihre Profite zu erhöhen, das Problem der Massenarbeitslosigkeit können sie damit nicht lösen. Denn wenn die Unternehmer in ihrem Betrieb die Kosten senken, indem sie die Beschäftigten zu Lohneinbußen zwingen oder Arbeitsplätze abbauen, verschafft ihnen dies zwar momentan einen Konkurrenzvorteil. Im Gegenzug wird aber die Konkurrenz dazu gezwungen, von ihren Beschäftigten ebenso Lohneinbußen zu verlangen und Stellen zu streichen, damit sie wieder mit einem "günstigeren" Angebot aufwarten kann - was zur Folge hat, dass der erstgenannte Unternehmer von seinen Beschäftigten weiteren Lohnverzicht verlangen muss und/oder zusätzliche Stellen streicht. Lohneinbußen und Stellenabbau heute hinzunehmen, zieht deshalb morgen unvermeidlich weitere Lohneinbußen und erneuten Stellenabbau nach sich. Die Hoffnung, in dem einen Betrieb verschont zu bleiben, weil andere Firmen mit höheren Kosten produzieren, erweist sich als trügerisch, denn jede Konzession der Arbeiter, jede Verschlechterung ihrer Bedingungen in einem Betrieb ist nur ein Auftakt zu weiteren Forderungen nach Lohneinbußen gegenüber den anderen Beschäftigten. Die Überproduktion, die Sättigung der Märkte wird mit verlängerten Arbeitszeiten, mit Lohnkürzungen, mit Stellenabbau usw. nicht aus der Welt geschafft, sondern nur noch zugespitzt.

So gehören heute in jeder Klein- und Großstadt in fast allen Straßenzügen unzählige leerstehende Geschäfte zum Alltag. Die Händler bleiben auf ihren Waren sitzen, weil der großen Masse der Bevölkerung die Kaufkraft ausgeht. Wenn ein Millionenheer von Arbeitslosen nur über 345 Euro Kaufkraft verfügt, lässt das die Nachfrage erheblich schrumpfen. Wenn allen Beschäftigten die Weihnachtsgelder, andere Zulagen, das Urlaubsgeld usw. gekürzt bzw. gestrichen wird, die Löhne bei vielen Beschäftigten somit stark fallen, schrumpft automatisch die Kaufkraft dementsprechend. Kaufkraftsenkungen kündigen somit nur weitere Entlassungen an.

Und wenn Unternehmer zum Beispiel in Deutschland Arbeitsplätze dichtmachen und die Produktion nach Osteuropa oder nach China verlagern, dann verlieren hier Zehntausende ihren Arbeitsplatz mit entsprechendem Wegfall ihres Einkommens. Wenn dadurch im Gegenzug einige wenige Arbeitsplätze in Osteuropa oder in China entstehen, weil die Produkte dort entsprechend billiger produziert werden können, müssen sie aber auch abgesetzt werden. Nur, wer soll diese Waren kaufen, denn die niedrigen Löhne in Osteuropa und China stellen nicht die ausreichende Kaufkraft dar, um die produzierten Waren zu absorbieren. Und der Export der Waren von Osteuropa und China in die Länder, wo die Arbeitsplätze dichtgemacht wurden, (sprich in die westlichen Industriestaaten) wird sich auf Dauer als immer schwerer erweisen, weil gerade hier ja die Kaufkraft massiv reduziert wurde.

Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis das Gespenst der Massenentlassungen über den Betrieben auch in Osteuropa und China kreist.

Egal, welche Maßnahme die Kapitalisten zur Kostenreduzierung zu Lasten der Beschäftigten treffen, keine führt zu einer Senkung der Arbeitslosigkeit sondern zu deren Verschärfung.

Seit einem Jahrhundert – Die Massenarbeitslosigkeit unüberwindbar

Natürlich ist die Arbeitslosigkeit nichts Neues im Kapitalismus. Aber während im 19. Jahrhundert die damals noch zyklischen Krisen nach einer Dauer von einigen Jahren wieder überwunden wurden, beim nächsten Aufschwung die Industrie wieder massenweise neue Leute einstellte und viele der zunächst arbeitslos Gewordenen auswandern konnten (z.B. in die USA oder nach Australien), ist die Krise und somit die Massenarbeitslosigkeit seit dem 1. Weltkrieg zu einem permanenten Phänomen geworden. Auch wenn es kurze und begrenzte Aufschwungphasen während der letzten 30 Jahre gab, ist die Krise nie verschwunden. Stattdessen hat sich die Massenarbeitslosigkeit immer mehr ausgedehnt. Heute ist an ein Auswandern der offiziell 5 Millionen Arbeitslosen gar nicht zu denken! Wohin auch? Nach China? Denn während im 19. Jahrhundert viele Arbeiter aus den Industriestaaten in andere Industriestaaten bzw. sich entwickelnde Staaten auswanderten, entwickelt sich heute der Trend in die andere Richtung. In den Industriestaaten selbst werden keine neuen Produktionsstätten mehr errichtet; stattdessen vergrößert sich hier das Heer der Arbeitslosen immer mehr - und es kommen unzählige Massen von Flüchtlingen aus anderen Ländern hinzu, wo noch mehr Arbeitslosigkeit herrscht. Es wartet ein Millionenheer von Arbeitslosen vor den Toren Europas und Amerikas - ob in Osteuropa, am südlichen Mittelmeer, am Bosporus oder in Südamerika. Und in den Ländern der sog. 3. Welt kommen jeden Tag unzählige Arbeitssuchende in den großen Metropolen an. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert gibt es also keine Wachstumshochburgen mehr, wohin das Millionenheer der Arbeitslosen wandern könnte.

Weil der Kapitalismus trotz aller Lügen und Versprechungen die Arbeitslosigkeit nicht aus der Welt schaffen kann, und er im Gegenteil je mehr sich die Krise zuspitzt, die Arbeiter umso mehr angreifen muss, zwingt diese ausweglose Lage die Betroffenen immer mehr, sich mit den Wurzeln dieses Übels zu beschäftigen.

Die Arbeitslosigkeit – Triebfeder für die Infragestellung des Systems

Wenn immer deutlicher wird, dass der Kapitalismus die Pest der Arbeitslosigkeit und die Verarmung nicht loswird, dann wird auch für viele die Frage nach dem Grundübel und der Notwendigkeit der Überwindung eben dieser Verhältnisse nicht mehr als "utopisch" und "weltfremd" erscheinen.

"Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. [...] Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol [d.h. auf der Seite der Arbeiterklasse]."

Dies schrieb derjenige, der von den Verteidigern des Kapitalismus besonders nach 1989 als jemand dargestellt wurde, der "auf den Misthaufen der Geschichte" gehöre - Karl Marx! (Das Kapital, Band 1, in MEW Bd 23, S. 673).

Durch die weitere Zuspitzung der Krise werden die Betroffenen genau auf die Analyse und Perspektiven stoßen, die von den Kommunisten vertreten werden. Während nämlich die Vertreter der Kommunistischen Linken gegenüber den Lügenkampagne von nach 1989 hervorhoben, dass in Osteuropa nicht der Kommunismus, sondern der Stalinismus zusammengebrochen sei, wurden sie seinerzeit als die "ewig Gestrigen" verhöhnt. In Wahrheit hat die ganze Entwicklung die Aussagen der Kommunisten bestätigt, dass der Kapitalismus die Krise nicht überwinden kann, sondern dass der Kapitalismus selbst überwunden werden muss.

Der vorgetäuschte und in Wirklichkeit hilflose Aktivismus der Herrschenden gegen die Arbeitslosigkeit um den Eindruck zu erwecken, man "tut etwas gegen die Arbeitslosigkeit" spiegelt nur die Sorge der Herrschenden vor einer Reaktion der Betroffenen wider.

Es stimmt zwar: "Auf unmittelbarer Ebene aber ist die Arbeitslosigkeit hauptsächlich ein Faktor der Demoralisierung der Arbeiterklasse und der Lähmung ihrer Kämpfe. Erst in einer fortgeschritteneren Etappe der Klassenbewegung kann der subversive Charakter dieses Phänomens ein Entwicklungsfaktor des Kampfes und des Bewusstseins werden. Das wird der Fall sein, wenn sich die Perspektive der Überwindung des Kapitalismus wieder in den Reihen der Arbeiterklasse verbreitet (wenn auch noch nicht auf massive, so zumindest auf bedeutsame Weise)."

Auch wenn der Klassenkampf gegenwärtig noch auf große Schwierigkeiten stößt, um wieder an Fahrt zu gewinnen, werden die Abwehrkämpfe der Arbeiter zunehmen. Und wenn es dadurch möglich wird, dass Beschäftigte und Arbeitslose anfangen, sich gemeinsam zur Wehr zu setzen, braut sich ein explosives Gemisch zusammen, vor dem die Herrschenden allen Grund zur Angst haben.

Deshalb stellt gerade die Arbeitslosigkeit ein Pulverfass dar, das den Betroffenen keinen anderen Weg lässt als für die Überwindung dieses Systems zu kämpfen.

19.03.05

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in Deutschland [1]

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [18]

Nach 60 Jahren: Dresden als Kriegsrechtfertigung

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Welche Absicht verfolgt der bürgerliche Staat, wenn die staatlich organisierte Front der "Verteidiger der Demokratie" für den 8. Mai zu einer Demonstration gegen den Berliner Aufmarsch der Neonazis aufruft? Warum schon im Februar soviel Medienrummel anlässlich der Kundgebungen der Neonazis gegen die Bombardierung Dresdens?

Gewiss hängt der wachsende Zulauf bei rechten Protestparteien mit einer großen Perspektiv- und Orientierungslosigkeit zusammen, der auch manche Arbeiter zum Opfer fallen. Grundsätzlich stellen die rechten Parteien (ob Le Pen in Frankreich oder die Neonazis in Deutschland) die Partei der Angst, der Hoffnungslosigkeit, des Hasses, des Irrationalen und des Rückzugs auf sich selbst dar, d.h. die typischen Auswirkungen in den Köpfen der Menschen, die der Zerfall des Kapitalismus hervorruft. Dennoch, wenn gegenwärtig der Einfluss und die Aktionen der Neonazis so aufgebauscht werden, dann verfolgt die herrschende Klasse damit ein längerfristiges Ziel. Denn wenn die Proteste der Neonazis in Dresden gegen die Bombardierungen so stark ins Rampenlicht gerückt wurden, soll damit jegliche Ablehnung der Gräueltaten der Alliierten diskreditiert werden. Es geht darum, dass der imperialistische Krieg immer zu rechtfertigen sein muss. So wird jetzt schon darauf hingearbeitet, dass all diejenigen, die die Bombardierungen der Alliierten an den Pranger stellten, ob dem rechten oder linkskommunistischen Lager angehörend, in einen Topf gehören. In Wirklichkeit zielt dies vor allem auf die Linkskommunisten, weil sie als einzige die Barbarei der beiden kriegsführenden Seiten verwerfen - die des "demokratischen-stalinistisch" und faschistischen Lagers damals und die der "humanitären" oder im Namen des "Kampfes gegen den Terror" geführten Kriege heute. Während die Neonazis mit ihren Hetzparolen und ihrer chauvinistischen Orientierung nur eine Ausgeburt und Fortsetzung einer typisch bürgerlichen Politik des ‚jeder gegen jeden' sind, treten die Linkskommunisten für den Zusammenschluss aller Arbeiter gegen die Kapitalisten und die Überwindung des Kapitalismus ein. Weil die Herrschenden vor einem Zusammenschluss aller Arbeiter Angst haben, sollen jetzt schon die Vorkämpfer dieses Zusammenschlusses, die Linkskommunisten, diskreditiert werden. 19.3.05

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in Deutschland [1]

Geographisch: 

  • Deutschland [2]

Schweiz: Statt "Anti-WEF-Mobilisierungen" eine wirklich revolutionäre Perspektive!

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Auch dieses Jahr fanden gegen das Davoser World Economic Forum (WEF) in der ganzen Schweiz zahlreiche Demos und Veranstaltungen statt. Zu diesen Aktionen und Diskussionen wurde von sehr unterschiedlichen Organisationen und Gruppen aufgerufen, und sie verteilten sich auf mehrere Wochen im Januar und Februar 2005. Die allgemeine Tendenz dieser "Protestbewegung" war gegen die Globalisierung und den Neoliberalismus gerichtet; es handelte sich also - ganz im Sinne der grösseren Veranstalter wie Attac, Anti-WTO-Koordination, linksbürgerliche Parteien - um eine Stossrichtung, die nicht den Kapitalismus als solchen in Frage stellt, sondern lediglich seine Auswüchse zu bekämpfen vorgibt. Die IKS intervenierte an verschiedenen Veranstaltungen mit ihrer Presse bzw. mündlichen Redebeiträgen und führte zahlreiche Diskussionen im kleinen oder auch grösseren Rahmen. Dabei stellte sich heraus, dass es abgesehen von der soeben erwähnten, quasi offiziellen Stossrichtung des Anti-WEF-Bündnisses viele, vorab junge Leute gibt, die sich ernsthaft Gedanken über eine wirklich andere Welt und auch über die (proletarische) Revolution machen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Wir meinen damit nicht den "Revolutionären Aufbau", der immer wieder recht deutlich sagt, was er unter revolutionärer Politik versteht. So gehört für ihn beispielsweise "die Verteidigung Kubas zur politischen Pflicht für jede KommunistIn"; denn "seit 1976 wird Kuba durch ein Rätesystem regiert" (so nachzulesen im Aufbau Nr. 38); und wenn in Indien zwei maoistische Parteien (1) fusionieren, so wird dieses Ereignis im Aufbau als "Meilenstein in der kommunistischen Bewegung" dieses Landes gefeiert (a.a.O.). Die Lüge, dass der Stalinismus (irgendwelcher Couleur) etwas mit Kommunismus zu tun habe oder gehabt habe, wird eben nicht nur von rechtsbürgerlichen Kreisen verbreitet.

Nein, wir meinen mit diesen Leuten, die sich ernsthaft Gedanken über eine wirkliche Überwindung des Kapitalismus machen, jene, die an all diesen Demos und Diskussionsveranstaltungen anzutreffen waren und vorurteilsfrei, aber kritisch über den Krieg und die Revolution, über den Anarchismus und die klassenlose Gesellschaft, über das Proletariat und das Bewusstsein diskutieren wollten und offensichtlich an einer Klärung interessiert sind. Die Leute, die im wörtlichen Sinne radikal sind, und sich nicht mit den erstbesten Rezepten, scheinbar einfachen Lösungen zufrieden geben, sondern zu den Wurzeln der Probleme vorstossen und sie dort packen wollen.

Was bringen diese Mobilisierungen gegen das WEF und die Globalisierung?

Die Frage nach dem Sinn und Zweck dieser Kampagne gegen das WEF wird zwar nicht gerade in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert, aber doch hier und dort aufgeworfen. Da stellt jemand in einem Web-Forum der ARK (Alternativ-Revolutionäre Kräfte, Winterthur) klar: "ich bin nicht anti-wefler, weil die welt auch ohne wef scheisse wäre; ich bin anti-kapitalist und kein reformi, das ist ein wichtiger unterschied". Und die Gruppe Eiszeit antwortet in einem Artikel auf ihrer Website (www.eiszeit.tk [24]) auf die Frage "Warum wir Widerstand nicht gegen das WEF leisten": Am WEF würden sich zwar schon Eliten aus Wirtschaft und Politik treffen, doch sei die Annahme irrig, dass dort frei über das weitere Geschick der Menschheit entschieden werde. Vielmehr sei die aktuelle Krise systembedingt. Auch der Staat könne nicht losgelöst von den existierenden Verhältnissen agieren. Er habe die Funktion, die Aufrechterhaltung der Verwertungsbedingungen für das Kapital mit allen Mitteln zu gewährleisten. Der Artikel endet mit einer Kritik an der Verteidigung des Sozialstaates: "Trotzdem kann der Versuch der Befreiung vom bestehenden Elend nicht die Kritik am Abbau des Sozialstaates, am Managertum oder am WEF bedeuten, sondern muss die kapitalistische Totalität ins Blickfeld kriegen. - Für die Assoziation der Freien und Gleichen!"

Die Gruppe Eiszeit übt zwar in ihren Texten radikale Kritik am Kapitalismus, bleibt aber die Antwort auf die Frage schuldig, wie dieses System überwunden werden kann. Der Schluss ihres Artikels erinnert denn auch mehr an die demokratischen Ideale der Französischen Revolution von 1789, als an die klassenlose Gesellschaft, in der die Menschen weit mehr als nur frei und gleich sein sollen.

Welche Kraft kann den Kapitalismus überwinden?

Die Frage, wie und von wem der Kapitalismus beseitigt werden kann, war unter anderem Thema an den Winterthurer Anarchietagen Anfang Februar 2005. In einer mündlichen Intervention kritisierte die Delegation der IKS, dass das Einführungsreferat zum Thema "Geschichte des Anarchismus & Anarcho-Pazifismus" zwar immer wieder von Revolution sprach, aber so, als ob diese eine Aufgabe für eine Generation in ferner Zukunft sei, und ohne Bezug zur einzigen gesellschaftlichen Klasse, die objektiv ein Interesse an der revolutionären Überwindung des Kapitalismus hat: nämlich zur Arbeiterklasse. Die gegenwärtige, nach der Profitlogik funktionierende Produktionsweise bringt der Menschheit nur noch Krieg, Massenelend und Zerstörung aller Lebensgrundlagen. Die Revolution, die eigentlich seit bald 100 Jahren auf der Tagesordnung steht, kann nicht ein weiteres Jahrhundert hinausgeschoben werden. Die Fäulnis dieses dekadenten, zerfallenden Systems untergräbt die Bedingungen immer mehr, die für den Eintritt einer revolutionären Situation und den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft nötig sind. Nur das Proletariat ist aufgrund seiner Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft fähig, nicht nur den Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung aufzunehmen, sondern jede Herrschaft von Menschen über Menschen abzuschaffen. Diesen Kampf nahm es 1917-23 in verschiedenen Ländern, vorab in Russland, Ungarn und Deutschland, auf. Die Weltrevolution scheiterte zwar, die Konterrevolution (u.a. in der Form des Stalinismus) trug den Sieg davon, aber das Proletariat existiert auch heute noch und hat gerade in den letzten zwei Jahren wieder vermehrt zu kämpfen begonnen.

Es gab an dieser Veranstaltung mehrere TeilnehmerInnen, die mit diesem Anliegen grundsätzlich einverstanden waren, aber die Meinung vertraten, dass die Arbeiterklasse heute von Revolution nichts wissen wolle. Die Frage, wie sich das Klassenbewusstsein bildet, drängte sich somit auf und wurde auch in verschiedenen Voten gestellt.

Wie kommt die Arbeiterklasse zum Bewusstsein über die Notwendigkeit der Revolution?

Der bereits eingangs erwähnte "Aufbau" versuchte, Sympathien mit den Kämpfen der Arbeiterklasse auf die Mühlen seiner Losungen zur Verteidigung staatskapitalistischer Länder und Organisationen zu lenken, indem er eine Veranstaltung zum Opel-Streik vom letzten Herbst durchführte. Ein Opelaner, der sich aktiv am Streik beteiligt hatte, berichtete von diesem Kampf, wie die Arbeiter ihn unabhängig von den Gewerkschaften begonnen hatten, dann aber schon bald einmal von diesen über den Tisch gezogen und schliesslich zum Nachgeben gezwungen wurden (vgl. auch Weltrevolution Nr. 127). Dabei kam insbesondere auch zum Ausdruck, dass dieser Arbeiter und viele seiner Kollegen in der Praxis feststellten, welche gewaltige Kraft die Arbeiter bilden, wenn sie geschlossen einen Kampf aufnehmen. Nicht nur die Opel-Werke in Antwerpen (Belgien) und Zaragoza (Spanien) standen bald einmal still, weil der Nachschub der Teile aus Bochum fehlte, sondern auch die Bochumer Bevölkerung und Arbeiter aus anderen Regionen erklärten sich mit dem Kampf solidarisch. Die Bourgeoisie konnte nicht im Ernst daran denken, mit der offenen Repression gegen den "illegalen Streik" loszuschlagen.

Der Kampf musste zwar abgebrochen werden, ohne dass die Arbeiter mit ihren Forderungen durchgedrungen wären. Vielmehr kommt es bei Opel in Deutschland sowohl zu Entlassungen als auch zu Lohnkürzungen und einer weiteren Flexibilisierung. Die gemachten Erfahrungen sind aber unersetzbar. Die Gewerkschaften haben wieder begonnen, sich als das zu entlarven, was sie sind: als Polizei der herrschenden Klasse in den Reihen der Arbeiter. Auf der Grundlage der Lehren aus diesem und anderen Streiks der Arbeiterklasse können die nächsten Kämpfe geführt werden, in denen letztlich genau dieselben Fragen auftauchen werden, die anlässlich der oben erwähnten Diskussionen debattiert wurden: Welche Perspektive hat dieses System? Können wir uns durch die Drohung mit Produktionsverlagerung und Arbeitslosigkeit ständig weiter erpressen lassen? Wieso haben die einen keine Arbeit und die andern müssen immer noch mehr Arbeitshetze ertragen? Wer kann dieses widersinnige System überwinden? Wie soll dies geschehen?

Im gleichen Ausmass, wie sich die kämpfenden Arbeiter mit diesen Fragen auseinander zu setzen beginnen, werden die Leute, die schon heute von der Notwendigkeit der Revolution überzeugt sind, sich mit der Arbeiterklasse, ihrem Wesen und ihrer Geschichte, ihren heutigen Stärken und Schwächen beschäftigen müssen. Daran führt kein Weg vorbei.

Es gibt viele Sackgassen

Für diejenigen, die sich für eine neue, andere Gesellschaft einsetzen wollen, hält der demokratische Staat manche Sackgasse bereit. Eine davon ist die Antiglobalisierung, die vorgibt, dass man dieses kapitalistische System verbessern könne. Eine andere ist der blinde Aktivismus in all seinen Facetten, wo nicht mehr über das Ziel diskutiert wird, sondern nur noch über die Mittel einerseits und das "unverhältnismässige" Vorgehen der Polizei andererseits. Auch dies ist nichts anderes als Systemerhaltung in anderer Verkleidung: (Spätestens) wenn das Mittel zum Selbstzweck wird, ist man bei der alten reformistischen Losung eines Bernstein angelangt: Der Weg ist das Ziel (2). Die IKS hat festgestellt, dass die zur Tradition gewordenen linksbürgerlichen Mobilisierungen gegen das WEF vielen Leuten, die erkannt haben, dass der Kapitalismus als Ganzes überwunden werden muss, keine politische Klärung bringen konnte. Sie sind enttäuscht davon. Wie schon in der Geschichte der alten Arbeiterbewegung kann auch die moderne Variante des Reformismus keine Klärung und noch weniger praktische Perspektiven des Klassenkampfes aufzeigen.

Wir rufen deshalb alle, die wirklich an einer revolutionären Überwindung dieses Systems interessiert sind, dazu auf, sich mit der Arbeiterklasse und der Perspektive ihrer Kämpfe auseinanderzusetzen - beispielsweise mit der IKS, sei es schriftlich oder an unseren öffentlichen Diskussionsveranstaltungen!

VE, 15.03.05

Fußnoten:

1) Sozialismus ist in einem Land oder einigen wenigen Ländern nicht möglich. Der Kapitalismus kann nur weltweit überwunden werden. Kuba ist ein stalinistischer Staatskapitalismus (und ein Polizeistaat). China war auch zu Maos Zeiten nichts anderes. 2) Eduard Bernstein war um 1900 der bekannteste Vertreter am rechten Flügel der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der die revolutionäre Perspektive über Bord warf und propagierte, der Kapitalismus könne auch ohne Bruch langsam in den Sozialismus hinüber wachsen.

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in der Schweiz [7]

Geographisch: 

  • Schweiz [8]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Linksextreme [4]

Solidarität mit unseren bedrohten Genossen

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In den letzten Monaten waren Militante und Sektionen der IKS das Ziel von Drohungen oder kaum verhüllten Mordaufrufen.

Im Dezember veröffentlichte die UHP-ARDE [1] auf ihrer Website einen Text mit dem Titel "Die Wissenschaft und Kunst von Dummköpfen" [2], der kontinuierlich zu Mordanschlägen gegen unsere Militanten aufruft, und dies mittels einer makabren Reihe von Schlussfolgerungen, die zunächst uns offen beschuldigen, "rassistisch" zu sein und die bürgerliche Politik verdeckt zu vertreten, und schließlich eine Reihe von Definitionen zum Besten geben, die von "Dummköpfe" über "dumme Arschlöcher" bis hin zu "Schwachsinnige" reicht. Aus diesen Prämissen wird folgende Schlussfolgerung gezogen: "GEGEN DIE BÜRGERLICHEN LÜGENKAMPAGNEN UND REPRESSION UNSERER KÄMPFE: TOD DEN SCHWACHSINNIGEN!" [3]

Einen Monat zuvor landete in der Mailbox unserer Sektion in Spanien ein anonymer Brief, der mit folgender Drohung endete: "Ihr seid eine Bande von Hurensöhnen und werdet ernten, was Ihr gesät habt, kleine beschissene Professoren. Unterzeichnet von einem Lumpen."

Erst kürzlich, im Januar 2005, drohte ein Mitglied der so genannten IFIKS [4] einem Mitglied unserer Sektion in Frankreich "die Kehle durchzuschneiden" [5].

Wie sollen sich die Revolutionäre und proletarischen Elemente angesichts dieser Reihe von Drohungen durch diese Gangster, die einem proletarischen Verhalten vollkommen fremd sind, verhalten? Ihnen keine Bedeutung beimessen, da sie nur heiße Luft oder das Produkt einer Überreaktion sind? Zu dieser Einschätzung zu gelangen wäre ein großer Irrtum.

Erstens bedeutet solch eine Haltung, die historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung zu vergessen. Diese lehren uns, dass dem Töten von Arbeitermilitanten eine Reihe von scheinbar trivialen Akten vorausgegangen ist, die dem Vorschub geleistet haben: falsche Beschuldigungen, Drohungen, Einschüchterungen. Kurz, eine Reihe kleiner Glieder, die zusammen verknüpft eine große Kette bilden. So ging der Ermordung Rosa Luxemburgs im Januar 1919 - begangen von Kräften, die den Befehlen der sozialdemokratischen Henker folgten - eine lange Inkubationszeit voraus: Ab 1905 gab es schlimme Verleumdungen, Drohungen und Herausforderungen gegen diese proletarische Kämpferin. Keine dieser Taten schien für sich Besorgnis erregend zu sein, doch das Verbrechen von 1919 war die Manifestation dieser infernalischen Logik, die sie beinhalteten. Ähnlich war die Ermordung Trotzkis, hingerichtet durch den infamen Mercader, der Kulminationspunkt einer Reihe von konzertierten Schritten des stalinistischen Mobs: Zunächst wurde Trotzki beschuldigt, ein Agent der Gestapo zu sein; dann begann eine Kampagne, die offen seinen Kopf forderte. Danach setzten die Pressionen gegen einen seiner Söhne (Lyova) ein, deren Ende alle Merkmale eines "medizinischen" Mordanschlags trug [6]. Später gab es immer intensivere direkte Morddrohungen durch den mexikanischen Killer des Stalinismus, die zu dem tragischen Ende führten, das wir alle kennen. Die Geschichte zeigt, dass es eine mehr oder weniger direkte Verbindung zwischen den Drohungen von heute und den Morden von morgen gibt. Letztere sind das Produkt eines Gespinstes von Lügen, Drohungen und Hasskampagnen.

Zweitens können wir nicht den Kontext übersehen, in welchem diese drei Drohungen, die wir erhalten haben, ausgesprochen wurden. In den letzten Monaten haben wir einen neuen Ausbruch und eine Vervielfachung der IFIKS-Kampagnen erlebt. Wie ihr Bulletin Nr. 28 zeigt, bezeichnen sie uns als "Bastarde": Verbunden mit den endlosen Verleumdungen, Drohungen und Lügen, trägt dies dazu bei, ein Klima zu schaffen, in dem physische Angriffe gegen die IKS legitimiert werden.

Es ist kein Zufall, dass diese Drohungen in diesem Zusammenhang ausgesprochen werden. Ihre Autoren haben sich klar für ihr Lager entschieden. Zu den Beleidigungen, Hasskampagnen, dem ganzen Gespinst von Lügen und Verleumdungen haben sie nun Mordaufrufe hinzugefügt.

Dies ist nicht das erste Mal, dass wir solch eine "Intervention" erleben. 1995-96 benutzte, im Zusammenhang mit einer genauso widerlichen Kampagne anderer Protagonisten gegen die IKS [7], die so genannte GCI - eine Gruppe, die in den Links der Website der UHP/ARDE auftaucht - dieselbe Methode des Syllogismus, um die IKS anzugreifen und zum Mord an unseren Genossen in Mexiko aufzurufen. Die erste Voraussetzung hierfür war, dass unsere Genossen den stalinistisch-maoistischen Leuchtenden Pfad in Peru angeprangert haben. Diese machte sie offenbar zu Komplizen bei den Massakern an den proletarischen Gefangenen und führte zum folgenden "logischen" Umkehrschluss: "… für die IKS wie für den peruanischen Staat und dessen Polizei heißt es also: Wenn man sich auf die Seite der Unterdrückten stellt, unterstützt man den Leuchtenden Pfad". Dies führte zu einer weiteren Schlussfolgerung, derzufolge "diese Art von Vermischung im Arbeiterlager als typisch für Polizeispitzel betrachtet wird". Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur nächsten Spitzfindigkeit: "… dies sind dieselben sozialdemokratischen Argumente, die Domingo Arango und Abad de Santillan angesichts der gewaltsamen Aktionen der revolutionären Kämpfer benutzten". Und was ist die Schlussfolgerung aus dieser Logik? "In Folge dieser Art von Verleumdung, die eigentlich vom Staat praktiziert wird, bekam Domingo Arango eine Kugel in den Kopf, und wir bedauern außerordentlich, dass Abad de Santillan nicht das gleiche Schicksal ereilt hat." (aus: Communisme, Nr. 43, Organ der GCI) [8]

Wir sind uns durchaus bewusst, dass diese Drohungen Teil eines Prozesses sind. Doch lassen wir uns dadurch nicht einschüchtern und werden antworten, wie wir dies 1996 getan haben: "Nichts von dem wird uns dazu bringen, den Rückzug anzutreten. Wir werden unseren Kampf vertiefen, und die gesamte IKS ist mobilisiert, um unsere Sektion in Mexiko zu verteidigen, wobei wir eine Waffe benutzen, die nur das Proletariat besitzt: den Internationalismus. Die internationale Einheit der IKS enthält aus der Sicht der Bourgeoisie die nicht tolerierbare Unannehmlichkeit, dass jeder Versuch, eines ihrer Teile zu zerstören, sofort Gefahr läuft, die aktive Mobilisierung und Solidarität des Ganzen zu provozieren." [9]

Die proletarische Solidarität ist die Hauptwaffe gegen diese Art von Attacken

Wir haben die Infiltration solcherlei Verhaltens in die Reihen der Revolutionäre entschieden zurückgewiesen, weil dies der einzige Weg ist, die Kette zu brechen, die die heutigen finsteren Aufrufe zum "Tod der Schwachsinnigen" mit der Ermordung von Kommunisten morgen verbindet. Jede gesellschaftliche Klasse hat ihre eigenen Methoden. Wir kennen bereits jene der Bourgeoisie: einerseits die "politischen" Waffen der Verleumdungen, Drohungen, Einschüchterungen und Erpressung, andererseits direktere Waffen wie Verbrechen, Terror und Folter. [10]

Natürlich sind diese Waffen nicht Bestandteil des Arsenals des Proletariats und seiner wirklich revolutionären Gruppierungen. Wir haben andere, weitaus effektivere Waffen für den Kampf gegen den Kapitalismus. Eine dieser Waffen, die wichtigste, ist die Solidarität.

Die Solidarität ist eine Stärke des Proletariats, der Ausdruck seiner Einheit. Die Solidarität zeigt seinen Feinden, dass jegliche Attacke auf seine einzelnen Teile umgehend die Antwort des Ganzen provoziert.

Daher drückt die IKS ihre einmütige Solidarität mit den bedrohten Genossen und Sektionen aus und wird alle notwendigen Vorkehrungen für ihre Verteidigung treffen. Auch werden wir unsere Sympathisanten dazu aufrufen, ihrer Solidarität aktiv Ausdruck zu verleihen. Wir rufen gleichermaßen alle jene dazu auf, die am revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus teilnehmen; und selbst wenn sie nicht mit den Positionen der IKS einverstanden sind, hoffen wir, dass sie die Notwendigkeit einsehen, gegen solche widerlichen Angriffe zu kämpfen.

Die Solidarität mit den bedrohten Genossen ist die beste Form nicht nur für ihre Verteidigung, sondern auch für die Verteidigung aller Militanten und Genossen, die gegen den Kapitalismus kämpfen. Zugleich ist sie der beste Beitrag, den wir machen können, um auch morgen die Verteidigung der kommunistischen Militanten sicherzustellen.

Die Praxis der Verleumdungen, Lügen, Drohungen und der Einschüchterung ist völlig unvereinbar mit dem Ziel einer menschlichen Weltgemeinschaft, das das Proletariat nach der Zerstörung des kapitalistischen Staates zu installieren bestrebt sein muss. Es ist unabdingbar, die Infiltration eines Verhaltens zu verunmöglichen, das nichts anderes als ein Ausdruck und eine Reproduktion der verrottenden kapitalistischen Gesellschaft ist, die wir abschaffen wollen.

Die Klärung revolutionärer Positionen, der Kampf gegen den Kapitalismus und seine Barbarei darf nicht durch zwielichtige Manöver dieser Bande von Schwindlern obstruiert werden, die verstohlen hinter der Kulisse von "revolutionären Positionen" arbeiten, um ihre Giftpfeile gegen den wahren Kampf für die proletarische Sache zu schleudern.

Solidarität mit unseren Militanten und den bedrohten Sektionen!

Internationale Kommunistische Strömung 15.2.05

 

Fußnoten:

1. UHP sind die Initialen für: "Unios Hermanos Proletarios" (Vereinte proletarische Brüder). ARDE ist die Publikation, die anscheinend das Sprachrohr von mehreren Gruppen ist, die die UHP bilden.

2. Siehe die Antwort unserer Sektion in Spanien in Accion Proletaria, Nr. 180: "Antwort an UHP/ARDE: Ein ehrlicher Dummkopf ist besser als ein verlogener Gauner".

3. Dies unterstreicht die feige und abwegige Art und Weise, in der diese Individuen zur Tötung unserer Militanten aufrufen. In ihrer ekelhaften Heuchelei sagen sie solche Sache nicht offen: Zunächst sagen sie, dass die IKS aus "Schwachsinnigen" zusammengesetzt sei, um erst später mit dem Spruch: "Tod den Schwachsinnigen" zu enden.

4. Eine Gruppe von Gangstern, die sich selbst "Interne Fraktion der IKS" nennt und deren einzige Aktivität darin besteht, tonnenweise Lügen über die IKS auszuschütten.

5. Siehe den Artikel in Revolution Internationale Nr. 354.

6. Siehe die Zeugenaussagen in Deutschers Trotzki-Biographie und in Vereekens "Die GPU in der trotzkistischen Bewegung" über die merkwürdige Bettlägerigkeit von Trotzkis Sohn in einer russischen Klinik in Paris.

7. Zu dieser Zeit waren Gruppen wie die britische Gruppe "Kommunistisches Bulletin" oder "Hilo Rojo" in Spanien, zusammen mit gewissen "Zirkeln", Urheber dieser Kampagnen. Wir haben seitdem nicht mehr viel von ihnen gehört.

8. Wir können daraus ersehen, dass die Herausgeber von UHP/ARDE mit ihren feigen Aufrufen zu unserer Ermordung nichts Neues in die Welt gesetzt haben. Sie müssen von den Methoden ihrer Vettern von der GCI angeregt worden sein.

9. Auszug aus dem Artikel "Die GCI-Parasiten rufen zur Ermordung unserer Militanten in Mexiko auf", der in Solidarität mit unserer Sektion in Mexiko die GCI brandmarkt. Dieser wurde damals in unserer gesamten territorialen Presse veröffentlicht.

10. Wir sollten darauf hinweisen, dass diese bürgerlichen Methoden eine starke Anziehungskraft auf diese verlumpten Elemente ausüben. Daher werden Letztere in Perioden der Revolution gern dazu benutzt, die Reihen von "Freikorps" und ähnlicher Sondertruppen des Kapitals zu füllen, wie in Deutschland 1919 geschehen.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Parasitismus [14]

Visa-Affäre, "Jobgipfel", Kieler Abstimmung:

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Die Ausbeuter streiten um die beste Regierungsmannschaft

Als vor nicht mal einem Jahr auf öffentlichen Diskussionsveranstaltungen der IKS von Sympathisanten der Organisation die Auffassung vertreten wurde, dass die Bundestagswahlen 2006 für die rot-grüne Regierungskoalition sozusagen im voraus bereits verloren gegangen seien, widersprachen wir. Damals fuhr die deutsche Sozialdemokratie im Zuge der "Gesundheitsreform" sowie der Vorbereitung auf die mit dem Namen "Hartz" verbundenen "Arbeitsmarktreformen" die schlechtesten Umfragewerte der Nachkriegszeit ein. Trotzdem sagten wir damals voraus, dass die Regierungskoalition in der Wählergunst bis zu den Bundestagswahlen aufholen werde. Es waren drei Erwägungen, welche uns damals zu dieser Aussage bewogen. Erstens die traditionelle Taktik bürgerlicher, "demokratisch legitimierter" Regierungen, ihre Hauptangriffe gegen die Arbeiterklasse in die erste Hälfte ihrer jeweiligen Amtszeit zu verlegen, damit diese Gräueltaten dann rechtzeitig in den Hintergrund treten, wenn man sich zur Wiederwahl stellen muss. Zweitens die Notwendigkeit für die herrschende Klasse insgesamt, die Wahlen möglichst spannend zu halten, und damit als Kopf-an-Kopf-Rennen darstellen zu können.

Die Wirksamkeit des Wahlzirkus im Dienste des Kapitals

Denn der Wahlzirkus, wie überhaupt die bürgerliche Demokratie, ist ein Hauptmittel der Vertuschung der Despotie des Kapitals, indem er die Illusion weckt, dass die Bevölkerung selbst die Regierung und ihre Politik bestimmen würde. Drittens aber die Erwägung, dass innerhalb der herrschenden Klasse Deutschlands gewisse Nuancen derzeit erkennbar sind hinsichtlich der Außenpolitik, welche es ratsam erscheinen lassen, sich nicht frühzeitig auf eine Regierung Merkel-Westerwelle festlegen zu lassen.

Nun, die von uns vorausgesagte, wundersame rot-grüne Erholung bei den Umfragen ist längst eingetreten. Auch wenn das Ansehen der bürgerlichen Politik insgesamt, angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs und der grassierenden Armut, immer mehr sinkt, so werden dennoch die notwendigen Zutaten zusammengetragen, um in den Monaten bis zu den kommenden Bundestagswahlen die Aufmerksamkeit der Bevölkerung in Beschlag zu nehmen. Dazu gehört die sorgsam geschürte Illusion, dass die Bevölkerung wenigstens durch ein Protestwahlverhalten ihrem Unmut über die erlittenen Angriffe des Kapitals wirksam Nachdruck verleihen könnte (indem sie einfach die bestehende Regierung abwählt oder für irgendwelche Randparteien stimmt). Dazu gehört aber auch das Schreckgespenst des Wiederauflebens des Nationalsozialismus sowie der daraus unvermeidlich zu ziehenden Schlussfolgerung des "Zusammenstehens aller Demokraten" – sprich die Ausgebeuteten sollen sich hinter ihre Ausbeuter stellen. Jedenfalls ist es der herrschenden Klasse angesichts von über fünf Millionen amtlich gezählten Erwerbslosen ein dringendes Anliegen, mittels der Demokratie die Arbeiterklasse davon abzuhalten, über die Ausweglosigkeit der Krise des Kapitalismus nachzudenken. Wie wirkungsvoll diese Waffe heute noch eingesetzt werden kann, um die Bevölkerung um aufgebauschte Scheinalternativen herum zu polarisieren, zeigt der letzte Wahlgang in den USA. Obwohl dort die Kontrahenten Bush und Kerry sich ständig darin zu überbieten versuchten, wer mehr Waffen, Soldaten und Polizisten aufzubieten gedachte, um die Interessen des amerikanischen Imperialismus durchzusetzen, wurde der Wahlgang von den Medien als Schicksalsentscheidung zwischen Krieg und Frieden hingestellt.

Die Visa-Affäre als Ausdruck eines Unbehagens der Bourgeoisie

Inzwischen hat sich die Lage in Deutschland weiter entwickelt. Diese Entwicklung kann man anhand von drei Ereignissen ausmachen. Erstens an der sogenannten Visa-Affäre um die besonders "freizügige" Vergabe von Touristenvisa v.a. durch die deutsche Botschaft in Kiew. Zweitens am Scheitern der Wiederwahl der rot-grünen Koalition unter Heidi Simonis in Schleswig-Holstein aufgrund der wiederholten Stimmenthaltung aus den eigenen Reihen bei vier Wahlgängen. Drittens anhand des "Jobgipfels", welcher Mitte März angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen eiligst einberufen wurde.

Die Visa-Affäre und die Vorwürfe gegen den Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer unterstreichen die Unzufriedenheit der deutschen Bourgeoisie angesichts der als zu mager eingestuften Erfolge der derzeitigen Außenpolitik. Vordergründig soll es dabei um die Kritik der Tatsache gehen, dass aufgrund einer angeblich liberalen Visa-Vergabepraxis ukrainischen Schleuserbanden Tür und Tor geöffnet und damit die "innere Sicherheit" gefährdet wurde. Doch just zu der Zeit, als das Auswärtige Amt seine Botschaft in Kiew zur großzügigeren Vergabe von Touristenvisa anhielt, verlangte die jetzt in die Rolle des Anklägers geschlüpfte CDU/CSU selbst öffentlich die Beförderung der Einreise ukrainischer Staatsbürger. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Zum einen können die deutschen Unternehmer die besonders billigen ukrainischen Arbeitskräfte dringend gebrauchen, um die Lohnkosten insgesamt noch mehr zu drücken. Zum anderen bedeutet die Beförderung von Schleuserbanden nichts anderes als Kontaktpflege zu wichtigen Teilen der ukrainischen Bourgeoisie. Die Einsetzung einer Untersuchungskommission in dieser Sache ist vielmehr Ausdruck der Unzufriedenheit angesichts mangelnder Erfolge dieser Kontaktpflege. Denn nicht zuletzt gegenüber der Ukraine war es Washington und nicht Berlin, das von der dortigen "orangefarbenen Revolution" – sprich die Loslösung der Ukraine von der Umklammerung Moskaus – profitieren konnte, um Kiew näher an die Vereinigten Staaten zu locken. Auch das Auftauchen eines Abtrünnigen – vermutlich in den Reihen der SPD – in Kiel, um die Fortsetzung der dortigen rot-grünen Koalition zu sabotieren, mag vielleicht ein Hinweis darauf sein, dass die Zahl der Kritiker der Politik von Schröder-Fischer innerhalb der deutschen Bourgeoisie momentan eher zunimmt.

Somit zeichnet sich eine etwas veränderte politische Konstellation ab gegenüber den letzten beiden Bundestagswahlen. Als 1998 Rot-Grün die Regierung Kohl ablöste, geschah dies im Zeichen der völligen außenpolitischen Kontinuität. Vor allem die Ernennung Fischers als Außenminister verkörperte die Entschlossenheit der deutschen Bourgeoisie, die von Kohl und Genscher nach der Wiedervereinigung eingeleitete Politik der vorsichtigen Herausforderung der USA fortzusetzen, zu verfeinern, und propagandistisch im Zeichen der "Friedenstaube" auszuschmücken. Diese Politik gipfelte in der offenen Ablehnung der Invasion in den Irak durch die USA. Auch bei den Wahlen von 2002, welche im Vorfeld des Irakkriegs stattfanden, wurde die außenpolitische Übereinstimmung der führenden Fraktionen der deutschen Bourgeoisie sichtbar. Denn die damaligen Kontrahenten Schröder und Stoiber lehnten beide eine deutsche Kriegsbeteiligung an der Seite Amerikas ab. Jetzt aber scheint sich innerhalb der Union, im Vorfeld der Bundestagswahl von 2006, die Fraktion um Merkel durchzusetzen, welche einer weniger zur Schau gestellte Herausforderung der Vereinigten Staaten das Wort redet. Durch eine größere Bereitschaft, an der Seite Amerikas zu agieren, verspricht sich diese Fraktion größere Möglichkeiten, um die Politik Washingtons wirksam zu sabotieren und eigene Vorteile für den deutschen Imperialismus herauszuschlagen. Dass Merkel gegenüber ihrem Kontrahenten Stoiber innerhalb der Union um die Frage der Kanzlerkandidatur derzeit die Nase vorn zu haben scheint, muss nicht eine Vorentscheidung der deutschen Bourgeoisie zugunsten einer künftigen Regierung Merkel-Westerwelle bedeuten. Denn es würde allen bisherigen Gepflogenheiten der CDU/CSU widersprechen, wenn ein bereits einmal gescheiterter Kanzlerkandidat aus Bayern direkt wieder aufgestellt würde. Wenn es sich bewahrheitet, dass 2006 zwei Kandidaten gegeneinander auftreten – Schröder und Merkel – welche in der Außenpolitik zwar das gleiche Ziel verfolgen, aber etwas unterschiedliche Mittel befürworten, um dieses Ziel zu erreichen, dann kann man davon ausgehen, dass dieses Wettrennen mit besonders harten Bandagen ausgefochten wird. Und wenn beide Kandidaten alles aufbieten müssen, um die deutsche Bourgeoisie von ihren jeweiligen Methoden zu überzeugen, so kann das nur von Vorteil sein, um die lohnabhängige Bevölkerung ideologisch in Beschlag zu nehmen.

Der Jobgipfel: Eine Alibiveranstaltung

So schauen momentan die Medien "gebannt" nach den kommenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, welche bereits als Vorentscheidung für 2006 bezeichnet werden. Und tatsächlich: Da die Zugänge zu den staatlichen Quellen von Macht, Einfluss und Reichtum nicht allein auf Bundesebene zu finden sind, sondern in den Städten und v.a. auf Länderebene ebenfalls sprudeln, könnte Teilen der SPD die Lust auf das Regieren auf Bundesebene vergehen, wenn der Preis dafür die Verlust der Vorherrschaft über das bevölkerungsreichste Bundesland wäre.

Denkbar wäre also ein Verschnaufpause der Sozialdemokratie in der Opposition, damit sie sich um die Gunst v.a. der eigenen Stammwählerschaft erfolgreicher bemühen kann. Ein solcher Wechsel hätte natürlich auch den Vorteil, dass kaum etwas die demokratischen Illusionen besser aufzupolieren imstande ist als ein Regierungswechsel. Jedoch kann man festhalten, dass in der heutigen Zeit, wo die Arbeiterklasse ihre eigene Klassenidentität – geschweige denn eine eigene Klassenperspektive – noch nicht wieder erobern konnte, dieser Gang in die Opposition noch nicht zwingend erforderlich ist, um den eigenen Ruf zu retten. In Großbritannien beispielsweise befindet sich die Sozialdemokratie unter Blair noch länger an der Regierung als in Deutschland, ohne dass sie dadurch schon verschlissen wäre.

Der sogenannte Jobgipfel am 17. März in Berlin offenbarte dafür eine andere Sorge der politischen Klasse: Nämlich dass angesichts der Dauerkrise des Systems beide großen "Volksparteien" – also SPD und Christdemokraten – gleichermaßen an Einfluss und an Mobilisierungspotential bei den Wahlen einbüßen. Denn die besondere Stabilität des deutschen wie auch des britischen Parteiensystems ruht nicht zuletzt auf dem Vorhandensein zweier großer Parteien, welche von "links" und "rechts" sich gegenseitig ablösen können. Der Jobgipfel war eine Alibiveranstaltung mit dem Ziel, den Opfern der kapitalistischen Krise vorzugaukeln, dass diese Säulen der bürgerlichen Demokratie sich um die Probleme der Arbeiterklasse kümmern. Vor allem galt es aber zu verhindern, dass die Arbeiter damit anfangen, sich selbst als Klasse um ihre Probleme zu kümmern. 19.03.05

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in Deutschland [1]

Geographisch: 

  • Deutschland [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [17]

Weltrevolution Nr. 130

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60. Jahrestag der Befreiung der KZs, der Bombardierung Dresdens, Hiroshimas, der Kapitulation Deutschlands

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Das Jahr 2005 ist reich an makabren Jahrestagen. Einen davon feiert die Bourgeoisie anlässlich der Befreiung der KZ-Insassen im Januar 1945. Und sie tut das mit einem Aufwand, der die 50-Jahrfeiern weit in den Schatten stellt. Dies ist nicht erstaunlich, da die Zurschaustellung der monströsen Verbrechen der Verliererseite im 2. Weltkrieg seit 60 Jahren das wichtigste Mittel darstellt, um die Alliierten von den Verbrechen gegen die Menschheit freizusprechen, die auch sie begangen haben. Gleichzeitig dient dies dazu, die demokratischen Werte als zivilisatorische Garantien gegen die Barbarei zu preisen.
Der 2. Weltkrieg war genauso wie der 1. Weltkrieg ein Krieg, in dem imperialistische Räuber aufeinander prallten. Das  von ihnen angerichtete Blutbad (über 50 Mio. Tote) hat den Bankrott des Kapitalismus auf eine dramatische Weise bestätigt.
Für die Bourgeoisie ist es von höchster Bedeutung, dass ihre Mystifikation auch in den Köpfen der jüngeren Generation fortbesteht, eine Mystifikation, welche die Mobilisierung der älteren Generation für den Krieg erst ermöglicht hatte und die besagt, dass der Kampf des demokratischen Lagers gegen den Faschismus mit der Verteidigung der menschlichen Würde und der Zivilisation gegen die Barbarei gleichzusetzen sei. (2) Es reicht der herrschenden Klasse nicht, die amerikanische, englische, deutsche (3), russische oder französische Arbeiterklasse als Kanonenfutter verwendet zu haben; nein, sie will auch und insbesondere der heutigen Generation ihre scheußliche Propaganda einbläuen. Obgleich sie heute nicht bereit ist, sich für die ökonomischen und imperialistischen Interessen der Herrschenden zu opfern, ist die Arbeiterklasse weiterhin für die Mystifikation empfänglich, der zu Folge nicht der Kapitalismus die Ursache für die Barbarei auf der Welt ist, sondern gewisse totalitäre Regime, jene Erzfeinde der Demokratie.
Die Erfahrung der beiden Weltkriege belegt, dass es zwischen ihnen Parallelen gibt, welche die neuen Gipfel der Barbarei erklären, die damals erreicht wurden und für die alle beteiligten Kriegsparteien verantwortlich sind:
- Der höchste Entwicklungsstand der Technik wurde in der Rüstung erreicht, denn wie alle Kriegsanstrengungen beansprucht die Rüstungswirtschaft alle Ressourcen und Kräfte der Gesellschaft.
- Die Gesellschaft wird in ein stählernes Korsett gezwängt, das sie zwingt, sich völlig den Bedürfnissen des Militarismus und der Kriegsproduktion zu unterwerfen.
- Es kamen alle möglichen Mittel, bis hin zu den extremsten, zum Einsatz, um sich gegenüber dem Gegner militärisch durchzusetzen: Nervengas im 1. Weltkrieg, das vor dessen erstem Einsatz als die Waffe betrachtet wurde, die niemals benutzt werden würde; die Atombombe, die eine neue Stufe darstellte und 1945 gegen Japan eingesetzt wurde.
Weniger bekannt, aber noch mörderischer waren die Flächenbombardierungen der Städte im II. Weltkrieg, mit dem Ziel der Terrorisierung und Dezimierung der Zivilbevölkerung. Von Deutschland mit den Bombenangriffen auf London, Coventry und Rotterdam eingeführt, wurden sie von Großbritannien perfektioniert und systematisch angewandt, als britische Bomber wahre Feuerstürme in den Zentren der deutschen Städte entfachten: "Die deutschen oder sowjetischen Verbrechen dürfen nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass die Alliierten selbst von dem Geist des Bösen erfasst wurden und Deutschland in bestimmten Bereichen übertrafen, insbesondere bei den Terrorbombardierungen. Als der Beschluss zu den ersten Bombenangriffen auf Berlin am 25.8.1940 als Antwort auf einen Zufallsangriff auf London gefasst wurde, nahm Churchill die enorme Verantwortung eines gewaltigen moralischen Rückschritts auf sich. Nahezu fünf Jahre lang griffen die Flugzeuge des Bomber Commands, Harris insbesondere, die deutschen Städte an" (Ein totaler Krieg 1939-45, Strategien, Mittel und Kontroverse, von Ph. Masson) (1). Die Bombardierungen deutscher Städte durch englische Bomber verursachten nahezu eine Million Tote.
Statt zu einer gewissen Mäßigung der Offensive gegen den Feind zu führen, bewirkte die absehbare Niederlage Deutschlands und Japans Anfang 1945 im Gegenteil, dass die Luftangriffe in ihrer Intensität und ihrem Schrecken noch verstärkt wurden. Der Grund hierfür: Es ging nicht mehr wirklich um den Sieg über diese Länder, der schon längst sicher war. Es ging vielmehr darum zu vermeiden, dass sich Teile der Arbeiterklasse in Deutschland angesichts des durch den Krieg hervorgerufenen Leids gegen den Kapitalismus erheben, wie dies während des 1. Weltkriegs der Fall gewesen war (2). Die englischen Luftangriffe zielten also hauptsächlich darauf ab, jene Teile der Arbeiterklasse zu vernichten, die noch nicht an der militärischen Front zu Tode gekommen waren. Das Proletariat sollte sich hilflos und terrorisiert fühlen.
Ein zweites Motiv kommt noch hinzu. In den Augen der britisch-amerikanischen Führung war es offensichtlich, dass die anstehende Neuaufteilung der Welt zu einer Konfrontation zwischen den Hauptsiegermächten des 2. Weltkriegs führen würde, in der sich die USA (mit einem erschöpften Großbritannien an ihrer Seite) und die Sowjetunion, die ihre Machtposition durch die militärischen Eroberungen und Besetzungen nach dem Sieg über Deutschland beträchtlich ausbauen konnte, gegenüberstehen werden. Für die westlichen Verbündeten ging es also darum, dem imperialistischen Appetit Stalins in Europa und Asien durch eine abschreckende Demonstration der Stärke Grenzen zu setzen. Dies war die zweite Funktion der britischen Bombardierungen Deutschlands 1945 und das einzige Ziel des Atombombeneinsatzes gegen Japan.
Dass die militärischen und ökonomischen Ziele immer begrenzter und zweitrangiger wurden, bewies die Bombardierung Dresdens. "Trotz des Leids, das der Bevölkerung zugefügt wurde, konnte man bis 1943 bei den Bombardierungen noch eine militärische oder ökonomische Rechtfertigung finden, als es um die Bombardierung der großen Häfen Norddeutschlands, des Ruhrgebietes, der Hauptindustriezentren oder gar der Hauptstadt des Reiches ging. Aber vom Herbst 1944 an ging es nicht mehr um das Gleiche. Mit einer schon sehr eingespielten Technik strebte das Bomber Command, das über 1600 Flugzeuge verfügte und auf eine immer schwächere deutsche Gegenwehr stieß, den systematischen Angriff und die Zerstörung von mittelgroßen oder selbst kleineren Städten an, bei denen das  militärische oder ökonomische Interesse nicht die geringste Rolle spielte.
Die Geschichte wurde Zeuge der schrecklichen Zerstörung Dresdens im Februar 1945; damals rechtfertigte man dies mit der Absicht, einen strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt lahm legen zu wollen (...) Aber für die Zerstörung der Städte wie Ulm, Bonn, Würzburg, Hildesheim, die teilweise über einen mittelalterlichen Stadtkern verfügten und die als Kunsthochburgen zum Kulturerbe Europas gehörten, gibt es keine Rechtfertigung. All diese alten Städte gingen in den Feuerstürmen unter, in denen Temperaturen von 1000-2000° Celsius erreicht wurde, und Zehntausende von Menschen unter dem schrecklichsten Leiden starben" (ebenda).

Als die Barbarei zum Selbstzweck wurde

Aber es gibt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Weltkriegen: genauso wenig wie die herrschende Klasse fähig ist, im Kapitalismus die Produktivkräfte zu beherrschen, neigen die zerstörerischen Kräfte, die sie in ihrem totalen Krieg auslöst, dazu, ihrer Kontrolle zu entweichen und sich - ebenso wie die schlimmsten Triebe, die der Krieg freisetzt - zu verselbständigen und zu eskalieren, was zu einer ziellosen Barbarei führt, die keinen Bezug mehr zu den einstigen Zielen hat, so niederträchtig diese auch sein mögen.
Während des Krieges waren die Konzentrationslager der Nazis zu einer gewaltigen Tötungsmaschinerie geworden, in der all jene umgebracht wurden, die in Deutschland oder in den besetzten bzw. abhängigen Staaten des Widerstands verdächtigt wurden. Die Verschleppung von Gefangenen nach Deutschland stellte einen Versuch dar, die Ordnung in den von Deutschland besetzten Gebieten aufrechtzuerhalten. Aber die immer planmäßigeren und radikaleren Mittel, um die KZ-Insassen zu vernichten, insbesondere die Juden, lassen sich immer weniger durch das Bedürfnis erklären, mit Terror zu regieren oder die Zwangsarbeit aufrechtzuerhalten. Es handelte sich vielmehr um eine Flucht in die Barbarei, die zu einem Selbstzweck geworden war. Neben dem Massenmord gingen die Folterer und Naziärzte zu "Experimenten" an Gefangenen über, wo Sadismus und wissenschaftliches Interesse miteinander wetteiferten. Die Naziärzte erhielten übrigens nach dem Krieg einen Status der Immunität und gar eine neue Identität, nachdem sie ihre Zusammenarbeit mit den geheimen militärischen Verteidigungsprojekten der USA zugesagt hatten.
Das Vordringen des russischen Imperialismus gen Berlin ging mit Zwangsmaßnahmen einher, die die gleiche Logik verfolgten: "Flüchtlingsströme wurden angegriffen - entweder starben viele durch die Ketten der Panzer  oder durch das Maschinengewehrfeuer der Luftwaffe. Die Bevölkerung ganzer Wohnbezirke wurde mit einer ausgeklügelten Grausamkeit massakriert. Frauen wurden an Scheunentoren nackt ans Kreuz geschlagen. Kindern wurden die Köpfe abgehackt oder mit Gewehrkolben zertrümmert, oder sie wurden lebend in einen Schweinetrog geworfen. All jene, die nicht die Flucht ergreifen oder von der Kriegsmarine in den Ostseehäfen evakuiert werden konnten, wurden ganz einfach umgebracht. Man schätzt, dass es zwischen 3 und 3.5 Mio. Tote gegeben hat (...)
Ohne dieselben Ausmaße zu erreichen, wurden alle deutschen Minderheiten in Südosteuropa, in Jugoslawien, Rumänien, der Tschechoslowakei und Tausende von Sudeten Zielscheibe des mörderischen Wahnsinns. Die deutsche Bevölkerung in Prag, die seit dem Mittelalter in der Stadt lebte, wurde mit einem seltenen Sadismus massakriert. Nachdem sie vergewaltigt wurden, schnitt man Frauen die Achillesferse durch und ließ sie unter den schrecklichsten Leiden am Boden verbluten. Kinder wurden mit Maschinengewehrsalven am Schulausgang niedergemetzelt, von den höchsten Stockwerken lebendig auf die Straße, in Brunnen oder Teiche geworfen. Andere wurden wieder lebendig in Kellern eingemauert. Insgesamt zählte man mehr als 30.000 Opfer (...)
Diese Massaker sind in Wirklichkeit auf eine politische Strategie, nämlich die des Versuchs der Auslöschung, zurückzuführen, wobei die bestialischsten Triebe freigesetzt werden sollten" (Ph. Masson).
Die "ethnische Säuberung" der ostdeutschen Provinzen war nicht das selbstherrliche Werk der Armee Stalins, sondern sie fand mit der Unterstützung der britischen und amerikanischen Armeen statt. Obgleich sich damals schon die Gräben des heraufziehenden Interessengegensatzes zwischen der UdSSR und den USA abzeichneten, arbeiteten diese Länder gemeinsam mit Großbritannien ohne Vorbehalt bei der Ausmerzung der proletarischen Gefahr zusammen, als sie gemeinsam die Bevölkerung massenweise auszulöschen versuchten. Zudem hatten sie alle ein gemeinsames Interesse daran, dass die Bürde der zukünftigen Besetzung Deutschlands eine Bevölkerung trifft, die durch das unermessliche Leid erschöpft ist und in der es möglichst wenige Flüchtlinge durchzufüttern gilt. Dieses Ziel, als solches schon die Verkörperung der Barbarei, war der Ausgangspunkt einer unkontrollierten Eskalation des bestialischen Massenmordes.
An der Kriegsfront im Fernen Osten ging der amerikanische Imperialismus mit der gleichen Bestialität vor: "Zurück zum Sommer 1945. 66 der größten Städte Japans waren schon durch Brände nach den Napalmbombardierungen zerstört. In Tokio zählte man eine Million obdachlose Zivilisten, über 100.000 Menschen hatten den Tod gefunden. Sie waren, um den Ausdruck des Divisionsgenerals Curtis Lemay, der für die Brandbombardierungen verantwortlich war, zu benutzen, ‚gegrillt, gekocht und bei lebendigem Leib begraben' worden. Der Sohn Präsident Franklin Roosevelts, der auch sein Berater war, erklärte, dass die Bombardierungen solange fortgesetzt werden sollten, ‚bis wir ungefähr die Hälfte der japanischen Zivilbevölkerung ausgelöscht haben'" ("Von Hiroshima bis zu den Twin Towers", Le Monde Diplomatique, Sept. 2002).

Ideologische Verschleierungen und Lügen, um die zynischen Verbrechen der Bourgeoisie zu übertünchen


Es gibt noch ein anderes Verhaltensmerkmal der Bourgeoisie in Kriegszeiten, vor allem wenn es sich um totale Kriege handelt. Manche Verbrechen, die nicht vergessen gemacht werden sollen, werden in ihr Gegenteil verkehrt, als mutige, tugendhafte  Handlungen dargestellt, welche ermöglicht hätten, mehr Menschenleben zu retten, als sie gekostet haben.

Die britischen Bombardierungen Deutschlands
Mit dem Sieg der Alliierten ist ein ganzer Teil der Geschichte des 2. Weltkriegs aus der Wirklichkeit wegretuschiert worden: "Die Terrorbombardierungen sind fast vollständig in Vergessenheit geraten, genau wie die Massaker, die von der Roten Armee verübt wurden oder die furchtbaren Abrechnungen in Osteuropa" (Ph. Masson). An diese Ereignisse wird natürlich bei den makabren Jahresfeiern nicht erinnert; im Gegenteil, sie werden aus den Feierlichkeiten verbannt. Es gibt nur einige Aussagen von Zeitzeugen der Geschichte, die zu tief verwurzelt sind, um offen ignoriert zu werden, die aber "für die Medien umgeschrieben" werden, um sie ungefährlich zu machen. Das trifft insbesondere auf die Bombardierungen Dresdens zu. "… der größte Terrorangriff des ganzen Krieges, (welcher) das Werk der siegreichen Alliierten gewesen war. Ein absoluter Rekord wurde am 13. und 14. Februar 1945 erreicht: 253.000 Tote, Flüchtlinge, Zivilisten, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter. Ein militärisches Ziel lag nicht vor" (Jacques de Launay, Einführung zur französischen Ausgabe 1987 des Buches "Die Zerstörung Dresdens" (3).
Es gehört heute zum guten Ton, dass die Medien in ihren Kommentaren zu den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Bombardierung Dresdens nur von 35.000 Toten zu sprechen; und wenn die Zahl von 250.000 Opfern erwähnt wird, dann wird solch eine Schätzung von den einen als Nazipropaganda und von den anderen als stalinistische Propaganda dargestellt. Letztgenannte "Interpretation" stimmt übrigens wenig überein mit einer Hauptsorge der ostdeutschen Behörden, die seinerzeit nicht zulassen wollten, dass "die Information verbreitet wird, dass die Stadt von Hunderttausenden Flüchtlingen überflutet worden war, die vor der Roten Armee türmten" (Jacques Launay). Zum Zeitpunkt der Bombardierungen hielten sich in der Stadt ca. eine Million Menschen auf, davon ca. 400.000 Flüchtlinge. In Anbetracht der Art und Weise, wie die Stadt in Schutt und Asche gelegt wurde, ist es schwer vorstellbar, wie nur 3,5% der Bevölkerung umgekommen sein soll!
Die Kampagne der Verharmlosung der Schreckenstaten von Dresden durch die Bourgeoisie mittels der willkürlichen Reduzierung der Opferzahlen wird durch eine zweite Kampagne begleitet, die darauf abzielt, dass jede legitime Empörung über diese barbarische Handlung als eine typische Reaktion von Neonazis dargestellt wird.  Der große Medienhype, der anlässlich der Demonstrationen von degenerierten Nostalgikern des 3. Reiches anlässlich der Jahrestage veranstaltet wird, dient nur dazu, Kritik an den Alliierten zu unterbinden, indem aller Kritiker mit den Nazis in einen Topf geschmissen werden.

Die Atombomben auf Japan

Im Gegensatz zu den britischen Bombardierungen Deutschlands, dessen ganzes Ausmaß verheimlicht werden soll, wird der erstmalige und einzige Einsatz von Atombomben in der Geschichte durch die führende Demokratie der Welt nicht vertuscht oder heruntergespielt. Im Gegenteil. Alles wird unternommen, damit dies bekannt bleibt und die Zerstörungskraft dieser neuen Waffe deutlich vor Augen geführt wird. Selbst vor der Bombardierung Hiroshimas am 6. August 1945 waren alle Maßnahmen in diese Richtung getroffen worden. "Vier Städte waren zur Bombardierung in Betracht gezogen worden. Hiroshima (ein großer Hafen und eine Industriestadt mit Militärbasen), Kokura (das größte Arsenal), Nigata (Hafen, Stahlwerke und Raffinerien) und Kyoto (Industriestadt) (…) Jedoch wurde keine dieser 3 Städte bombardiert. Sie mussten so wenig wie möglich getroffen werden, damit die zerstörerische Kraft der Atombombe außer Zweifel stünde" ("Bomben auf Hiroshima", https://www.momes.net/dictionnaire/h/hiroshima/html [25]). Und der Abwurf der zweiten Bombe auf Nagasaki spiegelt den Willen der USA wider, deutlich zu machen, dass sie, wann immer nötig, die Nuklearwaffen einsetzen können (was in Wirklichkeit nicht der Fall war, da die damals noch Bau befindlichen Bomben noch nicht fertig gestellt waren).
Der ideologischen Rechtfertigung des Massakers an der japanischen Bevölkerung zufolge handelte es sich um das einzige Mittel, um die Kapitulation Japans durchzusetzen und das Leben einer Million US-amerikanischer Soldaten zu retten. Was für eine Lüge! Japan war längst erschöpft, und die USA (welche die Geheimcodes der japanischen Diplomaten und des Stabschefs abgehorcht und entschlüsselt hatten) wussten, dass Japan bereit war, zu kapitulieren.
Die wichtigste Lehre dieses sechs Jahre dauernden Massakers des 2. Weltkriegs ist, dass die beiden beteiligten Kriegsparteien und die sie unterstützenden Länder, unabhängig von der Ideologie (ob stalinistischer, demokratischer oder faschistischer Couleur), die sie nach Außen zur Schau stellten, samt und sonders Ausgeburten des Monsters des dekadenten Kapitalismus waren. LC-S (16.04.05)
(nach einem Artikel aus unserer Internationalen Revue Nr. 121 (engl./französisch/spanische Ausgabe), 2. Quartal 2005).

1) Philippe Masson kann eigentlich nicht beschuldigt werden, Sympathien für Revolutionäre zu hegen, da er  Leiter der historischen Abteilung der "Historischen Abteilung der französischen Marine" ist und in der Hochschule der Kriegsmarine unterrichtet.
2) Seit Ende 1943 brachen in Deutschland Arbeiterstreiks aus und es desertierten immer mehr Soldaten der Reichswehr. In Italien waren Ende 1942 und vor allem 1943 überall in den Hauptindustriezentren des Nordens Streiks ausgebrochen.
3) Der Autor dieses Buches ist David Irving, der beschuldigt wird, jüngst negationistische Thesen übernommen zu haben. Obgleich solch eine Entwicklung von David Irving, wenn sie tatsächlich so stattgefunden hat, nicht dazu dient, ein günstiges Licht auf die Objektivität seines Buches "Die Zerstörung Dresdens" (französische Ausgabe 1987) zu werfen, muss man sagen, dass seine Methode, die unseres Wissens niemals ernsthaft in Frage gestellt worden ist, keine Spur von Negationismus zeigt. Das Vorwort zu seinem Buch von dem Luftwaffengeneral Sir Robert Saundby, der kein wütender Nazianhänger und auch kein Negationist ist, meint dazu folgendes: "Dieses Buch schildert ehrlich und ohne Leidenschaft die Geschichte eines besonders tragischen Falls des letzten Krieges, die Geschichte der Grausamkeit des Menschen gegenüber anderen Menschen. Hoffen wir, dass der Horror Dresdens, Tokios, Hiroshimas und Hamburgs die menschliche Rasse davon überzeugt, dass der moderne Krieg sinnlos, nutzlos und wild ist." 

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Buchbesprechung zu Cajo Brendels: "Anton Pannekoek – Denker der Revolution" (II)

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Buchbesprechung zu Cajo Brendels: ”Anton Pannekoek – Denker der Revolution” (II)

In unserer Buchbesprechung über ”Anton Pannekoek – Denker der Revolution” von Cajo Brendel in Weltrevolution 126 widersprachen wir der Darstellung Brendels, derzufolge die Übernahme bestimmter ”klassischer” Positionen des Rätekommunismus durch Pannekoek – wie die Ablehnung des proletarischen Charakters der russischen Oktoberrevolution oder die Verwerfung der aktiven und unerlässlichen Rolle der Organisation der Revolutionäre – sozusagen die Krönung der politischen und theoretischen Leistung des großen niederländischen Marxisten bilden würden. Entgegen der Auffassung Brendels von Pannekoek als ein einsames, in Abgeschiedenheit arbeitendes Individuum, das sich zu der Auffassung durchgerungen haben soll, dass die organisierte Arbeiterbewegung von Grund auf etwas Bürgerliches gewesen sei und auch sein musste, zeigten wir auf, dass Pannekoek und sein Beitrag zum Marxismus vielmehr selbst das Produkt der kollektiven Kämpfe dieser Arbeiterbewegung war. Zwar findet sich manches v.a. im Spätwerk Pannekoeks, worauf sich die ”Rätekommunisten” von heute berufen können. Doch diese – aus unserer Sicht irrigen – Auffassungen sind in der Zeit der größten Niederlage des Proletariats, nach dem Scheitern des ersten Anlaufs zur Weltrevolution am Ende des 1. Weltkriegs entstanden, als Pannekoek, wie die übrigen echten Revolutionäre, in eine zunehmende Isolation vom Rest der Klasse geriet. Darüber hinaus stehen solche Aussagen vielfach im Widerspruch nicht nur zu den früheren Positionen und Kämpfen Pannekoeks, sondern auch zu bestimmten Grundüberzeugungen, die er weiterhin - bis ans Ende seines Lebens – vertrat.
Da wir aus Platzgründen damals unsere Buchbesprechung nicht vollständig abdrucken konnten, beendeten wir unsere Aufführungen in der Weltrevolution Nr. 126 mit folgendem Versprechen: ”Im zweiten, abschließenden Teil dieses Artikels werden wir nachweisen, welch tiefer Gegensatz zwischen Pannekoeks marxistischer Sicht der aktiven Rolle der Theorie und der revolutionären Begeisterung im Klassenkampf und dem platten, ökonomistischen Vulgärmaterialismus eines Cajo Brendels besteht.” Dieses Versprechen wollen wir hier nun einlösen.

Der platte Vulgärmaterialismus des ”Rätekommunismus”Diese vulgärmaterialistische

Auffassung Brendels wird bereits in der Einleitung zu seinem Pannekoek-Buch überdeutlich. Dort schreibt Brendel: ”Zur Parteiauffassung gehört die Ansicht, der Sozialismus sei so etwas wie ein ”herrliches Ideal”; zwar ein Ideal, das in den gesellschaftlichen Verhältnissen wurzelt und sein Entstehen dem kapitalistischen Klassengegensatz verdankt, aber dennoch ein Ideal in dem Sinne, dass es die Aufgabe der Partei sei, den Arbeitern ihre eigenen Bedürfnisse bewusst zu machen. Die Schriften des jungen Pannekoek vom Anfang dieses Jahrhunderts zeigen deutlich die Spuren eines solchen Denkens.” (S. 12) Brendel kritisiert in diesem Zusammenhang Pannekoeks Broschüre von 1906 ”Ethik und Sozialismus” und wirft ihm vor, dort eine ”idealistische” Analyse angefertigt zu haben, die “... auch ihn vom ”sozialistischen Proletariat” reden lässt und von der Umwandlung der Gesellschaft als einem Ziel’.” Dagegen behauptet Brendel: “Die Arbeiter setzen es sich nicht zum Ziel, die Gesellschaft zu verändern; die Gesellschaft verändert sich – ob sie das wollen oder nicht, und ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht – infolge jener Handlungen, die sie aufgrund ihrer Klassenlage in ihrem eigenen Interesse zu tun gezwungen sind. Die Arbeiter sind auch nicht ”sozialistisch”; sie sind einfach nur Arbeiter. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn sie sich im Gegensatz zur herrschenden kapitalistischen Ordnung befinden, so nicht, weil sie sich die Schaffung anderer (”besserer”, sagen die moralisierenden ”Idealisten”) sozialer Verhältnisse zum Ziel gesetzt haben. Ihr Kampf gegen das Kapital entspringt nicht ihren Auffassungen, sondern ihrer Lage. Dieser Kampf wird nicht in ihrem Kopf geboren, sondern in ihrem Magen. Kein Ideal liegt ihm zugrunde, sondern die sehr materielle Tatsache, dass ‘die Not sie treibt’. Auch wenn dies nicht immer unmittelbar der Fall sein mag, so hat der Kampf der Arbeiter doch nichts mit ‘erhabenen Idealen’ zu tun, sondern mit realen praktischen Situationen – Situationen, die zum Beispiel das Rechtsgefühl der Betroffenen verletzen.” (S. 14) So Brendel. Wir halten schon mal fest: Für Brendel gibt es ein klares Entweder-Oder. Die materielle Notwendigkeit des Sozialismus und die bewusste, willensstarke Verfolgung dieses Ziels werden einander gegenübergestellt. Laut Brendel werden die Arbeiter gezwungen die Revolution zu machen. Sie sind sozusagen die willenlosen Werkzeuge der Umstände. Nicht die Proletarier verändern die Welt, sondern ”die Gesellschaft verändert sich – ob sie das wollen oder nicht, und ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht.” Die Revolution bedarf weder des Bewusstseins noch des Kampfeswillens der revolutionären Klasse. Brendel beruft sich hierbei auf Marx. Er vergisst dabei, dass es Marx selbst war, der den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier - zwischen dem selbst schlechtesten Architekt und der fleißigsten Biene darin sah, dass der Mensch sich sein Haus und seine Zukunft zuerst im Kopf entwirft, bevor er sie in der Wirklichkeit auszuführen versucht.

Der proletarische, dialektische Materialismus Pannekoeks

Schauen wir nun, ob es nur der junge, vielleicht noch nicht theoretisch ausgereifte Pannekoek war, der mit dieser platten, bürgerlichen Auffassung des Materialismus von Cajo Brendel nicht übereinstimmte. Wir schlagen den Artikel ”Marxismus und Idealismus” auf, welcher 1921 im ”Proletarier”, der Zeitschrift der KAPD veröffentlicht wurde (1). Dort erklärt Pannekoek, was der Marxismus unter Materialismus versteht. ”Materiell bedeutet bei uns alles, was wirklich ist, die ganze reale Welt, alles, was auf uns wirkt. Nicht nur Nahrung und Luft, Bäume und Erde, sondern auch Farben und Töne, Worte und Gedanken. Alles Geistige ist also darin einbegriffen; wirklich, real bestehend, sind die Gedanken in unseren Köpfen, und sie wirken auch auf andere ein.” In der Weltsicht der Bourgeoisie gibt es eine äußere Welt, und im Gegensatz dazu eine innere Welt der Ideen und Gefühle. Während der bürgerliche Idealismus diese Innenwelt als das Eigentliche und Wahre, die äußere Welt hingegen als unwesentlich oder gar als eine Täuschung betrachtet, ist es für den bürgerlichen Materialismus umgekehrt: die Außenwelt bildet das Echte und Bestimmende, während die Gedanken und Gefühle des Menschen lediglich als die passive Wiederspiegelung der materiellen Wirklichkeit gelten. Es ist dieselbe Gegenüberstellung, welche Brendel zwischen materieller Not und bewusstem Hinstreben auf ein Ziel konstruiert. Pannekoek aber wusste, dass der Marxismus diesen Gegensatz zwischen äußerer Welt und innerer Welt, zwischen Handeln hier, Denken und Fühlen dort, längst aufgelöst hatte. ”Der Marxismus sagt also nicht, dass nur die materiellen Verhältnisse, im engeren, bürgerlichen Sinne, den Geist des Menschen bestimmen; sondern er sagt, dass nur die wirkliche, aber auch die ganze wirkliche Umwelt ihn bestimmt. Neben den äußeren Lebensverhältnissen treten die geistigen Einwirkungen der Menschen aufeinander als wichtigste Kräfte auf; einerseits die Tradition überlieferter Anschauungen, die den Kindern eingeprägt und von den Herrschenden sorgsam gehegt wird, andererseits die Propaganda, die die neuen Ideen von dem einem auf die andern überbringt. Darin spricht sich aus, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist; dass der geistige Besitz der Menschen an Wissen, Glauben, Anschauungen und Idealen ein kollektiver Besitz ist.”
Man sieht, wie sehr auch der reife Pannekoek der Revolutionsjahre im Gegensatz zu den Auffassungen Brendels steht. Weit davon entfernt, die aktive Rolle von Bewusstsein und Willen, von der Begeisterung für große Ideale zu verneinen, hat Pannekoek ihre Bedeutung stets betont. ”Die Geschichte, sagten wir, ist Handeln der Menschen. Was bestimmt das menschliche Handeln? Erstens die unmittelbaren Triebe, die zwingenden Bedürfnisse des Lebens: Hunger und Kälte treibt sie, wie die Tiere auch, Nahrung und Deckung zu suchen. Beim Menschen nimmt dies die Form des Gedankens, des bewussten Willens an. Aber auch andere Kräfte bestimmen sein Handeln: sittliche Triebe, geistige Einflüsse, Opfermut, Einsicht, Befreiung, Ideale verursachen oft ein Handeln gegen das unmittelbare Interesse. In revolutionären Zeiten sieht man die treibende Macht großer Ideen. Unwissende Gegner glauben, damit den Marxismus widerlegen zu können: also nicht bloß materielle Kräfte bestimmen die Geschichte. Aber es ist klar, dass dies ein Mißverstehen ist. Der Marxismus leugnet die Macht der sittlichen, geistigen, idealen Kräfte nicht, sondern fragt: woher stammen sie? Nicht vom Himmel, sondern aus der wirklichen Welt selbst; erzeugt durch die Nöte der ökonomischen Entwicklung verbreiten sie sich durch Rede und Schrift, Literatur, Kunst, Propaganda, durch alle Mittel geistigen Verkehrs, während sie stets aus dem Boden, worin sie wurzeln, Nahrung nehmen und gewinnen so eine Riesenkraft.”
Unserer Meinung nach hat die Auffassung Brendels Ähnlichkeiten mit der Neigung großer Teile der Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg, die Bedeutung der subjektiven Faktoren des Klassenkampfes so sehr zu unterschätzen, dass die bereits im Kommunistischen Manifest definierte Rolle der Revolutionäre aufgehoben wird, ”...praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder” zu sein: ”sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.” (MEW Band 4, S. 474). Allerdings hat diese Verneinung der Wichtigkeit der Verteidigung der Perspektive des kommunistischen Endziels jeweils eine andere Ursache. Bei den heutigen Rätekommunisten vom Schlage Brendels geschieht dies als Reaktion auf den Verrat der Arbeiterparteien der Vergangenheit sowie auf den Missbrauch des Begriffs der revolutionären Partei durch den Stalinismus. Die Sozialdemokratie hingegen begann, die Macht der objektiven Entwicklung zu überschätzen zu einer Zeit, als die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung war, als es noch galt, die Reifung dieser Bedingungen abzuwarten. Dabei wurde oft, wie Pannekoek schreibt, ”... die geistige Zwischenstufe als selbstverständlich übergangen. Diese Form der Darstellung gibt aber leicht zu Missdeutungen Anlass, als sei der Mensch gleichsam ein passives willenloses Werkzeug der materiellen Kräfte; in den sonst vorzüglichen historischen Werken Kautskys macht der Marxismus oft den Eindruck eines toten Mechanismus.”
Doch was Pannekoek damals, für die Intervention der Revolutionäre, gegen den fatalistischen ”orthodoxen Marxismus” eines Kautskys schlussfolgerte, gilt im vollen Umfang auch für heute und gegen das nicht Eingreifen der ”Rätekommunisten”.
”Diese Unterlassung wird aber zum prinzipiellen Fehler, wenn man den Marxismus auf die Gegenwart anwendet. Wenn für heute die wirtschaftlichen Ursachen und die Revolution als notwendiges Ergebnis unmittelbar nebeneinander gesetzt werden, wird die Theorie zum Fatalismus, dessen ‘marxistische’ Losungen und Gebote sind: die Verhältnisse ausreifen lassen, abwarten, sich nicht provozieren lassen, vor allem nicht eingreifen – an diesem Fatalismus ist der Marxismus der zweiten Internationale zugrunde gegangen.”
Diese tiefgreifende Überzeugung Pannekoeks von der lebenswichtigen Bedeutung der Theorie, der revolutionären Propaganda und der revolutionären Leidenschaft hilft uns auch, das Paradox aufzulösen, das Brendel in seinem Buch nicht befriedigend erklären kann: Dass auch in den späten Werken Pannekoeks (auf die die Rätekommunisten sich am ehesten berufen können, um ihre Ablehnung der Organisation der Revolutionäre zu untermauern) die Vorstellung von der Notwendigkeit der Klassenpartei wieder auftaucht. Sogar 1946 forderte Pannekoek in den ”Fünf Thesen über den Klassenkampf”, eine Partei neuen Stils, die nicht mehr die Macht an Stelle der Arbeiterklasse übernehmen soll. Statt dessen hat sie “... Kenntnis und Einsicht zu verbreiten, Ideen zu formulieren und den Geist der Massen aufzuklären.”
Es liegt uns fern, aus dem späten Pannekoek einen konsequenten Vertreter der Notwendigkeit der revolutionären Partei machen zu wollen. Auffallend ist vielmehr die Widersprüchlichkeit des älteren Pannekoeks in dieser Frage. Eine solche Widersprüchlichkeit findet sich bei Brendel freilich nicht. Weil er die Rolle der Theorie und der revolutionären Intervention gänzlich über Bord wirft, hat Brendel natürlich keine Probleme damit, konsequent die Klassenpartei abzulehnen. Der inkonsequente Pannekoek allerdings, ist dafür immer noch ungleich anregender als die sterile Impotenz der gradlinigen Rätekommunisten. Denn sie hält fest an der Überzeugung von der Unerlässlichkeit des Marxismus als Waffe der Befreiung des Proletariats.

(1) Dieser Artikel wurde 1974 auf deutsch wieder veröffentlicht als Band 1 der Reihe ”Neubestimmung des Marxismus” im Karin Kramer Verlag (Seiten 21 bis 26). Man wird die eher bürgerliche Auffassung des Materialismus durch Brendel nicht damit entschuldigen können, dass er vielleicht diesen Artikel Pannekoeks nicht gekannt habe. Denn die Einleitung zu diesem Band wurde von Cajo Brendel selbst beigesteuert.

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  • Niederlande [28]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Kommunistische Linke [29]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [30]

Diskussionsveranstaltung der Gruppe Eiszeit in Zürich

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Diskussionsveranstaltung der Gruppe Eiszeit in Zürich


 Wir berichten in unserer Presse regelmässig über politische Veranstaltungen anderer Organisationen,  an denen wir uns in der Diskussion beteiligten, und die unseres Erachtens für die Debatte innerhalb der Arbeiterklasse wertvoll sind. Am 16. April organisierte die Gruppe Eiszeit in Zürich eine Veranstaltung mit dem Titel: "Geschichte des Linksradikalismus", welche eine sehr grosse Teilnahme fand. Wie von Mitgliedern der Gruppe Eiszeit uns gegenüber erklärt, ist eine ihrer wichtigsten Sorgen das Vorwärtstreiben einer Debatte und politischen Klärung. Zur Veranstaltung vom 16. April hatte Eiszeit einen Referenten eingeladen (Gerhard Hanloser). Wir wissen nicht, inwieweit die von Hanloser (der offenbar dem operaistischen Milieu rund um die Zeitschrift Wildcat in Deutschland entstammt) dargelegten Positionen von Eiszeit geteilt werden. Leider können wir hier nicht von einer lebendigen Debatte berichten, da das Einleitungsreferat mehr als 2 Stunden dauerte und nur noch µ kurze Redebeiträge möglich waren! Das Referat streifte drei politische Strömungen : Den Rätekommunismus der 20er und 30er Jahre, die situationistsiche Strömung der 50er und 60er Jahre und den Operaismus. Repräsentierten diese drei Strömungen aber tatsächlich die Fähigkeit der Arbeiterklasse, die im realen Klassenkampf gemachten Erfahrungen weiterzutragen und damit eine Orientierung auch für heute zu geben? Wir gehen zuerst auf die rätekommunistische Strömung und danach auf den Operaismus ein. (Die sog. situationistische Bewegung werden wir hier, lediglich aus Platzgründen, nicht behandeln.)

Rätekommunismus: Ausdruck einer Schwäche der Arbeiterklasse

Voran einige Zitate von Hanloser zum Rätekommunismus:
- "Die von Lenin angeführte Dritte Internationale schraubte die Macht der Räte zurück, diffamiert Kritiker von links als "Dummköpfe" und wollte sie aus ihren Reihen ausgrenzen."
- "Auch die Spontanitätstheorie - die in Deutschland am prominentesten durch Rosa Luxemburg stark gemacht wird - will Gorter nicht verabsolutieren - und damit ist er auch den heutigen Rätekommunisten, die den Spontanitätsgedanken als Dogma behandeln, überlegen."
- "Tritt die Internationale jedoch auf mit der Vollmacht der Zentralgewalt eines Landes, dann trägt sie den Todeskeim in sich und wird die Revolution hemmen."  
- "Wie für Anton Pannekoek, einen der Gründerväter des Rätekommunismus, war für Paul Mattick im rückständigen Russland im Gegensatz zum Westen keine proletarische Revolution möglich und so beschrieben die Rätekommunisten die bolschewistische Revolution auch als bürgerliche Revolution, die von einer jakobinischen Partei, den Bolschewiki an- und durchgeführt wurde."
Wir teilen einige Aspekte der zitierten Hauptgedanken durchaus, wie zum Beispiel Lenins mangelndes Verständnis für die Kritiken der internationalen Linksopposition, das falsche Verständnis der heutigen rätistischen Strömung über die Spontaneität des Klassenkampfes, vor allem aber den Hinweis, dass, als die Interessen der Kommunistischen Internationale denen eines Nationalstaates unterworfen wurden, dies ihren Tod bedeutete. Die Delegation der IKS versuchte in einem ersten Diskussionsbeitrag auf den proletarischen Charakter der Russischen Revolution einzugehen. Sie war in unseren Augen keinesfalls ein Produkt der spezifisch russischen Verhältnisse, sondern Ausdruck der internationalen revolutionären Welle, welche dem Ersten Weltkrieg durch die Aktion der Arbeiterklasse ein Ende setzte. Diese Frage schien uns gerade deshalb wichtig, weil das Referat die These einer angeblich bürgerlichen Revolution in Russland 1917 teilte und somit die wohl einschneidendste Verwirrung der rätekommunistischen Bewegung vor einem interessierten Publikum vertrat.
Für die Rätekommunisten blieb die Degenerierung der Russischen Revolution ein Rätsel. Die wohl bedeutendste rätekommunistische Organisation, die 1927 gegründete GIK (Gruppe Internationaler Kommunisten), versuchte 1934 in den "Thesen über den Bolschewismus" die Niederlage der Arbeiterklasse den Auffassungen der  Bolschewiki und den angeblich unreifen Bedingungen für eine proletarische Revolution in Russland in die Schuhe zu schieben. Sie beschrieben die Russische Revolution als einen bolschewistischen Putsch mit bürgerlichem Charakter. Damit war für die Rätekommunisten (von denen die meisten noch einige Jahre zuvor die Russische Revolution vehement verteidigt hatten!) die Frage gelöst: Nicht das erdrückende Übergewicht der Weltbourgeoisie mit ihrem blutigen Krieg von über 20 Nationen gegen die Rätemacht in Russland und die internationale Isolierung der Russischen Revolution durch das Scheitern der Arbeiterrevolution in Deutschland 1918/19 war in ihren Augen Ursache der Katastrophe, sondern die Existenz einer Partei und die angeblich schon zu Beginn weg bürgerlichen Konzeptionen der Bolschewiki, welche aus diesen rückständigen nationalen Bedingungen in Russland resultiert hätten. Der proletarische Sturmlauf der "alten Arbeiterbewegung"  gegen den Weltkapitalismus führte also in ihren Augen fast vorbestimmt zum Stalinismus.
Es gilt beileibe nicht die Schwächen und tragischen Fehler der Bolschewiki (wie die blutige Niederschlagung des Aufstandes von Kronstadt 1921) zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil entstammt gerade auch unsere Organisation, die IKS, der Tradition der deutsch-holländischen und italienischen Linkskommunisten, welche schon zu Beginn der 20er Jahre gewichtige Kritiken an den Auffassungen der Bolschewiki geübt hatten. Es gilt auch nicht zu verheimlichen, dass die  Dritte Internationale im Verlaufe der 20er Jahre tatsächlich degenerierte und mit der Übernahme der Losung des "Sozialismus in einem Lande" 1928 als Ausdruck des Proletariats starb. Russland war ein stalinistischer Staatskapitalismus mit imperialistischer Habgier und Ausbeutung der Arbeiterklasse geworden. Wovor wir warnen möchten, ist die von den Rätekommunisten verwendete falsche Methode, sich den Gang der Geschichte zu erklären: Das lokalistische Ignorieren des wirklichen internationalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen als bestimmender Faktor für Sieg oder Niederlage von Arbeiterkämpfen und Revolutionen sowie die bürgerliche Auffassung der Geschichte als Produkt von Ideen herausragender Köpfe (oder eben der "Fehler Lenins"). Obwohl die rätekommunistische Strömung nie mit dem Stalinismus gemeinsame Sache machte, hat sie mit der nationalistischen Methode des Stalinismus eine Gemeinsamkeit: Wenn die Losung "Sozialismus in einem Land" die schamlose Lüge in sich trug, dass der Sozialismus in einem Nationalstaat möglich sei, so war die Methode der GIK mit der Behauptung, dass die nationalen Bedingungen für eine proletarische Revolution in Russland nicht gegeben waren, ignorant gegenüber den wirklichen internationalen Bedingungen . Nicht Russland war "reif oder unreif" für eine proletarische Revolution, sondern der Weltkapitalismus war dafür reif, denn er begann die Menschheit auf internationaler Ebene mit den Weltkriegen zugrunde zu richten! Gerade aufgrund der oben geschilderten Methode, einen Schuldigen für die Niederlage der weltrevolutionären Welle von 1917-23 dingfest zu machen, gelangten die Rätekommunisten zur Verwerfung der proletarischen Partei, einer ihrer tragischsten Fehler. Sie entwickelten eine offen organisationsfeindliche Haltung. Eine Auffassung, die zum Selbstmord der eigenen politischen Organisationen führte und zur Vision von "tausenden von kleinen Arbeitsgruppen deren Aufgabe sehr bescheiden ist" (Canne-Meijer: "Das Werden einer neuen Arbeiterbewegung"). Der Rätekommunismus verfiel auf dieser schwachen Grundlage später zunehmend einer passiven und unklaren Haltung, die im Referat richtigerweise als ein "blosses Archivieren des Klassenkampfes" beschrieben wurde. Die rätekommunistische Bewegung löste sich in den Jahren nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges langsam auf, und ab den 70er Jahren kann man nicht mehr von einer organisierten rätekommunistischen Strömung sprechen. Organisationen wie Daad en Gedachte oder der Spartacusbond übernahmen auch Positionen, welche die alten rätekommunistischen Organisationen nie vertreten hätten und die linksbürgerlichen oder anarchistischen Ideen nahe kommen, wie Teilbereichskämpfe oder die Geldkollekten von Daad en Gedachte 1988 für den nationalistischen ANC in Südafrika...!
Auf den ersten unserer Diskussionsbeiträge wurde vom Referenten zwar bestätigt, dass die Isolierung ein vorhandener Faktor zur Degenerierung der Russischen Revolution war, der von ihm nicht erwähnt wurde. Doch vertrat er die Meinung, dass weitergehende Diskussionen über so lange zurückliegende Ereignisse heute wohl kaum mehr von Belang seien. Wir versuchten daraufhin in einem zweiten Beitrag, die Wichtigkeit der Debatte über die Klassenkämpfe der Arbeiterklasse in der Geschichte aufzuzeigen, um aus ihnen gerade für heute Lehren zu ziehen. Diese Lehren sind mitnichten ein "Luxus der Historiker": Wenn man wie die GIK damals, und das Referat heute, aufgrund einer unzureichenden Methode, die das Kind mit dem Bade ausschüttet, zu einer organisationsfeindlichen Haltung gelangt, raubt man der Arbeiterklasse ein unabdingbares politisches Werkzeug zur Überwindung des Kapitalismus!                         

Operaismus: Arbeiterkult und gleichzeitig Misstrauen gegenüber der Arbeiterklasse

Auch hier wollen wir erst einige Gedanken des Referates zitieren:
- "Dem aus Italien kommenden Operaismus, der Arbeiteruntersuchung, ging es um den Kampf gegen die Arbeit in der Arbeit durch die ArbeiterInnen."
- "Die kopernikanische Wende im Marxismus, für die der Operaismus sorgte, waren: zum einen wurde der subjektive Faktor wiederentdeckt - Arbeiterklasse war nicht mehr eine abgeleitete Grösse, sondern eine agierende Grösse. Diese Grösse war keine nebulöse, sondern eine konkrete Erscheinung, die man befragen und mit der man etwas organisieren konnte, die Fragebögen boten hierfür ein geeignetes Mittel."
- "Die Kritik des bolschewistischen Staatskapitalismus ist nach wie vor notwendig, um überhaupt historisch eine Perspektive zu eröffnen, was Kommunismus hiess und heissen könnte. Eine Beschäftigung mit dem Operaismus eröffnet die Möglichkeit der Kritik der jeweils konkreten Arbeitssituationen durch uns selbst mit Arbeitskollegen, die zu Arbeiter/innengenossen/innen werden könnten. Fragebögen und die Untersuchungsidee ist dabei eine konkrete Alternative zum blossen Archivieren des Klassenkampfes wie es heutige Rätekommunisten auf sehr verdienstvolle Art betreiben und zum Avantgardegedanken des ML."             
Im Gegensatz zu einigen Gedanken des Referates zur rätekommunistischen Strömung  teilen wir diese Sichtweise nicht.
Wie wir im ersten Teil zeigten, hatte der Rätekommunismus Wurzeln gelegt zu einer parteifeindlichen Haltung und einer lokalistischen Sichtweise. Auch wenn wir beim Operaismus ähnliche Argumente vorfinden, ist dieser keinesfalls als ein "Nachfolger" des Rätekommunismus zu betrachten, zu welcher Überlegung das Referat verleitete. Der Operaismus versuchte sich aber auf der Suche nach einer historischen Legitimation für seine eingefleischte Parteifeindlichkeit gerade in Deutschland oft auf Cajo Brendel (Daad en Gedachte) zu berufen. Schon die Begründer des Operaismus im Italien der 60er Jahre hatten, in ihrem Versuch, sich die Niederlage der Russischen Revolution zu erklären, ganz simpel den Bolschewiki die Schuld zugewiesen, wie das folgende Zitat zeigt: "Der auf dieser Grundlage entstandene Arbeiterstaat durfte so nicht über die Aufgaben der Partei hinausgehen. Aber die Taktik Lenins wurde zur stalinistischen Strategie, und mit dieser Entwicklung ist die sowjetische Erfahrung vom Arbeiterstandpunkt aus gescheitert. Für uns bleibt jetzt die Lehre, diese beiden Momente der revolutionären Aktivität in unserem Kopf organisch vereint, in der Praxis aber streng getrennt zu halten: Klassenstrategie und Parteitaktik."   Die Niederlage der Russischen Revolution wird den Ideen Lenins zugeschrieben, die Partei verworfen und sogar eine angebliche Kontinuität zwischen Lenin und dem Stalinismus hergestellt! Wenn also im Referat behauptet wurde, der Operaismus verkörpere eine "kopernikanische Wende im Marxismus", so möchten wir entgegnen, dass er in seiner Bilanz über die Niederlage der bedeutendsten Arbeiterkämpfe des 20. Jahrhunderts (1917-23) vor allem kläglich versagte. Die Notwendigkeit einer klaren politischen Organisation der Arbeiterklasse hat der Operaismus durch seine "exzellente" Bilanz der Russischen Revolution seit seiner Geburt bekämpft - was eher an den Anarchismus erinnert. Wenn schon Bezug zur Astronomie genommen wird, müsste man den Operaismus bezüglich politischer Klarheit über die Geschichte wohl eher als eine Sonnenfinsternis für die Arbeiterklasse bezeichnen! Vielversprechend klingende Thesen der Operaisten wie die "Neuzusammensetzung der  Arbeiterklasse" (immer wieder historisch begründet durch das Scheitern der sog. "alten Arbeiterbewegung", die schon im Keime den Stalinismus in sich getragen habe), endeten vor allem in absolut konfusen Konzepten wie der "militanten Untersuchung", mit der auch das Referat endete. Dieses soziologistische Schnüffeln mit Fragebögen erinnert an universitäre Studien, aber kaum mehr an eine Arbeit von proletarischen Revolutionären innerhalb ihrer Klasse. Wenn die Rätekommunisten wenigstens noch den Willen zeigten, innerhalb der Arbeiterklasse mit ihrer Intervention die Notwendigkeit der proletarischen Revolution und der Bildung von Arbeiterräten zu verteidigen, so betreibt der Operaismus eine Jagd nach dem kämpferischsten Sektor des Proletariates, in den es sich dann lohnt "hineinzugehen". Mit welchem Resultat? Nicht mit einer Verteidigung klarer Orientierungspunkte für den Klassenkampf (wie der Vereinigung und Ausdehnung des Arbeiterkampfes), sondern in der Propaganda für individuelle "Sabotage und Krankfeiern". Die Stärke der Arbeiterklasse ist aber im Gegenteil ein kollektives Handeln. Wir denken, dass der Wert einer politischen Strömung daran gemessen werden soll, inwieweit sie zum Kampf der Arbeiterklasse beitragen kann. In diesem Zusammenhang scheint es uns auch nicht richtig, den Operaismus im selben Atemzug mit dem Rätekommunismus zu erwähnen. Denn dieser unterscheidet sich vom Operaismus in einem entscheidenden Punkt: Die rätekommunistische Strömung war noch ein proletarischer Versuch von Teilen der lebendigen Arbeiterbewegung, sich die stalinistische Konterrevolution in Russland zu erklären und gegen den Opportunismus der degenerierten Dritten Internationalen zu kämpfen. Der Rätekommunismus drückt aber im wesentlichen eine Schwäche der damaligen Arbeiterbewegung aus. Der Operaismus hingegen ist keine politische Strömungen, die der lebendigen Tradition der Arbeiterklasse entstammt. Er ist im wesentlichen ein Versuch, das Misstrauen und gleichzeitig die Glorifizierung gegenüber dem Proletariat zu theoretisieren, auch wenn immer wieder die berechtigte Sorge "irgendwie gegen den Stalinismus zu sein" sichtbar wurde. Auf seiner Suche nach den "Kämpferischsten" und "Ausgebeutetsten" entwickelte der Operaismus vor allem in den 80er Jahren Thesen wie die Existenz einer "Facharbeiter-Aristokratie", welche durch ihre bessere Entlohnung vom Kapital korrumpiert sei und damit eher der herrschenden Klasse nahe stünde. Der Operaismus hat Theorien entfaltet, die lediglich zur Zersplitterung der Arbeiterklasse aufrufen und eine Hierarchie unter den Ausgebeuteten predigen: Der Facharbeiter profitiere von den Teilzeitjobbern, der Teilzeitjobber von den Ausländern, der Ausländer von den Frauen...(der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt!) Ins Auge springt auch der nur auf den Moment ausgerichtete Aktionismus im operaistischen Milieu. Sich erst euphorisch auf die Fabriken stürzen und sich dann, wenn es nicht gelungen ist Arbeiterkämpfe zu entfachen, entweder enttäuscht zurückzuziehen, oder interklassistische Bewegungen wie Quartier-Aufstände mit Plünderungen zu verherrlichen, welche nichts mehr mit dem Kampf der Arbeiterklasse zu tun haben. Diese Vorgehensweise drückt lediglich das erwähnte Misstrauen (jedoch überdeckt mit einem Arbeiterkult) gegenüber der Arbeiterklasse aus. Einerseits steht dahinter die Auffassung, dass die Arbeiter auf "Spezialisten des Klassenkampfes" angewiesen sind, welche sie am Arbeitsplatz wachrütteln, eine im Keim bürgerliche, basisgewerkschaftliche Idee, die der Operaismus nie überwunden hat. Andererseits zeigte die operaistsiche Strömung mit ihrer unkritischen Verherrlichung von Quartierrevolten des "Volkes", dass sie nicht wirklich vom revolutionären Charakter der Arbeiterklasse überzeugt ist.

Die Notwendigkeit, sich mit dem linkskommunistischen Erbe insgesamt auseinanderzusetzen  

Wir haben zu Beginn des Artikels Zweifel formuliert, ob die präsentierten politischen Strömungen wirklich den reifsten Ausdruck der Arbeiterklasse seit den 20er Jahren repräsentieren (oder überhaupt Ausdruck der Arbeiterklasse sind!). Bezüglich des Rätekommunismus und des Operaismus haben wir versucht die Frage zu beantworten. Das Referat und die getroffene Auswahl der politischen Strömungen kann aber auch fälschlicherweise dazu zu verleiten, eine politische Kontinuität zwischen Rätekommunismus und Operaismus zu sehen, welche in Wirklichkeit nicht existiert.
Außerdem macht es wenig Sinn, auf den sog. Rätekommunismus Bezug zu nehmen, ohne von der Kommunistischen Linken insgesamt zu sprechen, aus der der Rätekommunismus hervorging und von dem er nur ein politisch sehr geschwächter Ausläufer war.  
Ab den 20er Jahren hatten vor allem die deutsch-holländische, die italienische, aber auch die russische linkskommunistische Bewegung eine Antwort auf die Niederlage der Russischen Revolution und die Kampfformen des Proletariates im dekadenten Kapitalismus geben können, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Gorter und auch Pannekoek waren vor allem lebendiger Teil dieser linkskommunistischen Opposition, die sich innerhalb der Dritten Internationale bildete. Dass z.B. Pannekoek in den 30er Jahren seine Auffassungen zur Parteifrage und zum Charakter der Russischen Revolution hin zu einer rätekommunistischen Sichtweise veränderte, ist bedauernswert, es darf aber keinesfalls dazu führen, außer Acht zu lassen, dass auch Pannekoek ein Ausdruck der internationalen kommunistischen Linken war.  Das Erbe der internationalen linkskommunistischen Opposition der 20er Jahre wurde später in den 30er Jahren bis durch die Zeit des Zweiten Weltkrieges von den Genossen um die Zeitschrift BILAN weitergeführt, welche eine Synthese der theoretischen Beiträge sowohl der deutsch-holländischen als auch der italienischen Linken erstellten. MT 26. 5. 2005    
 Eine offenbar überarbeitete Version ist auf www.eiszeit.tk [24] nachzulesen.    
  Siehe: GIK "Das werden einer neuen Arbeiterbewegung", Rätekorrespondenz Nr. 8/9, 1935  
  Siehe dazu: GIK:" Thesen über den Bolschewismus"  (Thesen 4-9) und Cajo Brendel: "Thesen über die chinesische Revolution", (Thesen 2-11)  
  Mario Tronti, "Erste Thesen". Aus der stalinistischen KPI kommend kehrte Tronti nach seinem "intellektuellen Seitensprung" als grosser Theoretiker des Operaismus bezeichnenderweise schlussendlich wieder in die KPI zurück!    
  siehe dazu "Die andere Arbeiterbewegung" von Karl-Heinz Roth, einem deutschen operaistischen Theoretiker  
 
 

Geographisch: 

  • Schweiz [8]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Operaismus [31]

Ein Ort der offenen Debatte – der Politische Diskussionszirkel Rheinland

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Ein Ort der offenen Debatte – der Politische Diskussionszirkel Rheinland

Engels hat stets gesagt, dass der Kampf des Proletariats auf drei Ebenen stattfinden muss, um das Ziel der klassenlosen Gesellschaft erreichen zu können: der Kampf auf der politischen,  ökonomischen und theoretischen Ebene. Diese drei Ebenen sind nicht voneinander zu trennen. Doch gerade Letztere wird von aktivistischen Gruppen, die den Kommunismus sofort erreichen wollen,  (oder aber - noch häufiger - das Endziel der proletarischen Bewegung gänzlich vernachlässigen) und den Arbeitern ohnehin nicht die theoretische Auseinandersetzung mit der Welt mittels der Waffe des Marxismus zutrauen, nur müde belächelt. Doch nur wenn die Arbeiterklasse die Welt versteht, kann sie diese auch ändern.
    Dass die Arbeiter aber keineswegs unfähig sind, sich mit der "Theorie", d.h. dem Marxismus auseinanderzusetzen, zeigen nicht nur zahlreiche Beispiele aus der Geschichte, sondern wird auch durch die Entstehung von politisierten Minderheiten heute bestätigt. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die Entstehung des Politischen Diskussionszirkels Rheinland als ein Ausdruck einer zur Zeit wieder international verstärkt zu beobachtenden Anstrengung der politisierten Teile der Arbeiterklasse, zu politischem Bewusstsein zu gelangen.
Ein entscheidender Grund, warum sich dort die Fähigkeit entwickelte, politische Themen und Fragen vertieft zu diskutieren, war die Tatsache, dass der Zirkel sich von Anfang an nicht als ein  einheitliches Gebilde, als politische Gruppe verstand (weil schließlich die verschiedensten Ansichten im Zirkel anzutreffen sind), sondern als einen "... Ort, an dem politisch Interessierte zusammenkommen, um zu diskutieren." (1) Da das oberste Ziel des Zirkels die gemeinsame Klärung mittels der Diskussion ist, steht er grundsätzlich "... jedem offen, der politische Themen aus der Sicht des Proletariats vertieft diskutieren möchte." (2)
   Dieses alte proletarische Prinzip der offenen und fairen Diskussion macht sich auch im Ablauf dieser Treffen deutlich. Die Diskussionen werden solidarisch geführt, d.h. man lässt den anderen ausreden, hört einander zu und versucht, seinen Teil zum gemeinsamen Klärungs- und Vertiefungsprozess beizutragen. Manch einer könnte einwenden, dass dies doch selbstverständlich ist. Doch leider sieht die Realität anders aus. Gerade in Zeiten des gesellschaftlichen Verfalls und inmitten der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft müssen solch proletarische Prinzipien bewusst gepflegt werden. Andere könnten argumentieren, dass diese Fragen des Verhaltens und des gegenseitigen Umgangs miteinander im Vergleich zu "wirklich" politischen Fragen doch bedeutungslos seien. In Wirklichkeit aber müssen Ziel und Mittel miteinander in Einklang stehen. Wie will man denn die erste wirklich menschliche Gesellschaft errichten, wenn die Arbeiter sich die bürgerlichen Vorstellungen der Konkurrenz in ihrem Kampf zu Eigen machen?
   Im deutschsprachigen Raum findet man auch andere Initiativen, die sich Diskussionszirkel nennen. Doch muss man sich fragen, inwieweit es sich hier tatsächlich um Orte der offenen Debatte handelt, wenn z.T. selektiert wird, wer nun an den Treffen teilnehmen darf und wer nicht, und wenn über die eigentlichen Diskussionen kaum etwas nach außen dringt. Hier herrscht nicht der Geist der offenen Diskussion. Vielmehr bekommt man den Eindruck von einer kleinen, geschlossenen Gesellschaft, ja einer bürgerlichen Familie, die nach außen die Fassade der harmonischen Einheit präsentiert, während in Wahrheit in ihrem Innern die Messer gewetzt werden. Doch die Arbeiterklasse als Ganzes kann ihren Kampf nur gewinnen, wenn sie sich ohne Scheuklappen mit der Wirklichkeit auseinandersetzt - und zwar mit der Realität der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Was könnte da förderlicher sein als eine ernsthafte und solidarisch geführte Debatte?

Die Funktionsweise des Rheinischen Zirkels

   Genau hierzu leistet der Politische Diskussionszirkel Rheinland einen nicht zu unterschätzenden Beitrag. Und mit dem Aufbau einer Homepage, die regelmäßig aktualisiert wird, hat der Diskussionszirkel Rheinland noch einen weiteren Schritt unternommen, um die offenen Debatten auch all denen in der Welt zugänglich zu machen, die nicht an den eigentlichen Treffen teilnehmen können. Es werden nämlich seit einigen Monaten nicht nur die Referate ins Netz gestellt, die ja zunächst nur die Meinung eines Teilnehmers  geben; darüber hinaus werden nun auch Synthesen der Diskussion veröffentlicht. Diese Möglichkeit, die Debatten des Diskussionszirkels mitzuverfolgen, sind unseres Wissens im deutschsprachigen Raum einzigartig und daher um so bedeutsamer. So können politisch Interessierte nicht nur einen Einblick in die verschiedenen Argumentationslinien und politischen Positionen gewinnen, sondern auch einen Einblick in die Entwicklung und die Führung einer lebendigen Debatte bekommen. Hier geht es also - im Vergleich zu zahlreichen anderen Diskussionszirkeln - nicht nur um eine andere Funktionsweise. Nein, dahinter verbirgt sich eine ganz andere Betrachtungsweise der Welt. Die Teilnehmer des Zirkels waren sich nämlich schon sehr früh einig, dass die im Zirkel besprochenen Fragen nicht nur sie, sondern die gesamte Arbeiterklasse angehen. Daher muss ein solcher Ort der Klärung und der Vertiefung auch der gesamten Klasse zugänglich sein, sowohl durch die offenen Treffen als auch durch Diskussionszusammenfassungen, die im Internet veröffentlicht werden. Dies ist ein wahrlich proletarischer Standpunkt.
   Gegründet wurde der Politische Diskussionszirkel Rheinland bereits im Dezember 2002. Er entstand in Opladen als Eigeninitiative politisch interessierter Menschen (Sympathisanten der IKS und Mitglieder der inzwischen aufgelösten "Initiative Linkskommunismus"). Ziel war es, all jenen ein Forum für politische Diskussionen anzubieten, denen die weitere Entwicklung der Welt nicht gleichgültig ist und die mit anderen Menschen darüber in Kontakt treten wollen. Anfangs war die Teilnehmerzahl des Diskussionszirkels Rheinland größer. Doch es zeigte sich sehr bald, wer wirklich gemeinsam diskutieren und wer sich möglicherweise profilieren wollte. So kamen bald beispielsweise Leute aus dem Operaismus nicht mehr, weil sie die Bedeutung des Zirkels als Ort der Klärung unterschätzten, und eher den Eindruck vermittelten, Anhänger gewinnen zu wollen.  Denn hier entwickelte sich, ganz nach dem proletarischen Prinzip, eine offene und solidarische Diskussionsatmosphäre, die vom Bemühen gekennzeichnet war, gemeinsam die Klärung voranzutreiben. So wurde der Zirkel zwar kleiner, gewann aber an Diskussionsqualität dazu. Es folgten Treffen, die sehr lebhaft und durchaus kontrovers waren.
   Dennoch ergaben sich Probleme, deren Tragweite der Zirkel zunächst nicht erkannte. Es kam die Zeit, wo das Stattfinden des Zirkels von der Teilnahme gewisser Leute abhing. Schließlich fanden dann keine Treffen mehr statt. Daraufhin befreiten sich Teile der Zirkelteilnehmer von einer gewissen Abwartehaltung und verhalfen dem Zirkel zu neuem Leben.
  Der Zirkel findet nun im leichter erreichbaren Köln statt. Noch viel wichtiger aber waren die Lehren, die nun im Zirkel aus den eigenen Erfahrungen gezogen wurden. Zum einen wurde festgestellt, dass der Zirkel nicht mehr von  der Teilnahme einzelner Personen abhängen sollte. Zum anderen beschloss man aus den eigenen Fehlern zu lernen und sich vor allem durch den Aufbau einer eigenen Homepage allen politisch Interessierten zu öffnen und dieses Diskussionsforum weithin bekannt zu machen. An dieser Stelle möchten wir die Entwicklung und das rege Leben des Diskussionszirkels Rheinland aufs Wärmste begrüßen. (3) Das Proletariat braucht solche Orte der offenen politischen Klärung und Diskussion, um sich für die zukünftigen Kämpfe zu rüsten. 14.5.2005
(1) Siehe die Homepage des Zirkels, s.u.
(2) Ebenda
(3) Die Homepage lautet https://de.geocities.com/zirkelrunde [32] Die E-Mail-Adresse zur Kontaktaufnahme lautet: [email protected] [33]. Wir empfehlen allen unseren interessierten Lesern, die Homepage des Politischen Diskussionszirkels Rheinland aufzusuchen. Die Teilnehmer des Diskussionszirkels haben uns wissen lassen, dass sie sich über weitere neue Teilnehmer sehr freuen würden.
 

Geographisch: 

  • Deutschland [2]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Von der Kommunistischen Linken beeinflusst [34]

Massenarbeitslosigkeit - Neuwahlen

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Die Herrschenden wollen den Bankrott des Kapitalismus vertuschen  


 Nachdem am 21. Mai in Nordrhein-Westfalen - im vielgepriesenen "Stammland der Sozialdemokratie" - die SPD bei den Landtagswahlen eine bittere Niederlage erlitten hatte, antworteten Bundeskanzler Schröder und SPD-Parteivorsitzender Müntefering mit einem politischen Paukenschlag: Die Ankündigung von -um ein Jahr - vorgezogenen Bundestagswahlen für den Herbst 2005. Nachdem das "politische Deutschland" sich von dieser Überrumpelung erholt hatte, stieß der Überraschungscoup rasch allerorts auf Gegenliebe. Ja, es war sogar von einem Befreiungsschlag die Rede. Im Präsidium der SPD blieb der von den Medien vorhergesagte Aufstand gegen die Parteiführung aus. Statt Kritik bekam der Kanzler von den Parteilinken Schwüre der Nibelungentreue zu hören. Auch der grüne Koalitionspartner stellte sich, ohne zu murren, sofort der "neuen Aufgabe". Die christdemokratische und liberale parteipolitische Opposition begrüßte sofort und einhellig die Entscheidung Schröders. Von dort hieß es siegessicher: Jeder Tag weniger, an dem das Land noch von Rot-Grün regiert werde, sei ein guter Tag für Deutschland. Auch die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften zeigten sich froh und erleichtert darüber, dass "die Deutschen" nun an den Wahlurnen "selbst" darüber Auskunft geben sollten, ob sie "weiterhin" hinter den "schmerzhaften, aber notwendigen Wirtschaftsreformen" stehen oder nicht. An der Frankfurter Börse war von einem "neuen Optimismus" die Rede, welcher die Bundestagswahlen im Herbst voraussichtlich auslösen werde - und zwar unabhängig von ihrem Ausgang. Auch die ehrwürdigen Gottesdiener ließen es nicht an demokratischer Gesinnung fehlen: Die Evangelischen beispielsweise "öffneten" den wenige Tage später in Hannover stattfindenden Kirchentag ausdrücklich für den bereits einsetzenden Wahlkampf.
Wie erklärt sich diese einhellige Begeisterung der herrschenden Klasse für vorgezogene Bundestagswahlen? Hat, aus der Sicht der Bourgeoisie, Rot-Grün so schlecht regiert, dass man gar nicht mehr bis zum Ende der Legislaturperiode 2006 abwarten möchte, um sie abzulösen? Wird die wahrscheinlich erscheinende Ablösung der jetzigen Regierung zu einer Kursänderung, etwa in der Wirtschafts- und Sozialpolitik führen, wie die Opposition vollmundig ankündigt?

Schröders Flucht nach vorne

Weshalb der Bundeskanzler sich für vorgezogene Neuwahlen stark macht, ist nicht schwer zu erraten. Bereits in der letzten Ausgabe der Weltrevolution stellten wir fest: "So schauen momentan die Medien "gebannt" nach den kommenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, welche bereits als Vorentscheidung für 2006 bezeichnet werden. Und tatsächlich: Da die Zugänge zu den staatlichen Quellen von Macht, Einfluss und Reichtum nicht allein auf Bundesebene zu finden sind, sondern in den Städten und v.a. auf Länderebene ebenfalls sprudeln, könnte Teilen der SPD die Lust auf das Regieren auf Bundesebene vergehen, wenn der Preis dafür der Verlust der Vorherrschaft über das bevölkerungsreichste Bundesland wäre."  (Weltrevolution 129: "Visa-Affäre, Jobgipfel, Kieler Abstimmung: Die Ausbeuter streiten um die beste Regierungsmannschaft").
Die SPD hat jetzt in NRW die Macht in einem Bundesland verloren, das sie zuvor 39 Jahre ununterbrochen regiert hat. Sie hat damit die neunte Landtagswahl in Folge verloren. In Düsseldorf wurde gerade die letzte rot-grüne Regierungskoalition auf Länderebene abgelöst. Angesichts eines solchen, in der jüngsten deutschen Geschichte beispiellosen wahlpolitischen Niedergangs der Sozialdemokratie boten sich dem Kanzler Neuwahlen im Bund noch als letztes Mittel an, um offenen Machkämpfen innerhalb der Partei vorzubeugen. Dieses Mittel erweist sich derzeit als derart wirksames Disziplinierungsmittel, dass sich innerhalb der Bundestagsfraktion der SPD bis jetzt nicht mal die Parteilinken bereit erklärt haben, auch nur pro forma dem Kanzler im Bundestag das Vertrauen zu entziehen, damit Neuwahlen ermöglicht werden. Denn auch die Abgeordneten, die sich sonst medienwirksam von bestimmten "Härten" der "Hartzreformen" der eigenen Regierung distanzieren, bangen nun um ihre eigene Wiederwahl, um ihren eigenen Platz am Futtertrog der Herrschenden.
Tatsächlich sieht Schröder in einem vorgezogenen Wahltermin die letzte Möglichkeit an der Macht zu bleiben. Sollten die Christdemokraten die nächste Landtagswahl in Rheinland-Pfalz gewinnen, hätten sie eine Zweidrittelmehrheit - also die "Blockierungsmehrheit" - im Bundesrat erringen, wäre die Bundesregierung spätestens dann dazu verdammt, in ihren letzten Monaten den fatalen Eindruck des tatenlosen Dahindümpelns zu hinterlassen. Außerdem zwingt Schröder durch Neuwahlen die Union dazu, sich rasch auf CDU-Chefin Angela Merkel als Kanzlerkandidatin zu einigen. Merkel gilt ja als Wunschgegnerin des Kanzlers. Denn er weiß, dass es innerhalb der deutschen Bourgeoisie Vorbehalte gegen Merkel gibt in Bezug auf die Außenpolitik aufgrund ihrer fehlenden Entschiedenheit gegenüber den USA zur Zeit des Irakkrieges.
Da aber auch ein leidenschaftlicher und gewiefter "Wahlkämpfer" wie Schröder, der nicht kampflos seine Stellung räumen wird, Realist genug ist, um zu wissen, dass seine Chancen auf eine erneute Wiederwahl gering sind, macht der sich natürlich auch Gedanken darüber, auf welche Weise er letztendlich von Bord gehen möchte. Als die SPD Anfang der 80er Jahre angesichts eines sprunghaften Anstiegs der Arbeitslosigkeit und eines wachsenden Unmuts der Arbeiterklasse ihr Heil in der Opposition suchte, war es damals die SPD-Linke gewesen, die den Dolchstoß ausführte. Die Art und Weise, wie der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt sozusagen von den eigenen Leuten aus seinem Amt gejagt wurde, ist als unehrenhafter Abgang in die Geschichte eingegangen. Wenn er schon gehen muss, dann möchte Schröder, wie sein Vorgänger Kohl, lieber demokratisch "würdevoll" abgewählt werden.

Schwarz-Gelb in den Startlöchern, um Rot-Grün abzulösen

Weshalb die parlamentarische Opposition sich auf Neuwahlen freut, liegt ebenfalls auf der Hand. Denn die Aussichten von Union und FDP, die jetzige Regierung abzulösen, sind denkbar günstig. Vor allem die wachsende Unbeliebtheit der linken Regierung beim Wahlvolk - und nicht zuletzt beim bisherigen sozialdemokratischen Stammwähler  unter den Arbeitern - stimmt optimistisch. Zwar weiß auch die Opposition von den vorhandenen Vorbehalten im außenpolitischen Bereich, nicht nur gegenüber Merkel, sondern auch gegenüber FDP-Chef Westerwelle. Denn ein eventueller Außenminister Westerwelle wäre ein rotes Tuch für die israelische Regierung (und damit eine ideologische Belastung für die deutsche Außenpolitik) aufgrund des populistischen, israelfeindlichen, mit dem Namen Jürgen Möllemann verknüpften Wahlkampfes der FDP 2002.
Doch diese Schwierigkeiten scheinen alles andere als unüberwindbar zu sein. So wird derzeit darüber verhandelt, ob nicht eventuell ein Oppositionspolitiker, der den aktuellen außenpolitischen Kurs besser verkörpern könnte - etwa der CSU-Chef Stoiber oder der FDP-Fraktionsvorsitzende Gerhardt - das Außenministeramt übernehmen könnte.
Die Vorfreude von Union und FDP speist sich nicht allein aus dem wahlpolitischen Niedergang der SPD. Die Herausforderer Schröders wissen, dass mächtige Teile der deutschen Bourgeoisie in letzter Zeit bei diesem Niedergang bewusst nachgeholfen haben, indem sie dafür gesorgt haben, dass auch die Grünen und ihre Galionsfigur Außenminister Fischer in diesen Strudel mit hineingerissen wurden. Die "Visa-Affäre" zeigt auf, dass es in der Außenpolitik nicht nur Vorbehalte gegenüber den Parteispitzen der Opposition, sondern auch ein Unbehagen der Bourgeoisie über die in letzter Zeit ausgebliebenen Erfolge der Bundesregierung gibt. Es ist kein Zufall, dass der Auslöser dieser Affäre die Politik gegenüber der Ukraine war. Denn der dortige Machtkampf, welcher sich "orangene Revolution" schimpft, und vorläufig mit der Loslösung der Ukraine aus dem Einflussbereich Rußlands endete, ging zu Gunsten der USA, nicht aber Deutschlands aus. Es gibt mächtige Stimmen innerhalb der Union und v.a. der FDP (als traditionsreichen Vertreter der deutschen Außenpolitik), welche Schröder zu viel Rücksicht auf die Interessen Rußlands vorhalten. Sie werfen ihm vor, zu starr an der Bündniskonstellation festzuhalten, die zur Zeit des Irakkriegs mit Frankreich und Rußland entstand, und fordern eine pragmatischere, mehr von Fall zu Fall sich neu ausrichtende Politik des deutschen Imperialismus.
Es wird immer deutlicher, dass die Außenpolitik heute weder bei der Entscheidung die Bundestagswahlen vorzuziehen, noch bei der Bestimmung der daraus hervorzugehenden Wunschregierung der deutschen Bourgeoisie, ausschlaggebend ist. Auch die Visa-Affäre hat v.a. eine wahlpolitische Dimension. Beispielsweise hat sie der Union ermöglicht, sich als wachsamen Behüter des Landes vor Kriminellen aus dem Ausland zu präsentieren, um damit Stimmen am rechten Rand auf Kosten der Neonazis zu gewinnen. Zum anderen hat diese Affäre nicht nur der SPD zusätzlich geschadet, sondern v.a. ihrem grünen Koalitionspartner. Damit hat man die vernichtende Niederlage von Rot-Grün in NRW mitbesiegelt, und darüber hinaus politische Signale gegeben, um Schröder die Option von Neuwahlen im Bund nah zu legen.

Die Rückkehr der sozialen Frage

Wir haben es bereits eingangs erwähnt: Auffällig ist heute, dass nicht nur die beteiligten politischen Parteien, sondern auch die große Mehrheit der wichtigsten Stimmen innerhalb der herrschenden Klasse Deutschlands ausdrücklich die Perspektive von vorgezogenen Bundestagswahlen begrüßen. Und während man das Verhalten der direkt beteiligten, politischen Akteure aus ihren machtpolitischen Interessen heraus leicht erklären kann, trifft dies kaum zu für die Führung von Industrie und Finanz, für die Gewerkschaftsbosse oder die Kirchenfürsten, und auch nicht für die Börsenjongleure. Denn die Macht dieser Führungseliten im Staate wird kaum davon berührt, ob die Regierung in Berlin von Rot-Grün oder von Schwarz-Gelb gestellt wird (ganz zu schweigen von der Macht bestimmter Eliten wie den Spitzen des Militärs oder der Nachrichtendienste, die sich von Berufs wegen in der Öffentlichkeit nicht äußern). Es ist also klar, dass Neuwahlen eine Herzensangelegenheit zentraler Teile der deutschen Bourgeoisie geworden sind, und sich keineswegs allein durch parteipolitische Interessen erklären lassen.
Natürlich hat dieser Schachzug der Neuwahlen etwas zu tun mit der wirtschaftlichen Lage, mit der weiteren Verschärfung der kapitalistischen Krise. Es geht u.a. darum das Vertrauen der Investoren zu bewahren oder zu gewinnen. Die deutsche Bourgeoisie will aller Welt beweisen, dass die "Wirtschaftsreformen" (sprich: die massiven Angriffe gegen die Arbeiterklasse) unvermindert, ja beschleunigt fortgesetzt werden; dass es kein "verlorenes Jahr" und keine "gegenseitige Blockade" der politischen Kräfte bis 2006 geben wird. Doch gerade die Tatsache, dass kein Zweifel daran gelassen wird, dass der "Reformkurs" fortgesetzt wird - und zwar unabhängig vom Ausgang der Wahlen - weist darauf hin, dass es sich gar nicht darum handelt, einen politischen Kurswechsel einzuleiten. Falls Rot-Grün tatsächlich auch auf Bundesebene aus dem Amt verjagt wird, dann jedenfalls nicht, weil die Bourgeoisie mit ihrer Wirtschaftspolitik unzufrieden wäre, oder, weil Schwarz-Gelb eine andere Wirtschaftspolitik anzubieten hätte! Was Union und FDP anzubieten haben, ist wirklich nichts anders als die Fortsetzung von dem, was die Regierung Schröder-Fischer seit 7 Jahren, was jede Regierung heute weltweit praktiziert.
Weshalb also jetzt die Aufregung und die plötzliche Eile? Die deutsche Bourgeoisie reagiert heute in der Tat auf einen bedeutsamen neuen Faktor der gesellschaftlichen Entwicklung. Dieser neue Faktor ist nicht die Wirtschaftskrise als solche, welche manche heute als ein Ergebnis der "Mißwirtschaft unter Rot-Grün", und andere als einen Auswuchs einer angeblich neu einsetzenden "Globalisierung" hinstellen wollen. Denn diese chronische, im Rahmen des Systems unlösbare, sich stets vertiefende Krise des Kapitalismus greift seit Jahrzehnten weltweit um sich. Neu ist, dass die soziale Frage, dass die Frage der Folgen dieser Krise für die Lohnabhängigen, für die produzierende und ausgebeutete Klasse des Kapitalismus, in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens zurückkehrt. Diese folgenschwere soziale Frage wurde an den Rand des gesellschaftlichen Bewusstseins verdrängt durch die Ereignisse von 1989, als mit dem Untergang des Stalinismus zunächst glaubhaft die Lüge in der Welt verbreitet werden konnte, der Kapitalismus habe einen entgültigen Sieg errungen, und damit den Klassenkampf für immer zu Grabe getragen. Der schöne Schein der 1990er - New Economy, Börsenhausse, Informationsrevolution - trugen dazu bei, das Leben dieser schaumartigen Illusionen zu verlängern. Aber das wachsende Leid der arbeitenden Bevölkerung, insbesondere aber die stetige Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit, räumten immer mehr mit diesen Illusionen auf. Heute, nicht nur an der Peripherie des kapitalistischen Systems, sondern in den Kernländern des Kapitalismus, in angeblichen Festungen des "Sozialstaates" wie Deutschland, Frankreich oder Italien, fühlen sich immer breitere Kreise der arbeitenden Bevölkerung unmittelbar bedroht durch Arbeitslosigkeit und Mittellosigkeit. In Deutschland hat diese Arbeitslosigkeit offiziell die 5 Millionen Marke überschritten. Das sind Scharen der Erwerbslosen, welche Erinnerungen an die Wirtschaftskrise von 1929 wieder wach rufen. Dabei geraten Schichten der arbeitenden Bevölkerung in Gärung, welche bislang zu den besser bezahlten und  höchst qualifizierten gezählt wurden. Wenn, wie in den letzten Wochen, die Klinikärzte auf der Strasse gehen, und die Mitarbeiter von Agfa erfahren, dass die Firma über Nacht ihre Zahlungsunfähigkeit feststellen musste, so bekommt man eine Ahnung davon, wie sehr das Proletariat sich heute konfrontiert sieht mit der Unsicherheit des Daseins als Lohnarbeiter, mit den Gefahren, der Erniedrigung und der Misere der Abhängigkeit vom Kapital. In aller Öffentlichkeit, unübersehbar, im Bewusstsein der Proletarier selbst, kehrt die soziale Frage wieder zurück. Sie zwingt die herrschende Klasse, darauf zu reagieren.

Die Bedeutung der Massenarbeitslosigkeit

In einem Land wie Deutschland, wo sich gerade eine besonders brutale Zunahme der Massenarbeitslosigkeit vollzieht, darf die herrschende Klasse den Eindruck erst gar nicht aufkommen lassen, dass es im heutigen Kapitalismus gar keine Lösung für die Erwerbslosigkeit gibt. Sie muss alles tun, um den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Sie muss so tun, als ob es eine andere Partei gäbe, die bessere Rezepte weiß, um dem Problem Heer zu werden.
Neuwahlen: Das gehört zur Antwort der Bourgeoisie auf die Gefahr, dass die Massenarbeitslosigkeit die Lohnabhängigen den Bankrott des Systems erkennen oder auch nur erahnen läßt. Denn das Wesen der kapitalistischen Lohnarbeit - welche sie von allen bisherigen Formen der Ausbeutung radikal unterscheidet - liegt darin, dass den Ausgebeuteten nur so lange ihre Lebensmittel gewährt werden, wie sie sich profitabel ausbeuten lassen. Die Lohnarbeiter werden nicht gewaltsam zur Arbeit gezwungen, sondern müssen sich selbst darum kümmern, einen Ausbeuter zu finden, damit sie überhaupt überleben können. Freilich: Die Bourgeoisie hat es im Verlauf des 20. Jahrhunderts  -angesichts einer immer mehr zum Dauerzustand werdenden Massenarbeitslosigkeit -verstanden, staatlich gelenkte Sicherungssysteme aufzubauen, um die aufkeimende Selbsterkenntnis der Lohnabhängigen über ihre Klassenlage auszulöschen. Aber heute sieht sich die Bourgeoisie unter dem Druck der Krise gezwungen, just zu der Zeit diese Sicherungssysteme immer massiver einzuschränken, wo die Arbeitslosigkeit immer massiver und dauerhafter wird. So droht die Krise, den Ausgebeuteten für die Realitäten der Klassengesellschaft die Augen wieder zu öffnen.
Jedoch darf man nicht übersehen, dass die Ausbeuter mit ihrem Wahlmanöver wertvolle Zeit gewinnen, um das aufkeimende Klassenbewusstsein der anderen Hauptklasse der kapitalistischen Gesellschaft unter Beschuss zu nehmen. Sollte wider Erwarten Rot-Grün doch wieder gewählt werden, wird man immerhin behaupten können, die Bevölkerungsmehrheit habe die Notwendigkeit der Reformen "eingestanden". Sollte die Regierung abgewählt werden, so kann zunächst für ein Abwarten plädiert werden, damit die "konsequenteren" Reformen der neuen Regierung "greifen". Und währenddessen könnte die Sozialdemokratie (SPD wie Gewerkschaften) - glaubwürdiger denn als Regierungspartei - die "Kapitalismusdebatte" Franz Münteferings aufgreifen und erneute Illusionen über eine Einschränkung der Arbeitslosigkeit mittels der staatlichen Einschränkung der "Globalisierung" (d.h. mittels einer Autarkiepolitik wie vor dem 2. Weltkrieg) verbreiten. Bis man aber soweit ist, kann man heute schon auf einen Oskar Lafontaine zurückgreifen, der ehemalige SPD-Vorsitzende, der sich derzeit bemüht, eine Wahlliste links von der SPD zustande zu bringen, dabei PDS und WASG auf ein Antiglobalisierungsbündnis einschwörend.

Die Demokratie als Hauptwaffe des Kapitals

Doch Neuwahlen bedeuten darüber hinaus das volle Ausspielen der Waffe der Demokratie gegen das Bewusstsein, aber auch gegen die Entwicklung der Kampfkraft und das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse. Die Bourgeoisie weiß von der zunehmenden Unzufriedenheit der Arbeiter, Angestellten und Erwerbslosen. Sie weiß aber auch, dass die Lohnabhängigen - ohne ein klares Gefühl der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Klasse; ohne Vertrauen in die eigene, lange nicht mehr zur Geltung gebrachte Kraft; erpressbar und oft eingeschüchtert noch durch das Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit - erhebliche Schwierigkeiten haben, in den Kampf zu treten.
Da bietet die Bourgeoisie gerne die Wahlen als scheinbar wirkungsvollere und einfacher zu betretende Bühne an, um die Wut und Unzufriedenheit der Ausgebeuteten ausdrücken zu können. Anstatt Versammlungen abzuhalten, die Arbeit niederzulegen oder auf die Strasse zu gehen, sollen die Proletarier zur Wahlurne gehen, um dort der Regierung "eins auszuwischen:" So funktioniert die Demokratie: Die Regierung oder bestimmte Parteien fungieren als Blitzableiter, welche die Wut der Bevölkerung auf sich ziehen. Indem sie auf diese Weise "abgestraft" werden, wird ein unabhängiger Arbeiterkampf verhindert. Anstatt, dass aus Sorge und Empörung Klassenbewusstsein und Solidarität erwachsen, wird blinder Schadenfreude Vorschub geleistet, indem das Gefühl vermittelt wird, als ob so eine ‚Abstrafung' vorgenommen werde.  Anstatt die eigene Kraft als Klasse zu spüren, werden die Arbeiter in der Wahlkabine vereinzelt, wo sie sich als Staatsbürger fühlen und benehmen. Diese Funktion der ‚Abstrafung' erfüllte soeben in Frankreich das Referendum vom 29. Mai über die EU-Verfassung. Allein, das französische Referendum wurde keineswegs mit der Absicht angesetzt, eine solche Wirkung, die Arbeiter von ihrem Klassenterrain wegzulocken, zu erzielen. Dies wird vielmehr als angenehme Nebenwirkung sozusagen gerne mitgenommen. Die Ablehnung der Verfassung als Ergebnis des Referendums passt der französischen Bourgeoisie auch gar nicht in den Kram. In Deutschland hingegen, wo die Bourgeoisie in der Regel politisch organisierter und wirkungsvoller agiert, ist diese Wirkung gewollt. Die Herrschenden wollen uns glauben lassen, dass es uns was bringt, der SPD oder der Regierung einen Denkzettel zu verpassen. Doch die Demokratie als stärkstes Mittel der Bourgeoisie dient nicht zuletzt dazu, um mittels der periodischen Ablösung von Regierung und Opposition dafür zu sorgen, dass dieses "Abstrafen" die Interessen der Bourgeoisie, die Interessen des Staates keineswegs juckt. Wen betrifft es schon, wenn Schröder und Fischer abgewählt werden? Beiden ist ihr Platz in der Geschichte sicher, ihre Privilegien ebenso. Auch die Pensionen und Vorzüge des Fußvolks der SPD, der abgewählten Bundes- und Landtagsabgeordneten, sind gesichert. Denn ihre Politik der Verteidigung der Interessen einer winzigen Minderheit gegen die Interessen der lohnarbeitenden Bevölkerung werden von anderen, ebensolchen wie sie selbst, fortgesetzt. Außerdem kann es für die Arbeiterklasse nicht darum gehen, Personen oder Gruppen "abzustrafen", sondern die Wurzeln der eigenen Ausbeutung, die Ursachen des Leids und der Perspektivlosigkeit der gesamten Menschheit zu erkennen und zu überwinden. Nicht ein Kampf gegen Windmühlen, gegen einzelne Vertreter oder Symptome des Systems tut not, sondern ein bewusster Kampf gegen den Kapitalismus.                             31.5.05
 
 

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Massenarbeitslosigkeit: Wegbereiter des Faschismus oder Stachel der Revolution?

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Massenarbeitslosigkeit: Wegbereiter des Faschismus oder Stachel der Revolution?


Nachfolgend veröffentlichen wir, leicht gekürzt, das Einleitungsreferat zum Thema Massenarbeitslosigkeit, das am 7. Mai 2005 in Köln auf der öffentlichen Veranstaltung der IKS gehalten wurde.

Bis Anfang der 90er Jahre galt die Arbeitslosigkeit oftmals noch als das spezifische Problem von Branchen (Werft-, Stahl- und Textilindustrie), Regionen, Ländern oder wurde gar als selbstverschuldetes Ergebnis arbeitsunwilliger Menschen betrachtet. Doch heute, mit dem rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit in den letzten 15 Jahren, wird immer mehr Menschen bewusst, dass das Problem der Arbeitslosigkeit beileibe kein marginales Problem ist. Selbst die offiziellen Arbeitslosenzahlen spiegeln dies deutlich wider. Im Februar 2005 verkündete die Bundesagentur für Arbeit den seit dem 2.Weltkrieg höchsten Stand der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik: Erstmals wurde nämlich wieder die 5-Millionen-Marke überschritten, doch damit nicht genug - in ihrem angeblichen Bemühen, "sich ehrlich zu machen", räumten die Behörden weit mehr Arbeitslose ein, als die offizielle Statistik ausweist. So ist die Rede von 6-7 oder gar 8 Millionen Menschen ohne Arbeit.
Es stellt sich nun die Frage, wie dieses Phänomen zu erklären ist. Handelt es sich hierbei um einen Ausdruck der sog. deutschen Krankheit oder sind die Arbeiter selbst Schuld, weil sie zu hohe Löhne erhalten? Ist die Arbeitslosigkeit genauso wie die Wirtschaftskrise eine vorübergehende Erscheinung, die sich wieder in Luft auflöst, sobald die Krise überwunden ist? Oder liegt es an den "profitgeilen, unpatriotischen" Unternehmern, die sich erdreisten, Beschäftigte zu entlassen, selbst wenn sie hohe Gewinne erzielt haben?
Ginge es nach den Gewerkschaften oder den Antiglobalisierern, dann wäre die Lösung dieses Problems ein Leichtes: Man gewähre den noch beschäftigten Arbeitern höhere Löhne, womit sie mehr konsumieren und damit die Binnennachfrage erhöhen könnten. Eine Nachfrage, die sich dann ummünzen ließe zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die Unternehmer dagegen meinen, dass erst durch Lohnverzicht und unbezahlte Mehrarbeit der noch beschäftigten Arbeiter neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Tatsache, dass die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie ständig mit neuen Konzepten zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit hausieren gehen, während derweil diese unaufhaltsam in schwindelnde Höhen steigt, zeigt letztlich nur eins: die Ratlosigkeit der Herrschenden.

Die Rolle der Arbeitslosigkeit im Kapitalismus

Um aber den angeblichen Erklärungen der Herrschenden und Linken nicht auf den Leim zu gehen, müssen wir das wirkliche Verhältnis zwischen Arbeitslosigkeit und Kapitalismus begreifen. Die Arbeitslosigkeit ist im Kapitalismus unabdingbar. Man kann sogar so weit gehen und sagen: ohne die Arbeitslosigkeit keinen gut funktionierenden Kapitalismus. Marx sprach im Kapital explizit davon, dass die industrielle Reservearmee eine "Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise ist." Wie kann das sein? Hier kann uns ein Vergleich des Kapitalismus mit den vorkapitalistischen Produktionsformen helfen. In der antiken Sklavengesellschaft oder in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft bestand in der Produktion die Tendenz, dass jeder so viel produzierte, bis er für sich und seine Familie genug zum Leben hatte; dann hörte er auf. Die Herrschenden in diesen vorkapitalistischen Epochen konnten also nur mittels der nackten Gewalt die Sklaven oder Leibeigenen zur Mehrarbeit zwingen. Darüber hinaus wurde der antike Sklave als ganze Person als Ware verkauft. Der ganze Mensch gehörte also dem Sklavenhalter. Wenn er möglichst viel von seinem Sklaven an Arbeit herauspressen wollte, dann musste er ihn aber auch mit dem Nötigsten zum Leben versorgen, also Nahrung und Obdach gewähren. Im Kapitalismus ist dies völlig anders. Erstens braucht der Kapitalist den Arbeiter nicht mit roher Gewalt zur Arbeit zwingen, obwohl der Grad der Ausbeutung und die Arbeitshetze auf einem viel höheren Niveau stattfinden. Wie kann das aber sein? Tatsächlich hat das kapitalistische System ein viel wirksameres Mittel, um den Arbeiter "freiwillig" mehr arbeiten zu lassen: die Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosigkeit bedeutet nämlich eine ständige Konkurrenz unter den Arbeitern, die ja, um ihr Überleben zu sichern, gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit lässt die Arbeiter oft schlimme Arbeitsbedingungen hinnehmen, eben weil die Konkurrenz der Arbeitslosen allgegenwärtig ist. Der permanente Druck der Arbeitslosen senkt die Löhne auf ein Minimum herab. Daher darf, um das Funktionieren des Kapitalismus auf ökonomischer Ebene zu gewährleisten, nie die Situation eintreten, wo es keine Arbeitslosigkeit gibt, denn sonst gäbe es kein Erpressungsmittel, um die Arbeiterklasse zur Mehrarbeit zu zwingen.
Zweitens kauft der Kapitalist bei der Einstellung eines Arbeiters nicht mehr einen ganzen Menschen, wie in der Sklavengesellschaft, sondern nur noch dessen Arbeitskraft, und diese auch nur für eine bestimmte Zeit. Sobald der Unternehmer den Arbeiter nicht mehr braucht, entlässt er diesen. "Die nichtbeschäftigten Arbeiter kriegen als solchen keinen Lohn, ihre Arbeitskraft wird ja nicht gekauft, sie liegt nur auf Lager; die Nichtkonsumption eines Teils der Arbeiterklasse gehört also als wesentlicher Bestandteil zum Lohngesetz der kapitalistischen Produktion. Wie diese Arbeitslosen ihr Leben fristen, geht das Kapital nichts an ..." (Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, Ges. Werke, Bd. 5, S. 751f). Somit aber ist der Kapitalismus die schlimmste Form der Knechtschaft, da man nur Mittel zum Überleben hat, solange man im Produktionsprozess gebraucht wird.
Mit anderen Worten: Die Arbeitslosigkeit ist im Kapitalismus unabdingbar, weil die Kapitalisten ohne die permanente Arbeitslosigkeit die Arbeiter nicht wirksam dazu bringen könnten, so viel zu arbeiten. Hier könnte der Einwand erhoben werden, dass man doch lediglich zurück zur Gewalt greifen müsse, wie in der antiken Sklavengesellschaft, um die Arbeiter zur Arbeit zu zwingen. Doch dies geht eben genau nicht. Das Grundproblem mit den Sklaven war ja eben, dass diese ihre Arbeit hassten. Daher konnte man ihnen nur primitive Arbeitsinstrumente geben und sehr schnell arbeiteten sie deshalb auch nicht. Der Kapitalismus aber produziert für einen weltweiten Markt und funktioniert nach dem anarchischen Prinzip der Konkurrenz. Hier muss die Produktion im höchsten Maße effektiv und produktiv sein, hier braucht man also Arbeiter, die, um das eigene Dasein zu gewährleisten, scheinbar freiwillig Mehrarbeit leisten. Schließlich bildet die Mehrarbeit der Arbeiterklasse die Grundlage des Profits der Kapitalisten. Wie wenig produktiv und konkurrenzfähig im Kapitalismus die mit Gewalt erzwungene Mehrarbeit ist, zeigt der Niedergang und schließliche Untergang der stalinistischen Spielart des Kapitalismus. .
Um in Konkurrenz mit den anderen Kapitalisten überleben zu können, muss der einzelne Kapitalist danach trachten, so billig und effektiv wie möglich zu produzieren. Das heißt, er ist darüber hinaus gezwungen, den Anteil der Maschinen und Anlagen (d.h. das konstante Kapital) ständig  zu Ungunsten des Anteils der menschlichen Arbeitskraft (sprich: des variablen Kapitals) zu vergrößern. Die Konsequenz daraus ist, dass der Kapitalist permanent darum bemüht sein muss, die Kosten für das variable Kapital zu drücken, sei es durch die Verlängerung des Arbeitstages, sei es durch die Kürzung des Lohnes oder, in letzter Konsequenz, durch die Entlassung von überflüssigen Arbeitskräften. Oder kurz gesagt, durch den tendenziellen Fall der Profitrate werden ständig Arbeiter im Produktionsprozess überflüssig, was somit ein weiterer entscheidender Grund für die Arbeitslosigkeit ist.
Obwohl aber ständig überflüssig gewordene Arbeitskräfte entlassen und in das Elend der Arbeitslosigkeit gestoßen werden, hat der Kapitalismus noch immer die Tendenz, mit Gewalt neue Arbeitskräfte aus nicht-kapitalistischen Gebieten von ihrem Land bzw. von ihrem Handwerk zu trennen, weil diese billiger sind. So strömen Millionen von mittellos gewordenen Bauern auf der Suche nach Arbeit in die Metropolen der 3.Welt, da ihnen nichts als der Verkauf ihrer Arbeitskraft geblieben ist. Somit wird auf weltweiter Ebene der Druck von Arbeitssuchenden auf die Beschäftigten noch weiter erhöht.
Auf den diesjährigen 1.Mai-Demonstrationen kamen zahlreiche politisch Interessierte, um die IKS-Presse zu kaufen. Oftmals ergab sich wegen des Titels zur Massenarbeitslosigkeit die Diskussion, wieso das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit heute eine Bankrotterklärung des Kapitalismus sein sollte, wo es doch auch im 19.Jh. Arbeitslosigkeit gegeben habe. Natürlich gab es auch in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus Arbeitslosigkeit. Doch der Kapitalismus im 19. Jahrhundert war in der Lage, durch die Eroberung neuer, außerkapitalistischer Märkte nicht nur die Entstehung einer Massenarbeitslosigkeit daheim zu vermeiden, sondern im Gegenteil immer mehr Schichten der Bevölkerung im In- und Ausland in den kapitalistischen Produktionsprozess zu integrieren. Darüber hinaus gab es damals noch ein Ventil, um die hiesigen überflüssigen Arbeitskräfte zu absorbieren, nämlich die Migration von Millionen von Arbeitern in die aufstrebenden neuen kapitalistischen Nationen in Nordamerika oder Australien.

Arbeitslosigkeit und Niedergang des Kapitalismus

Mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase jedoch fielen diese Möglichkeiten schrittweise weg. Der Kapitalismus hat mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts seine Grenzen erreicht. Die Krisen, von denen der Kapitalismus von nun an erschüttert wurde, waren keine Wachstumskrisen mehr, an deren Ende ein erhöhter Bedarf an Arbeitskräften stand, sondern sie waren ein Ausdruck der Unfähigkeit des dekadenten Kapitalismus, ausreichend neue Märkte zu schaffen. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert kann der einzelne Kapitalist seine Märkte nur noch auf Kosten der Konkurrenz erweitern. Und dies heißt letztendlich, dass er gezwungen ist, den Anteil des variablen Kapitals noch weiter zu reduzieren.  
Mit anderen Worten: Die historisch fortschrittliche Rolle, die der Kapitalismus in seiner aufsteigenden Phase durch die Einbindung von immer mehr Bevölkerungsteilen in die gesellschaftlich assoziierte Arbeit gespielt hat, hat er nun weitgehend verloren. Denn mit der Verschärfung der Überproduktionskrise werden immer mehr Teile der arbeitenden Bevölkerung aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen. Die Massenarbeitslosigkeit ist bereits im 20. Jahrhundert immer mehr zu einem permanenten Phänomen geworden. So ist also jeder Versuch, das Problem der Arbeitslosigkeit innerhalb der Logik des kapitalistischen Systems zu lösen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Weder die Verteuerung der Arbeitskraft, wie von den Basisgewerkschaftlern und Linksextremisten gefordert, noch ihre Verbilligung, wie es die Unternehmer wünschen, ist geeignet, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu weisen. Die Arbeitslosigkeit ist eine wesentliche Existenzbedingung des Kapitalismus, und wenn die Arbeiterklasse gegen die Arbeitslosigkeit ankämpfen will, so kann sie dies nur, indem sie dem Kapitalismus als Ganzem den Kampf ansagt.

Massenarbeitslosigkeit und Klassenkampf

Die Frage, die im Raum steht, ist, wie sich die Massenarbeitslosigkeit im dekadenten Kapitalismus auf den Klassenkampf des Proletariats ausgewirkt hat. War die Massenarbeitslosigkeit in den 30er Jahren ein Wegbereiter des Faschismus in Deutschland und Italien? Sicherlich war die Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit durch Autobahnbau und Ausweitung der Rüstungsindustrie ein wichtiger Faktor, um die Arbeiterklasse für den Krieg mobilisieren zu können. Doch der Hauptgrund und entscheidende Unterschied zu heute war: Die Arbeiterklasse war in den 30er Jahren eine geschlagene und enthauptete Klasse, deren revolutionäres Aufbegehren in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg gerade in Deutschland eine besonders heftige Reaktion der Bourgeoisie in Gestalt des Nationalsozialismus nach sich zog. Und dennoch war das Hitler-Regime aus Angst vor einem neuen November 1918 darauf bedacht, vorbeugend die so genannte staatliche Wohlfahrt auszubauen. Zunächst gilt es also festzuhalten, dass solche "sozialstaatlichen" Maßnahmen wie die Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe rein politischer Natur sind. Es ist der bürgerliche Staat, der als Vertreter der Gesamtinteressen des Kapitals über Jahrzehnte aus Gründen des "sozialen Friedens" diese überflüssig gewordenen Arbeitskräfte durch soziale Alimentierung ruhig stellte.
Mittlerweile hat jedoch die Weltwirtschaftskrise ein solches Ausmaß erreicht, dass es dem bürgerlichen Staat immer unmöglicher wird, den riesigen sozialstaatlichen Apparat weiterhin aufrechtzuerhalten. Denn die Notwendigkeit, angesichts eines sich verschärfenden Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt immer billiger zu produzieren, wird durch die Tatsache konterkariert, dass die sozialstaatlichen Ausgaben einen erheblichen Effekt auf die Lohnnebenkosten haben, d.h. die Kosten für das variable Kapital in die Höhe treiben. Somit ist der Staat immer weniger in der Lage, sich den Klassenfrieden mittels der Wohlfahrt zu erkaufen. Dieser Abbau des Wohlfahrtsstaates bedeutet jedoch sozialen Sprengstoff. Denn mit den massiven Angriffen auf die beschäftigten wie nichtbeschäftigten Arbeiter werden die Illusionen ins System peu à peu untergraben.
Doch zunächst macht sich angesichts der massiven Arbeitslosigkeit allgemeine Perspektivlosigkeit unter den Arbeitern breit. Schließlich macht es nur begrenzt Sinn für die Arbeiter eines ohnehin von der Schließung bedrohten Betriebes, in den Ausstand zu treten. Da ein solcher Streik als Mittel der Einschüchterung des Kapitalisten viel von seiner Wirksamkeit verliert, stellt sich für die Arbeiter die Frage, wie man sich wehren soll. Es darf nicht mehr bei solchen Kampfformen der Arbeiter wie lokalen und ökonomischen Streiks bleiben. Angesichts der Tiefe der Krise scheuen viele Arbeiter noch davor zurück, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen, da die Aufgabe, vor der die Klasse steht, so gewaltig ist. Die heute vorherrschende Perspektivlosigkeit wirkt sich vorerst lähmend auf den Widerstand der Arbeiter aus. Doch je offensichtlicher die Unfähigkeit der Herrschenden wird, das Problem der Arbeitslosigkeit und der Krise insgesamt einzudämmen, desto stärker werden die Arbeiter gezwungen, grundsätzlich über eine Alternative außerhalb des Kapitalismus nachzudenken. Die praktische Konsequenz daraus wird sein, dass die Arbeiter die politische Dimension ihres Kampfes bejahen. Eine politische Dimension, die in den Kämpfen der Klasse in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu schwach entwickelt war.
Anders als in den Jahrzehnten nach 1968, als die Arbeitslosigkeit vielen Arbeitern noch als selbstverschuldetes persönliches Problem galt, ist die Massenarbeitslosigkeit mittlerweile so weit gediehen, dass sich heute das Bewusstsein unter den Arbeitern verbreitet, dass wir alle im gleichen Boot sitzen - dass Jeder von uns der Nächste sein könnte! Mehr denn je stellt sich die Frage der Klassensolidarität zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen. Diese Klassensolidarität ist es, die die Bourgeoisie wie der Teufel das Weihwasser fürchtet.

Das Paradoxe an der modernen Arbeitslosigkeit

Das Referat ist bereits darauf eingegangen, dass der Kapitalismus auf ökonomischer Ebene nicht reibungslos ohne die Arbeitslosigkeit funktionieren kann, da man ohne die Arbeitslosigkeit das Proletariat sonst nur durch Gewalt zur Mehrarbeit zwingen kann, was deutlich weniger produktiv ist. Daher ist die Arbeitslosigkeit für den Kapitalismus ein unersetzliches Lebenselixier. Doch das Paradoxe an der Situation heute ist, dass die Arbeitslosigkeit für den Kapitalismus einerseits wie eh und je die Rolle übernimmt, die Verelendung des Proletariats durchzusetzen, andererseits aber auf Grund politischer Erwägungen eine finanzielle Unterstützung der Erwerbslosen erforderlich macht, welche die Ware Arbeitskraft nicht verbilligt (wie dies bei der klassischen Reservearmee der Fall wäre), sondern verteuert. Das ist der Preis (ca. 100 Milliarden Euro im jährlichen Staatshaushalt), welche z.B. die deutsche Bourgeoisie in den letzten Jahren bezahlen musste, um den sogenannten sozialen Frieden aufrecht zu erhalten. Das Dramatische an der historischen Situation heute liegt darin, dass die Bourgeoisie auf Grund des Drucks der Zuspitzung der Krise diese Maßnahmen immer weniger zu leisten imstande ist und somit gezwungen ist, selbst die Axt anzulegen an seinem hochgelobten sogenannten sozialen Frieden. Damit aber nähern sie sich unaufhaltsam politisch einer Grenze, an der das Elend für das Proletariat so allgemein und so unerträglich wird, dass die Arbeiter dem kapitalistischen System mit massivem Klassenkampf, dem Bürgerkrieg, antworten werden. Hier liegt der wahre Zündstoff der Frage der Massenarbeitslosigkeit. Anders als in den 30er Jahren ist die heutige Generation der Arbeiterklasse noch ungeschlagen. Und anders als in den 30er Jahren ist die Bourgeoisie heute nicht mehr in der Lage, die Massenarbeitslosigkeit abzubauen. Anstatt wie damals mit dem Ausbau des Sozialstaates auf die politische Gefahr der Arbeitslosigkeit zu antworten, sieht die herrschende Klasse sich gezwungen, mit dem Abbau eben dieser Sozialleistungen zu reagieren. Somit kann die Unmöglichkeit, dieses Problem innerhalb des Kapitalismus zu lösen, zu einer Infragestellung des ganzen Systems führen und damit eine revolutionäre Perspektive für die Beschäftigten wie Arbeitslosen eröffnen, vereint und solidarisch zu kämpfen.
Von daher kann man sagen, dass die Massenarbeitslosigkeit heute noch wie ein Alptraum auf der gesamten Arbeiterklasse lastet, doch sollte es der Arbeiterklasse gelingen, den immer deutlicher werdenden Bankrott des gesamten Systems zu erkennen und eine eigenständige Klassenperspektive zu entwickeln, dann wird das Pulverfass der Massenarbeitslosigkeit zum Alptraum für die Bourgeoisie.
 

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [36]

Münteferings "Kapitalismusdebatte"

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Münteferings “Kapitalismusdebatte”: Nicht der “böse” Kapitalist, das kapitalistische System ist die “Plage”

Münteferings "Anti-Kapitalismus"-Tiraden, die er Mitte April gegen die "international forcierten Profitmaximierungsstrategien" und gegen die "Heuschreckenschwärme" der Finanzmärkte richtete, haben viel Staub aufgewirbelt. Dabei ist er auf ein geteiltes Echo gestoßen. Während aus dem Unternehmerlager und der Finanzwelt heftige Kritik kam, teilten Regierung, Gewerkschaften und - da und dort - auch die Opposition seine "Kritik". Vor allem aber stießen seine rhetorischen Attacken in der Bevölkerung auf offene Ohren: In Meinungsumfragen bekundeten mehr als 70% der Befragten ihre Zustimmung. Was ist von dem ganzen Theater zu halten? Ist die SPD, deren Vorsitzender er ist und die für die schlimmsten Angriffe gegen die Arbeiterklasse in den letzten Jahrzehnten mitverantwortlich ist, nun etwa im Begriff, vom Saulus zum Paulus zu werden? Oder handelt es sich hier um ganz banale wahlkampf- bzw. parteitaktische Gründe?

"Anti-Kapitalismus" gegen Klassenbewusstsein

Um sich ein Bild von den Hintergründen dieser Kampagne machen zu können, ist es notwendig, einen Blick zurückzuwerfen. Wie wir in dem Editorial dieser Zeitung bereits dargelegt haben, sind die nach 1989 ausgelösten Illusionen über den endgültigen Sieg des Kapitalismus und über das Verschwinden des Klassenkampfes der rauhen Wirklichkeit der sich zuspitzenden kapitalistischen Krise gewichen. Dass dies nicht ohne Spuren in der Arbeiterklasse bleibt, liegt auf der Hand. In der Tat geht mit diesen Angriffen auf den Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse eine allmähliche Desillusionierung derselben über die Perspektiven einher, die ihr der Kapitalismus anbietet. Vorbei sind die Illusionen, dass die Arbeitslosigkeit ein Problem bestimmter Branchen und Regionen oder gar selbst verschuldet ist (s. dazu auch den Artikel über die Massenarbeitslosigkeit in dieser Ausgabe). Und auch die Hoffnung, nach einem Leben voller Plackerei wenigstens in einen auskömmlichen Ruhestand zu treten,  zerplatzt wie eine Seifenblase. Dieser Prozess des Verlustes der Illusionen über ein Auskommen in der kapitalistischen Gesellschaft wirkt wie ein Katalysator für das unter der Oberfläche heranreifende Klassenbewusstsein. Denn hat die Arbeiterklasse erst einmal ihr Vertrauen in den Kapitalismus verloren, wird sie sich, angeführt von ihren revolutionären Minderheiten, auf ihre eigenen Stärken und Perspektiven besinnen müssen. Angesichts dieser brisanten Mixtur aus dem Reputationsverlust des Kapitalismus einerseits und einem ganz allmählich wiedererwachenden Klassenbewusstsein andererseits schickt die Bourgeoisie nun ihr bestes Pferd ins Rennen - die SPD. Keine andere bürgerliche Partei kann auf eine derart lange Erfahrung darin, "dem Volk aufs Maul zu schauen", zurückblicken wie die Sozialdemokraten. Ihr Gesellenstück haben sie bei der Niederschlagung der deutschen Revolution 1918-23 abgelegt, als sie es verstanden, die revolutionären Kämpfe in Deutschland abzuwürgen. Und so wie damals die Mehrheitssozialdemokraten  mit Erfolg danach strebten, sich an die Spitze der revolutionären Erhebung zu stellen, um sie auszuhöhlen und ins Leere laufen zu lassen, so versucht auch heute die SPD mit ihrer aktuellen anti-kapitalistischen Terminologie, die wachsende, aber immer noch diffuse Kritik in der Klasse gegen den Kapitalismus für sich vereinnahmen und zu entschärfen.

In ihrem Bemühen, die Bewusstwerdung der Arbeiterklasse über die Ausweglosigkeit des Kapitalismus als solchen zu verhindern, greift die SPD zusehends auf das Programm der Antiglobalisierungsbewegung zurück. Dies ist nicht weiter verwunderlich. Es war die europäische Sozialdemokratie, die - mit ihrem französischen Organ Le Monde Diplomatique als Geburtshelfer - der Antiglobalisierungsbewegung ans Tageslicht verhalf und ihr seitdem auch finanziell zur Seite stand (1). Dass sich zumindest die führenden Kreise der SPD bisher zurückhaltend gegenüber dieser Bewegung verhalten hatten, lässt sich mit ihrer Sorge erklären, nicht zur Unzeit ihr Pulver zu verschießen. Dass aber nun die Klassen übergreifende Ideologie der Antiglobalisierer zunehmend auch Einzug in die offizielle Politik der SPD hält, lässt erahnen, wie ernst die Bourgeoisie das derzeitige Rumoren in der Arbeiterklasse mittlerweile nimmt.

Antiglobalisierung im Fokus von Imperialismus und Nationalstaat

Die Hinwendung von Müntefering & Co. zur Antiglobalisierung besitzt jedoch noch weitere Facetten. Die Antiglobalisierungsbewegung ist nicht nur ein Instrument der Herrschenden gegen das aufkeimende Klassenbewusstsein; sie ist darüber hinaus ein immer wichtigeres Vehikel zum Transport eigener imperialistischer Interessen. Denn als Produkt bestimmter europäischer Bourgeoisien besitzt die Ideologie der Antiglobalisierung einen deutlich anti-amerikanischen Touch. Sie ist die Antwort auf die besonders vom US-Imperialismus propagierte Ideologie der Globalisierung, d.h. des "freien Handels" über alle Grenzen hinweg, des Neoliberalismus und des "schlanken Staats".
   Nicht dass das europäische Kapital grundsätzlich gegen die Globalisierung ist - nichts wäre abwegiger. Wie Marx und Engels bereits 1848 im "Kommunistischen Manifest" festgestellt hatten, ist die globale Ausweitung des Kapitals ein Lebensprinzip des Kapitalismus, gleich welcher Couleur. Auch geht es ihm nicht darum, das internationale Handels- und Finanzsystem prinzipiell in Frage zu stellen, dessen Hauptnutznießer die USA sind, da ihr riesiger Markt Hauptanziehungspunkt von internationalem Kapital ist - Kapital, das die US-Bourgeoisie dazu benutzt, ihre gigantische Kriegswirtschaft zu finanzieren.
   Es sind lediglich bestimmte Aspekte in der aktuellen Globalisierungswelle, die den Herrschenden im "alten Europa" nicht in den Kram passen, weil diese derzeit mehr den USA als den europäischen Staaten zugute kommen. Auch möchten sie gerne einen Teil der internationalen Kapitalströme, die zum Großteil nach Amerika fließen, nach Europa abzweigen.
Während allen Orts über den drohenden oder vermeintlichen Ausverkaufs "deutscher Interessen" geredet wird, stimmen Müntefering und, mit ihm, die SPD nun verstärkt in das Loblied der Antiglobalisierung mit ein, dessen Refrain lautet: Für einen "sozialen" Kapitalismus, gegen Neoliberalismus und Shareholder Value! Als hätte es in den letzten Jahren keinen Abbau des sog. Wohlfahrtsstaates gegeben, tönen sie nun plötzlich wieder über die angeblichen Vorzüge des "rheinischen Kapitalismus" gegenüber dem schrankenlosen "Manchesterkapitalismus" der USA, preisen sein "sozialpartnerschaftliches" Prinzip im Gegensatz zum "Hire and fire" in den Vereinigten Staaten und plädieren für die "gestalterische Kraft" des Staates, denn: "Die Staatsskepsis ist ein Irrweg" (Müntefering).
   Hinter diesen Beschwörungsformeln, die einzig den Zweck haben, die Bevölkerung ideologisch an den eigenen Nationalstaat zu binden, steckt eine - aus der Sicht der Herrschenden hierzulande - berechtigte Sorge. Wie wir bereits in unserem Artikel "Beschäftigungspakte: Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse" (2) ausgeführt haben, könnte der Handlungsspielraum eines  Nationalstaates durch eine unbeschränkte Fortsetzung der Tendenz der Verlagerung der Produktionsstätten ins Ausland auf Dauer ernsthaft beeinträchtigt werden, da eine solche Auslagerung "die Finanzquellen des Staates untergraben und damit seine politische und militärische, sprich seine imperialistische Handlungsfähigkeit gefährden" würde. Gleiches gilt für das Treiben der internationalen Finanzfonds.
Einerseits muss das deutsche Kapital dafür sorgen, dass mehr ausländisches Kapital ins Land gelockt wird. Dabei muss es andererseits aber darauf achten, dass infolgedessen Schlüsselbereiche der deutschen Wirtschaft nicht unter ausländische Kontrolle geraten, wie z.B. Deutsche Bank, Volkswagen oder die Frankfurter Börse.
Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, ist dem deutschen Staat fast jedes Mittel recht. Dabei kann er sich wie stets auf die Sozialdemokratie als treue Stütze des staatskapitalistischen Regimes verlassen. So wie die Gewerkschaften die Beschäftigten zahlreicher Betriebe zu unbezahlter Mehrarbeit pressten, um den Exodus deutscher Firmen ins Ausland zu bremsen, ohne größeren Widerstand zu provozieren (siehe o.g. Artikel), so ruft heute die SPD nach dem Gesetzgeber, um z. B. dem Wirken der Hedgefonds Einhalt zu gebieten.

Anti-Kapitalismus und Antiglobalisierung - ein Kampf gegen die Symptome, nicht gegen die Ursachen

Ob Anti-Kapitalismus-Tiraden à la Müntefering oder die ihnen Pate stehende Antiglobalisierungsbewegung - beide verfolgen den Zweck, die Arbeiterklasse in ihrem Widerstand gegen die immer massiveren Angriffe auf die falsche Fährte zu schicken. Sie leugnen den Klassenkampf und propagieren den Klassen übergreifenden Widerstand gegen die Multis. Sie rufen nach dem starken Staat und versprechen, mit Gesetzen und Steuern (Tobin-Steuer) das Problem aus dem Weg zu räumen. Sie prangern die "unpatriotischen" Spitzenmanager und die nimmersatten Finanzfonds an und rühmen den bodenständigen Mittelstand. Kurz: Sie doktern an den Symptomen eines todkranken Systems herum, das nicht mehr therapierbar ist.
   Weder die "kaltherzigen" Manager noch die renditegeilen Investmentfonds sind der Kern des Problems. Wie Engels sagt, beherrscht nicht der Kapitalist das Produkt, sondern umgekehrt das Produkt den Kapitalisten. Er ist nur Getriebener, Gefangener der Logik der kapitalistischen Produktionsweise, die kurz und bündig heißt: Wachse oder stirb! Dieselbe Logik, die in der Aufstiegsperiode des Kapitalismus dazu führte, dass Abermillionen von Menschen in die gesellschaftliche Arbeit der kapitalistischen Warenproduktion integriert wurden, hat sich im Zeitalter des dekadenten Kapitalismus in ihr Gegenteil verkehrt. Um in der unerbittlichen Konkurrenz auf einem gesättigten Weltmarkt zu überleben, muss - bei Strafe des eigenen Ruins - der einzelne Kapitalist, ob Großbanker oder mittelständischer Unternehmer, den Faktor Arbeit verbilligen, sei es durch eine Steigerung der Ausbeutung oder durch die Verlagerung bzw. Vernichtung von Arbeitsplätzen.
   Dieser Logik kann man nicht durch die Anprangerung "seelenloser" oder "unpatriotischer" Manager oder durch die Stärkung des ideellen Gesamtkapitalisten, des Staates, begegnen. Sie kann nur durchbrochen werden, indem der Kapitalismus an sich, als Produktionsweise abgeschafft wird.
                                                     16.5.2005
(1) Siehe auch unseren Artikel "Nur eine andere Welt ist möglich: Der Kommunismus!" in der Internationalen Revue, Nr. 33, Mai 2004. 
(2) Weltrevolution, Nr. 128, Febr./März 2005
 
 

Geographisch: 

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Erbe der kommunistischen Linke: 

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Weltrevolution Nr. 131

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"Die Linkspartei - PDS": Der Populismus - eine Bedrohung der Demokratie?

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 Stünden heute statt in zwei Monaten die Neuwahlen an, wäre der deutsche Parlamentarismus um eine Partei reicher: "Die Linkspartei - PDS" schickt sich laut Meinungsumfragen an, zur drittstärksten parlamentarischen Kraft hinter CDU/CSU und SPD in ganz Deutschland und gar zur stärksten Partei in Ostdeutschland aufzusteigen. Die Gründung dieses aus einem Zweckbündnis von PDS und WASG hervorgegangenen Parteiengebildes bereitet einigen Vertretern der etablierten Parteien  zugegebenermaßen einiges Kopfzerbrechen. Nicht nur, dass es Rot-Grün um die letzte Hoffnung auf ein neues Wunder wie bei den vergangenen Bundestagswahlen bringen könnte - auch die schwarz-gelbe Regierungskoalition in spe sieht zusehends ihren gegenwärtigen Stimmenvorsprung schrumpfen. Die Linkspartei macht Merkel und Westerwelle einen Strich durch die Rechnung, die Stimmen enttäuschter SPD-Stammwähler an sich zu ziehen, um somit eine komfortable absolute Mehrheit zu erringen.

Das Schreckgespenst des Populismus


Dementsprechend groß ist auch das Gezeter der etablierten Parteien. Der Populismus eines Lafontaine oder Gysi beschwöre Weimarer Verhältnisse herauf, ja gefährde die Demokratie, heißt es. Er behindere die "notwendigen Reformen", sprich: die Angriffe auf die Arbeiterklasse, indem er dem Volk vorgaukle, es gebe eine andere Wahl. Schlimmer noch: der Populismus Lafontaines schrecke nicht einmal vor fremdenfeindlichen Klischees zurück, um im rechten Wählerspektrum zu wildern. Und außerdem zögen es Populisten vom Schlage eines Lafontaine oder Gysi vor, das Weite zu suchen, sobald sie Regierungsverantwortung übernehmen müssten.

Nun, lassen wir bei all der geheuchelten Aufregung der etablierten Parteien die Kirche im Dorf. Die neue Linkspartei - eine Gefahr für die parlamentarische Demokratie? Das Gegenteil ist der Fall! Mit ihrem Erscheinen auf der Bühne des Parlamentarismus macht sie ebendiesen wieder attraktiv für all jene, die sich bereits dem ganzen Wahlzirkus abgewandt haben.
Sie verleiht dem Bundestag neue Legitimation, indem sie mit ihren populistischen Sprüchen mithilft, den Eindruck zu verwischen, dass es keine Wahlalternative zur Phalanx der "Reformer" im Bundestag gebe.

Die neue Linkspartei - eine Bedrohung der Austeritätspolitik der deutschen Bourgeoisie? Mitnichten. Wenn es drauf ankommt, steht die PDS ihren Mann. Sowohl in Mecklenburg/Vorpommern als auch in Berlin, wo sie sich an Regierungskoalitionen mit der SPD beteiligt, trägt sie zuverlässig die Angriffe gegen die Arbeiterklasse mit. Und was Lafontaine anbetrifft, so sei daran erinnert, dass er seinerzeit als Ministerpräsident im Saarland nicht gerade als Vertreter von Arbeiterinteressen bekannt war. Darüber hinaus sorgte er bundesweit  für Aufregung, als er bereits in den 80er Jahren die Ausdehnung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich forderte - eine Forderung, die heute für viele Angehörige der Arbeiterklasse mittlerweile zum Alltag geworden ist. Mit der Linkspartei verhält es sich also genauso wie mit allen anderen bürgerlichen Parteien in der Demokratie: Solange sie sich in der Opposition befindet, spuckt sie große Töne; winkt ihr jedoch die Gelegenheit, an die Macht zu kommen, trägt sie - getreu dem Motto: was interessiert mich mein Geschwätz von gestern - bedenkenlos jeden Angriff auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse mit.

Die Linkspartei - fremdenfeindliche "Rattenfänger"? Nicht mehr als der Rest der bürgerlichen Bagage. Es liegt in der Herrschaftslogik aller ausbeuterischen Klassen, und so auch der Bourgeoisie, begründet, die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen und Gesellschaftsschichten zu spalten, voneinander zu isolieren und gegeneinander aufzuhetzen, um sie an einem wirksamen und vereinten Widerstand zu hindern. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind neben vielen anderen altbewährte Mittel in dieser Politik, auf die beileibe nicht nur ‚totalitäre' Regierungen zurückgreifen, sondern auch die nicht weniger totalitären "großen Demokratien" dieser Welt, wenn auch auf subtilere Art und Weise.

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich


Die Tatsache, dass der Innenminister von Brandenburg, Schönbohm, Lafontaine wegen derlei Umtriebe auf die Liste der vom Verfassungsschutz beobachteten Personen setzen will, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass Letztgenannter eine wichtige Rolle in der politischen Strategie der deutschen Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse spielt.
 Es war Lafontaine, der vor nicht einmal sieben Jahren, damals als Parteichef der SPD Schröder ins Kanzleramt verhalf. Nachdem er damals, nur wenige Monate nach Beginn der ersten rot-grünen Legislaturperiode, von Schröder entmachtet worden war und fluchtartig die Regierung verlassen hatte, kehrt Oskar Lafontaine nun, da Schröders Stern am Verglühen ist, zurück auf die politische Bühne, um - welch' Ironie des Schicksals! - mit der von ihm initiierten Gründung der Linkspartei und im Interesse der deutschen Bourgeoisie seinerseits den Sturz Schröders mit herbeizuführen und ein zweites "Wunder von der Elbe" unwahrscheinlich zu machen.
In der Tat erweist sich die Linkspartei schon jetzt als ein wirksames Mittel, um den linken Flügel in der SPD zu stärken. So setzten die Schreiners, Nahles' und der Rest der SPD-Linken bereits die "Reichensteuer" als Bestandteil des sog. Wahlmanifestes durch. Mit dem (wahrscheinlichen) Gang in die Opposition werden auch die letzten Treueschwüre zu Hartz IV und Neoliberalismus verstummen und die "globalisierungskritischen", "antikapitalistischen" Stimmen Auftrieb erhalten.

Machen wir uns nichts vor: Der "Bruderzwist" zwischen linken Sozialdemokraten und Stalinisten, welche vor der Gründung der Linkspartei an die Wand gemalt wurde, trat nicht ein. Denn was beide  Traditionen eint, ist ihr Betreiben, im Zeichen einer langsam wieder erwachenden Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse die Abwehrkämpfe gegen die immer schlimmere Ausmaße annehmenden Angriffe zu sabotieren und die Entwicklung des Klassenbewusstseins zu ersticken. Die Koexistenz zwischen SPD und Linkspartei steht somit in der unseligen Tradition jener Arbeiterverräter, die - sei es in Gestalt der nach dem 2. Weltkrieg im Osten zur SED zusammengeschlossenen KPD und Ost-SPD, sei es in Form der Volksfronten in Frankreich und Spanien in den 30er Jahren - stets nach dem Motto verfuhren: Aller unserer Differenzen zum Trotz, gemeinsam gegen die Arbeiterklasse.   20.7. 2005

Nationale Situationen: 

  • Wahlen in Deutschland [35]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Linksextreme [4]

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [18]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [17]

Die Krise der Europäischen Union

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Die Krise der Europäischen Union, ein Aufstieg der imperialistischen Spannungen im Zentrum des Weltkapitalismus

Im Gegensatz zu dem, was uns die Bourgeoisie vorkaut, ist Europa kein Hort des Friedens, das sich um den Frieden überall auf der Welt kümmert. Ein kurzer Blick auf die Geschichte beweist genau das Gegenteil. Der Aufbau der EU hat seinen Ursprung in der Lage unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg. Europa wurde damals von den USA finanziert und politisch unterstützt, um dem neu entstandenen Sowjetblock entgegenzutreten. Diese erste Aufbauphase Europas fand vor allem auf ökonomischer Ebene statt, mit verschiedenen Wirtschaftsorganismen wie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die 1957 gegründet wurde. Aber die Wendungen bei der Errichtung der Europäischen Union können erst dann voll erfasst werden, wenn man die weltweit spürbaren imperialistischen Rivalitäten berücksichtigt. Frankreich lehnte 1963 und 1967 den Beitritt Großbritanniens zur EWG ab, weil Großbritannien als die Speerspitze der US-Politik in Europa betrachtet wurde. Die imperialistischen Rivalitäten, die die Politik eines jeden Staates Europas und der Großmächte der Welt wie die USA bestimmen, haben dazu geführt, dass Europa hauptsächlich ein Wirtschaftsraum, eine Freihandelszone, bleiben musste, die später eine Einheitswährung, den Euro, geschaffen hat. So ermöglichte diese Politik es den Staaten Europas, ihre Wirtschaft vor dem Hintergrund eines weltweit tobenden Konkurrenzkampfes wirksamer zu verteidigen. Doch die Möglichkeit, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, war nie etwas Anderes als ein Mythos. Der Kapitalismus war noch nie in der Lage, die Nationen Europas aufzulösen, um eine Art paneuropäische Nation zu schaffen (siehe unseren Artikel in "Die Erweiterung Europas" in der Internationalen Revue Nr. 112).
Nach dem Zusammenbruch Osteuropas entstand eine grundlegend andere imperialistische Konstellation. Das Auseinanderbrechen des amerikanischen Blocks inmitten des Zeitraums des Zerfalls des Kapitalismus bewirkte eine Zuspitzung der Spannungen, wo jeder Staat für seine eigenen Interessen eintritt und es zu keinen stabilen und dauerhaften Bündnissen kommt. Selbst das Bündnis zwischen Großbritannien und den USA kann dieser Wirklichkeit nicht entkommen. Die Erweiterung der EU auf Osteuropa, das wirtschaftlich nicht von großer ökonomischer Bedeutung ist, spiegelt jedoch auf geostrategischer Ebene eine Zuspitzung der Auseinandersetzungen wider, denn in dieser Hinsicht ist Mittel- und Osteuropa für die imperialistischen Rivalitäten von großer Bedeutung, wie der Balkankrieg schon belegte. Im Jahre 2002 nahm die NATO, die 1949 als eine Organisation gegründet worden war, welche den Kampf des westlichen Bündnisses gegen den Ostblock lenken sollte, einige Staaten Osteuropas auf, was von großer politischer Bedeutung war. Statt vorher 19 gab es nunmehr 26 Mitgliedsstaaten, nachdem sieben Staaten beitraten, die zuvor dem ehemaligen Sowjetblock angehörten: Nach Ungarn und Polen 1999 folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien. Dabei macht diese Erweiterung eigentlich keinen Sinn, wenn man sie als eine Verstärkung einer Organisation sieht, die ursprünglich dazu diente, einen Block zu bekämpfen, der mittlerweile nicht mehr existiert. Jedoch hat sich seitdem die Rolle der NATO gewandelt. Noch immer von den USA kontrolliert, gehört sie mittlerweile zum Arsenal der imperialistischen Politik der USA in Europa gegen Frankreich und Deutschland. So schrieb der Herald Tribune anlässlich des Beitritts dieser ost- und mitteleuropäischen Länder in die Europäische Union, nachdem sie zuvor schon der NATO beigetreten waren: "Washington ist der große Gewinner der Erweiterung der EU (...) Einem deutschen Offiziellen zufolge bedeutet der Beitritt dieser grundsätzlich pro-amerikanisch ausgerichteten Länder Mittel- und Osteuropas zur EU das Ende all der Versuche der Europäischen Union, sich selbst und ihre Außen- und Sicherheitspolitik als gegen die USA ausgerichtet zu sehen". Aus den gleichen Gründen haben die USA versucht, den Prozess der Integration der Türkei in die EU zu beschleunigen: Dieses Land ist gegenwärtig ein Stützpfeiler der US-Politik im Nahen Osten.
Der deutsche Imperialismus wiederum konnte nicht tatenlos zusehen, sondern musste angesichts der Offensive gegenüber dem Land reagieren, das bislang dem deutschen historischen Einflussgebiet zugerechnet wurde.
Seit einiger Zeit schon arbeitet der deutsche Imperialismus auf eine Annäherung zur Türkei und einiger Staaten Mitteleuropas hin. Die von Deutschland, Frankreich und Spanien energisch verteidigte Europäische Verfassung, die auch mit ökonomischen Überlegungen verbunden ist, war in erster Linie dafür konzipiert worden, um die Macht des deutsch-französischen Tandems in diesem erweiterten Europa zu bekräftigen.
So versuchte Deutschland sich in Ost- und Mitteleuropa zu behaupten, was in Paris nur zur Irritationen geführt hat, weil Frankreich nicht dazu in der Lage war, woanders einen vergleichbaren Einfluss aufzubauen; gegenüber seinem mächtigeren Verbündeten konnte seine Stellung nur geschwächt werden. In diesem Teil der Welt, wo sich die imperialistischen Spannungen am stärksten bündeln, kann sich das Scheitern der europäischen Verfassung die Krise nur noch zuspitzen und auch die Spannungen weiter verschärfen.

Das Scheitern des Brüsseler Gipfels: Die Krise der EU spitzt sich zu

Aus der Sicht der Financial Times stehen die "Zeichen auf Konfrontation". Der bis zum Juni amtierende EU-Ratsvorsitzende, der Luxemburger Junker, musste nach dem völligen Scheitern des Brüsseler Gipfels am 18. Juni mit Bitterkeit feststellen: "Europa steckt in einer tiefen Krise". Der EU-Haushalt ist blockiert. Wie der Courrier International vom 16. Juni meldete: "Schließlich meinte Großbritannien, dass die von dem Präsidenten vorgelegte Kompromissformel nicht die notwendigen Garantien bietet". Er zitierte Tony Blair, der den Angriffen Frankreichs und Deutschlands zur Haushaltsfrage entgegnete: "Wir müssen einen Gang zulegen, um uns an die heutige Welt anzupassen (…) Wir brauchen eine Erneuerung".
Aber eine "Erneuerung" wird es nicht geben. In Wirklichkeit nämlich - und das ist das Neue  - muss die Bourgeoisie in Europa anfangen, das zu zerlegen, was sie einst unter großen Schwierigkeiten aufgebaut hatte: den Europäischen Wirtschaftsraum, die Europäische Union.
Was die ‚Erneuerung' angeht, so beobachtet man auf wirtschaftlicher Ebene ein irrationales Ansteigen nationaler Forderungen auf Kosten des Zusammenhaltes, der bislang erzielt wurde. Wie die Financial Times schrieb: "So wie Deutschland nicht mehr die Milchkuh der EU sein will (wie das 1999 auf dem Berliner Gipfel noch der Fall sein konnte), sind die Länder, die heute am meisten Gewicht haben in der Debatte um den EU-Haushalt, nicht die ärmsten Länder, sondern diejenigen, die die Rechnungen bezahlen. Neben Deutschland verlangen Österreich, Großbritannien, Frankreich, Niederlande und Schweden Kürzungen des Haushaltes in einem Umfang von mindestens 800 Mrd. Euro zwischen 2007-2013 ». (16.6.2005). Jede dieser europäischen Hauptmächte weigert sich  nunmehr, für das zu zahlen, was sie als die Interessen der anderen EU-Staaten erachtet. Trotz der Existenz der EU hat sich während der letzten zehn Jahre die Konkurrenz unter diesen Staaten enorm verschärft. Dauer und Ausmaß der gegenwärtigen Krise werden von der aufgrund des Drucks durch den Zerfall sich ausbreitenden Tendenz des Jeder-für-sich und der Unfähigkeit der EU-Staaten bestimmt, angesichts der ökonomischen und politischen Interessensgegensätze eine gemeinsame Politik in Europa zu betreiben. Das Scheitern der Referenden hat dabei eine stark beschleunigende Rolle gespielt. Im Gegensatz zu den Behauptungen der Bourgeoisie ist die gegenwärtige Krise weder auf die Unnachgiebigkeit Tony Blairs bei den Haushaltsfragen noch auf die große Zahl von Nein-Stimmen seitens der Arbeiterklasse zurückzuführen.
Diese Krise Europas bringt die Unfähigkeit der Bourgeoisie zum Ausdruck, entsprechende Maßnahmen gegenüber der Zuspitzung des Zerfalls, dem historischen Bankrott ihres Systems zu ergreifen. Indem man den unmittelbaren und egoistischen Forderungen der einzelnen Staaten nachgibt, wird der europäische Wirtschaftsraum stark geschwächt und damit auch die Fähigkeit, mit Hilfe von allgemein akzeptierten Regeln der Funktionsweise ein gemeinsames Vorgehen gegenüber der wirtschaftlichen Konkurrenz aus Amerika oder Asien zu handeln. Auf ökonomischer Ebene werden alle kapitalistischen Staaten Europas in verschiedenem Maße dabei Verlierer sein. Auf imperialistischer Ebene können die Krise Europas und die Schwächung des deutsch-französischen Tandems nur den USA und Großbritannien nutzen. Die Arbeiterklasse muss sich auf die Perspektive der weiteren Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und der Angriffe einstellen, die von der Verschärfung der Wirtschaftskrise provoziert werden. Die Krise in Europa ist nur ein weiterer Schritt ins Chaos und in den Zerfall, die Zuspitzung der wachsenden Irrationalität des Kapitalismus.    Tino (Ende Juni 2005).

(leicht gekürzter Artikel aus unserer Zeitung in Frankreich) 

Geographisch: 

  • Europa [15]

Theoretische Fragen: 

  • Zerfall [18]

Die parlamentarische Demokratie – eine Stütze des Kapitalismus

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Wenn wir Bundeskanzler Schröder Glauben schenken sollen, dann hat er sich zu Neuwahlen entschlossen, weil er sich der  "Unterstützung des Volkes für wichtige Reformvorhaben nicht mehr sicher" ist. Die von ihm angestrebten Neuwahlen sollten dem Kanzler für seine Reformprojekte eine neue demokratische Legitimation verschaffen.

Warum dieser Schachzug Schröders? Tatsächlich verfügt die herrschende Klasse über ein Gespür, sozusagen Sensoren, die ihr zeigen, dass insbesondere in Anbetracht der Massenarbeitslosigkeit, und der sich  verschärfenden Verarmung großer Bevölkerungsteile und den zunehmend unerträglicher werdenden Arbeitsbedingungen sich nicht nur Angst und Einschüchterung, sondern Ablehnung und Empörung in der Arbeiterklasse zu formieren begonnen hat. Der Beschluss, vorgezogene Bundestagswahlen abzuhalten, spiegelt somit die Reaktionsfähigkeit der Herrschenden auf eine für sie langfristig bedrohliche Entwicklung wider. Für unsere Kapitalisten ist die bürgerliche Demokratie zunächst das wichtigste Mittel des politischen Frühwarnsystems der kapitalistischen Herrschaft, denn die Mechanismen der bürgerlichen Demokratie liefern den Herrschenden wertvolle Anhaltspunkte für die Stimmung im Volke. So sind Wahlbeteiligung, Enthaltung, Protestwahlverhalten, Verteilung der Stimmenabgabe  und Ähnliches aus der Sicht unserer Ausbeuter einige Indizien, die ihnen aufzeigen, ob sie als Verteidiger dieses Systems in eine politische Legitimationsnot geraten oder nicht. Vor dem Hintergrund eines generell zunehmenden Misstrauens und einer bislang noch diffusen, aber wachsenden Ablehnung gegenüber allen parlamentarischen Parteien in den Reihen der Arbeiterklasse liefert der Wahlzirkus das beste Spektakel, um so zu tun, als ob das "Volk entscheidet, wer uns regiert".
Der alte kapitalistische Haudegen Churchill pries die Demokratie als die zweitschlechteste Regierungsform, schlechter seien nur alle anderen. Heute zeigt sich wieder in Deutschland, wie ausgezeichnet die bürgerliche Demokratie als Abwehrkraft für den Kapitalismus funktioniert. Denn während die allmächtige Stasi vor 1989 in der damaligen DDR nicht ausreichend im Bilde über die Stimmung im "Volke" war, weil jeder gezwungen war, seine Meinung geheim zu halten, ist die bürgerliche Klasse in den westlichen Industriestaaten viel besser im Bild über die ‚Stimmung im Volk' und gerüstet darauf zu reagieren. Die Demokratie stellt nämlich in den Händen der Herrschenden ein hochempfindliches Stimmungsbarometer dar.  Beispielsweise als Müntefering als Parteivorsitzender der SPD im Frühjahr in der Dortmunder Westfalenhalle im NRW Wahlkampf die Agenda 2010 rechtfertigte, verließ die Hälfte der Parteianhänger den Saal mitten in seiner Rede. Das eigene Parteivolk schüttelte den Kopf: "Agenda 2010 und die anderen Sparbeschlüsse können wir unseren Wählern nicht mehr vermitteln". Er konnte sofort darauf reagieren, indem er anschließend zur Presse rannte und - einen Schwenk nach links vollziehend - seine ‚Heuschreckenrede'  gegen die ‚schwarzen Schafe' unter den Kapitalisten vom Stapel ließ. zu halten. Das war im Wahlkampf d.h. vor der NRW Niederlage. Genauso wurden die Neuwahlen bereits vor dem  Bekanntwerden der Niederlage der SPD in NRW beschlossen.

Demokratie = Grundlage der  Legitimation kapitalistischer Herrschaft

Aber während der Verschleiß der bürgerlichen Demokratie eine in den letzten Jahren fortschreitende Tendenz ist, da die herrschende Klasse wegen der unaufhaltsamen  Verschärfung der Krise und der Zuspitzung von Krieg und Terror ihre Glaubwürdigkeit in den Augen einer wachsenden Zahl von Arbeitern immer mehr verliert, unternehmen die Herrschenden alles, um jeweils das zerbröckelnde Bild der Demokratie aufzupäppeln. So ist die Demokratie nicht nur ein unersetzliches Frühwarnsystem, sondern sie bietet immer wieder die Möglichkeit, nicht nur eine neue Regierung mit demokratischer Legitimation auszustatten, sondern die "demokratischen Prinzipien" überhaupt immer wieder aufzupolieren. Die Demokratie verspricht: Indem jeder Bürger eine Stimme hat, sind wir vor der Wahlurne alle gleich. Nicht nur  jede Stimme zählt, sondern alle können gleichmäßig entscheiden. D.h. jemand, der bei Mercedes als Lohnabhängiger malocht oder der Hartz IV-Empfänger und der Mercedes-Chef oder ein Medienzar verfügen durch ihre Stimmabgabe über die gleiche Macht.
Diese heimtückische, hinters Licht führende Propaganda der Herrschenden stellt die Wirklichkeit auf den Kopf, weil sie die Existenz von Klassen vertuscht.

Tatsache ist: Die herrschende Klasse kontrolliert die Medien. Diese sind keine "im Spiel der Demokratie frei agierenden Kräfte", sondern sie formen die Meinungen und wirken zugunsten der Verteidigung des Ausbeutersystems. Die herrschende Klasse kontrolliert nicht nur die Regierungsparteien, sondern alle bürgerlichen politischen Parteien, d.h. auch diejenigen, die scheinbar in Opposition stehen. Von der Finanzierung am Wahlkampf beteiligter Parteien, die direkt durch den Staat erfolgt (so erhält jede Partei, die zu den Bundestagswahlen zugelassen ist, allein schon pro abgegebene Stimme eine bestimmte Geldsumme, oder sie bedienen sich direkt am Trog staatlicher Pfründe) bis hin zur Ein- und Anbindung mittels Verbände, Gewerkschaften, Kirchen an den Staat, hat die kapitalistische Herrschaftsstruktur ein Netz gewoben, wo all diese Kräfte zur Verteidigung des Staates und seiner Ideologie bereit stehen. Die im Dienst des Kapitals stehenden Medien "montieren" oder "demontieren" eine Partei. Eine Partei, die wirklich gegen den Kapitalismus wäre, könnte nicht nur jederzeit  schnell illegalisiert werden, da solche Parteien die bürgerliche Demokratie ohnehin nicht anerkennen, sondern hätte auch im bürgerlichen Wahlzirkus keine Chance. Wenn sie dennoch zugelassen wäre, würde dies in der heutigen Zeit dazu führen, (da die wesentlichen Entscheidungen ohnehin nicht mehr im Parlament getroffen, sondern dort nur noch abgesegnet werden) dass die Illusionen in die bürgerliche Demokratie Auftrieb erhalten würden. Die Geschichte liefert uns zahlreiche Beispiele dafür, wie die Verbürgerlichung von Arbeiterparteien durch die Beteiligung an Parlamentswahlen gerade dadurch mächtig vorangetrieben wurde (so die Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg oder die Kommunistischen Parteien der 20er Jahre).

Denn abgesehen von dem totalitären Griff des Staates über alle bürgerlichen Parteien, der bewirkt, dass alle diese Parteien am Räderwerk des kapitalistischen Staates mitdrehen und weder die Existenz des Staates noch seine Funktionsweise behindern, ist das Parlament längst nicht mehr das Gremium, wo grundlegende Entscheidungen getroffen werden. In den entwickelten kapitalistischen Staaten gibt es permanent bestehende Bürokratien, beispielsweise Ministerien, deren Mitglieder nur zum geringen Teil nach den Wahlen jeweils ausgetauscht werden. Diese Ministerialbürokratie sorgt für die Kontinuität der politischen Entscheidungen und wird dabei von außerparlamentarischen Instanzen und Gremien unterstützt und beeinflusst, wie z.B. Militär, Geheimdienste, Unternehmerverbände, Gewerkschaften, Kirchen. Zudem gibt es bei den großen "Sachfragen", die die eigentlichen Widersprüche des Kapitalismus zum Ausdruck bringen, keine grundlegende Wahl - alle Parteien bewegen sich in die gleiche Richtung. Gegenüber der unlösbaren Wirtschaftskrise und der Militarisierung der Gesellschaft besteht Einmütigkeit unter allen Parteien, die Last der Krise auf die Schultern der Arbeiterklasse abzuwälzen und die Militarisierung (sei es durch einen Ausbau des  Repressionsapparates im Innern, oder durch zunehmende Aufrüstung und Einsätze der Bundeswehr im Ausland) voranzutreiben. Denn innerhalb des Kapitalismus gibt es hierzu keine Alternative.
Jede parlamentarisch gewählte Regierung  kann sich deshalb auf des Volkes Stimme berufen, wenn sie ihre gegen die Arbeiterklasse gerichteten Maßnahmen durchsetzt.
Um so mehr kann sich die herrschende Klasse freuen, wenn sich die Empörung gegen ihre Politik auf die Bühne des parlamentarischen Protestes locken lässt, da solch ein Protest dem Spektrum bürgerlich-kapitalistischer Legitimation eine weitere Variante hinzufügt.

"Hauptsache wählt, egal wen…"

Nun treten Gruppierungen auf den Plan, die behaupten, dies mag ja alles stimmen, trotzdem sei es wichtig, an den Wahlurnen unseren Protest zu äußern, denn indem  möglichst viele eine Protestpartei wählten, komme des Volkes Zorn zum Ausdruck, wir könnten denen da Oben einen Denkzettel geben, sie abstrafen, ja ihnen gar Schwierigkeiten machen, z.B. die Regierungsbildung erschweren oder einfach alles durcheinanderbringen, wie dies in Frankreich durch das EU-Referendum geschah. Zudem ist sei immer noch besser, seine Stimme abzugeben, auch wenn es für das geringere Übel sei und wenn es nur aus Protest geschehe, als passiv zu Hause zu bleiben und sich nicht zu beteiligen.
Tatsache ist, durch die Stimmabgabe für die eine oder andere Protestpartei oder Stimmenthaltung wird dem System kein Schaden zugefügt. Schließlich besteht die Funktion von Wahlurnen darin, die Menschen in unzählige Individuen zu spalten, sie voneinander zu isolieren und den Eindruck zu erwecken, die Summe der abgegebenen, unter sich gleichen Stimmen würden Mehrheitsverhältnisse schaffen, somit Regierungsbildungen legitimieren. Was die Herrschenden zum Nachgeben, zum Zurückweichen zwingt, ist nicht die diffuse Menge Protestwähler oder Stimmenthaltungen, sondern gebündelter, massiver Gegendruck durch die Arbeiterklasse. Dieser kommt aber nicht durch das Kreuz auf einem Stimmzettel und auch nicht durch die bloße Nichtabgabe seiner Stimme zustande, sondern nur durch das selbständige Handeln der Arbeiterklasse. Erst wenn die kapitalistische Logik der Atomisierung der Menschen in Bürger, Wähler usw. überwunden wird und die Arbeiter auf Grundlage ihrer Klasseninteressen kollektiv handeln, kommt ein wirklicher Gegendruck, eine wirkliche Perspektive zustande.
Entgegen jenen, die zwar die Schnauze voll haben von den bürgerlichen Parteien und deren arbeiterfeindlichen Politik, aber nichts Besseres zu tun wissen, als irgendeiner Protestpartei auf den Leim zu gehen, darf kein Zweifel bestehen, dass die Führer dieser sogenannten Protestparteien ausgekochte Kapitalistenknechte sind, die demagogisch die Trommel für das Wahlspektakel rühren und so dem Kapital treue Dienste erweisen.
Ein solches Verhalten führt zu noch mehr Frustrationen und Enttäuschungen, weil so anstelle des notwendigen Handelns nur die Passivität gefördert wird. In Wahrheit lässt sich ein wirksamer Gegendruck nicht anders aufbauen als durch einen eigenständigen Kampf der Arbeiter, wo sich die Arbeiter  für ihre gemeinsamen Klasseninteressen gegen die Kapitalisten und ihren Staat zusammenschließen. In Anbetracht der Schwierigkeiten, diesen Klassenwiderstand zustande zu bringen, erscheint eine Protestwahl als "der einfachere Weg". Die Mobilisierung für eine Protestwahl blockiert somit die Auseinandersetzung über die wirklich notwendigen, tiefgreifenden Schritte der eigenen Aktivierung.   
Die zentralen Fragen, vor denen die Menschheit heute steht, nämlich Überwindung der Wirtschaftskrise, der Kriege, Vermeidung einer ökologischen Katastrophe usw. - werden nicht im Parlament gelöst, ja, sie können innerhalb des Kapitalismus insgesamt überhaupt nicht gelöst werden. Dazu ist eine tiefgreifende, bis an die Wurzeln vordringende gesellschaftliche Revolution notwendig. Wer davon ablenkt,  hält uns vom Befassen mit der wesentlichen Frage ab. Der Aufruf, "lieber Protestwahl als gar nichts tun" ist die typisch opportunistische Ausrede, um vor der gewaltigen Aufgabe zu flüchten, vor der die Arbeiterklasse, ja, die Menschheit heute steht und die mit ganz anderen Mitteln gelöst werden muss als mit einem Protestkreuzchen. Niemand kann der Arbeiterklasse die Last abnehmen, selbst die Initiative  zu ergreifen.
Schon Anfang der 1920er betonte der große Vordenker der Kommunistischen Linken Anton Pannekoek: "Die Revolution erfordert auch noch etwas mehr als die massale Kampftat, die ein Regierungssystem stürzt und von der wir wissen, dass sie nicht von Führern bestellt, sondern nur aus dem tiefen Drang der Massen emporspringen kann. Die Revolution erfordert, dass die großen Fragen der gesellschaftlichen Rekonstruktion in die Hand genommen, dass schwierige Entscheidungen getroffen werden, dass das ganze Proletariat in schaffende Bewegung gebracht wird - und das ist nur möglich, wenn zuerst die Vorhut, dann eine immer größere Masse sie selbst zur Hand nimmt, sich selbst dafür verantwortlich weiß, sucht, propagiert, ringt, versucht, nachdenkt, wägt, wagt und durchführt. Aber das ist alles schwer und mühsam; solange daher die Arbeiterklasse glaubt, einen leichteren Weg zu sehen, indem andere für sie handeln - von einer hohen Tribüne Agitation führen, Entscheidungen treffen, Signale für die Aktionen geben, Gesetze machen - wird sie zögern und durch die alten Denkgewohnheiten und die alten Schwächen passiv bleiben." (Anton Pannekoek, "Weltrevolution und kommunistische Taktik", S. 138,)

Wählt nicht, kämpft!

Aus dem Spektrum linker Gruppen hört man immer wieder die Behauptung, dass wenn der Kapitalismus, solange er  schwach sei oder sein wahres Gesicht noch nicht zeigen könne, sich demokratisch gebärde. Doch wenn er sich stark fühle bzw. es ans Eingemachte gehe, ziehe er die offene Diktatur, d.h. den Faschismus vor. Die Geschichte aber widerlegt diese Auffassung. Und auch die Lage heute zeigt uns etwas anderes. Für das Kapital geht es heute sehr wohl um etwas Entscheidendes, nämlich die Durchsetzung der Angriffe, die Erschwerung des Widerstands der Arbeiterklasse. Und wie gehen die Herrschenden vor? Nicht, indem sie Wahlen und Parlament meiden oder gar abschaffen, sondern indem sie noch vor Ablauf der Legislaturperiode zu Neuwahlen aufrufen. Die herrschende Klasse weiß es am besten: Die Demokratie ist die geeignetste  Herrschaftsform, um die Arbeiterklasse in Schach zu halten. Steckte hinter der Ausrufung von Wahlen für die Nationalversammlung in Weimar 1919 nicht die Absicht, die sich ausbreitende Welle von revolutionären Kämpfen in Deutschland zu brechen?  War es nicht die Einführung der bürgerlichen Demokratie, die in den 70er Jahren in Spanien der aufkeimenden Bewegung von Arbeiterkämpfen das Genick brach? Diente die Forderung nach Demokratie westlichen Musters nicht dazu, die polnischen Arbeiter von ihrem Weg des selbständigen Massenstreks abzubringen?
Während die herrschende Klasse durch das Abhalten von Neuwahlen in Deutschland oder von Referenden in anderen Ländern die Arbeiter vom eigenständigen Handeln für ihre Klasseninteressen abzuhalten und die ganze Aufmerksamkeit auf den bürgerlichen Wahlzirkus zu lenken versucht, sagen wir, dass nicht Protestwahl oder Stimmenthaltung die Waffen der Arbeiterklasse sind, sondern allein ihr selbständiges Handeln. Deshalb: nicht Protestwahl, nicht passives zu Hause bleiben oder auch nicht bloßes Nicht-Wählen hilft weiter, sondern der autonome, selbstorganisierte Arbeiterkampf für die Abschaffung der Demokratie als Herrschaftsform, weil nur so Herrschaft überhaupt abgeschafft werden kann.
20.07.05

Nationale Situationen: 

  • Wahlen in Deutschland [35]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [17]

Diskussionsbeitrag aus Berlin Antifaschisten legitimieren bis heute die Führung imperialistischer Kriege ...

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Gegenwärtig findet im politisierten Milieu eine Debatte über die Haltung zum 2. Weltkrieg statt, so auch in Berlin. Von dort ist uns ein Diskussionsbeitrag zur Verfügung gestellt worden, den wir nachfolgend ungekürzt veröffentlichen. Wir teilen die Hauptaussagen, insbesondere die Verteidigung des proletarischen Internationalismus. Auf Teilaspekte des Textes, wie zum Beispiel die Frage, ob der Antifaschismus als "historische Tragödie" zu bezeichnen wäre, oder wie eine proletarische Selbstverteidigung gegenüber Neonazis aussehen könnte, wollen wir aus Platzgründen erst in der nächsten Ausgabe zurückkommen. Die Zwischentitel wurden von der IKS eingefügt

Ein paar Gedanken zum 8. Mai 2005 im Nachhinein:

"Die Führung von Kriegen wird mit der demokratischen Bewältigung von Auschwitz begründet"

Das Spektakel um das Ende des Weltkrieges Nr. 2, das die Feuilletonspalten in den letzten Wochen geprägt hat, ist vorbei und dennoch nicht umsonst gewesen. Trotz einiger trotziger Opferstilisierungen am Rande wie Jörg Friedrichs "Der Brand" oder Hubertus Knabes gerade erschienenes Buch über die Verbrechen der Roten Armee hat die herrschende Klasse in Deutschland die Annahme der "Verantwortung" gegenüber jedem, der es hören wollte oder auch nicht, beteuert. Stellvertretend für diese hat Bundespräsident Horst Köhler die offizielle Geschichtsdeutung formuliert und dabei von allen staatstragenden Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und sonstigen Verbänden Zustimmung geerntet. Im Zentrum des Gedenkens und Erinnerns steht das Eingeständnis von deutscher Schuld an Krieg und Vernichtung und der daraus abgeleiteten Verantwortung "für Frieden und Demokratie". Dies schließt notwendig die Akzeptanz des Topos der Befreiung Deutschlands und Europas vom Nationalsozialismus für den 8. Mai 1945 mit ein, wie er spätestens seit Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes und dem linksliberalen Sieg im Historikerstreit auch in Deutschland kanonische Gültigkeit beansprucht. In Köhlers Worten gilt sein Dank so auch "an erster Stelle den Völkern …, die Deutschland besiegt und vom Nationalsozialismus befreit haben." Vorbei scheinen also die Zeiten, in denen sich in der alten BRD die Eliten um dieses Eingeständnis immer herum mogelten. Den Besatzungsmächten gerecht werden zu müssen, stand die zu deutliche Kontinuität der "Leistungsträger" in Wirtschaft, Politik, Gerichten, Militär und Universitäten entgegen - aber auch die Möglichkeit, durch die Zurückweisung der Schuld Wiedergutmachungen vor allem gegenüber dem Ostblock zu verweigern und die (territoriale) Revision der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz aggressiv zu betreiben. Der Kalte Krieg bot dafür insofern einen günstigen Nährboden, als man im Bündnis mit den jeweiligen Alliierten den Gegner als Wiedergänger des Faschismus (Totalitarismusdoktrin vs. die DDR-Kampagnen gegen die NS-Kontinuität der BRD) denunzieren konnte und so um die Schulddebatte herumkam. Fragt sich nur, woher nach der jahrzehntelangen erfolgreichen Verdrängung nun die neue deutsche Selbstkritikfähigkeit kommt. Idealistisch könnte man dies einseitig auf das Aussterben der Tätergeneration und die zur Macht gelangte Generation von '68 zurückführen. Begreift man diese aber eher als Ausdruck der neuen deutschen Politik denn als ihre Ursache, so deutet sich an, dass jegliche Kontinuität zum deutschen Faschismus völlig konträr zum imperialistischen Anspruch Deutschlands wäre.

Aus dem "Eingeständnis der Schande" (v. Weizsäcker) folgt offenbar nicht notwendig der Vaterlandsverrat, den Alfred Dregger und andere (Alt-)Nazis in CDU/CSU noch vor 10 Jahren befürchteten und ihre Gesinnungsgenossen von der NPD heute wieder aufwärmen. Vielmehr dient sie dem Vorankommen einer Nation, die sich schon immer um den Platz an der Sonne bemühte, den aber stets andere innehatten. Das Jahr 1989 stellt dabei in doppelter Hinsicht eine Zäsur dar: Erstens hat Deutschland mit der Vereinigung seine nationale Souveränität zurück gewonnen, und zum zweiten hat die Beendigung der Blockkonfrontation das Rennen aller gegen alle um Märkte, Rohstoffe und Investitionen neu eröffnet. Was vor diesem Hintergrund Übernahme von Verantwortung heißen soll, hat Joschka Fischer schon vor Jahren vorexerziert, als er die Führung von Kriegen (hier: gegen Serbien) mit der demokratischen Bewältigung von Auschwitz begründete. Und dass deutsche Politiker und Diplomaten für einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat derzeit mit dem gleichen Argument von der gefestigten Demokratie und der Friedensliebe Deutschlands auf Agitationstour gehen, deutet an, dass dies kein Zufall war. Und so verweist natürlich auch Köhler auf die demokratische Tradition Deutschlands, die aus der zwölfjährigen Unterbrechung nur noch gestärkt worden sei, weil die Kritik am Nationalsozialismus nun auch "elementarer Teil der nationalen Identität sei".

Entgegen einigen "antideutschen" Kritikern, die der  herrschenden Geschichtspolitik insofern erliegen, als sie Geschichte als ständige Wiederholung begreifen, ist diese "Zivilisierung" Deutschlands keineswegs Tarnung. Der sozialdemokratische Hofhistoriker Heinrich August Winkler feiert den erfolgreichen "langen Weg nach Westen" nicht umsonst. Der deutsche Sonderweg, dessen isolierende Wirkung für das nationale Fortkommen vor allem aufgrund seines katastrophalen Ergebnisses im II. Weltkrieg keineswegs als beispielhaft angenommen wird, war in zwei Weltkriegen unfähig, die Herausforderung des führenden anglo-amerikanischen Blocks zu organisieren. Vor dem Hintergrund einer US-Hegemonie, die ein bisher unerreichtes Maß angenommen hat, wäre ein dritter gleichartiger Versuch von Anfang an absurd. So ist Deutschlands Läuterung auch als Projekt zu begreifen, mit der Tradition zu brechen um die imperiale Zielstellung beizubehalten. Diese wird aber nur im Bündnis mit anderen Konkurrenten der USA erreichbar sein. Die diplomatischen Ränkespiele im letzten Golfkrieg haben dabei Konstellationen angedeutet, die mit denen des II. Weltkrieges nicht konform sind. So fanden sich die ehemaligen Alliierten Frankreich und Russland genauso mit Deutschland in einem Boot, wie die damals überrannten Belgien und Niederlande, während Italien und Japan in der Gefolgschaft der einzigen Weltmacht verblieben. Es soll hier nicht spekuliert werden, inwiefern und wann der deutsch-französisch dominierte europäische Block eine offene Konfrontation mit den USA und ihrem treuesten Verbündeten Großbritannien suchen wird, und welche Sogwirkung Washingtons Macht über Weltmarkt und Bomberflotten noch entfalten wird können. Eines scheint jedoch sicher: Nur als "verlässlicher Bündnispartner" wird Deutschlands Elite den imperialistischen langen Marsch antreten können. Jegliche politische oder ideologische Kontinuität zum deutschen Sonderweg wäre dabei kontraproduktiv.

Der Antifaschismus hat zum Ausbau des "starken Staates" gute Dienste geleistet

Wer also die marschierenden Nazis zum Popanz aufbläht, wie dies große Teile der staatstragenden und -bejahenden linken Oppositionellen von PDS und Wahlalternative bis zu SAV und Linksruck getan haben, spielt das Spiel der Herrschaft nicht nur an "Tagen der Demokratie" mit. Zwar stellen in zumeist ländlichen Gegenden und hauptsächlich im Osten Deutschlands die Kneipen- und Straßenschläger eine immense physische Gefahr für Migranten, Obdachlose, Homosexuelle, Linke und andere nicht ins volksgemeinschaftliche Bild passende dar, der unbedingt mit aller Konsequenz begegnet werden muss, aber im öffentlichen Diskurs sind sie völlig isoliert und weit davon entfernt, wie in den späten 20er und 30er Jahren Unterstützung bei den Eliten zu finden. Dies wurde auch am 8. Mai in Berlin deutlich, als es letztlich die Polizei war, die, durch die Öffnung der Demoroute und ihre Weigerung zu räumen, den Naziaufmarsch verhinderte. Bei aller Freude über die Stehparty sollte hier schon deshalb keine Feierstimmung aufkommen, weil zu deutlich wird, dass die Einschränkungen des Versammlungsrechts, ins Auge gefasste Parteien- bzw. Vereinsverbote und allerlei sonstige Repressionen gegen die braunen Marschierer auch gegen jegliche emanzipatorische Bewegung Anwendung finden könnten. Hier deutet sich an, dass der Antifaschismus gerade in den letzten Jahren zum Ausbau des "starken Staates" gute Dienste geleistet hat und sicherlich in Zukunft weiter leisten wird. Erinnert sei dabei nur an die im Zusammenhang mit der Fußball-EM verhängten Einschränkungen der Reisefreiheit für Hooligans, die dann auch anlässlich der Proteste in Genua Anwendung fanden. Dass zudem, analog zum Konfrontationskurs der Bundesregierung im letzten Golfkrieg, auch innenpolitisch eine Integrationswirkung für die härtesten sozialen Angriffe der Nachkriegszeit durch den offiziellen Antifaschismus erzielt worden ist, macht die Feierlichkeiten nur umso fürchterlicher.

Immerhin verweigerten andere linke und Antifa-Gruppen den formalen Schulterschluss mit der Herrschaft und organisierten die "Spasibo"-Demo. Sowohl im Bündnisaufruf und dem der wichtigsten Trägergruppe, der ALB, als auch in dem Aufruf der den "Deutschland, du Opfer"-Block organisierenden KP wird betont, dass deutsches Verantwortungsgefühl sich vor allem auf das nationale Vorankommen Deutschlands im imperialistischen Wettbewerb bezieht. Dennoch wird mit den ideologischen Grundlagen von Demokratie- und Staatsaffirmation nicht gebrochen. Wenn etwa die ALB schreibt, die "offizielle Geschichtsrhetorik werde "vollkommen widersprüchlich…, wenn man sie mit den realen politischen Verhältnissen abgleicht" (Aus dem Aufruf der ALB "Geschichte wird gemacht") und dafür als Belege neben dem von allen Gruppen völlig überschätzten Opfermythos und einer wild konstruierten "Schlussstrichmentalität", deren Gegenteil ja gerade zu beobachten ist, die Abschiebungspraxis, die Militarisierung der Außenpolitik, den Ausbau von Überwachungs- und Repressionsapparaten und das Erstarken neofaschistischer Parteien aufführt, so ist es schon erstaunlich, wie wenig Linke sich hier an Kritikfähigkeit gegenüber der Demokratie als "der normalen politischen Herrschaftsform des Kapitalismus" (Friedrich Engels) bewahrt haben. Und dass die KP sich ihre nationalistische Fahnenschwenkerei von keinem, auch vom Bündnis nicht, verwehren lassen wollte, zeigt neben allerlei anderen Verwirrungen, dass ihr Hader mit Deutschland nicht etwa revolutionärer Natur ist. Vor allem aber in der "antikapitalistischen" Begründung des Antifaschismus, die in der Umkehrung von Horkheimers bekannten Diktum, den Kapitalismus kritisiert, weil er den Faschismus gebärt, und die mit allerlei metaphysischen Vokabular von Schuld und Trennungsstrichen zwischen Opfern und Tätern hantiert, wird eine antagonistische Position vorgegaukelt, die von einer materialistischen Analyse meilenweit entfernt ist. Schwerer noch wiegt, dass sie die historische Tragödie, die die Ideologie des Antifaschismus der Bewegung der Emanzipation und ihrer Theoriebildung zugefügt hat, heute als Farce reproduziert. Keine historische Analogie wird dementsprechend von Linken und anderen Demokraten so häufig bemüht wie die Geschichte des Nationalsozialismus. Warum der Blick in die Geschichte gerichtet wird, das weiß jeder - auch die ALB: "Sichtbar wird, dass die Deutung dessen, was wir Geschichte nennen, schon immer eng verknüpft war mit politischem Herrschaftsanspruch." Nur: Was Revolutionäre dem immer entgegen gestellt haben, war eine materialistische Analyse, die die Erfahrungen der Kämpfe und die Ursachen ihrer Integration oder Zerschlagung in den Vordergrund gerückt hat. Dabei wäre schon zu fragen, ob die antifaschistische Konterrevolution in Spanien 1936ff., der Burgfrieden in den Ländern der westlichen Alliierten, die Akzeptanz und Verteidigung der stalinistischen GULAGs und schließlich die Integration der letzten Reste einer ehemals revolutionären Arbeiterbewegung in die aufgeteilte Welt nach 1945 nicht dazu hätten führen müssen, jeglichen Bezug auf die antifaschistischen Einheits- und Volksfronten zurückzuweisen. Davon ist aber heute keine Spur. Es bleibt das Bekenntnis aller "Anständigen": Antifaschisten sind wir alle!

Der Antifaschismus hat nur einen Sinn, wenn er die Demokratie zu verteidigen sucht

Gründe genug also um eine prinzipielle Auseinandersetzung um den Antifaschismus im Verhältnis zu emanzipatorischer Kritik und Praxis zu eröffnen. Dabei ist zunächst auf einige begriffliche Ungereimtheiten einzugehen. Es kann nicht darum gehen, Widerstand gegen die faschistischen Schlägerbanden zu denunzieren. Im Gegenteil: Da im Unterschied zu den demokratischen Formierungen die Faschisten gerade ihre außerinstitutionelle Mobilisierung in den Vordergrund stellen, ist es geraten, dort, wo sie reale Macht auf den Straßen entfalten, den Selbstschutz zu organisieren. Und dennoch nehmen wir Antifaschisten beim Wort. Dass sie (zumeist) einerseits mit dem Staatsantifaschismus nichts zu tun haben wollen, und andererseits ihre primäre politische Ausrichtung mit dem Kampf gegen die Nazis begründen, ist ein Widerspruch, der sich letztlich in Mobilisierungen zusammen mit der Herrschaft gegen den braunen Mob ausdrückt, und der nicht zufällig z.B. die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" unbehelligt lässt, wenn an der nächsten Ecke ein blödsinnig dreinblickender junger Mann mit Kurzhaarfrisur steht. Wer sich Antifaschist nennt, hat also nicht nur begrifflich einen Widerspruch zum Antikapitalismus, der nicht extra betonen muss, antisozialdemokratisch, antikonservativ etc. und also auch antifaschistisch sein. Antifaschismus hat nur einen Sinn, wenn die Kritik sich auf die faschistische Gefahr bezieht und sich damit einerseits analytisch auf das Terrain des Politischen reduziert und andererseits die Demokratie zu verteidigen sucht. Die Volks- und Einheitsfronten waren und sind somit vor diesem Hintergrund notwendiges Resultat antifaschistischen Agierens. Und noch eines: Es kann nicht drum gehen, sich an den moralisch aufgeladenen Geschichtsdebatten zu beteiligen, die immer nach der Art verlaufen, was man denn in dieser oder jener Situation getan hätte. Unser Gegenstand kann nur eine Aufarbeitung der historischen Tragödie des Antifaschismus sein, um die derzeitige Farce, die auch in der Versöhnung mit den stalinistischen und nationalistischen Ideologemen, deren Produkt die Antifa-Ideologie selbst war, besteht und die zur Desorientierung der um Emanzipation Kämpfenden beiträgt. Das Anliegen besteht daher nicht darin, ausgerechnet z.B. der KPD ihren Kurs vorzuwerfen, sondern diesen als Ausdruck der längst erfolgten Integration in die imperialistische Außenpolitik der Sowjetunion zu begreifen.

Zunächst wäre in Frage zu stellen, ob denn der Unterschied zwischen faschistischen und demokratischen Regierungsformen, der angesichts des Nationalsozialismus so evident zu sein scheint, so qualitativer Natur ist, wie uns glauben gemacht werden soll. Repressionen aller Art, Einschränkungen der Bürgerrechte, Notstandsüberlegungen und auch die physische Vernichtung Oppositioneller gehört zur Demokratie genauso wie staatlich geförderter Rassismus. Wenn die Arbeiterklasse historisch in die Offensive gegangen ist, war ihr die gesamte Härte der Staatsapparate gewiss. Und auch der Faschismus als Drohpotential und Regierungsform war schließlich immer das Produkt der Demokratie. Nicht nur die Zehntausenden ermordeter Revolutionäre in den demokratischen Industrieländern und die von deren Söldnerarmeen Abgeschlachteten Millionen in aller Welt sind davon beredtes Zeugnis. Die Kolonialprogramme der französischen und englischen Imperialisten stellten in vielem eine Vorwegnahme organisierter kapitalistischer Vernichtungspolitik unter demokratischer Flagge dar. Vor allem aber stellt sich die Frage, wie der bürgerliche Staat einzurichten sei, seinen Gegnern überhaupt nicht. Sind sie stark genug, ihn in Frage zu stellen, werden sie dies (hoffentlich) tun. Wenn nicht, wie im Falle des historischen Faschismus und Nationalsozialismus, ist die Frage längst von anderen entschieden und die Linke höchstens der legitimierende Idiot, wie im Falle des sozialdemokratischen Konzepts den "Demokraten" Hindenburg gegen Hitler zum Reichspräsidenten zu erheben.

"Der Nationalsozialismus war keine präventive Konterrevolution gegen eine zu erwartende soziale Revolution"

Insofern scheitern die Ideen antifaschistischer Fronten schon strategisch. Die Vorgänger der Stoibers, Merkels, Köhlers, Westerwelles und Fischers aus den konservativen, katholischen und liberalen Parteien versagten dem historischen Nationalsozialismus ihre Dienste nicht. Und dass Sozialdemokratie und Gewerkschaften ein wenig Distanz hielten, natürlich nicht ohne dem neuen Regime ihre Dienste anzubieten, hing auch nur damit zusammen, dass der Übergang zur Diktatur sich primär gegen sie und die etwas renitenteren Kommunisten, längst zum außenpolitischen Spielball der Sowjetunion verkommen, richtete. Der Nationalsozialismus war nämlich weder eine der Demokratie entgegengesetzte Herrschaftsform noch etwa logischer Ausdruck einer spezifisch deutschen Ideologie, obwohl sich beides in ihm findet. Vor allem aber war er keine präventive Konterrevolution gegen eine zu erwartende soziale Revolution. Vielmehr war der deutsche Faschismus das Programm, unter dem sich vor dem Hintergrund einer längst geschlagenen revolutionären Arbeiterbewegung der deutsche Imperialismus gegen seine mächtigeren außenpolitischen Feinde formieren konnte. Notwendig dazu war zunächst die Zusammenfassung der Nation zur Kriegsbefähigung ohne Rücksicht auf eine eventuelle reformistische oder liberale Opposition nehmen zu müssen. Dazu gehörten neben der vollständigen Revision des Versailler Vertrages die Schleifung der in der konterrevolutionären Phase durchgesetzten Reformen gegenüber der Arbeiterbewegung und die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft. Es war kein Zufall, dass die Faschisierung des gesamten bürgerlichen Lagers sich im Zerbrechen der Großen Koalition des Sozialdemokraten Müller an der Frage der Sozialversicherung und am Rande der Diskussionen um den Reichsarbeitsdienst manifestierte. Im Gegensatz zum ersten Versuch der Etablierung eines autoritären Regimes, im sog. Kapp-Putsch 1920, traf dies eine weitgehend wehrlose Arbeiterklasse. Thesen, die von einer Verhinderung einer Machtübertragung an die Nationalsozialisten durch die Einheit aller Demokraten oder die der Arbeiterbewegung, ausgehen, verlieren angesichts des politischen Willens und der Kräfteverhältnisse im damaligen Deutschland jegliche Realitätsnähe. Schlimmer noch: 1920 hatte sich gezeigt, dass die Verhinderung des Faschismus nur auf dem Terrain des Klassenkampfes, und damit in der Dynamik vom Angriff auf das Regime hin zum Angriff auf den Staat, und eben nicht auf der Basis bürgerlicher Realpolitik erreicht werden konnte. Nur auf den Straßen und in den Betrieben konnten sich Machtbastionen bilden, die den Putschisten trotzen und anschließend erst von der Einheitsfront aus Sozialdemokraten und reaktionärer Reichswehr niedergemetzelt werden konnten. Die Propagandisten der Volks- und Einheitsfronten haben nicht nur vergessen (oder bewusst verschwiegen), dass diese Fronten immer nur gegen die Emanzipationsbestrebungen der arbeitenden Klasse zustande kommen, sie haben vor allem dazu beigetragen, die Objektrolle der Masse der Menschen zu verabsolutieren.
Aber damit noch nicht genug: Der Antifaschismus hat den Nationalismus weiter befördert und die Vereinigung der Proletarier aller Länder mit verhindert. Als im I. Weltkrieg die II. Internationale in ihre nationalistischen Bestandteile aufgelöst wurde, einigten sich die wenigen verbliebenen Revolutionäre in der Zimmerwalder Bewegung auf programmatische Eckpunkte, die eine Interventionsfähigkeit in den Schlächtereien des Krieges überhaupt erst wieder ermöglichten. Im Zentrum stand der revolutionäre Defätismus: Im Kriegsfalle sollte keinerlei Partei für eine der kriegführenden Mächte ergriffen werden, sondern die internationale Einheit des Proletariats gegen alle Kriegsparteien verteidigt und, wenn möglich, der Krieg in Bürgerkrieg verwandelt werden. Damit wurde sowohl der Pazifismus, der die Schuld ins Zentrum seiner Parteilichkeit rückte, als auch die Position der deutschen Sozialdemokratie, die ihre Vaterlandsverteidigung mit dem roll-back gegen den Zarismus als autokratischstem Regime Europas begründete, zurückgewiesen. Dies war und ist nicht nur politisch-strategisch bedeutsam. Imperialistische Kriege sind nicht Produkte machtgeiler Herrscher oder einzelner Verrückter. Sie sind Produkte der entfesselten Konkurrenz um Rohstoffe, Märkte, Kapitalströme und Besetzung geostrategisch wichtiger Räume vor dem Hintergrund unterschiedlicher Voraussetzungen, die jeweiligen Interessen durchsetzen zu können. Hinter dem revolutionären Defätismus steckte aber auch methodisch jegliche Zurückweisung idealistischer Auffassungen, die die konkrete Ausgestaltung und Politik von Nationalstaaten unabhängig von der jeweiligen Position in der Totalität der kapitalistischen weltweiten Vergesellschaftung zu analysieren trachteten. Demgegenüber haben Marxisten Traditionen, spezifische Herrschaftsideologien und natürlich auch konkrete Organisationsformen bürgerlicher Herrschaft vor allem in Abhängigkeit von ökonomischen Potentialen und der Stellung auf Weltmarkt und militärischem Gebiet analysiert. Die Barbarei des deutschen Faschismus war dabei ebenso Teil der kapitalistischen Totalität und ihr Produkt wie die alten Demokratien und der russische Staatskapitalismus. Eine Sichtweise, die sich auf die Seiten kriegführender Mächte wegen ihrer vermeintlich höheren Zivilisationspotentiale schlägt, berücksichtigt nicht, dass dies wiederum selbst Ursache entstehender Kriege ist: Wer sich im Frieden durchsetzen kann, benötigt den Krieg nicht, legt ihn aber für andere nah. Antifaschisten legitimieren bis heute die Führung imperialistischer Kriege, und dies nicht nur in der besonders widerlichen Form der "antideutschen" Fahnenschwenkerei, und leisten so ihren Beitrag zu Nationalismus und Massenmord. Kommunisten hätten dagegen auch in Zeiten eines bestialischen Nationalismus internationalistische Positionen aufrecht zu halten und Vereinigung der sich gerade abschlachtenden Proletarier gegen alle Bourgeoisien und ihre jeweiligen Staaten zu symbolisieren. Außer von wenigen Revolutionären, häufig genug für ihre Prinzipientreue massakriert, ist die internationalistische Position im II. Weltkrieg zertrampelt worden. Die stalinisierte kommunistische Bewegung hat als 5. Kolonne Moskaus dem russischen Imperialismus die verbliebenen Bestände zugetrieben und nebenbei die spanische Revolution hinter der Front niederkartätscht. In den angelsächsischen Ländern hat der Burgfrieden zum Abbruch jeglicher emanzipatorischer Bewegung, häufig genug durch blutige Repression, geführt und in Frankreich hat die antifaschistische Linke das Bündnis mit der Bourgeoisie gesucht, die sich dann doch für die Deutschen entschieden hat.

"Der akut wahrnehmbare Zynismus vieler Antifaschisten gegenüber allen möglichen Greueln ist immer durch Auschwitz gedeckt"

Was für die Verteidigung der Demokratie innenpolitisch gilt, kann auch außenpolitisch Gültigkeit beanspruchen: Aus der Position der Schwäche heraus, bestimmte imperialistische Staaten zu legitimieren, macht deren militärische Position nicht stärker. Die Alliierten haben den Krieg weder begonnen noch gewonnen wegen der Solidarität einiger Linker. Aber die Nichtwahrnehmbarkeit internationalistischer Positionen hat eine Beendigung des Krieges oder soziale Revolutionen durch ein revolutionäres Proletariat, wie es sie nach dem I. Weltkrieg gab, verunmöglicht. Im Gegenteil: In Griechenland haben die Briten mit sowjetischem Segen und ohne nennenswerte Proteste aller Antifaschisten die Aufstände niedergeschlagen und in Spanien die Führungen von Sozialisten, KP und teilweise auch der Anarchisten mit Deckung aller Alliierten die Front von hinten erdolcht.
Bleibt das letzte und auch modernste Argument: Die geforderte Anerkennung der Singularität der in Auschwitz symbolisierten industriellen Vernichtung der europäischen Juden bzw. Sinti und Roma. Wer die Anerkennung von Singularität einfordert, meint damit nicht nur, dass etwas als einzigartig Anerkennung finden soll. Das wäre banal. Es geht um die von allem anderen Grauen zu unterscheidende Qualität des Ausmaßes vor allem aber der nicht einmal mehr auffindbaren instrumentellen Vernunft. Auch angesichts der Genozide an den Armeniern und in Ruanda, der Vertreibung und Ermordung eines Großteils der amerikanischen Ureinwohner, der Kolonialpraxis und vieler anderer "Verbrechen gegen die Menschheit" besitzt die Vernichtung in Nazi-Deutschland auch heute noch eine einmalige Dimension, genauso wie die (Vernichtungs-) Kriegsführung. Was aber für die quantitative Seite konstatiert werden kann, ist für die qualitative Seite nicht möglich. Die Vernichtungspraxis entsprach der inneren Formierung im Krieg und wurde gleichzeitig auch nur durch ihn möglich. Ob der eine oder andere kühl kalkulierende Nachwuchspolitiker das nicht noch einmal so machen würde, sagt über die innere Logik der Vernichtung nichts aus. Das schlimmste: Das Geschwätz von der Singularität dient seit 1945 immer als Alibi für jede Barbarei und als Legitimation der menschenfreundlichen Verfasstheit der verschiedenen Staaten. Auch der akut wahrnehmbare Zynismus vieler Antifaschisten gegenüber allen möglichen Greueln ist immer durch Auschwitz gedeckt. Unnötig zu sagen, dass auch historisch die so hoch gelobten Alliierten die Rettung der europäischen Juden nicht nur nicht durchführten, sondern wie im Falle der Abschlagung des Angebots der Auslieferung der ungarischen Juden an die Briten boykottierten. Und auch der in vielen antifaschistischen Kreisen zu späten Ehren gekommene Benes vertrieb zunächst die deutschen Juden mit den Deutschen zusammen, um später gegen die wenigen verbliebenen osteuropäischen Juden seinen ethnisch homogenisierten Staat aus Tschechen und Slowaken zu begründen. Auch die antisemitischen Kampagnen des Stalinismus lassen hier vom Mythos nichts übrig.
Für die Menschen in den Konzentrationslagern, Gefängnissen, für die illegal Lebenden und Zwangsarbeiter und angesichts des Vernichtungskrieges der Wehrmacht stellte die Zurückdrängung der deutschen Armee und das Ende des Krieges überhaupt erst die Möglichkeit eines Überlebens dar. Und dennoch: Im Gegensatz zu dem Krieg, der nur drei Jahrzehnte zuvor Europa in Schutt und Asche gelegt hatte, brachte dieser Krieg nicht einmal ein Potential der Befreiung zum Vorschein. Die Niederlage Deutschlands im imperialistischen Krieg zementierte die internationale Barbarei des Kapitalismus - mit antifaschistischen Weihen. Nicht nur dass bis heute das millionenfache Leid der v.a. vom russischen, tschechoslowakischen und polnischen Nationalismus Vertriebenen, der Hunderttausenden Ausgebombten, der in den Kolonien gefesselten Massen, der Millionen Opfer der pax americana und der vom Stalinismus geknechteten Proletarier Russlands und Osteuropas durch die weitgehend widerstandslos hingenommene Reorganisation des Kapitalismus in Ost und West zynisch weggewischt wird. Der antifaschistische Nebel umhüllt weiterhin als Ideologie sowohl die analytische Klarheit als auch die Perspektive der Emanzipation und dient ganz nebenbei den Herrschenden schon zur nächsten Kriegsvorbereitung.
Gegen Faschismus und Demokratie! Für den Kommunismus!
Mai, 2005.  G.

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Von der Kommunistischen Linken beeinflusst [34]

Historische Ereignisse: 

  • Zweiter Weltkrieg [26]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [37]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die "Einheitsfront" [38]

Gedenken an den Genossen Mauro

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Wir haben erfahren, dass der Genosse Mauro Stefanini, einer der ältesten und engagiertesten Genossen von Battaglia Comunista und selbst der Sohn eines alten Genossen der Italienischen Linken, nach langer Krankheit verstorben ist. Wir veröffentlichen nachfolgend einige Auszüge eines Solidaritätsbriefes, den die IKS sofort an das IBRP geschickt hat sowie Auszüge eines Dankesschreibens, das uns ein Genosse des IBRP im Namen seiner Organisation ausgerichtet hat.
Brief der IKS:  Genossen, wir sind sehr traurig vom Tod des Genossen Mauro zu erfahren (...) Die Mitglieder unserer Organisation, die ihn persönlich kannten, werden seine Lebendigkeit und seinen warmherzigen Umgang vermissen. Aber aus zwei weiteren Gründen sind wir durch seinen Tod besonders betroffen.
Erstens empfinden wir den Tod Mauros als einen Verlust für die Arbeiterklasse. Natürlich spielten seine persönlichen Eigenschaften, insbesondere seine Fähigkeit als Redner und Redakteur eine große Rolle. Aber was uns am wichtigsten erscheint, war sein Engagement und seine Hingabe als Militant. Diese hat er auch in der Zeit aufrechterhalten, als die Krankheit dabei war, ihn zu besiegen. Zweitens vergessen wir nicht, dass Mauro der Sohn Lucianos war, ein Mitglied der Italienischen Fraktion, den unser Genosse MC sehr hoch wegen seines Engagements schätzte, aber auch für seine politische Klarheit, da er unter den Genossen der Fraktion einer der ersten war, der die Konsequenzen der historischen Periode hinsichtlich der Gewerkschaftsfrage begriff, welche durch den Ersten Weltkrieg eröffnet war.
Als Folge der schrecklichen Konterrevolution, die nach dem Scheitern der Weltrevolution auf die Arbeiterklasse niederging, verschwand nahezu vollständig die vormals sehr lebendige Tradition der früheren Arbeiterbewegung: Die Tatsache, dass viele Kinder (wie die Mädchen Marxens, der Sohn Wilhelm Liebknechts und viele andere) die Flamme ihrer Eltern weitertrugen, konkretisiert somit die Kontinuität des Arbeiterkampfes zwischen zwei Generationen. Mauro war einer der wenigen Genossen, die diese Tradition fortsetzten -und dies ist ein zusätzlicher Grund unserer Sympathie für ihn (...) Deshalb versichern wir Euch, Genossen des IBRP, unsere aufrichtige Solidarität. Kommunistische Grüße, die IKS

Antwort des IBRP:

Genossen,
Im Namen des IBRP möchte ich mich für Eure Solidaritätsgrüße nach dem schwerwiegenden Verlust unseres Genossen Mauro bedanken. Wie ihr geschrieben habt, handelt es sich für uns um einen sehr schmerzhaften Verlust: wegen seiner menschlichen Eigenschaften, seiner Leidenschaft und seinem Engagement für die Sache des Proletariats war Mauro einer der Genossen, der nur selten zu finden ist. Sein Leben als Kommunist war sozusagen in seinen Genen ‚eingeschrieben': Nicht nur, weil er aus einer Familie stammte, die dem Kommunismus so viel gegeben hat, sondern vor allem, weil sich sein Geist instinktiv gegen den geringsten Ausdruck von Unterdrückung und Ungerechtigkeit auflehnte. Es wird nicht leicht sein, die politische Leere, die der Genosse hinterlässt, zu füllen; es wird unmöglich sein, die menschliche Leere zu ersetzen (...) Nochmals vielen Dank für Eure Botschaft, kommunistische Grüße. 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Battaglia Comunista [39]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [40]

Korruptionsaffäre bei VW: Schröder und Hartz als Blitzableiter

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Während in Berlin die herrschende Klasse die Weichen für vorgezogene Neuwahlen zum deutschen Bundestag stellte, blickten die Medien im Sommer 2005 kaum weniger gebannt nach Wolfsburg. Von dort erreichten uns immer neue Meldungen über einen ominösen Korruptionsskandal bei der Volkswagen AG. Um den Leiter der VW Tochterfirma Skoda in Tschechien, Schuster, habe sich ein System von Scheinfirmen gebildet, welche Gelder nicht nur des Mutterkonzerns, sondern beispielsweise staatliche indische Subventionen veruntreut haben. Aufgrund dieser Enthüllungen musste nicht nur der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von VW in Wolfsburg, sondern auch der inzwischen berühmt-berüchtigte Personalchef des Konzerns, Peter Hartz, zurücktreten. Hartz ist Namensgeber der "Arbeitsmarktreformen" der Regierung Schröder, welche im vergangenen Sommer und Herbst v.a. in Ostdeutschland Zehntausende zu Protestdemos auf die Straße trieben.
Diese Enthüllungen gaben den Anstoß zu einer "öffentlichen Debatte" über die Notwendigkeit, dem angeblichen Sonderfall Volkswagen den Gar aus zu machen. Das "Besondere" an VW soll die außerordentliche Enge und Vertraulichkeit der Zusammenarbeit zwischen Konzernleitung, IG Metall und Betriebsrat sein. Dies wiederum soll auf die direkte Beteiligung des Staates - in Form des Landes Niedersachsen - an der Volkswagen AG zurückzuführen sein. Dieser Sonderstatus ist in der Tat auch schon lange einigen Kapitalistengruppen ein Dorn im Auge. Doch diese alteingesessenen Kritiker des "VW Modells" sitzen überwiegend im Ausland. Denn die Beteiligung Niedersachsens am Konzern wird v.a. deshalb als anstößig empfunden, weil sie eine eventuelle Übernahme des größten Autobauers Europas durch ausländische Investoren außerordentlich erschwert. Der amtierende niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) hat sich denn auch beeilt - der Notwendigkeit des Ausmistens der Wolfsburger Augiasställe zum trotz - das VW Modell vor "voreiligen Schlüssen" in Schutz zu nehmen.
Heute dient das Lamentieren über den "Sonderweg VW" vielmehr dazu, die Tatsache zu verbergen, dass die gewerkschaftlichen Instanzen, zu denen auch die Betriebsräte gehören - mögen sie in Kleinklitschen oder in bestimmten Bereichen wie im Service-Sektor von einzelnen Kapitalisten noch so angefeindet sein - überall unentbehrlich gewordene Bestandteile der Betriebsführung von modernen großen oder auch mittelständischen Konzernen sind. Dass die Spitzenvertreter solcher Gremien, wie die anderen Teile der bürgerlichen Klasse auch, sich millionenfach bereichern und ein Lotterleben führen, ist ganz sicher keine Besonderheit von VW.
Zugegeben: Wenn die Korruption innerhalb der Bourgeoisie solche Ausmaße erreicht, dass die Konzernleitung (einschließlich ehrwürdiger Vertreter der IG Metall und des Betriebsrats) nicht nur den Staat, sondern das eigene Unternehmen um Unsummen verprellt, ist es für den Staat als Vertreter der Interessen des Gesamtkapitals höchste Zeit einzuschreiten, um zu versuchen, diesem Wildwuchs Grenzen zu setzen. Schließlich steht damit die Handlungsfähigkeit und somit auch die Konkurrenzfähigkeit des nationalen Kapitals auf dem Spiel. Trotzdem muss die Frage erlaubt sein, ob es nur Zufall ist, dass die Aufdeckung dieser Affäre mitten im Wahlkampf erfolgt. Ist es auch Zufall, dass diese Enthüllungen  zeitgleich stattfinden mit der Verkündung einer anderen Hiobsbotschaft? Nämlich dem Vorhaben von VW, in den kommenden Jahren nicht weniger als zehn Milliarden Euro "einsparen" zu müssen?

Am Thron des Kanzlers wird gesägt

Die Vorgänge bei VW erwecken jedenfalls den Eindruck, als ob die Machtfülle des Bundeskanzlers bereits vor den vorgezogenen Neuwahlen teilweise demontiert werden soll. Jeder führende bürgerliche Politiker benötigt eine eigene Machtbasis innerhalb des Staatsapparates. Entweder man hängt sich an eine bereits bestehende Gruppierung, um deren Leitwolf zu beerben, wenn dieser in Ruhestand geht, wie Angela Merkel es gegenüber der Kohl-Clique tat; oder aber man erobert von vorne weg eine eigene Machtstütze. Gerhard Schröder täuschte sich nicht, als er damals bei VW eine solche Machtstütze ausmachte und ins Visier nahm. Denn aufgrund der Schlüsselstellung dieses Konzerns innerhalb der deutschen Wirtschaft, innerhalb des Machtapparates der IG Metall (und damit auch der SPD) sowie des weltweiten Geflechts von wirtschaftlichen und politischen Beziehungen des Unternehmens, nicht nur in Hannover und Berlin, sondern zu Regierungen in aller Welt, eignet sich Volkswagen vorzüglich als Sprungbrett ins Kanzleramt (1). Heute geht das "Ausmisten" bei VW einher mit der Entlassung oder Entmachtung der Schrödergetreuen im Unternehmen, allen voran Peter Hartz, dessen Name untrennbar verbunden ist mit der "Agenda 2010" der jetzigen Bundesregierung. Dass die Gegner Schröders im Staatsapparat nicht mal die Bundestagswahl abwarten, um gegen eine seiner wichtigsten Machtstützen vorzugehen, weist u.a. auf die derzeit wachsende Unzufriedenheit der deutschen Bourgeoisie mit der aktuellen Regierungspolitik hin. Wir haben in der letzten Ausgabe von Weltrevolution bereits auf die anschwellende Kritik an Schröders außenpolitischen Kurs hingewiesen. Man wirft Schröder vor, zu starr an der zur Zeit des Irakkriegs entstandenen Koalition mit Frankreich und Russland festgehalten zu haben, nachdem der Versuch, die amerikanisch-britische Invasion des Zweistromlandes zu verhindern, gescheitert war. Inzwischen hat das Ansehen dieser außenpolitischen Orientierung Schröders noch mehr dadurch gelitten, dass der französische "Partner" durch das in Frankreich gescheiterte EU Referendum die in Paris und Berlin ausgetüftelte "europäische Verfassung" selbst vermasselt hat.

Von der Systemfrage ablenken  

Aber wie wir bereits in Weltrevolution 130 aufgezeigt haben, gab es einen noch gewichtigeren Grund für die deutsche Bourgeoisie, um vorzeitig Neuwahlen herbeizuführen: Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit und der Angriffe gegen die Arbeiterklasse. Angesichts der sichtbarer werdenden Unfähigkeit der Bourgeoisie, das Fortschreiten des wirtschaftlichen Niedergangs des eigenen Systems aufzuhalten, ist es für die herrschende Klasse heute wesentlich, dieses Unvermögen als das Scheitern Einzelner hinzustellen. Auf dieser Ebene gleicht die Vorgehensweise bei VW der, welche in der großen Politik auf Bundesebene eingeschlagen wird. Es ist noch gar nicht lange her, da wurde Peter Hartz als innovativer Erneuerer gefeiert, der nicht nur den Arbeitslosen Beine macht, sondern als Personalchef bei VW Zehntausende Arbeitsplätze gerettet habe. Hartz hat in der Tat, zusammen mit IG Metall und Betriebsrat, die Beschäftigten bei VW dazu gebracht, ein "Sparpaket" mit einem Volumen von gut 1 Milliarde Euro über sich ergehen zu lassen. Jetzt aber, wo die Beschäftigten sehen, dass ihre "Opfer" rein gar nichts gebracht haben - da nunmehr das Zehnfache von ihnen verlangt wird, um dasselbe angeblich zu erreichen - wird Hartz auf einmal als korrupter und unfähiger Zeitgenosse entlarvt, der tüchtigeren und ehrlicheren Machern die Aufgabe überlassen muss. Wie Schröder in Berlin soll Hartz in Wolfsburg als Blitzableiter den Zorn der Lohnabhängigen auf sich ziehen - damit die Angriffe weitergehen können, ohne dass die Arbeiter auf die Idee kommen, nicht Personen, sondern das Gesellschaftssystem in Frage zu stellen.
Die Ausbeuter wissen genau, dass der Zorn der Beschäftigten und Erwerbslosen zunimmt. Auch wenn es der Arbeiterklasse angesichts von Massenarbeitslosigkeit und fehlendem Selbstvertrauen noch sehr schwer fällt, in den Kampf zu treten, keimt ein Nachdenken über die soziale Wirklichkeit auf, dass die Ausbeuterklasse beunruhigt. Außerdem wird sich das Proletariat angesichts von stetig zunehmenden Angriffen nicht unbegrenzt einschüchtern und erpressen lassen. Auch wenn die Herrschenden uns einreden, dass wir vernünftigerweise auf "Privilegien" verzichten sollen, um Arbeitsplätze zu bewahren oder neue zu erhalten: Immer mehr Teile der Klasse merken, dass wir um unser Überleben kämpfen müssen. Bezeichnend dafür war die Empörung der Beschäftigten beim Otto-Versand Ende Juli in Haldensleben angesichts von angekündigten Lohnkürzungen. Nachdem die Firmenleitung erklärt hatte, nur auf diese Weise die Arbeitsplätze erhalten zu können, entgegneten die aufgebrachten Beschäftigten, bei Monatsgehältern von jetzt schon kaum 950 Euro würde sich die Anreise zur Arbeit ohnehin bald nicht mehr lohnen.
In der Tat: Die Wahlen, aber auch der öffentliche Kreuzzug gegen Korruption, dient bei VW wie überall v.a. dazu, uns von der Notwendigkeit des Klassenkampfes gegen den Kapitalismus abzuhalten.  22.07.05

(1) Dies findet auch Christian Wulff, der jetzt tatkräftig mithilft, die VW Spitze neu zu ordnen, und sich dabei in Position bringt, um seine "Parteifreundin" Merkel künftig herausfordern zu können.
(2) Das Herumsägen am Machtstuhl des Kanzlers beschränkt sich z. Z. nicht auf die Vorgänge bei VW.  Die Rückkehr des einst von Schröder entmachteten ehemaligen Parteichefs der SPD, Lafontaine, in den illustren Kreis der mächtigsten Politiker des Landes, ist nicht nur ein Affront für den Kanzler, sondern schmälert erheblich seine Chancen auf Wiederwahl und stärkt seine Gegner auch innerhalb er SPD.

Nationale Situationen: 

  • Wahlen in Deutschland [35]

Geographisch: 

  • Deutschland [2]

Schweiz - Der Aufbau und die Gewerkschaften Selbstorganisierung oder Bevormundung?

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Im Aufbau Nr. 40, der Zeitung des so genannten Revolutionären Aufbaus, erschien eine nach seinen Worten “längst fällige Replik” auf einen Artikel, den die IKS vor einem Jahr zu einer Diskussionsveranstaltung dieser Gruppierung veröffentlichte (vgl. Weltrevolution Nr. 125). Unser Artikel und die Replik drehen sich um das Thema der Gewerkschaftsfrage.

Das Problem an der Replik des Aufbaus besteht nicht darin, dass sie spät erfolgt, sondern dass sie nicht eingeht auf unsere Argumente, mit denen wir begründet haben, weshalb nicht nur die Gewerkschaftsbürokratie, sondern die Gewerkschaften als solche ca. seit dem Ersten Weltkrieg Apparate des Staates und somit gegen die Arbeiterklasse gerichtet sind.
In unserem Artikel in Weltrevolution 125 über die Veranstaltung des Aufbaus haben wir die mündliche Diskussion in ihren wesentlichen Zügen wiedergegeben und dabei aufgezeigt, dass die Gewerkschaften in der dekadenten Phase des Kapitalismus unweigerlich in den totalitären Staat integriert werden. “Die materielle Unmöglichkeit, Reformen zu erkämpfen, die nicht gleich wieder rückgängig gemacht werden, verwandelte die Gewerkschaften, die diese Reformfunktion hatten, notwendigerweise in Instrumente des Staatskapitalismus, der Bewahrung der herrschenden Ordnung, der Kanalisierung des Arbeiterwiderstands in Sackgassen. (...) Es ist also kein Zufall, wenn der Gewerkschaftsapparat heute als Teil der staatlichen Strukturen (z.B. im Parlament oder bei den paritätischen Kommissionen) erscheint. Dieser Schein entspricht der tatsächlichen Klassennatur der Gewerkschaften, und zwar nicht bloss der Gewerkschaftsbürokratie, sondern der Gewerkschaften insgesamt. (...) Wer die proletarische Revolution auf seine Fahnen geschrieben hat, muss deshalb die Arbeiter und Arbeiterinnen vor den Gewerkschaften warnen, und nicht kritisch von innen oder aussen diese Organe zu “verbessern” versuchen. Je “besser” sie sind, desto wirksamer für den kapitalistischen Staat.” (1)
Statt auf unsere Ausführungen inhaltlich zu antworten und wenigstens zu versuchen, sie zu widerlegen, beschränkt sich der Aufbau in seinem Artikel darauf, der IKS irgendwelche Etiketten anzudichten, die erstens mit der Realität und unseren Positionen nichts zu tun haben und zweitens eine durch und durch bürgerliche Geschichtsauffassung des Aufbaus offenbaren.

Was hat die Position der IKS zur Gewerkschaftsfrage mit Bordiga zu tun?

Der Aufbau meint, die Position der IKS gegen die Gewerkschaften und für die Selbstorganisierung der Arbeiter gehöre “nunmehr seit 80 Jahren zum von linksradikalen bordigistischen Positionen verbreiteten Unsinn”. Die Positionen Amadeo Bordigas, der laut Aufbau der “Urvater der IKS” sein soll, seien bereits mit Lenins Schrift Der ‚linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus (2) widerlegt worden.
Anscheinend hat der Aufbau weder von den Positionen Bordigas noch von denjenigen der IKS eine grosse Ahnung. Denn Bordiga lehnte die Arbeit in den Gewerkschaften keineswegs ab; und die Bordigisten tun es bis heute nicht. Offensichtlich ist der Aufbau auch mit dem,, was Lenin geschrieben hat, nicht vertraut, denn sonst müsste er ja wissen, gegen wen dieser in den Kinderkrankheiten in der Gewerkschaftsfrage  polemisierte. Die IKS ist zwar keineswegs gekränkt, wenn sie in die Tradition von Bordiga gestellt wird. Er war in der Tat ein Revolutionär, der bis 1926 zusammen mit der Mehrheit der italienischen KP vorbildlich gegen die Degenerierung der Kommunistischen Internationalen und der ihr angehörenden Parteien kämpfte, was denn auch der Grund dafür ist, dass der Name Bordiga für die Stalinisten ein rotes Tuch darstellt und auch für andere linkskommunistische Strömungen herhalten muss, die längst nicht alle seiner Positionen teilen.
In der Gewerkschaftsfrage vertrat Bordiga beispielsweise aus der Sicht der IKS eine falsche Auffassung. Die Positionen unserer Organisation gehen nicht auf ihn und die Italienische Linke in den 20er Jahren zurück, sondern auf andere Teile des Linkskommunismus, jener Tradition, die in den 20er und 30er Jahren in verschiedenen Ländern den Kampf gegen die Degenerierung der offiziellen “Kommunistischen” Parteien und den Stalinismus führte. Die Intervention der IKS in der Gewerkschaftsfrage stützt sich ab auf die deutsch-holländischen Linkskommunisten in den 20er, einen Teil der italienischen Fraktion in den 30er und vor allem auf die Positionen der Gauche Communiste de France in den 40er Jahren (3). Es waren diese Minderheiten in der Arbeiterbewegung, die trotz schwierigster Bedingungen der Konterrevolution nicht nur in ihrer Intervention in der Klasse am Internationalismus festhielten (was ebenfalls diejenigen taten, für die der Name Bordigisten zutrifft), sondern auch theoretisch die klarsten Lehren aus der Niederlage der weltrevolutionären Welle 1917-23 zogen. Zu diesen Lehren gehörte auch die Erkenntnis, dass der Eintritt des Kapitalismus in seine niedergehende Phase den Charakter der Gewerkschaften grundsätzlich verändert hatte.

Die Geschichte als Werk “grosser Männer”?

Es trifft zwar zu, dass Lenin in der vom Aufbau zitierten Broschüre die Position z.B. Anton Pannekoeks (der seinerzeit unter dem Pseudonym K. Horner schrieb) und der im Frühjahr 1920 gegründeten KAPD zur Gewerkschaftsfrage bekämpfte. Der Aufbau legt aber nicht dar, warum die Position Lenins richtig sein soll. Die Replik zitiert nur gerade einen Satz aus den Kinderkrankheiten. Dieser wiederum erschöpft sich inhaltlich in der Behauptung, dass die Ablehnung der Arbeit in den Gewerkschaften ein “lächerlicher, kindischer Unsinn” sei (4). Der Aufbau meint anscheinend, die Berufung auf Lenin sei genug, um die Richtigkeit irgendeiner Auffassung zu begründen. Für ihn ersetzt die Berufung auf Lenin die Argumentation.
Nach dieser “Methode” müsste konsequenterweise und gestützt auf die gleiche Schrift Lenins auch die “Beteiligung an den bürgerlichen Parlamenten” befürwortet werden. Denn genau diese Idee verfocht Lenin in den Kinderkrankheiten ebenfalls, indem er beispielsweise schrieb, “dass die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Kampf auf der Parlamentstribüne für die Partei des revolutionären Proletariats unbedingte Pflicht ist, gerade um die rückständigen Schichten ihrer Klasse zu erziehen, gerade um die unentwickelte, geduckte, unwissende Masse auf dem Lande aufzurütteln und aufzuklären” (5). Auf diese und ähnliche Aussagen Lenins berufen sich heute die Trotzkisten, um ihre parlamentarische Politik zu rechtfertigen. Wenn für den Aufbau die Worte Lenins anscheinend so heilig sind, dass das Zitieren allein schon reicht, um die Richtigkeit einer Position nachzuweisen, müsste sich diese Gruppe eigentlich auch bald einmal am parlamentarischen Zirkus beteiligen.
Hinter dieser “Methode” der Berufung auf irgendwelche Zitate steht eine idealistische, d.h. bürgerliche Geschichtsauffassung, nach der der Lauf der Geschichte durch “die grossen Männer” bestimmt wird. Die Geschichte wird da personifiziert ganz so, wie es meist im Schulunterricht geschieht: als sei die Geschichte eine Abfolge ‚grosser‘ oder berüchtigter Namen und Ideen - Kant, Napoleon, Bismarck, Lenin, Hitler etc.
Mit diesem gängigen, quasi populären Geschichtsbild wird die herrschende Ideologie weiter zementiert. Der Aufbau vermittelt damit den Eindruck, dass es die Ideen dieser Gestalten seien, die die Massen und damit die Geschichte lenken. Es ist aber umgekehrt der materielle Kampf zwischen den Klassen, der den Gang der Geschichte bestimmt. Es sind zwar die Menschen, die die Geschichte machen, aber sie tun dies nicht aus freien Stücken, sondern als Teil einer Klasse im Rahmen der vorgefundenen gesellschaftlichen Bedingungen. Welche Rolle die Individuen dabei spielen, ist zwar nicht belanglos, aber hauptsächlich von den äusseren Umständen abhängig.
Ein bestimmter Name ist somit für sich allein noch lange kein Gütesiegel für die Unfehlbarkeit - diese kennt nicht nur der Katholizismus mit dem Papst sondern auch der Stalinismus bzw. Maoismus. Die Stärken der Arbeiterklasse bestehen einerseits in ihrer Einheit (v.a. der Interessen), andererseits in der Fähigkeit, ein Bewusstsein über die herrschenden Bedingungen und die Möglichkeit ihrer Umwälzung zu erlangen. Dieser Kampf um das Bewusstsein muss mit Argumenten geführt werden. Die Arbeiterklasse ist die erste revolutionäre Klasse der Geschichte, die ihr Ziel nur mit Bewusstsein durchsetzen kann. Dies erfordert einen dauernden Kampf der Arbeiter und Arbeiterinnen um Klarheit, einen Kampf, der als ein Ringen der Richtungen und Parteien miteinander geführt wird. Niemand kann uns dieses Nachdenken und Argumentieren abnehmen. Den Revolutionären kommt u.a. die Aufgabe zu, genau dieses Ringen um das klarst mögliche Bewusstsein über die gegenwärtigen Aufgaben zu stimulieren und voranzutreiben.
Was der Aufbau tut, ist das Gegenteil: Statt seine Auffassung zu begründen und zu argumentieren, die Leser und Leserinnen zum Nachdenken anzuregen, ruft er einen Namen an, der für Unfehlbarkeit stehen soll. Die Arbeiterklasse braucht für die Revolution nicht einen neuen religiösen Glauben, sondern eine Überzeugung, die auf Klarheit fusst und mit vernünftigen Argumenten verteidigt werden kann.

Politik des Aufbaus

Offensichtlich geht es dem Aufbau aber nicht darum, dass die Leute selber nachdenken. Vielmehr will er derjenige sein, der für die Arbeiter denkt, sie organisiert und ihnen sagt, wo es lang geht.
Sein vorgetäuschtes Wohlwollen gegenüber “spontan im Widerstand entstandenen Strukturen der Selbstorganisation” ist somit bloss ein Lippenbekenntnis. In einem Artikel der gleichen Ausgabe des Aufbaus, der die Gewerkschaftsbürokratie der Unia kritisiert, sagt er offen, welche Politik er betreibt und welche Ziele er anstrebt: “Um grössere Streiks durchzuführen, wäre es von Nöten, Vertrauensleute aufzubauen, welche aus ihrem politischen und gewerkschaftlichen Bewusstsein heraus, die Arbeit der Funktionäre übernehmen und die entsprechenden Diskussionen in den Betrieben und auf den Baustellen aufnehmen.” (Aufbau Nr. 40 S. 5) Der Aufbau ist also nicht einmal grundsätzlich gegen die Gewerkschaftsbürokratie, sondern findet einfach, dass die falschen Funktionäre drin sind. Er möchte die entsprechenden Stellen mit seinen Leuten besetzen und selber die Kontrolle ausüben. Warum er im nächsten Satz meint, dass damit die Möglichkeit bestünde, “dass sich Streiks nicht mehr ganz so einfach durch die Gewerkschaften kontrollieren lassen würden”, begründet er nicht. Es gibt auch keine Begründung für diese Absurdität. Es ist genau umgekehrt: Der Staat braucht gerade in der heutigen Zeit der gärenden Kampfbereitschaft “radikalere” Gewerkschaften mit “Vertrauensleuten an der Basis” die früh genug merken, wenn es in den Reihen der Arbeiter brodelt, damit eben ja keine Streiks ausbrechen, die nicht von Anfang an von den Gewerkschaften kontrolliert werden.
Der Aufbau bietet sich genau für diese Aufgabe an. Sobald die Gewerkschaftsbürokratie oder gar die “gelben” Gewerkschaften insgesamt bei Teilen der Arbeiterklasse in Frage gestellt werden, wird der Aufbau zusammen mit den Trotzkisten und weiteren linksbürgerlichen Gruppen zu denjenigen gehören, die neue Gewerkschaften propagieren. Dies ist die Erfahrung, die die Arbeiter in den 70er und 80er Jahren insbesondere in Italien, Frankreich, Belgien und Grossbritannien machen mussten: Nach den offiziellen Gewerkschaften stellt die Bourgeoisie ihnen ein weiteres, scheinbar radikaleres Instrument in den Weg - die Basisgewerkschaften, Koordinationen, Shop Stewards etc., bis auch diese von den Arbeitern als Hindernis erkannt und aus dem Weg geräumt werden.
Wenn uns also der Aufbau unterstellt, wir würden uns “elegant um die politische Verantwortung drücken”, wenn wir nicht innerhalb der Gewerkschaften arbeiten, so entgegnen wir ohne Scham: Die Verantwortung dafür, die Arbeiter und Arbeiterinnen in Fallen zu locken und in Fesseln zu legen, lehnen wir in jedem Fall ab. Wir intervenieren umgekehrt nach unseren Kräften in der Klasse und stellen da die gemeinsamen, vereinheitlichenden Interessen des Proletariats und der Gesamtbewegung in den Vordergrund.   N.P., 09.07.05

1) Zitat aus dem Artikel “Den Bock zum Gärtner machen?” in Weltrevolution 125; vgl. weiter dazu unsere Broschüre “Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse”
2) geschrieben im April/Mai 1920, veröffentlicht in Lenin Werke Bd. 31 S. 5 ff.
3) vgl. zum Linkskommunismus: “Kurze Geschichte des Linkskommunismus” unter  und unsere Broschüren “Die Deutsch-Holländische Linke 1919-1933” und “Die Italienische Linke”
4) Der vom Aufbau zitierte Satz Lenins enthält zudem noch eine Stellungnahme gegen die Arbeiter-Unionen. Falls der Aufbau auch damit auf die IKS abzielte, müsste er einmal mehr belehrt werden: Voll daneben! Die IKS hat die Idee der Gründung von Arbeiter-Unionen (oder ähnlicher, letztlich doch wieder gewerkschaftsähnlicher Organisationen) immer kritisiert. Aus Platzgründen können wir aber hier nicht weiter darauf eingehen, vgl. dazu aber z.B. die Broschüre “Die Deutsch-Holländische Linke 1919-1933” S. 14 und 33 f.
5) Lenin Werke Bd. 31 S. 44 (Hervorhebungen im Original)

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Außerhalb der Kommunistischen Linken [41]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [3]

Weltrevolution Nr. 132

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Bemerkungen über einen Diskussionsbeitrag aus Berlin

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Die Legitimierung des imperialistischen Krieges durch den Antifaschismus (Weltrevolution 130)

Wir haben in der letzten Ausgabe von Weltrevolution den Diskussionsbeitrag “Antifaschisten legitimieren bis heute die Führung imperialistischer Kriege” aus Berlin veröffentlicht.  Aufgrund der ungewöhnlichen Qualität und Klarheit dieses Beitrags, sowie der Wichtigkeit und Aktualität des behandelten Themas, beschlossen wir, diesen Artikel seiner Länge zum Trotz ungekürzt abzudrucken. Indem er eine historische Methode anwendet, kann der Artikel aufzeigen, weshalb der Antifaschismus, einst das ideologische Aushängeschild der DDR, seit 1989 zur offiziellen Staatsideologie des wiedervereinigten Deutschland avanciert ist. Es wird sehr konkret aufgezeigt, dass diese Ideologie – weit davon entfernt, einen antikapitalistischen, oder auch nur einen (von den “Anti-Deutschen” angenommenen) konsequent gegen die Interessen des deutschen Imperialismus gerichteten Charakter aufzuweisen – heute die ideale Kriegsideologie der bundesrepublikanischen Bourgeoisie geworden ist. Der Beitrag aus Berlin gibt sich aber mit diesen Feststellungen nicht zufrieden. Er zeigt grundsätzlich auf, dass diese Ideologie jeglicher gegen den Kapitalismus als System gerichteten Natur entbehrt, indem er nachweist, dass die Bezeichnung und die Ausrichtung “Antifaschismus” nur Sinn ergibt als Stigmatisierung des Faschismus gegenüber anderen, als weniger reaktionär erachteten Erscheinungsformen des Kapitalismus. Somit führt der Antifaschismus mit Notwendigkeit zur Verteidigung des Profitsystems unter dem Denkmantel der Demokratie. Indem er sich auch hier auf die Erfahrung der Geschichte stützt, zeigt der Artikel auf, dass der von antifaschistischer Seite geforderte Zusammenschluss aller Demokraten niemals gegen die Faschisten, sondern immer nur gegen die Arbeiterklasse stattfand, wobei dieser antiproletarische Zusammenschluss auch die Faschisten mit einschließen kann.  Nicht zuletzt wird die Behauptung widerlegt, derzufolge der Faschismus eine vorbeugende Konterrevolution gegen eine zu erwartende soziale Revolution gewesen sei, sondern erst siegen konnte, nachdem die Demokratie der Arbeiterklasse  entscheidende Niederlagen zugefügt hatte.
Soweit stimmen wir der Hauptargumentation dieses Artikels uneingeschränkt und mit großer Überzeugung zu. Wobei vielleicht noch anzumerken wäre, dass der Artikel, auch in den Teilen, wo die aktuelle Weltlage mit behandelt wird, zumeist präzise und nuanciert argumentiert. Sogar die in linken Kreisen übliche Behauptung, die Europäische Union sei bereits ein um die deutsch-französische Achse herum ausgebildeter, gegen Amerika gerichteter imperialistischer Block, wird hier etwas vorsichtiger und differenzierter als sonst behandelt (schließlich waren die beispielsweise zur Zeit des letzten Irakkrieges amerikafreundlich eingestellten Länder – von Spanien und Italien bis Großbritannien und Polen – ebenfalls innerhalb der EU reichlich vertreten!)

Nur eine selbständig kämpfende Arbeiterklasse kann den rechten Schlägern erfolgreich entgegentreten

Es sind bloß einige wenige Sätze des Berliner Artikels, welche uns unklar erscheinen. Diese Sätze betreffen nicht so sehr die historische Argumentationsweise, als die Frage, wie man sich konkret zu antifaschistischen Aktionen heute verhält. Dennoch glauben wir, dass eine unklare Praxis auch die Klarheit der theoretischen Position trüben wird. Der Artikel sagt dazu: “Es kann nicht darum gehen, Widerstand gegen die faschistischen Schlägerbanden zu denunzieren. Im Gegenteil: Da im Unterschied zu den demokratischen Formierungen die Faschisten gerade ihre außerinstitutionelle Mobilisierung in den Vordergrund stellen, ist es geraten, dort wo sie reale Macht auf den Straßen entfalten, den Selbstschutz zu organisieren.” Was an dieser Aussage auffällt, ist die politisch abstrakte Formulierungsweise. Während sonst im Artikel das bürgerliche, antifaschistische Geschwätz dadurch messerscharf auseinandergenommen wird, indem stets von Klassen statt von ewigen Werten die Rede ist, spricht man hier von “Widerstand” an sich, ohne seinen Klassencharakter zu erörtern. Von welchem Widerstand ist hier die Rede? An anderer Stelle des Artikels ist sehr richtig von den marschierenden Nazis die Rede, welche von “großen Teilen der staatstragenden und -bejahenden linken Oppositionellen” von PDS und Wahlalternative bis zu SAV und Linksruck “zum Popanz aufgebläht” werden. Dazu heißt es weiter: “Zwar stellen in zumeist ländlichen Gegenden und hauptsächlich im Osten Deutschlands die Kneipen- und Straßenschläger eine immense Gefahr für Migranten, Obdachlose, Homosexuelle, linke und andere nicht ins volksgemeinschaftliche Bild passende dar, der unbedingt und mit aller Konsequenz begegnet werden muss, aber im öffentlichen Diskurs sind sie völlig isoliert und weit davon entfernt, wie in den späten 20er und 30er Jahren Unterstützung bei den Eliten zu finden.” Diese Einschätzung der vergleichsweise mangelnden Unterstützung der Nazischläger von Seiten der heutigen herrschenden Eliten gegenüber der Zeit der Konterrevolution, sowie der von den militanten Antifaschisten zum Popanz aufgeblähten rechten Gefahr teilen wir voll und ganz. Wir nehmen außerdem an, dass diese Stelle die Antwort auf unsere Frage liefert, welcher Widerstand gegen die faschistischen Schlägerbanden gemeint ist. Und trotzdem bleibt unsere Frage unbeantwortet: Vom Widerstand welcher Klasse ist hier die Rede?
Es wäre in der Tat blödsinnig, irgend jemandem – ob Mann oder Frau, Deutschen oder Migranten, Homosexuellen oder Heterosexuellen, das Recht abzusprechen, sich zu verteidigen. Nicht weniger unsinnig wäre es, die Notwendigkeit in Abrede zu stellen, anderen in Not geratenen Menschen beizustehen. Gerade revolutionäre Marxisten sind von der Notwendigkeit überzeugt, angegriffenen Menschen – ob Migranten, Obdachlosen, Homosexuellen oder anderen – zu Hilfe zu eilen. Wer die Geschichte der Arbeiterbewegung kennt, wird wissen, wie oft das Leben von Revolutionären gerettet wurde von Menschen, welche mit den Zielen des Marxismus überhaupt nicht sympathisierten, und dennoch aus einer tiefen Menschlichkeit heraus handelten, oft unter Einsatz des eigenen Lebens. Diese Menschlichkeit ist nicht notwendigerweise mit einer bestimmten politischen Ausrichtung oder einer gewissen Klassenzugehörigkeit verbunden. Im Gegenteil: Sie wird erst dort zu voller Entfaltung gelangen, wo es keine Klassen und keine im heutigen Sinne politischen Ausrichtungen mehr gibt – im Kommunismus. Es ist allerdings unsere Überzeugung, dass diese Menschlichkeit heutzutage am ehesten in den Reihen der ausgebeuteten, kollektiv produzierenden, eigentumslosen Klasse der Lohnabhängigen anzutreffen ist, vor allem aber beim kämpfenden Proletariat, und dass diese Menschlichkeit sich um so mehr vertiefen und verbreiten muss, je gigantischer die Kämpfe dieser Klasse und die Ziele dieser Kämpfe werden.
Solche urwüchsigen Ausdrücke des gemeinschaftlichen Wesens unserer Gattung sind aber wohl kaum gemeint, wenn von “Widerstand gegen die faschistischen Schlägerbanden” gesprochen wird. Wo nicht von spontaner Hilfsbereitschaft, sondern von organisierten Aktionen die Rede ist, kommt ein Marxist nicht umhin, nach der politischen Ausrichtung und dem Klasseninhalt solcher Aktionen zu fragen.
Somit zwingt sich eine erste Feststellung auf: Da allein das Proletariat imstande ist, einen autonomen und zukunftsweisenden Klassenkampf gegen das Kapital insgesamt zu führen, ist das Proletariat auch die einzige Klasse, welche den Faschismus, als eine Spielart der Kapitalherrschaft, und die Faschisten als eine politische Strömung der bürgerlichen Klasse erfolgreich bekämpfen kann. Gerade deshalb kann es in diesem Kampf kein Bündnis mit anderen Klassen d.h. mit den Antifaschisten eingehen. Genau diese Lehre hat der Berliner Artikel aus der Geschichte (namentlich aus der Erfahrung des proletarischen Kampfes gegen den Kapp Putsch von 1920 in Deutschland) gezogen: “1920 hatte sich gezeigt, dass die Verhinderung des Faschismus nur auf dem Terrain des Klassenkampfes, und damit in der Dynamik vom Angriff auf das Regime hin zum Angriff auf den Staat, und eben nicht auf der Basis bürgerlicher Realpolitik erreicht werden konnte.”
Das bedeutet aber zweitens, dass allein das Proletariat imstande ist, wirkungsvoll und zukunftsweisend Minderheiten vor dem Zugriff der Rechtsradikalen, wie vor den Angriffen anderer Teile der Bourgeoisie zu schützen. Die Geschichte liefert uns zahlreiche Beispiele dieser Bereitschaft und Fähigkeit der Arbeiterklasse, die wehrlosen Opfer der kapitalistischen Barbarei zu beschützen. So haben die Arbeiterräte von 1905 in Russland bewaffnete Milizen aufgestellt und entsandt, um Pogrome gegen die Juden zu unterbinden. Und selbst mitten im 2. Weltkrieg, während das antifaschistische Kriegsbündnis des amerikanischen, britischen und russischen Imperialismus keinen Finger krumm machte, um den Holocaust zu verhindern, erreichte die kämpfende niederländische Arbeiterklasse mittels eines Massenstreiks zumindest das vorläufige Aussetzen der Deportationen in die Konzentrationslager.

Die Arbeiterklasse ist noch nicht in der Lage, verfolgte Menschen systematisch zu beschützen

Kommen wir aber jetzt zum heutigen “Widerstand gegen die faschistischen Schlägerbanden” beispielsweise in “ländlichen Gegenden Ostdeutschlands”. Es liegt auf der Hand, dass es sich hierbei heutzutage leider noch lange nicht um Klassenaktionen zum Schutze  dieser Opfer handelt. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass das Proletariat verpflichtet und auch befähigt ist, einen solchen Schutz zu bieten. Während diese Verpflichtung stets da ist, wird die Arbeiterklasse nicht immer dazu imstande sein. Diese Fähigkeit hängt mit einer Reihe von Faktoren zusammen, deren wichtigste die historische Periode und das vorherrschende Kräfteverhältnis sind.
Heute ist es in bestimmten Kreisen, welche erst neulich mit den Traditionen der Kommunistischen Linken Bekanntschaft gemacht haben, scheinbar geradezu eine Modeerscheinung geworden, verächtlich die Arbeiterbewegung in der Zeit vor 1914 als eine bürgerliche Angelegenheit abzutun. Jedoch war es z.B. in der Zeit der Bismarckschen Antisozialistengesetze üblich, dass in Deutschland sozialistisch gesinnte Arbeiter offen und kämpferisch beispielsweise gegen die Antisemitenbewegung auftraten. Und dies, obwohl sie dabei Gefahr liefen, außer Landes gewiesen und damit brotlos und sogar obdachlos zu werden. Dass es damals so etwas gab, hängt damit zusammen, dass es permanente Massenorganisationen der Arbeiterbewegung noch geben konnte, welche den Typus des klassenbewussten Arbeiters hervorbrachten. Sozialistische Parteien stellten häufig jüdische Genossen als Kandidaten zu den Wahlen auf, wobei diese Wahlkämpfe regelmäßig zu Lehrstunden des proletarischen Internationalismus wurden. Aber nicht nur gegenüber dem Antisemitismus, sondern gegenüber jeder Art von Chauvinismus ging die Arbeiterbewegung vor. Als im Oktober 1895 Teile der britischen Gewerkschaften eine gesetzliche Begrenzung der Einwanderung forderten, organisierte der revolutionäre Flügel der Arbeiterbewegung große Protestbewegungen dagegen. Und als im Jahr darauf in England im Zeichen des aufziehenden Rüstungswettlaufs zwischen London und Berlin eine antideutsche Hetzkampagne in den Medien hochgepeitscht wurde, wurde Wilhelm Liebknecht auf die Insel eingeladen, wo er auf einer Reihe von Massenveranstaltungen als Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung frenetisch gefeiert wurde.
Als die Zeit der dauerhaften Reformen innerhalb des Kapitalismus mittels ständiger Massenorganisationen der Arbeiterklasse mit dem 1. Weltkrieg zu Ende ging, blieb diese politische Kultur der Arbeiterklasse zunächst bestehen. Ja, sie vertiefte sich im Verlauf der großen revolutionären Kämpfe. Aber da dieser revolutionäre Ansturm letztlich scheiterte, und  eine Jahrzehnte dauernde Konterrevolution folgte, ging diese politische Kultur, dieses unschätzbare Erbe  eines Jahrhunderts proletarischer Kämpfe wieder verloren. Zwar leben wir heute nicht mehr in Zeiten der Konterrevolution. Aber da die Klasse in der Niedergangsphase des Kapitalismus sich nur im Verlauf ihrer Massenkämpfe  selbst organisieren kann, und diese Organisationen nach Beendigung des Kampfes nicht weiterbestehen können, wird das Proletariat vermutlich noch viele Jahre brauchen und etliche Kämpfe durchstehen müssen, bis es wieder einen solchen Grad an politischer Kultur erlangt, dass es bewusst, organisiert und selbständig seine historische Rolle der Beschützung der Menschheit vor der viehischen bürgerlichen Verfolgung wiederaufnehmen kann. In der Zwischenzeit liegt die Aufgabe der Revolutionäre in dieser Hinsicht darin, alles zu tun, um die Arbeiterklasse in diese Richtung zu leiten und aufzuklären. Es nutzt der Sache des Proletariats rein gar nichts, wenn man auf die Tatsache, dass die Klasse zumeist noch nicht so weit ist, reagiert, indem man an Stelle der Klasse handelt. Noch weniger hilfreich ist es, wenn man den Boden des selbständigen Klassenkampfes verlässt und sich an den Aktionen des Antifaschismus beteiligt.

Was heißt es, die Antifaschisten beim Wort zu nehmen?

Neben der Ausklammerung der Klassenfrage ist uns bei der Formulierung des Problems eines Widerstands gegen Rechts in dem Beitrag aus Berlin noch eine weitere Unklarheit aufgefallen. Es handelt sich um die bereits oben zitierte Behauptung, derzufolge die Faschisten “im Unterschied zu den demokratischen Formierungen gerade ihre außerinstitutionelle Mobilisierung in den Vordergrund stellen.” Diese Unterscheidung wird als  Grund dafür angegeben, weshalb es geraten sei, dort, wo die Nazis “reale Macht auf den Straßen entfalten, den Selbstschutz zu organisieren.”
Nun, diese behauptete Unterscheidung zwischen den Faschisten und den demokratischen Formierungen trifft so nicht zu. Es trifft zu für die CDU und auch für die SPD. Für die Linkspartei-PDS trifft es schon nur bedingt zu. Für SAV, Linksruck und die anderen Hauptaktivisten des Antifaschismus trifft es gar nicht zu. Diese Gruppierungen stellen, nicht weniger als die Faschisten, ihre “außerinstitutionelle Mobilisierung in den Vordergrund” auch wenn sie sich, wie die Faschisten auch, an den Parlamentswahlen beteiligen. Es ist sogar allgemein bekannt, dass diese linken außerparlamentarischen Kräfte, welche der Berliner Diskussionsbeitrag völlig zu recht als staatstragend bezeichnet, ebenfalls ihr Hauptbetätigungsfeld “auf den Straßen” sehen, und zwar genau in solchem “Widerstand gegen die faschistischen Schläger”. Meistens ist von “Migranten, Obdachlosen und Homosexuellen” weit und breit nichts zu sehen, wenn Faschisten und Antifaschisten “organisiert” aufeinander losgehen.
Es liegt uns fern, dem Autor des von uns veröffentlichten Beitrags vorzuwerfen, antifaschistische Bündnisse vor Ort einzugehen, da wir ohnehin wenig über seine momentane politische Praxis wissen. Was wir aber wissen, ist, dass in den letzten Jahren verhältnismäßig viele politisch Nachdenkende, welche - nicht ohne Bauchschmerzen- sich theoretisch vom Antifaschismus verabschiedet haben, sich weiterhin an den üblichen antifaschistischen Aktionen beteiligen. Sie tun sozusagen weiterhin im kleinen, was sie im großen und ganzen, auf der Ebene der Geschichte ablehnen.
Jedenfalls scheint auch der Berliner Beitrag zur Kenntnis zu nehmen, dass bei  besagtem “Widerstand” die “staatstragenden” Linken kräftig mit von der Partie sind; denn, direkt nachdem die “Organisierung” des “Selbstschutzes” beschworen wird, heißt es: “Und dennoch nehmen wir Antifaschisten beim Wort. Dass sie (zumeist) einerseits mit dem Staatsantifaschismus nichts zu tun haben wollen, und andererseits ihre primäre politische Ausrichtung mit dem Kampf gegen die Nazis begründen, ist ein Widerspruch, der sich letztlich in Mobilisierungen zusammen mit der Herrschaft gegen den braunen Mob ausdrückt.” Wie ist das gemeint: Die Antifaschisten beim Wort nehmen? Wir wissen es nicht. Denn auch diese Aussage wird nicht konkretisiert. Wir wollen auch nicht darüber spekulieren, wie der Autor es gemeint hat. Statt dessen wollen wir darauf hinwiesen, dass in dem Milieu, welches sich theoretisch vom Antifaschismus gelöst hat, aber weiterhin an den antifaschistischen Aktionen beteiligt ist, die Redewendung “die Antifaschisten beim Wort nehmen” häufig gebraucht wird, und zumeist etwas ganz Bestimmtes meint. In der längst zum Ritual gewordenen Auseinandersetzung zwischen rechts und links gibt es nicht zwei Parteien sondern drei: Die Faschisten, die Antifaschisten und die Polizei. Innerhalb des antifaschistischen Blocks gibt es zumeist solche (oft bilden sie die Mehrheit), welche Pfui rufen, wenn die Polizei die Faschisten schützt, und zujubeln, wenn die Polizei die Faschisten verprügelt. Diese Leute wollen, dass sich die Polizei auf die Seite der Antifaschisten gegen die Nazis stellt. Mit “die Antifaschisten beim Wort nehmen” wird in diesem Kontext gemeint, dass man die Antifas dazu aufruft, konsequent nicht nur gegen die Nazis, sondern auch gegen die Polizei vorzugehen. Kann man den Antifaschismus bekämpfen, indem man die Antifaschisten dazu auffordert, ihr Handwerk konsequenter zu verrichten? Wird der Antifaschismus als Ideologie und als Bewegung weniger bürgerlich dadurch, dass man sich mit der Polizei anlegt? In Belfast haben sich zuletzt die Anhänger des Oranienordens Nächte lange Straßenschlachten mit der britischen Polizei geliefert. Dabei sind diese Oranier nicht nur stockreaktionär und staatstragend, sondern sogar unbedingte Verfechter der Zugehörigkeit Nordirlands zum britischen Staat.
Jemanden beim Wort nehmen heißt normalerweise, Konsequenz von ihm einzufordern. Sind die Antifaschisten inkonsequent, wenn sie sich mit dem Staat identifizieren? Der Berliner Genosse hat selbst in seinem Beitrag nachgewiesen, dass das Gegenteil der Fall ist!
Es liegt auf der Hand, dass gerade die Revolutionäre das Bedürfnis verspüren, den Opfern der kapitalistischen Repression beizustehen. Jedoch besteht die spezifische, von niemanden sonst zu erfüllende Rolle der Revolutionäre darin, die politischen Prinzipien des Proletariats hochzuhalten. Natürlich kann man jetzt einwenden, dass die Revolutionäre es sich durch die Anwesenheit der staatstreuen Linken auch nicht nehmen lassen, sich an  Arbeiterkämpfen zu beteiligen. Richtig. Jedoch handelt es sich bei den Arbeiterkämpfen um eine Auseinandersetzung zwischen Proletariat und Bourgeoisie, während es sich beim Zusammenstoß zwischen rechts und links um eine Auseinandersetzung innerhalb der Bourgeoisie handelt. Das ist der ganze Unterschied. 

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Antifaschismus/-rassismus [42]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [16]

Der Hurrikan Katrina: Eine dem Kapitalismus geschuldete Katastrophe

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Jeder hat die schrecklichen Bilder gesehen. Blutige Kadaver, die in den übelriechenden Wassern in New Orleans dahintrieben. Ein älterer Mann, in einem Gartenstuhl sitzend, gekrümmt, tot, gestorben an Hitze und Mangel an Essen und Trinken. Überlebende neben ihm, die nach Essen und Trinken schmachten. Mütter  mit ihren kleinen Kindern, in der Falle sitzend, seit drei Tagen nichts zu essen und zu trinken. Chaos in den Zufluchtszentren, zu denen die Opfer sich auf Empfehlung der Behörden begeben sollten, um sich in Sicherheit zu bringen. Diese beispiellose Tragödie ereignete sich nicht in irgendeinem notleidenden Winkel der Dritten Welt, sondern im Herzen der größten imperialistischen und kapitalistischen Macht der Erde.
Als im Dezember letzten Jahres der Tsunami Asien traf, beschuldigten die reichen Länder die armen Länder der Unfähigkeit, weil sie die Warnzeichen missachtet hatten. Diesmal gibt es keine solche Ausrede, weil es jetzt nicht der Gegensatz zwischen armen und reichen Ländern, sondern der zwischen reichen und armen Menschen ist. Als der Aufruf erlassen wurde, New Orleans und die ganze übrige Golfküste zu evakuieren, so war das in typisch kapitalistischer Manier die Angelegenheit des Einzelnen, der einzelnen Familie sich zu retten. Diejenigen, die ein Auto besaßen und sich das Benzin, dessen Preis in die Höhe schnellte (typisch für den Kapitalismus, Notsituationen Preis treibend auszunützen),  leisten konnten, machten sich auf in Richtung Norden und Westen, um in Sicherheit zu gelangen; suchten Zuflucht in Hotels, Motels, bei Freunden und Verwandten. Aber die Armen, die Älteren, die Kranken, die am meisten vom Orkan getroffen wurden, konnten nicht fliehen. In New Orleans hatten die örtlichen Behörden die Superdome Arena und das Kongresszentrum geöffnet als Zufluchtsstätten vor dem Unwetter, aber sie hatten nicht gesorgt für Hilfsdienste, für Nahrung und Wasser, für eine ordentliche Organisation, als Tausende Leute, in ihrer Mehrheit Schwarze, sich dort hineindrängten und sich selbst überlassen wurden. Für die Reichen, die in New Orleans blieben, war die Lage völlig anders. Festsitzende Touristen und VIP’s, die in ihren 5-Stern Hotels in der Nähe der Superdome Arena blieben, wohnten in Luxus und wurden von bewaffneten Polizisten beschützt, die den “Pöbel” der Superdome Arena in Schach hielten.
Anstatt die Verteilung von Nahrung und Wasservorräten, die sich in den Supermärkten und Warenhäusern der City stapelten, zu organisieren, stand die Polizei bereit, als die Armen begannen, die Lebensmittelvorräte zu “plündern” und zu verteilen. Sicherlich versuchte das Lumpenproletariat die Situation auszunützen und Elektronikartikel, Geld, Waffen zu stehlen, aber dieses Phänomen entwickelte sich anfänglich als ein Versuch, unter den unmenschlichsten Bedingungen zu überleben. Gleichzeitig begleitete bewaffnete Polizei Beschäftigte eines Luxushotels, die zu einer nahen Apotheke geschickt wurden, um Wasser, Lebensmittel, Medikamente zu plündern zum Wohlergehen der noblen Hotelgäste. Ein Polizeibeamter erklärte, dies sei kein Plündern, sondern eine Beschlagnahmung von Vorräten durch die Polizei, die dazu im Notfall autorisiert ist. Die Unterscheidung zwischen Plündern und Beschlagnahmen besteht im heutigen Amerika im Unterschied zwischen Arm- und Reichsein.

Das System trägt die Verantwortung

Die Unfähigkeit  des Kapitalismus, auf die Katastrophe mit auch nur einem Anschein von menschlicher Solidarität reagieren zu können, zeigt, dass die Kapitalistenklasse nicht mehr in der Lage ist, die Gesellschaft zu führen, dass ihre Produktionsweise in einen Prozess der sozialen Auflösung versinkt - buchstäblich an den Füßen verfault -, dass die Kapitalistenklasse der Menschheit nur noch eine Zukunft von Tod und Zerstörung  anzubieten hat. Das Chaos, das in den letzten Jahren ein Land nach dem anderen in Asien und Afrika ergriffen hat, ist nur ein Vorgeschmack davon, was der Kapitalismus auch für die industrialisierten Länder in der Zukunft auf Lager hat, und New Orleans gewährt uns einen Einblick in diese  trostlose Zukunft.
Wie immer war die Bourgeoisie schnell dabei, uns alle möglichen Alibis anzubieten, um ihre Schandtaten und Fehlschläge zu entschuldigen. Mit einem Schwall an Ausreden heule sie uns vor, sie hätten doch alles getan, was sie könnten; es sei eine natürliche Katastrophe gewesen und keine Menschen gemachte;  niemand hätte diese in der Geschichte der Nation schlimmste Katastrophe erwartet; niemand hätte vorhersehen können, die Dämme würden die Wassermassen nicht zurückhalten und brechen. Kritiker der Regierung sowohl in den USA als auch im Ausland beschuldigen die Bush-Regierung der Unfähigkeit, zugelassen zu haben, dass sich eine Naturkatastrophe zu einer sozial Katastrophe wird. Das ganze bürgerliche Geschwafel lenkt vom Kern des Problems ab. Es wird versucht die Aufmerksamkeit von der Wahrheit wegzulenken, nämlich dass das kapitalistische System selbst der Verantwortliche ist.

“Wir tun alles, was wir können”, ist schnell das meist gebrauchte Klischee im Vorratslager der bürgerlichen Propaganda geworden. Sie tun alles, was sie können, um den Irakkrieg zu beenden, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu kriegen, das Schul- und Erziehungswesen zu verbessern, die Kriminalität aufzuheben, Raumfähren sicher zu machen, den Drogenhandel und -konsum zu stoppen, etc., etc. Es gibt sonst nichts oder nichts mehr, was sie tun könnten. Man könnte denken, die Regierung hätte nicht zwischen verschiedenen Möglichkeiten gewählt, nie die Möglichkeit gehabt, eine alternative Politik zu versuchen. Welch ein Unsinn. Die Regierung verfolgt eine Politik, zu der sie sich bewusst entschieden hat - mit katastrophalen Folgen für die Gesellschaft.
Was das Argument ‚Naturphänomen‘ versus ‚künstlich von Menschen gemacht‘ angeht, sicher, der Hurrikan Katrina war eine Naturkraft, aber das Ausmaß der natürlichen und sozialen Katastrophe war nicht unvermeidlich. Sie war in jeder Hinsicht gemacht und ermöglicht vom Kapitalismus und seinem Staat. Die wachsende Zerstörungskraft der Naturkatastrophen in der ganzen Welt heute resultiert eindeutig aus der vom Kapitalismus in seiner frenetischen Jagd nach Profit betriebenen rücksichtslosen Wirtschafts- und Umweltpolitik, ob die vorhandene Technologie von Frühwarnsystemen für Tsunamis nicht angewandt wird, womit die bedrohte Bevölkerung rechtzeitig gewarnt werden könnte, ob die Wälder an den Berghängen in der Dritten Welt abgeholzt werden, was die zerstörerische Wirkung des Monsunregens vergrößert, ob es die verantwortungslose Luftverschmutzung durch Treibhausgase ist, die die globale Erwärmung noch verschlimmern und so wahrscheinlich dazu beitragen, dass das Wetter verrückt spielt. Es ist ziemlich offensichtlich, dass die globale Erwärmung zur Erhöhung der Wassertemperatur und damit zur Entstehung einer größeren Anzahl tropischer Sturmtiefs, von Stürmen und Hurrikans in den letzten Jahren geführt hat. Als Katrina auf Florida im Osten traf, war es erst ein Hurrikan der Stärke eins, aber als er dann eine Woche lang über das 32° C warme Wasser des Golfs von Mexiko kreiste, baute er sich zu einem Sturm der Stärke fünf auf mit Windgeschwindigkeiten von 280 km/h, bevor er auf die Küste traf.
Die Linken haben begonnen auf Bush’ Verbindungen zu den Energiekonzernen und auf seine Ablehnung der Kyoto Protokolle hinzuweisen als verantwortlich für die Katrinakatastrophe, aber diese Kritik akzeptiert den Rahmen, der eine Debatte innerhalb des Weltbourgeoisie ist, - als ob die Ausführung des Kyoto Abkommens wirklich die Wirkungen der globalen Erwärmung umstoßen könnte und die Länder, die den Kyoto Protokollen zustimmten, tatsächlich daran interessiert wären, die kapitalistischen Produktionsmethoden umzumodeln. Noch schlimmer, die Linke will vergessen machen, dass die Clinton Regierung, die, auch wenn sie sich als umweltfreundlich darstellte, die erste war, die das Kyoto Abkommen ablehnte. Die Weigerung, sich mit der globalen Erwärmung zu befassen, ist die Position der US-amerikanischen Bourgeoisie und nicht nur der Bush Regierung.
Zusätzlich, New Orleans mit seiner Bevölkerung von 600.000 und noch mehr Menschen in den Vorstädten ist eine Stadt, die zum größten Teil unterhalb des Meeresspiegels liegt und deshalb ziemlich gefährdet durch die Wassermassen des Mississippi, des Pontchartrain-Sees und des Golf von Mexiko ist. Seit 1927 bauten Pionierverbände der US-Armee ein Deichsystem auf und hielten  es instand, um  die jährliche Überflutung des Mississippi zu verhindern, was somit ermöglichte, dass sich Industrie und Landwirtschaft bis zu den Ufern des Mississippi ansiedeln und ausbreiten konnten, und es der Stadt New Orleans erlaubte zu wachsen; aber dadurch unterband man auch die jährlichen Sedimentablagerungen, die auf natürliche Weise die Feuchtgebiete und Marschen des Mississippi-Deltas unterhalb der Stadt hin zum Golf von Mexiko immer wieder mit Erdreich auffüllten. Das lief darauf hinaus, dass die Feuchtgebiete und das Watt, die als Puffer zu den Meereswogen einen natürlichen Schutz für New Orleans bildeten, gefährlich ausgewaschen wurden und die Stadt ungeschützter gegenüber den Meeresfluten machte. Dies war nicht auf die Natur zurückzuführen, sondern von Menschen gemacht.
Es war auch keine Naturgewalt, die die Nationalgarde von Louisiana zu einem großen Teil abzog, um im Irakkrieg eingesetzt zu werden, so dass nur 250 Nationalgardisten übrig blieben, um in den ersten drei Tagen nach den Deichbrüchen die örtliche Polizei und die Feuerwehr in ihren Hilfsaktionen zu unterstützen. Ein noch größerer Prozentsatz des Mississippi Garderegiments war ebenfalls in den Irak abkommandiert worden.
Das Argument, dass die Katastrophe nicht vorhersehbar ist, ist genauso dummes Gerede. Seit beinahe 100 Jahren debattieren Wissenschaftler, Ingenieure und Politiker darüber, wie man mit der Verwundbarkeit New Orleans’ gegenüber Hurrikans und Überschwemmungen fertig werden könnte. In der Mitte der 1990er Jahre wurden von verschiedenen Wissenschaftler- und Ingenieursgruppen mehrere miteinander konkurrierende Pläne entwickelt, die schließlich 1998 (also während der Clinton Regierung) zu dem Vorhaben “Coast 2050” führten. Dieser Plan forderte eine Verstärkung und einen Neuaufbau der vorhandenen Deiche, den Bau eines Systems von Fluttoren und das Ausheben von neuen Kanälen, die Sediment mit sich führendes Wasser heranbringen sollten, um die geschrumpften Feuchtgebiet-Pufferzonen im Mississippi-Delta wieder herzustellen. Die Kosten des Plans waren mit 14 Mrd. Dollar veranschlagt für einen Zeitraum von 10 Jahren. Der Plan scheiterte, weil er nicht die Zustimmung Washingtons, das damals unter Clinton’s und nicht Bush’ Aufsicht stand, gewinnen konnte. Letzten Jahr forderten die für die Deicherhaltung zuständigen Armeestellen 105 Millionen Dollar für Hurrikan- und Überschwemmungsprogramme in New Orleans, aber die Regierung bewilligte nur 42 Mio. Dollar. Doch gleichzeitig bewilligte der Kongress 231 Mio. Dollar für den Bau einer Brücke zu einer kleinen unbewohnten Insel in Alaska.  
Noch eine Widerlegung des “Man konnte es nicht vorhersehen-Alibis” ist, dass der Direktor der Federal Emergency Management Administration (FEMA, die US-Katastrophenbehörde) am Vorabend, bevor der Hurrikan auf die Küste traf, in einem Ferninterview prahlte, er habe einen Notstandsplan ausarbeiten lassen für ein Szenario, dass es in New Orleans so schlimm werden würde wie beim Tsunami in Südasien, und die FEMA überzeugt sei, mit allen Eventualitäten fertig zu werden. Berichte aus New Orleans deuten an, dass dieser FEMA-Plan eine Entscheidung beinhaltete, LKWs, die gespendetes, in Flaschen abgefülltes Wasser hätten transportieren können, weggeschickt wurden, dass die Lieferung von 1000-Gallonen  Dieseltreibstoff, welches von der Küstenwache befördert werden sollte, verweigert wurde und das Notkommunikationsnetz der örtlichen Polizeibehörden der Vorstädte New Orleans’ eingeschränkt werden sollte. Der Direktor der FEMA hatte sogar die Frechheit, es zu entschuldigen, dass man die 25.000 Leute im Kongresszentrum nicht befreite, weil die Behörden erst Ende der Woche davon erfahren hätten, dass sich die Leute dort aufhielten, und das, obwohl die Medien schon drei oder vier Tage lang darüber berichteten.
Und während der Bürgermeister Ray Nagin von der Demokratischen Partei die Tatenlosigkeit der Provinzbehörden verurteilt und dagegen gewettert hatte, machte seine lokale Verwaltung absolut keine Anstalten, für eine sichere Evakuierung der Armen und Kranken zu sorgen, nahm die Verteilung von Nahrung und Getränken nicht in die Hand, stellte keine Mittel für die Evakuierungszentren bereit, sorgte nicht für die Sicherheit in ihnen, und überließ die Staat dem Chaos und der Gewalt.

Nur die Arbeiterklasse kann eine Alternative bieten

Millionen Arbeiter waren erschüttert vom beklagenswerten Leid an der Golfküste und empört über die Herzlosigkeit der Verantwortlichen. Besonders in Arbeiterklasse gab es ein sehr starkes echt menschliches Solidaritätsgefühl für die Opfer des Unglücks. Während die Bourgeoisie ihr Mitgefühl austeilte je nach Rasse und Besitzstand der Opfer, existierte für die meisten amerikanischen Arbeiter solch eine Unterscheidung nicht. Auch wenn der Rassismus oft eine Trumpfkarte ist, die die Herrschenden gebrauchen, um schwarze und weiße Arbeiter zu spalten, und verschiedene schwarze nationalistische Führer dem Kapitalismus dienen, indem sie darauf bestehen, die Krise in New Orleans sei auf ein Rassenproblem zurückzuführen, sind das gegenwärtige Leid und das Elend der armen Arbeiter und der unteren Klassen in New Orleans abscheulich für die Arbeiterklasse. Die Bush Regierung ist zweifellos eine armselige Herrschermannschaft für die Kapitalistenklasse; sie ist ungeschickt, neigt zu leeren Gesten, reagiert schwerfällig auf die gegenwärtige Katastrophe, und das wird zu ihrer wachsende Unpopularität beitragen. Aber die Bush Regierung ist keine Anomalie, sondern eher ein Ausdruck der Tatsache, dass die USA die verblassende Supermacht ist, einer Welt vorstehend, die ins Chaos versinkt. Kriege, Hunger, ökologische Katastrophen - das ist die Zukunft, in die der Weltkapitalismus uns führt. Wenn es eine Hoffnung für die Zukunft der Menschheit gibt, dann liegt sie darin, dass das Weltproletariat sein Bewusstsein entwickelt und das wirkliche Wesen der Klassengesellschaft verstehen lernt und seine historische Verantwortung übernimmt, das anachronistische, zerstörerische kapitalistische System beiseite zu schieben und es zu ersetzen durch eine revolutionäre Gesellschaft geführt von der Arbeiterklasse, in welcher echt menschliche Solidarität und die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse das leitende Prinzip ist.  
Internationalism, Sektion der IKS in den USA, 4. Sept. 05 

Geographisch: 

  • Vereinigte Staaten [43]

Theoretische Fragen: 

  • Umwelt [10]

Die Herrschenden wollen den Bankrott des Kapitalismus vertuschen

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Von den Bundestagswahlen vom 18. September in Deutschland wird behauptet, dass niemand als klarer Sieger daraus hervorgegangen sei. CDU/CSU ziehen zwar als stärkste Fraktion in den neuen Bundestag ein, haben dennoch eine empfindliche Wahlschlappe erlitten. Die SPD hat zwar im Verlauf des Wahlkampfes stark aufgeholt und dennoch ihr drittschlechtestes Ergebnis der Nachkriegszeit erzielt. Die FDP hat zwar zugelegt, so dass sie nunmehr wieder die drittstärkste Parlamentsfraktion geworden ist, und dennoch hat sie ihr Ziel der Ablösung von Rot-Grün durch eine Schwarz-Gelbe Koalition verfehlt. Zwar haben die Grünen ihre Stellung ungefähr halten können, erklärten sich aber am Wahlabend zunächst für abgewählt. Nur der Linkspartei-PDS, die auf Anhieb mehr Sitze als die Grünen errungen hat, wird so etwas wie ein Wahlsieg zugestanden. Dagegen gilt ausgerechnet der Standort Deutschland als der größte Verlierer dieser Wahlen. Dies nicht nur weil die Wirtschaft im In- und Ausland im Vorfeld auf eine Regierung aus CDU/CSU/FDP gesetzt habe, sondern v.a. weil der Einzug von politischer Instabilität in der zumindest in dieser Hinsicht bislang als äußerst stabil geltenden Bundesrepublik befürchtet wird. Zu diesem Szenario werden gezählt: Die Möglichkeit  unklarer Mehrheitsverhältnisse, eine schwierige Regierungsbildung, das Fortdauern der gegenseitigen Blockade bestimmter Gesetze zwischen Bundestag und Bundesrat, sowie von erneuten vorgezogenen Wahlen. All dies könne dazu führen, das Tempo der Verwirklichung der von der herrschenden Klasse frenetisch eingeforderten "Reformen" zu drosseln.
Demgegenüber bleibt festzustellen, dass auf jeden Fall ein ganz eindeutiger Sieger aus den Wahlen hervorgeht: die bürgerliche Klasse insgesamt gegen ihren Hauptfeind, die Arbeiterklasse.

Die Wahlen gegen die Arbeiterklasse

Als Bundeskanzler Schröder nach der bitteren Niederlage der SPD bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen vom 21. Mai vorgezogene Bundestagswahlen für diesen Herbst ansetzte, wurde diese Entscheidung einhellig von der herrschenden Klasse als notwendige Antwort auf die wachsende "Reformmüdigkeit" und "Politikverdrossenheit" der Bevölkerung begrüßt. Nun, der "kurze aber intensive" Wahlkampf hat ebenso wenig wie der allgemein als "Sensation" und als "politisches Erdbeben" bezeichnete Wahlausgang die in den Medien beklagte Entfremdung der Bevölkerung gegenüber der herrschenden "Elite" und ihrem politischen System aus der Welt schaffen können. Aber der Bourgeoisie ist eindeutig das Kunststück gelungen,  dieser Entfremdung und Verdrossenheit zum Trotz die lohnabhängige Bevölkerung an die Wahlurne zu locken. Die Wahlbeteiligung lag immerhin mit fast 78% nur um einen Prozentpunkt niedriger als vor drei Jahren. Außerdem haben die verschiedenen Rededuelle der Politiker im Fernsehen relativ hohe Einschaltquoten erzielt. Darüber hinaus ist es nicht zu übersehen, dass der Wahlzirkus in den letzten Wochen zum Hauptgesprächsthema geworden ist in den Cafés und auf öffentlichen Plätzen. Themen wie die Art und Weise, wie die Regierenden die Ärmsten der arbeitenden Bevölkerung in den Südstaaten der USA tagelang ihrem oft todbringenden Schicksal überlassen haben, wurden nach wenigen Tagen wieder von den Medien verdrängt. Andere Meldungen, wie über den Solidaritätsstreik bei British Airways in London Heathrow, über gigantische Angriffspläne bei Volkswagen im Stammwerk Wolfsburg, oder über Massenentlassungen und mögliche Werksschließungen bei Henschel im Ruhrgebiet, oder bei Siemens und Infineon, gingen ziemlich unter. Wie ist es der Bourgeoisie gelungen, aller Politikverdrossenheit zum Trotz so viele Menschen an die Wahlurne zu bewegen, damit sie um so nachdrücklicher die politische Legitimität beanspruchen kann, die sie braucht, um möglichst ohne Widerstand noch brutalere Angriffe gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen? Wie ist es gelungen, eine lohnarbeitende Bevölkerung, welche allein durch die Wucht der Wirtschaftskrise und der Angriffe täglich durch die Realität darauf gestoßen wird, dass es im Kapitalismus sehr wohl eine ausbeutende und eine ausgebeutete Klasse gibt, über Monate so sehr das Gefühl zu vermitteln, dass die Gesellschaft doch nicht aus Klassen, sondern aus "mündigen Bürgern" besteht, von denen jeder durch seine Wahlzettel einen gewissen Einfluss auf das Geschick der Gesamtheit nehmen kann?

Wie die Bourgeoisie die Bevölkerung doch noch an die Wahlurne locken konnte

Um diese Fragen zu beantworten, ist es zunächst von Nutzen, auf zwei bemerkenswerte Ergebnisse dieser Bundestagswahl 2005 aufmerksam zu machen. Erstens auf das starke Abschneiden der Linkspartei-PDS. Seit der "Wiedervereinigung" Deutschlands ist die PDS, als Nachfolger der einstigen Regierungspartei der DDR, immer mehr zu einer regionalen Protestpartei des Ostens verkümmert. Bei den letzten Bundestagswahlen vor drei Jahren verfehlte sie sogar erstmals ihr Minimalziel, in Fraktionsstärke ins Parlament einzuziehen. Jetzt ist sie als gesamtdeutsche Partei mit verdoppeltem Stimmenanteil aus den Wahlen hervorgegangen. Und obwohl sie im Westen die 5% Marke knapp verfehlt hat - und somit eine Partei hauptsächlich des Ostens bleibt - hat sie dank ihrem Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine in dessen Wahlkreis im Saarland einen  Stimmenanteil von über 18% errungen. Der Stimmenanteil der Linkspartei-PDS von bundesweit 8,7% verkörpert zum großen Teil Wähler, welche ohne das Auftreten einer "linken Alternative" (welche angeblich Hartz 4 und die Agenda 2010 der scheidenden Bundesregierung ablehnt) vermutlich überhaupt nicht zur Wahl gegangen wären. Vor allem Erwerbslose sollen für die Linken gestimmt haben. Lafontaine und Gysi haben somit wesentlich zum Mobilisierungserfolg der Bourgeoisie beigetragen.

Zweitens ist das Aufholen der SPD im Verlauf des Wahlkampfes nicht weniger bemerkenswert. Das katastrophale Abschneiden der Sozialdemokratie bei der NRW-Wahl war, wie gesagt, der unmittelbare Auslöser der jetzigen vorgezogenen Bundestagswahl. Und siehe da, die SPD ist nicht nur fast gleichauf mit der Union ins Parlament gezogen - sie ist ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen als stärkste Partei hervorgegangen. Man darf dabei nicht vergessen, dass NRW immer noch eine der bedeutendsten Konzentrationen der Arbeiterklasse in Deutschland aufweist. Tatsächlich ist es der Sozialdemokratie gelungen, unerwartet viele ihrer sogenannten Stammwähler zu mobilisieren und damit alle demoskopischen Vorhersagen Lügen zu strafen. Dieses unerwartet gute Abschneiden der SPD war für die gesamte Bourgeoisie nicht nur in Hinblick auf die Mobilisierung des Wahlvolkes erfreulich. Die Sozialdemokratie ist das wertvollste Juwel in der Krone des politischen Systems der Bourgeoisie in Deutschland, vielleicht sogar in Europa. Insbesondere war diese Partei maßgeblich beteiligt an der Niederschlagung der proletarischen Revolution in Deutschland - und damit weltweit - am Ende des Ersten Weltkrieges. Eine zu schwere Niederlage der Sozialdemokratie bei dieser Wahl hätte zu aufreibenden internen Machtkämpfen und damit möglicherweise zu einer länger anhaltenden Schwächung dieser Partei führen können.
Lange Zeit haben die Umfragen eine absolute Mehrheit für eine konservative, aus Union und FDP bestehende Regierung vorausgesagt, sowie ein Abschneiden der SPD z.T. unter der 30% Marke. Unmittelbar nach der NRW Wahl wurde sogar eine absolute Mehrheit für CDU/CSU für möglich gehalten. Im Vergleich dazu ist das Ergebnis der Union von knapp 35% geradezu verheerend.

Das Phänomen der Protestwähler

Wie ist es dazu gekommen? Nachdem die Regierung Schröder-Fischer sieben Jahre lang zunehmend brutale Angriffe gegen die Arbeiterklasse durchgesetzt hatte, welche alles in den Schatten stellten, was unter der rechten Regierung von Helmut Kohl beschlossen wurde, machte sich in der Bevölkerung eine Stimmung breit, v.a. die SPD dafür durch eine Art Protestwahl abzustrafen. Dieses Wahlverhalten, weit davon entfernt, die Herrschenden zu beunruhigen, wurde von der Bourgeoisie begünstigt und instrumentalisiert. Denn gerade dieses Protestwahlverhalten bindet einen (wohlgemerkt) wachsenden Teil der Bevölkerung - aller Wut gegen die Angriffe und gegen die Regierenden zum Trotz - an die demokratische Staatsräson. Darüber hinaus wollte man durchaus von dieser Stimmung profitieren, um einen Regierungswechsel herbeizuführen. Dies, nicht so sehr aus Unzufriedenheit gegen-über der bestehenden Regierung, sondern weil es wichtig war angesichts der immer deutlicher werdenden Unmöglichkeit innerhalb des Kapitalismus der Massenarbeitslosigkeit Herr zu werden, so zu tun, als ob dies an der Regierung und nicht am kapitalistischen System läge. Angesichts der für sie seinerzeit äußerst günstig erscheinenden Umfragewerte hat sich die Kanzlerkandidatin der Union Angela Merkel auf ein riskantes Spiel eingelassen. Sie wollte dem wachsenden Misstrauen gegenüber der bürgerlichen Politik dadurch entgegentreten, indem sie einen auf Ehrlich macht und zumindest einen Teil der geplanten Angriffe bereits vorab bekannt gibt. So kündigte sie beispielsweise eine Erhöhung der Mehrwertsteuer an. Das Ergebnis: Die bestehende Proteststimmung, den Politikern einen Denkzettel zu verpassen, welche sich bis dahin gegen Schröder richtete, wandte sich nun gegen die Union. Da die Union begonnen hatte, sich bereits vor der Wahl wie eine Regierungspartei aufzuführen, begann sie, die Wut der Bevölkerung auf sich zu ziehen, welche sich normalerweise gegen die Regierung richtet. Als sie dann, wenige Wochen vor den Wahlen, Paul Kirchhoff als Finanzminister in spe und als "neuen Ludwig Erhard" dem staunenden Publikum präsentierte, der sofort seine Vorliebe für ein Steuersystem zum besten gab, indem Millionäre und Putzfrauen denselben Steuersatz bezahlen, brachte die Kanzlerkandidatin beinahe das Kunststück fertig, eine satte Mehrheit fast vollständig zu verspielen. Offensichtlich glaubte die überzeugte Christin und ehemalige Aktivistin der stalinistischen Jugendorganisation der DDR, die "Menschen draußen im Lande" würden ihre Ehrfurcht vor Professoren und anderen Experten mit Doktortiteln teilen.
Auch wenn dieses Protestwahlverhalten dem parteipolitischen Spiel ein für bundesdeutsche Verhältnisse ungewohntes Maß an Unberechenbarkeit beschert, ist es vor allem der Beweis dafür, wie mächtig und geschmeidig sich die Demokratie als wichtigste Waffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse erweist. Selbst dann, wenn Arbeiter mit der Politik der Bourgeoisie nichts mehr am Hut haben, können sie oft noch dazu gebracht werden, sich an den Spielregeln der Demokratie zu beteiligen.

Eine von der Bourgeoisie nicht gewollte Pattsituation

Bei der sog. Elefantenrunde (d.h. dem üblichen gemeinsamen Fernsehauftritt der Spitzenpolitiker am Wahlabend) gab es einen Auftritt des Bundeskanzlers, welcher weithin als erstaunlich, arrogant und peinlich bezeichnet wurde. Von seinem unerwartet guten Abschneiden an den Wahlurnen sichtlich berauscht, gab Schröder zum besten, dass nur er - keineswegs aber Angela Merkel - berechtigt und auch befähigt sei, eine Regierung zu bilden und die Geschicke des Staates zu lenken. Zudem brachte er unverhüllt seine Schadenfreude darüber zum Ausdruck, dass die Medien, einschließlich der staatlichen Rundfunkstationen, sich vergeblich bemüht hatten, seinen Verbleib im Amt mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu verhindern. Dass Schröder arrogant auftreten kann und mitunter erstaunliches von sich gibt, ist nicht neu. Recht haben aber diejenigen, die meinen, das Auftreten des Kanzlers sei unbeherrscht gewesen. Gerade diese - für Schröder ungewöhnliche - Unbeherrschtheit ließ tief blicken. Tatsächlich warf sein Auftritt ein grelles Licht auf die politischen Probleme, welche zu einem von der deutschen Bourgeoisie nicht gewollten Wahlergebnis - zu einer Pattsituation - geführt haben.
Schröder hat recht mit seiner Behauptung, dass die Medien versucht haben, die Wiederwahl seiner rot-grünen Koalition zu verhindern. Dabei ist es aber in den Augen der Bourgeoisie eine ziemliche Entgleisung, wenn der Staatschef so etwas vor der ganzen Welt ausposaunt und damit ein schlechtes Licht auf das geheiligte Märchen von der Unabhängigkeit der demokratischen Medien fallen lässt! Wenn damals - nach der NRW Wahl - die gesamte Bourgeoisie Schröders Entscheidung begrüßte, die Bundestagswahlen um ein Jahr vorzuziehen, so nicht nur, um eine neue politische Legitimierung für die Angriffe einzuholen und um die Arbeiterklasse mittels des Wahlzirkus zu benebeln. Es herrschte innerhalb der herrschenden Klasse "Wechselstimmung". Nicht zuletzt deshalb, weil man der Meinung war, dass der Sozialdemokratie nach sieben Jahren an der Regierung eine Erholung in der Opposition gut tun würde.
Als sich jedoch Schröder für Neuwahlen entschied, verfolgte er dabei seine eigene Strategie mit dem Ziel, an der Macht zu bleiben. Wir haben bereits damals (in Weltrevolution 130) darauf aufmerksam gemacht. Wir zeigten damals auch auf, worin diese Strategie bestand. Es ging zum einen darum, durch vorzeitige Wahlen Richtungskämpfen innerhalb der SPD vorzubeugen. Denn angesichts  wachsender Unpopularität und des Verlusts von Machtpositionen in den Ländern und Kommunen begann sich eine gewisse Sehnsucht auch innerhalb der Partei bemerkbar zu machen, die Regierungsverantwortung im Bunde eine Zeit lang los zu werden. Schröder wusste, dass bei deutschen Sozialdemokraten das Prinzip immer noch gilt: kein Zwist während eines Wahlkampfes.
Zum anderen ging es darum, die Union zu zwingen, sich auf Schröders Wunschgegner Merkel als Kanzlerkandidatin festzulegen. Der einstige Protegé Helmut Kohls aus dem Osten, die über keine ausreichende Machtbasis in der eigenen Partei verfügt, war zunächst mehr oder weniger provisorisch Vorsitzende geworden, weil sich keiner der mächtigen Landesfürsten der CDU im Machtkampf gegeneinander durchsetzen konnte. Zudem rechnete Schröder damit, dass seine unerfahrene Herausforderin unter Druck die Nerven verlieren und Fehler machen würde, wie bereits unmittelbar vor der amerikanischen Invasion des Iraks geschehen, als Merkel - mehr als jeder andere deutsche Politiker - öffentlich Verständnis für die Haltung der Bush-Administration an den Tag legte. Schröder behielt damit Recht. Um die Wahlen zu gewinnen, brauchte die Union sich eigentlich nur darauf zu beschränken, auf das Versagen der Amtsinhaber gegenüber der Arbeitslosigkeit hinzuweisen und selber ein paar vage Versprechungen abzugeben. Aber eben weil sie über keine eigene Hausmacht in der Union verfügte, wollte Merkel unbedingt dem Wahlkampf ihren eigenen Stempel aufdrücken. Die Parteigranden der Union bemühten sich mehr oder weniger erfolglos um Contenance und um Schadensbegrenzung, während die Kanzlerkandidatin mit ihren Versuchen, eigene "Zukunftsvisionen" zu entwerfen, den Vorsprung der eigenen Partei verspielte. Das ganze reichte für Schröder nicht mehr aus, um seine eigene Mehrheit zu verteidigen. Aber es reichte vollkommen aus, um die deutsche Bourgeoisie in einen Schlamassel zu bringen. Jedenfalls waren in der deutschen Nachkriegsgeschichte die Voraussetzungen für die Bildung einer stabilen Regierung nach einer Wahl noch nie so ungünstig wie jetzt.
Es ist schon ein ungewohnter Anblick zu sehen, wie mit Schröder, ein bundesdeutscher (und auch noch ein sozialdemokratischer) Politiker auch dann wie besessen um seinen Machterhalt kämpft, wenn sein Verbleib im Amt nicht unbedingt der vorherrschenden Interpretation der Staatsräson entspricht. Dabei erklärt er aller Welt, dass nur er in der Lage sei, das zu bewahren, was er als die strategischen Errungenschaften seiner Regierungszeit betrachtet. Beispielsweise wurde mitten im Wahlkampf eine Entscheidung bekannt gegeben, welche ganz Osteuropa, v.a. aber Polen und die baltischen Staaten (und im Hintergrund vermutlich Washington) in helle Aufregung versetzte. Es handelt sich um den Beschluss, eine Erdöl- und Erdgaspipeline von Russland nach Deutschland zu bauen. Diese Pipeline wird am Grund der Ostsee entlang geführt werden, obwohl diese Lösung um mehrere Milliarden Euro teuerer sein wird als eine landgestützte Ölleitung. Solche Projekte sollen den deutsch-russischen Beziehungen einen langfristigen und strategischen Charakter verleihen. Die Vertragsunterschreibung wurde extra vorverlegt, damit der russische Präsident Putin kurz vor dem deutschen Wahlgang dafür zu Schröder nach Berlin anreisen konnte.
Ausschlaggebend bei dieser Wahl war aber nicht die Außen-, sondern die Innenpolitik. Von Anfang bis Ende blieben die Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit die vorherrschenden Themen. Auch das ganze Geschick Schröders als Wahlkämpfer hätte nicht gereicht, um einen deutlichen Sieg der Konservativen zu verhindern, wenn die Merkel-Leute die Stimmung im Lande nicht falsch eingeschätzt hätten. Die Wirtschaftskrise im führenden Industriestaat Europas ist heute so weit fortgeschritten, dass die Angst vor Verelendung große Teile der Bevölkerung erfasst hat, einschließlich der bis jetzt weniger betroffenen Mittelschichten. Davon ist auch ein Teil der bisherigen Stammwählerschaft der CDU selbst betroffen. Wir leben nicht mehr im Zeitalter von Maggie Thatcher. Durch die Radikalisierung ihrer neoliberalen Parolen in den Wochen vor der Wahl hat Merkel einen Teil der eigenen Wählerschaft verprellt.

Die Bourgeoisie beginnt auf eine historisch sich wandelnde Lage zu reagieren

Die deutsche Bourgeoisie hat allerdings bereits damit begonnen, ihren parteipolitischen Apparat umzubauen, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Angesichts einer insgesamt unberechenbarer werdenden politischen Situation, angesichts  gewisser Zersplitterungstendenzen innerhalb der eigenen Reihen (beispielsweise des andauernden Zwists zwischen Bund und Länder) v.a. aber angesichts  erster Zeichen einer unterirdischen Bewusstseinsentwicklung innerhalb der Arbeiterklasse, muss auch die politische Struktur den neuen Anforderungen genügen, welche auch sonst angesichts der Weltwirtschaftskrise und der Zuspitzung des Militarismus an Wirtschaft und Armee verlangt werden: Die politische Struktur muss flexibler, effizienter, vielseitiger und "intelligenter" werden.
Die wichtigste Säule dieses Umbaus ist momentan der versuchte Ausbau zu einem Fünfparteiensystem durch die Etablierung der Linkspartei als gesamtdeutsche Kraft. Auch die mächtigste Bourgeoisie kann nicht auf Anhieb eine solche neue Kraft hervorzaubern. Die meisten neuen politischen Parteien Westeuropas der letzten Jahrzehnte gingen entweder aus irgendwelchen "sozialen Bewegungen" hervor (wie die Grünen aus der Studentenbewegung, den "Antikriegskampagnen und der Anti-AKW Bewegung), oder verdanken ihren Aufstieg einer charismatischen Führungspersönlichkeit wie Le Pen in Frankreich, Bossi in Italien oder Fortyn in den Niederlanden. In Österreich hatte eine ähnliche Persönlichkeit, Jörg Haider, eine bereits bestehende Partei zu ihren Zwecken umfunktioniert. Die neue Linkspartei in Deutschland setzt sich aus allen dreien dieser Bestandteile zusammen. Die ehemalige SED der DDR liefert den bestehenden Kern. Die Proteste der Arbeitslosen im vergangenen Jahr wurden ausgenutzt, um eine gewisse Parteistruktur auch im Westen unter tatkräftiger Mitarbeit diverser Trotzkisten aufzubauen. Schließlich ist der charismatische, demagogische ehemalige Parteichef der SPD Lafontaine dazu gestoßen, um die neue Partei anzuführen.
Ein erster Erfolg der Linkspartei bei den Wahlen bestand darin, ein gewisses Protestpotenzial abzuschöpfen, welches sonst möglicherweise zum Teil rechtsradikal gewählt hätte. Einen Einzug der NPD in den Bundestag, wie es sich nach dem Wahlerfolg dieser Partei in Sachsen abgezeichnet hat, wäre v.a. außenpolitisch eine Belastung für den heute sich gerne antifaschistisch gebenden deutschen Imperialismus gewesen. Aber es geht bei diesem Projekt auch um längerfristige Zielsetzungen. Die Flexibilität und Stabilität des politischen Systems der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit beruhte auf einem Dreiparteiensystem mit zwei Hauptparteien und der kleinen FDP als Zünglein an der Waage. Dieses Arrangement erlaubte jederzeit einen Regierungswechsel, indem die FDP die Seite wechselte, während  andererseits, verkörpert durch die Liberalen, eine Kontinuität der Regierungsarbeit, insbesondere in der Außenpolitik, mit eingebaut war. Dieses Gleichgewicht musste geopfert werden, als es notwendig wurde, durch die Etablierung der Grünen als vierte Kraft das Potenzial der 68er Generation für die Führung der Staatsgeschäfte abzuschöpfen. Sollte es gelingen, die Linkspartei langfristig als fünfte Kraft zu etablieren, so wäre das Gleichgewicht der parteipolitischen Landschaft Deutschlands - wenngleich in einer anderen, komplizierteren Konstellation - wiederhergestellt. Dabei könnten dann sowohl die Liberalen als Mitterechtspartei und die Grünen als Mittelinkspartei die Rolle des Königsmachers bzw. des Garanten der Kontinuität - gegebenenfalls abwechselnd - übernehmen. Allerdings: Diese anvisierte neue Parteienlandschaft ist immer noch eine Baustelle. Ob die Bourgeoisie sich schon jetzt dieses erst entstehenden System  bedienen kann, um einen Ausweg aus der etwas verzwickten Lage zu finden, welche das Wahlresultat gebracht hat, wird sich erst im Verlauf der bevorstehenden Verhandlungen zur Regierungsbildung zeigen.

Die Herrschenden sind gezwungen, auf eine keimende unterirdische Bewusstseinsentwicklung zu antworten

Das historisch bedeutsamste aber an dieser Entwicklung ist, dass zum ersten Mal seit 1945 die Kernbereiche der herrschenden Klasse (sprich der "westdeutschen" Bourgeoisie bis 1989) es ernsthaft in Erwägung ziehen, gesamtdeutsch eine politische Kraft links von der SPD zu etablieren. Das ist in der Tat ein erstrangiges Anzeichen einer grundlegenden Änderung der gesamtgesellschaftlichen Lage, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Nach 1989 hieß es: es gibt zum Kapitalismus definitiv keine Alternative. In der ganzen Zeit danach war die Tatsache, dass alle etablierten Parteien dasselbe verlangten und auch durchsetzen, höchstens im Tempo und in der Begründung sich unterscheidend, weniger eine politische Schwäche der Bourgeoisie als vielmehr die lebendige Bestätigung der These, dass außer Kapitalismus und Demokratie nichts mehr geht. Jetzt aber hat die Bourgeoisie erkannt, dass es zu einer politischen Gefahr geworden ist, wenn alle im Bundestag vertretenen Parteien unerbittlich dasselbe betreiben, während niemand Kritik äußert und mit Scheinalternativen aufwartet. Was die herrschende Klasse befürchtet, ist, dass die Arbeiterklasse dazu übergehen könnte, die Ausweglosigkeit der Krise im Kapitalismus zu erkennen, und sich auf der Suche nach Alternativen zum Kapitalismus, zur Ausbeutung und Klassengesellschaft begeben könnte.                            19.09.2005 

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in Deutschland [1]

Geographisch: 

  • Deutschland [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [17]

Hinrichtung in Stockwell, London

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Die demokratische „Todesschuss“-Praxis von heute
bereitet den Weg für die Todesschwadronen von morgen

 Am Freitag, den 22. Juli, um zehn Uhr morgens erschoss die Polizei mit vier Schüssen kaltblütig und aus kürzester Entfernung Jean-Charles de Menezes, einen 27jährigen brasilianischen Elektriker. Das Verbrechen dieses jungen Arbeiters, für das er kurzerhand hingerichtet wurde, bestand darin, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein und möglicherweise (wenn man die offizielle Version nicht anzweifelt) vor einer Gruppe von bedrohlichen Polizisten davongerannt zu sein, die ihn mit irgendjemand anderen verwechselt hatten. Dies ereignete sich nicht in einer Favela in Rio de Janeiro, und die Waffen schwingenden Polizeibeamten waren keine Mitglieder der „Todesschwadronen“, denen die Behörden in Brasilien und anderen Drittweltländern freie Hand dabei gewähren, mit den „asozialen Elementen“ (ob Kleinkriminelle oder politische Opponenten) „aufzuräumen“. Es geschah in London, der Hauptstadt des „demokratischsten Landes auf der Welt“, und die Polizisten waren „Bobbies“, die überall auf der Welt für ihren guten Charakter berühmt sind und unter dem Kommando der prestigeträchtigsten Polizeiagentur der Welt, Scotland Yard, arbeiten. 

Überflüssig zu sagen, dass dieses Verbrechen gewisse Emotionen unter den Sprechern der herrschenden Klasse provoziert hat: Die Financial Times sprach von einer „potenziell gefährlichen Wende“ durch die Sicherheitskräfte. Selbstverständlich „entschuldigte“ sich Londons Polizeichef Sir Ian Blair für den „Irrtum“ und bekundete der Familie des Opfers sein Beileid. Überflüssig zu sagen, dass eine Untersuchungskommission eingerichtet wurde, um „die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen“. Es ist durchaus möglich, dass der eine oder andere Polizeibeamte dafür belangt wird, nicht zwischen einem brasilianischen Katholiken und einem pakistanischen Moslem unterschieden zu haben. Doch es sind nicht die schießwütigen Pistolenhelden, die für dieses Verbrechen verantwortlich sind. Wenn sie Jean-Charles töteten, dann deshalb, weil sie den Befehl hatten zu schießen, um zu töten („shoot to kill“). 

Es gibt keinen Mangel an Erklärungen, versehen mit der ganzen subtilen Heuchelei, die so kennzeichnend für die herrschende Klasse in Großbritannien ist. Laut Sir Ian Blair gibt es „nichts Grundloses oder Anmaßendes daran. Es gibt keine Todesschuss-Praxis, es gibt den Todesschuss, um die Polizei zu schützen“ (1) Sein Vorgänger, John Stevens, der nicht mehr aufpassen muss, was er sagt, sprach dies einige Monate zuvor noch brutaler aus: „Es gibt nur einen sicheren Weg, einen Selbstmordattentäter, der entschlossen ist, seine Mission zu erfüllen, aufzuhalten – die sofortige und ultimative Zerstörung seines Gehirns. Das bedeutet ihn mit vernichtender Wirkung in den Kopf zu schießen, um ihn auf der Stelle zu töten.“ (2) Auch ist es nicht nur die Polizei, die sich einer solchen Sprache bemächtigt hat; der durch und durch „linke“ Bürgermeister von London, Ken Livingstone, hat die Erschießung mit den folgenden Worten gerechtfertigt: „Wenn man es mit jemanden zu tun hat, der möglicherweise ein Selbstmordattentäter ist, muss man davon ausgehen, dass er, falls er aufpasst, eine Plastikbombe oder was auch immer er am Körper trägt, auslöst. Daher läuft angesichts dieser überwältigenden Umstände alles auf eine Todesschuss-Praxis hinaus.“ (3)

Damit kein Missverständnis entsteht: Das Argument der „Selbstmordattentäter, die entschlossen sind, ihre Mission zu erfüllen“, ist ein irreführender Vorwand. Als britische Truppen unschuldige irische Bürger erschossen, angeblich weil sie dachten, Letztere wären Terroristen, geschah dies nicht, weil die IRA-Terroristen Selbstmordattentäter waren (Selbstmord ist im Übrigen von der katholischen Kirche verboten). In Wahrheit hat der kapitalistische Staat in Großbritannien wie in all den anderen „demokratischen“ Ländern terroristische Anschläge, wie jene am 7. und 21. Juli in London, stets als Vorwand benutzt, um seinen Repressionsapparat zu stärken, um Maßnahmen in Kraft zu setzen, die allgemein als typisch für „totalitäre“ Regimes betrachtet werden, und vor allem um die Bevölkerung an sie zu gewöhnen. Genau dies ereignete sich nach dem 11. September in den USA oder nach den Bombenanschlägen in Frankreich 1995, die einer algerischen „Groupes Islamistes Armés“ zugeschrieben wurden. Laut der Propaganda der herrschenden Klasse haben wir die Wahl: entweder eine noch erstickendere Polizeipräsenz überall und allzeit zu akzeptieren oder „den Terroristen in die Hände zu spielen“. In Großbritannien hat diese allgegenwärtige Polizeipräsenz extreme Ausmaße angenommen: Sie hat nicht nur das Recht, sondern sogar den Befehl, jeden zu töten, der „verdächtig“ sein könnte oder ihren Aufforderungen nicht nachkommt. Und dies in einem Land, das 1679 die Habeas Corpus erfunden hat, welche willkürliche Verhaftungen ächtete. Üblicherweise darf man in Großbritannien wie in allen „demokratischen“ Ländern nicht länger als 24 Stunden ohne Anklage festgehalten werden. Heute gibt es in Großbritannien bereits Menschen, die ohne Anklage verhaftet wurden und im Belmarsh-Gefängnis (nahe London) festgehalten werden. (4) Nun können sie beim ersten Anblick auf der Straße erschossen werden!

Im Augenblick sind „Selbstmordattentäter“ das offizielle Ziel. Doch es wäre ein fürchterlicher Fehler zu denken, dass die herrschende Klasse es dabei belassen wird. Die Geschichte hat immer und immer wieder gezeigt, dass, wann immer sich die herrschende Klasse bedroht fühlt, sie nicht zögert, auf ihren eigenen „demokratischen Prinzipien“ herumzutrampeln. In der Vergangenheit waren diese Prinzipien eine Waffe in ihrem Kampf gegen Willkürrecht und aristokratische Vorherrschaft. Nachdem sie schließlich die ungeteilte Macht über die Gesellschaft übernommen hatte, benutzte sie diese als schmückendes Beiwerk, um die ausgebeuteten Massen in die Irre zu führen und dazu zu bringen, ihre Ausbeutung zu akzeptieren. Während des 19. Jahrhunderts konnte sich die allmächtige britische Bourgeoisie den Luxus leisten, politischen Flüchtlingen aus den niedergeschlagenen Revolutionen auf dem ganzen Kontinent Asyl zu bieten, so wie den französischen Arbeitern, die nach der Zerschlagung der Pariser Kommune 1871 aus Frankreich flohen. Die Bourgeoisie wird nicht vom „islamischen Terrorismus“ bedroht. Die Hauptopfer dieses kriminellen Terrors sind vielmehr die Arbeiter, die die U-Bahn nehmen, um zur Arbeit zu gelangen, oder die Büroangestellten der Twin Towers. Und dank des vollkommen gerechtfertigten Schreckens, den er in der Bevölkerung anrichtet, hat der „Terrorismus“ einen perfekten Vorwand für eine ganze Reihe von Staaten geliefert, um ihre imperialistischen Abenteuer in Afghanistan und im Irak zu rechtfertigen. 

Nein, die einzige Kraft, die die Bourgeoisie bedrohen kann, ist die Arbeiterklasse. Im Moment sind die Arbeiterkämpfe weit davon entfernt, eine Bedrohung für die bürgerliche Ordnung darzustellen, doch die herrschende Klasse weiß zu gut, dass die unerbittliche Krise ihres Systems und noch mehr die gewaltsamen Angriffe, die sie gegen die Arbeiter richten muss, die Letzteren nur zu noch ausgedehnteren Kämpfen drängen werden, bis zu dem Punkt, wo sie die Macht ihrer Ausbeuter bedrohen. Wenn das passiert, werden es nicht „Terroristen“ sein, die wie räudige Hunde niedergeschossen werden, sondern die kämpferischsten Arbeiter und revolutionärsten Elemente (die bei dieser Gelegenheit natürlich als „Terroristen“ hingestellt werden) (5) sowie Kommunisten. Und dann wird es keine Habeas Corpus geben.

Dies sind keine eitlen Spekulationen oder Weissagungen aus der Kristallkugel. So hat sich die Bourgeoisie verhalten, wann immer ihre vitalen Interessen auf dem Spiel standen. Diese Behandlung, die normalerweise der Dritten Welt oder kolonialisierten Bevölkerung durch alle „demokratischen“ Länder angediehen wird, wird auch auf die Proletarier angewandt, sobald diese gegen ihre Ausbeutung revoltieren. 1919 wurden in Deutschland, das damals von der Sozialdemokratischen Partei regiert wurde - mit anderen Worten: der Partei von Gerhard Schröder, dem Gegenpart von Tony Blairs Labour Party -, Tausende von Arbeitern massakriert, weil sie nach der Revolution von 1917 gegen die bürgerliche Ordnung aufgestanden waren. Was Revolutionäre wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht angeht, so wurden sie von Soldaten ermordet, die sie unter dem Vorwand der „Fluchtgefahr“ festgenommen hatten. Der widerliche Mord in Stockwell sollte nicht nur als solcher gebrandmarkt werden. Dies können auch all die üblichen weinerlichen Liberalen, die sich über die „Beschädigung demokratischer Freiheiten“ beklagen. Vor allem sollte er als eine Lehre für die Arbeiter in Großbritannien und überall auf der Welt dienen, um den wahren Charakter und die wirklichen Methoden ihres Klassenfeindes, der kapitalistischen Klasse, zu begreifen. Sie sind die „Todesschwadronen“, denen die Bourgeoisie heute überall auf der Welt den Weg ebnet und die morgen von der Arbeiterklasse konfrontiert werden müssen. 

IKS, 25. Juli 2005 

(1) The Guardian, 24. Juli 2005

(2) News of the World, Sonntagsausgabe, 6. März 2005, S. 13 “Forget Human Rights. Kick out the Fanatics” von Sir John Stevens, ehemaliger Regierungskommissar der Metropolitan Police.

(3) News24.com, 22. Juli.

(4) dank der „Sondergesetze“ wie jene, die jahrelang in Nordirland benutzt wurden.

(5) Während der großen Streiks in Frankreich im Sommer 1995 verglich der damalige Innenminister Charles Pasqua die streikenden Arbeiter mit den Terroristen, die einige Monate zuvor eine Bombe in der Pariser Metro hochgehen ließen, die acht Menschen tötete.

Geographisch: 

  • Großbritannien [44]

Theoretische Fragen: 

  • Terrorismus [45]

Indien - die größte Demokratie zeigt ihr hässliches Gesicht

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Polizeibrutalität gegen streikende  Honda Arbeiter in Gurgaon, Indien

Als sich mehrere tausend streikende Arbeiter von Honda-Motorrädern und Arbeiter von nahe gelegenen Fabriken, die ihre Solidarität mit den Honda-Arbeitern  ausdrückten, am 25. Juli 05 nachmittags beim Minisekretariat in Gurgaon versammelten, wurden sie sofort von  Polizei und paramilitärischen Einheiten umstellt. Diese paramilitärischen Kräfte waren tagsüber von den Behörden in Gurgaon aus anderen Bezirken herbeigerufen worden. Was folgte, war ein vorausgeplanter Angriff auf unbewaffnete Arbeiter, die dann gefangen genommen wurden. Über das Ganze wurde von den bürgerlichen Medien berichtet. Als der brutale Überfall um 20 Uhr zu Ende war, sind 800 Arbeiter ernsthaft verletzt, die meisten von ihnen erlitten Kopfverletzungen. Um dieser Repression die Krone aufzusetzen, wurden mindestens 400 Arbeiter ins Gefängnis geworfen. Dass es die Absicht der Behörden war, den Arbeitern eine Lektion zu erteilen, ist aus der Tatsache ersichtlich, dass die Repression am 25. Juli nicht aufhörte. Als Arbeiter und ihre Familien am nächsten Tag die verletzten Arbeiter im Krankenhaus besuchen wollten, sahen sie sich wieder der Rage der Polizei ausgesetzt.
Das Parlament, das zur gleichen Zeit in New Delhi tagte, verlieh seinem ‘Schock’ über diese ‘Grausamkeit’ Ausdruck. Premierminister Man Mohan Singh drückte seine ‘tiefe Besorgnis’ aus. Von den Stalinisten über die hinduistischen Fundamentalisten bis zu Sonia Gandhi, der Vorsitzenden der Regierungspartei, eilten die Politiker  aller Couleur nach Gurgaon, um Mitgefühl für die verletzten Arbeiter zu heucheln. Die nächsten paar Tage waren die bürgerlichen Medien voll von geheucheltem Schock über diese Polizeibrutalität, als ob etwas Ungewöhnliches für den bürgerlichen indischen Staat geschehen wäre.
In Wirklichkeit steht diese jüngste Repression ganz in der Tradition gewalttätiger Unterdrückung der Arbeiterklasse durch den indischen Staat. Den älteren Arbeitern in der Region Delhi Region drängte sich sofort die Erinnerung an den Oktober 1979 auf. Damals besetzten staatliche Repressionsorgane fast ganz Faridabad, einen Industrievorort im Süden Neu Delhis, um eine steigende Welle von radikalen Arbeiterstreiks einzudämmen. Durch eine Reihe von Erschießungen in verschiedenen Teilen der Stadt und durch die Verhängung der Ausgangssperre Ende Oktober 1979 war die Bourgeoisie  in der Lage, die Arbeiterbewegung nieder zu halten und zu ersticken. Ein paar Jahre vorher wurden die Arbeiter der Swadeshi-Baumwollmühlen in Kanpur eingeschlossen und auf sie von den staatlichen Repressionskräften das Feuer eröffnet, wobei mindestens 400 Arbeiter getötet wurden. Eine ununterbrochene Kette der Repression, die zurückreicht bis zur Niederschlagung des Eisenbahner-Streiks 1974 und vieler anderer  Arbeiterkämpfe.
Doch die Bourgeoisie ist wirklich geschockt - nicht wegen der Polizeibrutalität, sondern weil sich die Arbeiterklasse noch immer lebendig zeigt und um sich tritt und wehrt, und die Kühnheit hat nach fünfzehn Jahren erbarmungsloser Offensive der Bourgeoisie ihr Haupt zu erheben. Dies kam eindeutig in der Wirtschaftspresse der Bourgeoisie durch. Die Bourgeoisie ist ernsthaft darüber besorgt, dass sich die “ansteckende Seuche” ausbreiten könnte.
Der Business Standard vom 6. August 2005 befürchtete: “Der Aufruhr, der dem Streit zwischen Kapital und Arbeit in Gurgaon bei den Honda- Motorrad & Scooter India (HMSI) folgte, könnte erst der Auftakt von etwas Größerem sein.” Dass die Arbeiter “nach eineinhalb Jahrzehnten marktfreundlicher Politik [Liberalisierung]... ihr Haupt wieder erheben..” Und dass kämpferische Arbeiter  “ vom Staat zerdrückt werden, ist nicht ganz neu. Aber Indien hat keine ernsten Probleme damit  gehabt, seit es von den Fesseln der ‚Control Raj‘  in den frühen 1990er Jahren befreit wurde..” Laut   financial Express am 6. August 2005: “Die Arbeiterunruhen in Gurgaon haben dem dortigen Management eiskalte Schauer den Rücken runterlaufen lassen.” Der Indian Express vom 9. August 2005 fürchtete, dass der Gurgaon Vorfall eine ‘Dominowirkung’ haben könnte.
Diese Sorge der Bourgeoisie war im ganzen Staat  sowohl auf provinzieller Ebene als auch auf zentraler Ebene zu spüren. Die Bourgeoisie war überrascht, eine Arbeiterklasse zu sehen, wie sie sie in den letzten Jahren nicht mehr gesehen hatte. Nach anfänglicherer Überraschung beschloss sie, schnell den Streit beizulegen.
Nur zwei Tage nach der Polizeibrutalität vom 25. Juli 2005 berief der Haryana Chief Minister, Herr Hooda, ein Treffen des Honda Managements und der Gewerkschaftsbosse für den 27. Juli ein und schusterte eine ‘Vereinbarung’ zusammen. Um für die Polizeiunterdrückung büßen und sühnen zu lassen, ordnete Herr Hooda eine ‘richterliche Untersuchung’ durch den Richter im Ruhestand G. C. Garg an. Die Wirksamkeit  dieser ‘Untersuchung’ wurde verstärkt durch die Tatsache unterstrichen, dass Herr G. C. Garg als Vorsitzender des Obersten Gerichtshofs von  Punjab und Haryana 1999 für seine rauen Manieren und für den Einsatz von Polizeirepression bekannter war als für seinen Gerechtigkeitssinn.
Die Linken und die Gewerkschaften bejubelten all dies als Sieg für die Arbeiter, auch wenn sie einige kritische Bemerkungen dazu machten. Dies trotz der Tatsache, dass fast einhundert Arbeiter immer noch im Gefängnis sind. Die Gewerkschaften versprachen, die Arbeiter werden ein Jahr keine Lohnforderungen stellen. Und die Geschäftsleitung nahm die Aussperrung von 67 Arbeitern zurück, bestand aber darauf, sie von der Fertigungsabteilung fern zu halten.

Die Bedeutung des Honda Streiks

Ein Teil des Schocks der Bourgeoisie ist möglicherweise aufgebauscht; sie mimen den heulenden Wolf. Ein Teil war politisches Theater wie bei der Koalitionsregierung in New Delhi, die vorgibt, volksfreundlich zu sein, und unterstützt wird dabei von den Linken.
Unter den Honda Arbeitern in Gurgaon, einem Industrievorort westlich von Delhi, herrscht seit Anfang dieses Jahres Wut. Sie streikten seit dem 27. Juni 2005 und haben es abgelehnt, die Forderung der Geschäftsleitung nach einer Art Friedenspflicht zu unterschreiben. Gleichzeitig wurde ihre Bewegung von den Linken kontrolliert, die Partner der Regierungskoalition in New Delhi sind, und in die Zwickmühle des politischen Spiels zwischen verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie im Zentrum und auf Staatsebene getrieben.   
Nicht irgend ein besonderer Kampfgeist der Honda Arbeiter beunruhigt die Bourgeoisie. Es ist die Tatsache, dass trotz aller Hindernisse Arbeiter in der Lage waren, ihrem Ärger und ihrem Widerstand Ausdruck zu verleihen. Die Bourgeoisie ist besorgt, um die Worte des BUSINESS STANDARD zu gebrauchen: “... [Die Arbeiter] scheinen ihr Haupt nach eineinhalb Jahrzehnten wieder zu heben”.
Die indische Bourgeoisie hat guten Grund, mit den letzten eineinhalb Jahrzehnten zufrieden zu sein. Erstens hat sie sich beispiellos bereichert und ihre Ambitionen sind gestiegen. Zum anderen ist sie erfolgreich bei der Durchführung einer erbarmungslosen Offensive gegen die Arbeiterklasse gewesen, ohne ernsthaften Widerstand. In der gesamten Wirtschaft hat man einen enormen Stellenabbau gesehen, ihre Umwandlung in prekäre Arbeit mit viel niedrigerem Lohn und ohne soziale Absicherung. In Gurgaon selbst bei Hero Honda, ein anderer Motorradtyp (JV) von Honda, dessen Produktion im letzten Jahrzehnt von ein paar Hunderttausend auf 2,6 Millionen Motorräder hochgeschnellt, ist die Anzahl der Festangestellten die gleiche geblieben. Andererseits ist die Anzahl von Arbeitern mit Zeitverträgen um viele Tausende gestiegen, die gezwungen sind für 50 Euro im Monat zu arbeiten, - das ist der Standardlohn von Millionen Beschäftigten mit befristeten Arbeitsverträgen.  Ähnlich in der Autofabrik von  Maruti-Suzuki, wo trotz gestiegener Produktion innerhalb weniger Jahre, und ohne dass die Arbeiter fähig waren, zurückzuschlagen, fast 3000 Dauerarbeiter entlassen wurden. Sie wurden ersetzt durch Arbeiter mit Zeitverträgen. So ist es bei allen anderen Firmen überall in Indien. Deprimierend dabei ist, dass die Arbeiterklasse wegen der Verwirrung, in der sie sich befindet, gezwungen war, all diese Angriffe mit gesenktem Haupt hinzunehmen.

Die Honda Motorradarbeiter sahen sich den gleichen heftigen Angriffen gegenüber.

Das Honda Management wollte die 1.000 festangestellten Arbeiter rausschmeißen und durch Zeitarbeiter ersetzen. Es ist ein Zeichen der sich verändernden Stimmung bei den Arbeitern, dass die Honda Arbeiter einen offenen, wenn auch begrenzten Widerstand entwickelten. Die Repression hat der Arbeiterklasse nicht wirklich Furcht eingeflößt. Im Gegenteil, sie hat eine elementare Basis an Selbstsicherheit erzeugt, ein Gefühl, dass nach Jahren ein Teil der Klasse imstande war, sich der Bourgeoisie entgegenzustellen.
Dies ist es, wovor sich die Bourgeoisie fürchtet. Dies ist es, was ein wirkliches Versprechen für die Arbeiterklasse und die Revolutionäre enthält. Wie die Arbeiterklasse im Rest der Welt unternimmt die Arbeiterklasse in Indien erste Schritte in Richtung, den Pfad des Klassenkampfes wieder zu entdecken. Dieser Weg der Wiederentdeckung wird lang und schwierig sein, und das Eingreifen der Revolutionäre in diesen Prozess wird unentbehrlich sein, damit er weiter geht und Frucht trägt.
Communist Internationalist, Sektion der IKS in Indien, 27. August 2005

Geographisch: 

  • Indien [46]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [36]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [6]

Schweiz/EU - Ausweitung der Personenfreizügigkeit

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Am 25. September war in der Schweiz wieder einmal Abstimmungswochenende. Es ging um das Verhältnis dieses Staates zur EU, zu der er ja nicht gehört, aber engste politische und wirtschaftliche Beziehungen pflegt. Nachdem gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU auf die zehn neuen EU-Mitgliedstaaten das Referendum ergriffen worden war, wurde die Regierungsvorlage, hinter der die massgebenden Kreise der herrschenden Klasse standen, nun auch an der Urne zur Abstimmung gestellt. Diese Gesetzesvorlage beinhaltet nicht nur den schrittweisen Ausbau des so genannten freien Personenverkehrs zwischen der Schweiz und den neuen EU-Staaten, sondern auch die Inkraftsetzung von staatlichen Kontrollen gegenüber “Lohn- und Sozialdumping”, d.h. gegen die zu rasche Senkung der Löhne auf EU-Niveau.
Wenn wir den “Streitgesprächen” der verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse in den letzten Monaten Glauben schenken, war das Wohl der Arbeiterklasse davon abhängig, ob dieses erweiterte Personenfreizügigkeits-Abkommen angenommen oder abgelehnt wird. Weite Teile der herrschenden Klasse wollten den Ausbau der Personenfreizügigkeit mit der EU. Dies wurde bereits am 6. Juni, als über den Beitritt der Schweiz zu den Abkommen von Schengen und Dublin (Zusammenarbeit mit der EU in Polizei- und Asylwesen) abzustimmen war, deutlich. Es kam selten vor, dass am Montag nach der Durchführung einer Abstimmung sofort für die nächste mobilisiert wurde. Dies kommt einem Dauerabstimmungskampf gleich. Immer grössere Teile der Arbeiterklasse sollen sich für die Politik der Bourgeoisie interessieren. Es sind solche Kampagnen, die bezwecken, die Demokratie in den Augen der Arbeiter als die Regierungsform ohne Alternative erscheinen zu lassen. In vielen Ländern muss die Bourgeoisie immer mehr auf Wahlen und Referenden als Mittel dazu zurückgreifen.

Vor welcher Wahl stand die Arbeiterklasse?

Die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der erweiterten EU hat in der Tat etwas mit der Arbeiterklasse zu tun. Denn es sind in erster Linie Arbeiter, die dazu gezwungen sind, den Ort, wo sie herkommen, zu verlassen und anderswo eine Stelle anzunehmen, wenn es hier eine gibt. Es trifft auch zu, dass die Arbeitslosigkeit in der Schweiz geringer ist als in den meisten EU-Staaten. Dies hat viel damit zu tun, dass die Schweizer Fremdenpolizei die ImmigrantInnen als Manövriermasse benutzt und die Aufenthaltsbewilligungen nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes erteilt oder wieder entzieht. Mit anderen Worten wird die Arbeitslosigkeit bis jetzt mehr oder weniger erfolgreich ins Ausland (nicht nur in die EU) exportiert. Schliesslich ist es auch eine Tatsache, dass gerade in den zehn neuen EU-Staaten das Lohnniveau teilweise bedeutend tiefer liegt als in der Schweiz. Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass polnische, ungarische, tschechische oder slowakische Arbeiter auch in der Schweiz nach Arbeit suchen, sofern die Wirtschaftskrise sie dazu zwingt, ihre Nächsten zu verlassen und auszuwandern.
Was soll nun angesichts dieser Tatsachen ein Arbeiter oder eine Arbeiterin zu einer Abstimmung über die Personenfreizügigkeit sagen? Sollen wir uns auf den Standpunkt des ungarischen Kollegen stellen, der eine Aufenthaltsbewilligung für die Arbeitssuche in der Schweiz braucht? Dann müssten wir für die Freizügigkeit sein. Oder sollen wir umgekehrt - quasi vom Standpunkt des schweizerischen Arbeiters - im Auge behalten, dass die Löhne nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage sinken werden, wenn Arbeitskräfte aus Ungarn hier arbeiten kommen? Dann müssten wir ja gegen die Personenfreizügigkeit sein? - Dieser Zwiespalt, diese zwei Seelen in der Arbeiterbrust zeigen auf, wie absurd es von einem proletarischen Standpunkt aus ist, eine Antwort auf die falsche, weil bürgerliche Frage “Grenzen auf oder Grenzen zu?” zu geben. Die Arbeiterklasse ist eine Klasse der ganzen Welt. Der proletarische Standpunkt ist immer der internationale. Wir wollen nicht mehr oder weniger offene Grenzen, sondern eine Gesellschaft ohne Klassen und ohne Grenzen. Wir dürfen uns also nicht auf dieses falsche Terrain zerren lassen, wo wir auf einmal zwischen Pech und Cholera nach dem geringeren Übel suchen. Die Kommunisten zeichnen sich dadurch aus, dass sie “die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen (...), stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten” (Kommunistisches Manifest). Das Interesse der Gesamtbewegung der Arbeiterklasse besteht darin, ihr Selbstbewusstsein und ihre Kampfbereitschaft zu stärken. Im Kapitalismus sind die anstehenden Probleme der Arbeitslosigkeit, des Krieges, des Abgleitens in die Barbarei nicht zu lösen. Vielmehr muss dieses System durch den Kampf des Proletariats auf revolutionärem Weg überwunden werden. Die Stärkung des Proletariats kann nicht dadurch erreicht werden, dass es auf falsche Fragen eine Antwort zu geben versucht.
Und es kann sich auch nicht an der Abstimmungs- oder Wahlurne stärken, wo jeder und jede einzeln als Bürger oder Bürgerin unter das parlamentarische Joch kriecht. Hier entsteht kein Klassenbewusstsein, kein Bewusstsein darüber, als Arbeiter zu einer und derselben Klasse zu gehören. Das Klassenbewusstsein entsteht vielmehr dort, wo wir auf unserem Terrain gemeinsam in den Kampf treten, wie dies in den letzten Monaten bei den Streiks in Heathrow/London oder bei Honda in Gurgaon/Indien geschehen ist.   
So ist denn auch die Ablehnung jeder Beteiligung am Abstimmungs- und Wahlzirkus der Bourgeoisie heute ein proletarisches Prinzip. Wer sich für die proletarische Revolution einsetzen will, kann nicht gleichzeitig durch eine Beteiligung an demokratischen Abstimmungskämpfen Wasser auf die Mühlen des bürgerlichen Staatsapparats lenken.

Die Bourgeoisie leidet unter den Erscheinungen des kapitalistischen Zerfalls

Die Feststellung, dass die Arbeiterklasse an der Wahlurne im Allgemeinen und an der Abstimmung über die Erweiterung der Personenfreizügigkeit im Besonderen nichts verloren hat, hindert uns nicht daran, von einem kommunistischen Standpunkt aus zu analysieren, in welcher Lage sich die Schweizer Bourgeoisie gegenwärtig befindet. Wir haben bereits in einem früheren Artikel aufgezeigt, dass sich die herrschende Klasse gerade in der Frage des Verhältnisses der Schweiz zur EU nicht einig ist (“Schweiz-EU: Ausdruck des Zerfalls des Kapitalismus” in Weltrevolution Nr. 126). Die Streitigkeiten innerhalb der Schweizer Bourgeoisie sind nicht lediglich Scheinwidersprüche oder Ablenkungsmanöver gegenüber der Arbeiterklasse. Es gibt in der Tat Spannungen zwischen dem, was man den verantwortungsbewussteren Teil der Bourgeoisie nennen kann, und denjenigen Teilen der herrschenden Klasse, die lediglich ihre kurzfristigen Einzelinteressen im Auge haben und die Tendenz des “Jeder-für-sich” repräsentieren. Deshalb wurde das Referendum gegen die Gesetzesvorlage überhaupt ergriffen, und zwar zunächst von rechtspopulistischen Kreisen.
Dass kurz nacheinander zwei Vorlagen zum Verhältnis zur EU vorgelegt werden, hat damit zu tun, dass die herrschende Klasse einerseits Wege braucht, um gegenüber der EU flexibler reagieren zu können, falls es die Situation erfordert, und dass sie andererseits im internationalen Konkurrenzkampf nicht völlig den Anschluss verlieren darf. Besonders für kleine Länder ist dies wichtig, weil es für diese noch schwieriger ist, sich unter den grossen Haifischen zu behaupten. Die Fragen der Aussenpolitik bieten sich hier in einem besonderen Masse an, sich ständig der Zustimmung des “Volkes” für diesen oder jenen Kurs zu versichern. Aufgrund der sich zuspitzenden kapitalistischen Krise gibt es auch in der schweizer Bourgeoisie einen Teil, der sich immer isolationistischer und irrationaler verhält; diese Kreise sind auch ein Ausdruck des Zerfalls des kapitalistischen Systems, sie sind eine rückwärtsgewandte Antwort darauf.
Diese Widersprüche hindern die herrschende Klasse nicht daran, gleichzeitig eine Verschleierungskampagne gegen die Arbeiterklasse zu führen und auf diesem Weg doch noch einen Nutzen daraus zu ziehen. Im Gegenteil: Im Kampf gegen die Arbeiterklasse ist sie sich einig, auch und gerade, wenn es um die Einimpfung der demokratischen Ideologie geht.

Demokratiekampagne zur Verschleierung der kapitalistischen Krise

In der Kampagne, die vor der Abstimmung vom 25. September geführt wurde, spielte nicht nur die isolationistische Rechte die Oppositionsrolle gegen dieses EU-Abkommen, sondern es schaltete sich auch der linke Rand der parlamentarischen und ausserparlamentarischen Parteien und Bewegungen gegen dieses Abkommen ein. Und dies war gerade für die ideologische Kampagne gegen die Arbeiterklasse vonnöten. So war diesmal wirklich das ganze Spektrum des bürgerlichen Apparats für oder gegen ein Thema mobilisiert, das für die Arbeiterklasse und ihre Lebensbedingungen keinen entscheidenden Einfluss hat, da das wirkliche Problem die allgemeine Krise des kapitalistischen Systems ist, welche ihre Lebensbedingungen je länger je unerträglicher machen.
Wenn die Arbeiter und Arbeiterinnen als solche angesprochen werden sollen, ist die bürgerliche Linke gefragt. Die Rechten können diese Aufgabe viel schlechter erfüllen als die linken Parteien und Organisationen, die sich mehr oder weniger ausdrücklich auf die Arbeiterklasse berufen und vorgeben, die Tradition der Arbeiterbewegung zu verkörpern.
Die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften in ihrer Mehrheit befürworteten das erweiterte Personenfreizügigkeits-Abkommen. Vor allem sie setzten alles daran, um diese Abstimmung für die Arbeiterklasse zu einer “Schicksalsfrage” zu machen. Die Sozialdemokratische Partei, die grossen Gewerkschaften und ihr Dachverband legten sich für die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit ins Zeug.
Bei den kleinen linken Parteien und Gewerkschaften gab es aber auch Nein-Parolen. Die trotzkistische Bewegung für den Sozialismus (BFS) beispielsweise verlangte eine zweite Abstimmung mit weitergehenden flankierenden Massnahmen, bevor sie zustimme. Dies ist eine weitere Verschleierung des bürgerlichen Staates, und zwar in zweierlei Hinsicht:
- Erstens macht die herrschende Klasse nur Zugeständnisse an die Arbeiterklasse, wenn sie von dieser dazu gezwungen wird. Ein solches Kräfteverhältnis, mit dem die Arbeiterklasse die Bourgeoisie zu etwas zwingt, kann von vornherein nicht an der Wahlurne, sondern nur im Kampf der Arbeiter auf ihrem Terrain entstehen. Wenn sich die Arbeiter als Arbeiter wehren, z.B. in einem Streik, entwickeln sie ihre Stärke, nicht aber, wenn sie sich als Staatsbürger an die Urne begeben.
- Zweitens sind materielle Zugeständnisse der herrschenden Klasse im Sinne von andauernden Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen eh eine Illusion in einer Situation, in der sich der Kapitalismus in der permanenten Krise befindet und gar nichts mehr anzubieten hat als ständig mehr Arbeitslosigkeit und Zunahme der Ausbeutung.

Welche Antwort der Arbeiterklasse?

Seit dem Beginn des 20. Jahrhundert, insbesondere seit dem 1. Weltkrieg, ist der Kapitalismus in seine Dekadenzphase eingetreten, von da an werden die wichtigen Entscheide in der Exekutiven, und nicht mehr in den Parlamenten gefällt. Daher ist es falsch, sich hinter die eine oder andere parlamentarische Fraktion zu stellen, da dies nur dazu dient, die Illusion des Parlamentarismus zu stärken.
Es ist falsch, wenn sich die Arbeiterklasse von der einen oder anderen kapitalistischen Option einbinden lässt, da alle nur Bemühungen darstellen, eine Lösung im bestehenden kapitalistischen System zu suchen, die es nicht gibt.
Nein, die Arbeiterklasse hat keine Wahl im Kapitalismus. Nur der Klassenkampf ist dass Mittel der Arbeiter, sich gegen die ausbeuterische Lohnarbeit zur Wehr zu setzen. Die Arbeiter werden sich als Klasse organisieren müssen, um gegen den totalitären Staat der Bourgeoisie ihre Klasseninteressen durchsetzen zu können. Dies wird nur gelingen, wenn die Arbeiter, getrieben und ausgehend von ihren ökonomischen Kämpfen zum politischen Kampf voranschreiten und sich damit bewusst gegen die herrschende Klasse stellen. Dies ist möglich, wenn die Arbeiter diesen Kampf in die eigenen Hände nehmen, und sich auf keine Helfer und angeblichen Interessensvertreter wie Gewerkschaften mehr verlassen. Die Arbeiterklasse kann wieder zu ihrer Klassenautonomie zurückfinden, indem sie ihre Klassenidentität voranbringt. Davor hat die Bourgeoisie Angst und versucht, alles zu unternehmen, um dies möglichst lange zu verhindern.
25.09.05, Ko/Re

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in der Schweiz [7]

Geographisch: 

  • Schweiz [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [17]

Sieger der Bundestagswahlen: Die herrschende Klasse

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Lassen wir uns nicht irreführen! Die herrschende Klasse hat mit dem Abhalten von vorgezogenen Neuwahlen und dem Hickhack um die Bildung einer neuen Bundesregierung gegenüber der Arbeiterklasse clever gepunktet.
Nicht, dass wir die Verschiebungen in der bürgerlichen Parteienlandschaft, das nach den Wahlen neu entstandene Kräfteverhältnis unter den Parteien und das Gerangel um eine Regierungskoalition für unwichtig halten (siehe dazu den Artikel in dieser Zeitung). Denn zweifelsohne hat das Ergebnis der Neuwahlen für die herrschende Klasse unerwartete und ungewollte Komponenten entstehen lassen. Aber all dies ist für die Arbeiterklasse zweitrangig.
Denn egal worüber die Bürgerlichen im Wahlkampf und vor allem nach Verkündigung des Wahlergebnis streiten, wer mit wem koalieren möchte und kann, und ungeachtet der dadurch zum Vorschein gekommenen Rivalitäten und Machtkämpfe  – es ist und bleibt ein Streit innerhalb des bürgerlichen Lagers. Es ist ihr Machtpoker, nicht unser Spiel!
Weiter steht fest: Alle Parteien sind sich in einer Sache über alle Parteigrenzen hinweg einig - alle Reformprojekte, sprich die weiter zu verschärfenden Sparmaßnahmen, die durch die Krise notwendig werden, sollen auf die Schultern der Arbeiterklasse abgewälzt werden.
Indem unsere Aufmerksamkeit seit Monaten mit allen Tricks auf den Wahlkampf,  den ”offenen Wahlausgang”, das Kopf-an-Kopf-Rennen, auf die verschiedenen Sondierungsgespräche und möglichen Koalitionsverhandlungen gelenkt wurde, ist es der herrschenden Klasse gelungen, die Arbeiterklasse davon abzuhalten, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen und ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Das Wahlspektakel der bürgerlichen Demokratie hat wieder einmal seine große Nützlichkeit für das Kapital erwiesen. 

Warum hat die herrschende Klasse die Wahlen abgehalten?

Schröder fädelte im Frühsommer die Wahlen ein, als greifbarer wurde, dass die Massenarbeitslosigkeit, die 5 Millionengrenze der offiziell deklarierten Arbeitslosen überschritt (die wirkliche Zahl liegt wesentlich höher), und die brutale Verschlechterung der Lage aller Arbeiter (Hartz IV, Einsparungen in allen Bereichen, Verschärfung der Arbeitshetze, Kürzungen der Renten usw.) in immer größeren Kreisen von Arbeitern Zweifel am kapitalistischen System aufkommen lassen können. Versuchte nicht die SPD mit ihrer ”Heuschreckenkritik” im Frühjahr schon Ansätze eines Nachdenkens über diese Gesellschaft abzublocken, als sie - nach Jahren rücksichtsloser Durchsetzung von kapitalistischen Sparmaßnahmen - plötzlich proklamierte, ”Korrekturen” an diesem System seien nötig.
Dieser schwierige Prozess der Infragestellung des kapitalistischen Systems, der bislang nur langsam und auch sehr gewunden in bestimmten Teilen der Arbeiterklasse in Gang kommt, stellt allerdings einen historisch bedeutsamen Schritt dar, da der Kapitalismus sich nach dem Zusammenbruch des Stalinismus 1989 als das einzig mögliche System präsentieren konnte, gegenüber dem es keine Alternative gebe.
Wenn nun z.B. in dem Land des einstigen Wirtschaftswunders, in Deutschland, die Massenarbeitslosigkeit auf über 5 Millionen angeschwollen ist und keine Aussicht auf einen merklichen Rückgang dieses Millionenheeres besteht - obwohl der sozialdemokratische Bundeskanzler in der Vergangenheit eine Halbierung dieser Zahlen versprochen hatte -, die Hilflosigkeit aller bürgerlichen Parteien, ja des Systems selbst gegenüber dieser Frage durchzuschimmern beginnt, dann besteht für die herrschende Klasse Handlungsbedarf!
Um dem wachsenden Drang in Teilen der Arbeiterklasse der Auseinandersetzung mit den wirklichen Perspektiven des Kapitalismus entgegenzutreten und die aufkommende Wut der Betroffenen zu kanalisieren, entschloss sich Schröder mit Zustimmung der ganzen herrschenden Klasse zu einem Schachzug, nämlich mit Hilfe eines grandiosen Wahlspektakels zu versuchen, den Glauben an die Demokratie zu verstärken und gleichzeitig die Arbeiter davon abzuhalten, sich mit dem Bankrott des Kapitalismus und der Suche nach einem Ausweg, gar der Frage nach der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft zu befassen. Dieser Schachzug gegenüber der Arbeiterklasse ist dem Kapital gelungen.
Jetzt schon lässt sich erkennen, dass das Kapital im Windschatten des Wahlkampfes viele Angriffe durchgeboxt hat. Denn tatsächlich ist es der herrschenden Klasse gelungen, gegenüber einer Reihe von seitdem angekündigten Massenentlassungen für eine außerordentlich große Ruhe in den Betrieben zu sorgen. Dabei wurde in einigen der größten Betrieben des deutschen Kapitals – VW und Siemens – massiver Stellenabbau angekündigt. Wie eine alles erstickende Brandbombe hat das Wahlkampfspektakel und der Zirkus um die Bildung einer neuen Regierung stark mit zu einer Eindämmung der Widerstandsbereitschaft der Beschäftigten gegen die Entlassungen beigetragen.
Was ist den Herrschenden nützlicher als eine Situation, wo sich die Beschäftigten, die Arbeitslosen, die Rentner usw. von der Auseinandersetzung um die für sie wichtigen Fragen abhalten, sich statt dessen an die Wahlurnen locken lassen und durch die Auseinandersetzung blenden lassen, welche der bürgerlichen Parteien nunmehr über den größten Stimmenanteil verfügt und bei einer Regierungskoalition welche Rolle spielt?
Als ob nicht alle Parteien allen in der Öffentlichkeit vorgetragenen Differenzen zum Trotz sich in einem Punkte einig sind und auch dort ihren gemeinsamen Nenner finden, nämlich dass “Reformen” notwendig sind, dass diese ”Reformen tiefe Einschnitte” verlangen, will heißen, dass dafür die Arbeiterklasse blechen muss.
Wir haben von allen bürgerlichen Parteien nichts anderes zu erwarten als noch mehr Opfer von der Arbeiterklasse
Deshalb dürfen wir uns nicht weiter durch das Wahlspektakel und das Gerangel um die Bildung einer Regierung von der Verteidigung unserer Interessen abhalten lassen. Denn egal, welche Parteienkoalition die Regierungsgeschäfte übernimmt, für die Arbeiterklasse kommt dabei nur eines raus: noch mehr Opfer hinnehmen.
Dabei gibt es für die Arbeiterklasse allen Anlass, sich des wirklichen Ernstes der Lage des Kapitalismus weiter bewusst zu werden, statt sich an der Nase herumführen zu lassen.
Haben nicht die letzten Monate weiter vor Augen geführt, wie sehr der Kapitalismus die Menschheit in den Abgrund treibt!
Sprechen nicht die Auswirkungen des Hurrikan Katrina in den USA Bände, wie der Kapitalismus mit dem Leben der Menschen umgeht! Hat nicht die Haltung der US-Regierung veranschaulicht, wie der Kapitalismus unzählige Menschenleben aufs Spiel setzt! Jetzt schon hat die US-Regierung, die jedes Jahr Hunderte Milliarden Dollar auf Kriegsschauplätzen verpulvert, angekündigt, dass für das versprochene Wiederaufbauprogramm an der US-Golfküste die Beschäftigten in den USA durch Lohnkürzungen zur Kasse gebeten werden.
Zeigt nicht die jüngste Welle von Bombenattentaten in dem ältesten Industriestaat der Welt, Großbritannien,  dass die Zunahme von Terrorismus und staatlichem Terror nicht auf die alltäglichen Bombenmassaker im Irak oder anderswo im Mittleren Osten begrenzt sind, sondern auch im Herzen der Industriestaaten immer mehr Menschen davon betroffen sind.
Und dass die herrschende Klasse gegenüber dem Versinken ihres Systems in einem noch größeren Chaos von Kriegen, Zerstörungen aller Art, Terror usw. nur noch mehr Militarisierung, Repression und Todesschüsse versprechen kann.
Wer  bislang noch glaubte, dass der Kapitalismus vor allem durch Kriege Zerstörungen und Verwüstung hervorruft (gerade dieses Jahr erinnerten die Jahresfeiern an die Vernichtungen ganzer Städte im 2. Weltkrieg - Dresden, Hiroshima - usw. daran), der muss nun erkennen, dass die jüngsten ”Naturkatastrophen” (Überschwemmungen in großen Teilen Europas, Trockenheit und Waldbrände in Portugal, Hurrikans in den USA), auch ein Ergebnis des Raubbaus des Kapitalismus an der Natur, seiner wilden Anarchie sind, die dieses System unvermeidlich mit sich bringt. Immer mehr sind die zerstörerischen Folgen des Niedergangs dieses Systems auch im Herzen der Industriestaaten selbst zu spüren.
Dem Kapital graut es davor, dass die Arbeiterklasse anfängt, über die Ausweglosigkeit dieses Systems und den Zusammenhang zwischen Krise, Krieg, Zerstörung, Terror, Militarisierung, Verarmung usw. nachzudenken und darüber zu reden anfängt. Die Herrschenden wollen partout vermeiden, dass der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Aspekten unserer Lage zur Sprache kommt.
Mit den Ablenkungsmanövern verschiedenster Art müssen die Kapitalisten auf der Welt versuchen, von den eigentlichen Ursachen der ganzen Misere und den wahren Perspektiven dieses System ablenken.
Für die Arbeiterklasse kommt es mehr denn je darauf an, sich nicht durch ein bürgerliches Wahlspektakel blenden zu lassen, sondern über das Wesen und die Ausweglosigkeit dieses Systems nachzudenken und zu diskutieren.
Dies erfordert und beinhaltet eine Bewusstseinsentwicklung, die die Herrschenden unbedingt blockieren wollen.
Dazu ist es unabdingbar, dass die Arbeiter gegenüber all den Angriffen ihren eigenen Widerstand organisieren.
Dieser Widerstand kommt nicht mit Hilfe  irgendwelcher ”Brandreden” im Parlament durch die neu gewählten Chefdemagogen der Linkspartei zustande, sondern nur durch die Initiative der Arbeiter selbst. Nicht im Parlament kann Gegendruck entfaltet werden, sondern nur durch die massive Gegenwehr der Betroffenen selbst. Das zeigt das jüngste Beispiel der Beschäftigten am Heathrower Flughafen in London.
Nichts kann das Denken, das Handeln, die Initiative der Arbeiter selbst ersetzen. 24.09.05

Nationale Situationen: 

  • Wahlen in Deutschland [35]

Geographisch: 

  • Deutschland [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [17]

Streik auf dem Flughafen London-Heathrow im August 05

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Die Medien, die öffentliche Stimme des Staats und der herrschenden Klasse, haben ihrer Wut gegen die Streikenden von Heathrow freien Lauf gelassen. Wie konnten die Arbeiter nur wagen, Klassensolidarität über die Profite des Unternehmens zu stellen? Wissen sie denn nicht, dass Dinge wie die Solidarität der Arbeiter und Klassenkampf veraltet, überholt sind? Wissen sie nicht, dass all diese Sachen in den 7oer Jahren aus der Mode gekommen sind? Laut einem leitenden Angestellten eines Konkurrenzunternehmens von British Airways, zitiert in der Sunday Times vom 13. August, ist die Luftfahrt in verschiedener Hinsicht die letzte noch nicht reformierte Industrie. In ihr herrschen noch Zustände wie an den Docks, in den Bergwerken oder in der Autoindustrie in den 70er Jahren. Warum wollen diese Dinosaurier-Arbeiter nicht endlich Vernunft annehmen und akzeptieren, dass das Prinzip der heutigen Gesellschaft das  „Jeder- für- sich“ ist und nicht das „Arbeiter der Welt, vereinigt euch!“?

Es ist doch seltsam, wie diese neue Philosophie der individuellen Freiheit die Bosse nicht daran hindert, absoluten Gehorsam von den Lohnsklaven zu fordern. Einige Medienstimmen, das ist wahr, sind ein bisschen kritisch gewesen gegenüber der von Gate Gourmets' offen propagierten Todesschuss-Praxis: Als die Mitarbeiter dieser Catering-Firma eine Versammlung abhielten, um darüber zu diskutieren, wie sie auf den Angriff des Managements auf ihre Arbeitsplätze reagieren sollten, wurde das Treffen von Security-Schlägertypen eingeschlossen und 600 Arbeiter – auch jene, die, die krank oder im Urlaub waren - auf der Stelle entlassen, weil sie an einer nicht erlaubten Versammlung teilgenommen hatten, einige von ihnen auf Zuruf. Dies ist ziemlich heftig, aber es ist nur ein offenerer Ausdruck dafür, was sich die Firmenleitungen überall heute erlauben. Arbeiter bei Tesco müssen damit rechnen, dass die ersten drei Krankheitstage nicht mehr bezahlt werden, und  andere Firmen schauen mit Interesse auf diese neue Reform bei Tesco. Lagerarbeiter müssen einen elektronischen Clip tragen, damit sichergestellt werden kann, dass auch nicht eine Sekunde der Geschäftszeit vergeudet wird. Das gegenwärtige politische Klima, in dem wir jede Polizeischikane im Namen des Antiterrorismus annehmen sollen, steigert nur die Arroganz der Chefs.

Diese Angriffe sind nicht darauf zurückzuführen, dass der oder jener Chef besonders habgierig ist oder amerikanische Methoden anwendet. Die wachsende Brutalität der Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen  ist der einzige Weg, wie die Kapitalistenklasse auf die Weltwirtschaftskrise antworten kann. Die Löhne müssen gekürzt, die Arbeitshetze erhöht, die Renten radikal herabgesetzt, die Arbeitslosenunterstützung gesenkt werden, weil jede Firma und jedes Land verzweifelt darum bemüht ist, die Konkurrenten auf dem überschwemmten Weltmarkt auszubooten.

Angesichts dieser Angriffe ist die Solidarität unter uns Arbeitern die einzige Verteidigung. Die Gepäckarbeiter und anderes Personal in Heathrow zeigten mit ihrem Streik gegen die Massenentlassungen bei Gate Gourmet, dass sie das voll verstanden hatten. Sie selbst sind denselben Angriffen ausgesetzt und in ähnliche Abwehrkämpfe verwickelt wie die Arbeiter der Catering-Firma. Die unmittelbare Wirksamkeit ihres Streiks zeigte die Macht der Arbeiter, wenn sie vereinigt und  entschlossen handeln. Es ist die einzige Basis, um die Bosse zu zwingen, die entlassenen  Arbeiter wieder einzustellen, und es wird die Flughafenchefs zögern lassen, ähnliche Angriffe in der nächsten Zeit zu starten. Isoliert und in Branchen getrennt, sind die Arbeiter eine leichte Beute für die herrschende Klasse. Aber sobald der Kampf beginnt, sich auf andere Arbeiter auszubreiten, ändert sich das Bild.

Klassensolidarität: die wahre Hoffnung der Menschheit

Es gibt jedoch eine noch wichtigere Bedeutung der Arbeitersolidarität. In einer Gesellschaft, die überall um uns herum zerfällt, wo das Prinzip des „Jeder-für-sich“ die Form von Terroristenbomben, rassistischen Anschlägen, Gangstertum und Willkür aller Arten annimmt, liefert die Arbeitersolidarität  über alle Berufs-, religiösen, Geschlechts- oder nationalen Trennungen hinweg das einzige Gegenmittel zu diesem System, den einzigen Ausgangspunkt für die Schaffung  einer anderen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die sich nach den Bedürfnissen der Menschen richtet und nicht duch die Jagd nach dem Profit bestimmt wird. Angesichts eines Systems, das allerorten in Krieg und Selbstzerstörung versinkt, ist es keine Übertreibung zu sagen, dass Klassensolidarität die einzige wirkliche  Hoffnung für das Überleben des Menschheit darstellt.

Dass dies keinesfalls eine illusorische Hoffnung ist, wird deutlich, wenn man über die Grenzen Großbritanniens schaut. Nach Jahren der Konfusion und Zerstreuung hat es in den letzten zwei Jahren eine wachsende Belebung der Arbeiterkämpfen gegeben. In den bedeutendsten von ihnen, den Kämpfen der französischen Arbeiter gegen Angriffe auf die Renten im Jahr 2003 und dem Kampf der deutschen Automobilarbeiter gegen Entlassungen, war das Element der Solidarität wesentlich gewesen. Diese Bewegungen bestätigen, dass die internationale Arbeiterklasse nicht verschwunden oder besiegt ist.

Natürlich haben die Medien die Bedeutung der solidarischen Aktionen in Heathrow zu verstecken und herunterzuspielen versucht. Sie begannen von familiären Beziehungen zwischen den Arbeitern der Catering-Firma und den Gepäckarbeitern und anderen Flughafenangestellten zu reden. Diese existieren, doch während die Mehrheit der Catering-Angestellten indischer Herkunft ist, sind die Gepäckarbeiter mehrheitlich weißer Hautfarbe. Kurz, es handelte sich um echte Klassensolidarität, die über alle ethnischen Spaltungen hinausging.

Die Nachrichtensendungen versuchten auch, die Sympathie, die den Streikenden des Flughafens von anderen Arbeitern entgegengebracht wurde, kleinzureden, indem sie die Scheinwerfer auf die Leiden der Passagiere richteten, deren Flüge durch den Streik unterbrochen wurden. Wenn man den besten Teil des Jahres, den Urlaub, wo man weit weg von der Arbeit ist, schwitzend auf dem Flughafen verbringen muss, ist es sicher keine Freude zu sehen, wie die Urlaubspläne durcheinander gebracht werden. Anderen Arbeitern und der Bevölkerung ihre Taten zu erklären ist im Allgemeinen eine Aufgabe, die alle Arbeiter auf sich nehmen müssen, wenn sie in den Kampf treten. Aber sie müssen auch der heuchlerischen Medienerpressung widerstehen, die stets versucht, sie als die Übeltäter darzustellen.

Die wirkliche Rolle der Gewerkschaften

Wenn die herrschende Klasse nicht will, dass wir Klassensolidarität erkennen, sobald wir sie vor uns haben, dann deswegen, weil es eine andere Wahrheit gibt, die die Herrschenden zu verbergen suchen: dass die Arbeitersolidarität und die Gewerkschaften nicht mehr dasselbe sind.

Die bei diesem Kampf verwendeten Methoden waren eine direkte Herausforderung für das pedantische Regelwerk der Gewerkschaften:

- Die Arbeiter von Gate Gourmet beschlossen, eine Vollversammlung in ihrer Kantine abzuhalten, um über die neuesten Manöver des Managements zu diskutieren. Die Versammlung wurde inoffiziell während der Arbeitszeit abgehalten. Eine solche Praxis, Vollversammlungen abzuhalten, auf deneAn diskutiert wird und Entscheidungen getroffen werden, richtet sich gegen alle offiziellen Gewerkschaftsgepflogenheiten.

- Die anderen Flughafenangestellten ignorierten die offiziellen Gewerkschaftsrichtlinien, indem sie streikten, ohne sich vorher der Abstimmungsprozedur zu unterziehen, und sie widersetzten sich dem Gewerkschaftreglement  weiter, indem sie sich an einer Folgeaktion beteiligten.

Solche Aktionen sind für die herrschende Klasse gefährlich, weil sie aus der Kontrolle der Gewerkschaften zu geraten drohen. Die Gewerkschaften sind offizielle, d.h. staatlich anerkannte Organisationen, um den Klassenkampf unter Kontrolle zu halten. Und in letzter Zeit haben „wilde Streiks“ zugenommen: der letzte größere Arbeitskampf in Heathrow, die zahlreichen Streiks bei der Post; und zu derselben Zeit wie der letzte Kampf in Heathrow gab es inoffizielle Streiks bei den Busfahrern Edinburghs und in der Fordgießerei in Leamington Spa.

Im Falle von Heathrow gelang es der TGWU (Gewerkschaft), die Lage zu beruhigen. Offiziell durfte der TGWU den inoffiziellen Streik nicht anerkennen und musste die Arbeiter zurück an ihre Arbeit bringen. Aber mit der Hilfe der  „revolutionären“ Gruppen wie der SWP ist es der T und G gelungen, den Kampf als einen Angriff auf die Gewerkschaften hinzustellen, wobei sie die Schikanierung von militanten Arbeitern - die sicherlich Teil der Strategie von Gate Gourmet - mit einem Angriff auf die Gewerkschaft gleichstellte. Dies macht es für die Vertreter der Basisgewerkschafter - von denen die meisten wirklich glauben, dass sie für ihre Kollegen etwas tun - leichter, den Kampf im gewerkschaftlichen Rahmen zu halten.

Aber was sich da zusammenbraut, ist kein Kampf zur Verteidigung der Gewerkschaften, sondern es handelt sich zunehmend um Massenbewegungen, in denen die Arbeiter auf die Gewerkschaftsmaschinerie als ihr erstes Hindernis stoßen. Um eine im und durch den Kampf weitest mögliche Klassensolidarität aufzubauen, werden sich die Arbeiter gezwungen sehen, ihre eigenen, für alle Arbeiter offenen Vollversammlungen abzuhalten und Streikkommittees zu wählen, die den Vollversammlungen verantwortlich sind. Militante Arbeiter, die diese Perspektive verstehen, sollten jetzt nicht isoliert bleiben, sondern beginnen, zusammen zu kommen, um miteinander zu diskutieren und die Kämpfe der Zukunft vorzubereiten.          

                                              World Revolution , Zeitung der Sektion der IKS in Großbritannien,  August 05

Geographisch: 

  • Großbritannien [44]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [36]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [6]

Weltrevolution Nr. 133

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Argentinien: Die Arbeiterklasse kämpft auf ihrem Klassenterrain

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Alles was die Regierung des Herrn K (1) über die "fantastische Erholung" der argentinischen Wirtschaft nach dem Debakel von 2001 sagt, ist reiner Unsinn. Die Wirklichkeit jedoch, an der die Arbeiter und ein Großteil der Bevölkerung leiden, wird immer beängstigender. Einige Zahlen illustrieren es: Der Bevölkerungsteil, der mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum überleben muss, lag im Jahr 1976 noch bei 5%, erreichte dann im Jahr 2004 schon einen Anteil von rund 50%; 11 Millionen Menschen verfügen lediglich über 150 Pesos pro Monat zum Leben, während die Armutsgrenze bei einem Einkommen von 389 Pesos festgelegt wurde (2). Der Hunger, zu Beginn begrenzt auf die nördlichen Provinzen wie Tucumán und Salta (wo 80% der Kinder an chronischer Unterernährung leiden), hält nun Einzug in die ärmsten Zonen der schrecklichen Elendssiedlungen südlich von Buenos Aires.
Gegen diese unerträgliche Situation haben sich die Arbeiter gewehrt. Zwischen Juni und August fand eine der größten Streikwellen seit 15 Jahren statt (3). Diese Welle wurde angeführt von den Kämpfen der Spitäler Quilmes und Moreno, von Supermärkten wie Coto, Parmalat, Tango Meat oder Lapsa, der U-Bahn von Buenos Aires, der Gemeindearbeiter von Avellaneda, Rosario und der wichtigsten Ortschaften der südlichen Provinz Santa Cruz, der Seeleute und Fischer auf nationaler Ebene, der Justizangestellten des ganzen Landes, der Lehrer aus fünf Provinzen, der Ärzte der Gemeinde Buenos Aires, der Dozenten der Universität von Buenos Aires und Córdoba ... Unter diesen Kämpfen ist einer besonders hervorgetreten, nämlich jener der Kinderklinik Garrahan (Buenos Aires), der sich durch die Kampfbereitschaft und einen Geist der Einheit und Solidarität auszeichnete. Córdoba, eines der wichtigsten Industriezentren des Landes, erlebte im Juni eine Vervielfachung der Kämpfe, wie es sie während  zweier Jahrzehnte nicht mehr gegeben hatte: Autoindustrie, Gas, Lehrer, öffentliche Angestellte...
Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels  scheint es, dass die Kampfwelle zurückgeht. Jetzt stehen  nicht mehr die Arbeiterkämpfe im Vordergrund der Aktualität von Argentinien, sondern ein lauter und in den Medien groß aufgebauschter Zusammenstoß zwischen den Organisationen der Piqueteros und der Regierung, wie auch das übliche Spektakel der Politiker im Hinblick auf die nächsten Parlamentswahlen. Die Kämpfe konnten hier und dort zwar vorübergehende Verbesserungen der Löhne erreichen, insbesondere im öffentlichen Dienst. Trotzdem lag angesichts eines Kapitalismus, der immer stärker in eine ausweglose Krise gerät, der Hauptsieg der Kämpfe nicht auf ökonomischer, sondern auf politischer Ebene. Die Lehren, die man daraus ziehen kann, sind unentbehrlich für die Vorbereitung der kommenden Kämpfe; die Solidarität, der Geist der Einheit, die innerhalb des Proletariats heranreifen; die Einsicht darüber, wer sein Freund und wer sein Feind ist...

Die Hauptlehre der Kampfwelle: Das Proletariat erkennt sich im Kampf als Klasse wieder

Im Jahr 2001 fand in Argentinien ein gewaltiger gesellschaftlicher Aufstand statt, der in der Presse der Globalisierungsgegner und von einer Gruppe des proletarischen Milieus, dem IBRP, als eine "revolutionäre" Situation begrüßt wurde. Diese Mobilisierungen fanden jedoch klar auf einem klassenübergreifenden Terrain mit nationalistischen Forderungen und solchen nach "Reformen" der argentinischen Gesellschaft statt, die nichts anderes bedeuten können als die Verstärkung der kapitalistischen Macht. In einem Artikel, den wir in der Internationalen Revue Nr. 30 publizierten, hoben wir hervor: "Das Proletariat in Argentinien ist von einer Bewegung der klassenübergreifenden Revolte durchtränkt und verwässert worden, einer Bewegung des Volksprotestes, die nicht die Stärke des Proletariats, sondern seine Schwäche ausdrückt. Die Klasse konnte weder ihre Autonomie noch ihre Selbstorganisation  behaupten".
Deshalb bekräftigten wir auch, dass "das Proletariat kein Bedürfnis (hat), sich mit Illusionen abzufinden und sich krampfhaft an sie zu klammern. Was es benötigt, ist, den Faden seiner eigenen revolutionären Perspektiven wieder aufzunehmen, sich selbst auf der gesellschaftlichen Bühne als die einzige Klasse zu behaupten, die in der Lage ist, der Menschheit eine Zukunft anzubieten und dabei die anderen nicht-ausbeutenden Gesellschaftsschichten mit sich zu ziehen". Weiter sagten wir, dass "das Proletariat in Argentinien, dessen Kampfähigkeit noch lange nicht erschöpft ist", und dass sich diese wieder entwickeln werden, wenn die Ereignisse von 2001 uns "als eine Lektion dienen: Klassen übergreifende Revolten schwächen nicht die Macht der Bourgeoisie, sondern das Proletariat".
Heute, 4 Jahre später, zeigt die Streikwelle in Argentinien eine kämpferische Arbeiterklasse, die sich auf ihrem eigenen Klassenterrain bewegt und die beginnt, sich - wenn auch noch sehr scheu - als Klasse mit eigener Identität wieder zu erkennen. Wir sind nicht die einzigen, die das sagen. In der Publikation "Lucha de Clases: Revista Marxista de Teoría y Política" ("Klassenkampf: Marxistische Zeitschrift für Theorie und Politik") vom Juli 2005, geschrieben von Linksintellektuellen, wird anerkannt, dass "eines der herausragenden Ereignisse in diesem letzten Jahr die Rückkehr der kämpfenden Arbeiter ins Zentrum der politischen Bühne Argentiniens nach Jahren des Rückzuges war. Wir stehen vor einem langen Zyklus von Verteidigungskämpfen, in dem die Arbeiter um die Verbesserungen ihrer Löhne und ihrer erniedrigenden Arbeitsbedingungen kämpfen und versuchen, sich die verlorenen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte wieder anzueignen". Und die Zeitschrift fügt hinzu: "Während die Arbeiter des Industrie- und Dienstleistungssektors anfingen, ihre Stimme zu erheben, verstummten andere Stimmen, jene nämlich, die den "Abschied des Proletariats" verkündet hatten".
Ist nun das Auftauchen eines kämpferischen Proletariats ein lokales Phänomen, das an die Eigenheiten der Situation Argentiniens gebunden ist? Ohne den Einfluss der besonderen Faktoren zu negieren - insbesondere die schnelle und brutale Verschlechterung der Lebensbedingungen der großen Massen der Bevölkerung als Folge eines wirtschaftlichen Absturzes, welcher sich mit dem Zusammenbruch von 2001 beschleunigte -, ist diese Welle Teil eines internationalen Prozesses der Wiederaufnahme der Klassenkämpfe, die wir seit 2003 beobachtet und aufgezeigt haben.
In einem kürzlich veröffentlichten Text (4) haben wir die allgemeinen Charakteristiken dieser Wiederaufnahme der Kämpfe hervorgehoben: Der Prozess ist langsam und schwierig und hat bis jetzt noch nicht in spektakulären Kämpfen gemündet, er schreitet auch nicht vorwärts in einer Abfolge von siegreichen Kämpfen, sondern über Niederlagen, aus welchen die Arbeiter ihre Lehren ziehen und damit ihre kommende Kämpfen vorantreiben. Der Leitfaden, der ihn führt und langsam zu seiner Reifung beiträgt, ist "ein noch sehr konfuses Gefühl - das in Zukunft aber noch entwicklungsfähig ist - dass es für die Widersprüche des Kapitalismus heute keine Lösung gibt, sei es auf wirtschaftlicher Ebene oder auf den anderen Ebenen seiner historischen Krise wie die permanenten kriegerischen Zusammenstösse, das zunehmende Chaos und die Barbarei, die jeden Tag klarer ihren unüberwindbaren Charakter aufzeigen...." (5).
Ähnlich wie in Kämpfen anderer Länder (Heathrow in Großbritannien, Mercedes und Opel in Deutschland) war in dieser Welle eine fundamentale Waffe für den Fortschritt der proletarischen Kämpfe gegenwärtig: die Suche nach der Solidarität.
In der U-Bahn von Buenos Aires streikte spontan die ganze Belegschaft auf Grund des Todes von zwei Wartungsarbeitern, die wegen völlig fehlenden Schutzmassnahmen durch Arbeitsunfälle getötet wurden. Die Arbeiter der Spitäler Posadas, Italiano und Francés der Hauptstadt begannen mit verschiedensten Solidaritätsaktionen für ihre Genossen von Garrahan. Im Süden, in der Provinz Santa Cruz, löste der Streik der Gemeindearbeiter der wichtigsten Städte eine große Sympathie in breiten Bevölkerungsschichten aus. Sie gipfelte in einer enormen Teilnahme an ihren Demonstrationen im Zentrum der Stadt. In Coleta Olivia schlossen sich die Arbeiter der Erdölindustrie, die Juristen, Lehrer, Arbeitslosen einer Demonstration der Beschäftigten der  Gemeindeverwaltung an. Die Arbeiter der Erdölförderstätten traten in einen Streik, in dem sie die Forderungen der Gemeindeangestellten zu ihren eigenen machten und dazu noch weitere stellten. Dasselbe taten die Arbeiter des Unternehmens Barillari im Fischereisektor. In Neuquén schlossen sich die Arbeiter des Gesundheitswesens spontan der Demonstration der streikenden Lehrer an, die einen Marsch zur Provinzregierung organisierten. Angegriffen von der Polizei, konnten die Demonstrierenden sich abermals sammeln und sahen, wie Leute von der Strasse sich der Demonstration anschlossen und die Polizei, die einen Sicherheitsabstand einhielt, hart zurückwiesen. Ein Streik an allen Schulen des Landes wurde zur Unterstützung der Lehrer von Neuquén ausgerufen.
Es ist auch wichtig, die einheitlichen Forderungen nach Erhöhung der Löhne der Arbeiter von Garrahan zu erwähnen: Statt eine Forderung nach prozentualen Lohnerhöhungen zu stellen, welche die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sektoren nur vertiefen und somit die Spaltung und die Konkurrenz unter den Arbeitern verstärken würden, kämpften sie für eine Lohnerhöhung für alle, in dem Sinne, dass diese Lohnunterschiede verkleinert und dadurch die schlecht bezahlten Bereiche begünstigt würden.
Die letzten 15 Jahre standen unter dem Zeichen der schlimmsten Formen des degenerierenden Kapitalismus: Kriege, ökonomische Erschütterungen, Katastrophen aller Art, Terrorismus, Morde, die schlimmste Barbarei… Es schien, also ob es angesichts dieser Perspektive nur zwei Möglichkeiten gäbe: Einerseits die von den Organisationen des Kapitals angeführten Protestaktionen, welche sich ein "antikapitalistisches" Gesicht gaben, wie die Globalisierungsgegner, deren "Programm" wir bei ihrem "Kollegen" Lula in Brasilien umgesetzt sehen konnten; andererseits die hoffnungslosen Klassen übergreifenden Aufstände. Nun ändert sich das Panorama. Langsam und unter Leiden bereitet das Proletariat sein eigenes Klassenterrain vor und beginnt damit, die wirkliche Fahne des Kampfes gegen die kapitalistische Barbarei zu erheben, unter der sich alle Ausgebeuteten und Unterdrückten der Welt vereinigen können.

Die Antwort der Bourgeoisie

Es wäre dumm zu glauben, dass die Bourgeoisie die Arme verschränkt gegenüber der Auferstehung ihres Todfeindes. Sie antwortet schnell mit einer brutalen Repression darauf, belässt es aber nicht dabei, sondern weitet ihre Antwort weiter aus, indem sie das größte Gift, nämlich die politische und gewerkschaftliche Vernebelung anwendet.
Die Bundes- und die Provinzregierungen setzten die Polizei gegen die Streikenden ein; Verhaftungen, Gerichtsstrafen, administrative Sanktionen wurden über zahlreiche Arbeiter verhängt. Aber trotz allem konzentrierte sich die Antwort der Bourgeoisie auf politische Manöver, um die kämpferischsten Sektoren zu isolieren, sie in eine Sackgasse und die Demoralisierung zu führen und letztendlich in die Köpfe einzugravieren, dass "der Kampf sich nicht lohne", dass man durch die Mobilisierungen nichts erreiche, sondern dass man lediglich zwischen zwei Alternativen wählen müsse, wolle man etwas erreichen:
- Die Mobilisierungen "von unten": der gewalttätige Druck der Minderheit der Piqueteros auf der einen Seite; und die Art der "Basis-Organisationen" die Misere zu vertuschen: mittels selbstverwalteter Betriebe, des Tauschhandels, Volksküchen etc.
- Die Aktionen von "oben": die Verhandlungen der Gewerkschaften und die guten Taten der Politiker.
Also, sich wie ein Kreisel innerhalb der vom Staat kontrollierten Alternativen zu bewegen und sich einengen zu lassen, um somit die Unterjochung der Arbeiter aufrecht zu erhalten! Für sie hat der Kampf von Garrahan - wir haben ihre führende Rolle in der aktuellen Welle aufgezeigt - die Rolle des Sündenbockes übernommen.
Erstens wurde eine enorme Kampagne entfesselt, um die Arbeiter als "Terroristen" uns als verständnislos und auf ihre "Sonderinteressen" fixiert hinzustellen, denen die hospitalisierten Kinder egal seien. Die Regierenden selber aber, die mit einem üblen Zynismus Tausende von hungernden Kindern sterben lassen, stellten plötzlich ihre "frenetische Sorge" gegenüber den durch diese "unmenschlichen" Arbeiter "bedrohten" Kindern zur Schau. Die Regierung des Herrn K., unterstützt von den großen Gewerkschaften (CGT und CTA; das Mitglied der Letzteren, ATE, stellte sich sogar rundweg gegen die Streiks), entfaltete die schlimmste Unnachgiebigkeit. Somit wurden die Arbeiter von Garrahan absichtlich von den Lohnverhandlungen der Staatsangestellten ausgeschlossen, und darüber hinaus akzeptierten die Agenten der Regierung es, dass Repräsentanten anderer Streikkollektive empfangen wurden (wie zum Beispiel die Dozenten der Universität). Sie verweigerten systematisch jeglichen Kontakt mit jenen von Garrahan.
All das war eine deutliche Provokation, um die Arbeiter von Garrahan zu isolieren. Dazu kam die absurde Anschuldigung, dass sie von einer "anti-progressiven" Verschwörung unter der Führung von Menem, Duhalde und Maccri manipuliert worden seien (6).
Was aber die Kämpfe der Arbeiter von Garrahan am schwersten schwächte, war die ihnen von den Piqueteros-Organisationen (7) entgegengebrachte "Hilfe". Diese haben sich im Namen der "Solidarität" wie Kletten an den Kampf von Garrahan festgehakt (das gleiche machten sie mit den Arbeitern von Tango Meat). Somit sahen sich die Arbeiter von Garrahan - die Regierung und die Medien schlachteten das bis zum Maximum aus - mit den "Kampfmethoden" der Piqueteros-Organisationen in der Form von kleinen Kommando-Aktionen verbunden, die statt das Kapital und den Staat wirklich anzugreifen, den anderen Arbeitern nur noch mehr Probleme brachten. So blockierten die Piqueteros-Organisationen die strategische Brücke Pueyrredón zu Stosszeiten und provozierten dadurch Verkehrsstaus, wodurch viele Arbeiter der südlichen Viertel von Buenos Aires betroffen waren. Oder 45 Personen versperrten in Cañadón Seco (im Süden) den Zugang zu den Raffinerien von Repsol-YPF, ohne zuvor die Arbeiter des Betriebes zu konsultieren.
Nach und nach wandte sich die öffentliche Aufmerksamkeit vom Kampf von Garrahan und der Arbeiterkämpfe ab und richtete sich auf von der Presse aufgebauschten Zusammenstoß zwischen den Organisationen der Piqueteros und der Regierung, der von einem spektakulären Aufmarsch der Polizei in Richtung der Brücke Pueyrredón begleitet wurde.
Die Speerspitze der Kampagne gegen die Arbeiterklasse war aber die Organisierung einer falschen Solidarität mit den Arbeitern von Garrahan. Diese sahen sich überfallen durch einen Lawine von gewerkschaftlichen Basisorganisationen, von Piqueteros-Organisationen, von Gruppen der extremen Linken, von sozialen Organisationen jeder Art, deren Führer schöne Diskurse über die "Unterstützung" führten und lange Reden mit leeren Aufrufen hielten. Das löste ein illusorisches Gefühl von Solidarität aus, obwohl es in Wirklichkeit ein Ring um die Arbeiter herum bedeutete mit dem Zweck, sie immer stärker zu isolieren und sie damit in die vollständige Demoralisierung zu treiben.
Das war möglich, weil der Kampf von Garrahan, trotz seiner Kampfbereitschaft und seines Geistes der Einheit, seit Beginn eisern kontrolliert wurde durch eine Rote Liste innerhalb der Branchen-Gewerkschaft ATE, die in Opposition zu einer Grünen Liste stand, die in dieser Gewerkschaft die Führung inne hatte. Angesichts der Abneigung, welche die Arbeiter gegen die Gewerkschaften zu spüren beginnen, springen diese "Roten" Listen insbesondere in Momenten des Kampfes schnell in die Bresche, um die Arbeiter unter der Kontrolle der Gewerkschaften zu halten. Das zeigt sich gerade dort, wo diese falsche Solidarität mittels der "Koordination mit anderen Basisorganisationen" aufgezogen wird. Wie Gustavo Lerer, Führer der Roten Liste von Garrahan, sagte: "Heute kann man nicht sagen, dass die ATE tatsächlich kämpfe, sondern wir, die Basis, sind diejenigen die streiken. Die Idee ist es, mit allen denen zusammen zu arbeiten, mit denen wir können: Wir sollen versuchen, das von unten her zu tun, was die Führer von oben (…) nicht machen, nämlich dass sich die Arbeitslosenorganisationen, die Piqueteros - welche unsere Patienten sind - mit uns solidarisieren." Die Solidarität wird somit reduziert auf die "Unterstützung von Organisationen" und bezieht sich auf "Patienten", dass heißt, dass es keine Angelegenheit eines allgemeinen Kampfes der Klasse mehr ist, sondern ein privates Geschäft der Arbeiter und Patienten.
Die wirkliche Solidarität kann sich aber nur außerhalb und im Gegensatz zu den gewerkschaftlichen Fesseln entwickeln und besteht im gemeinsamen Kampf: neue Sektoren von Arbeitern in den Kampf inkorporieren, Delegationen versenden, Demonstrationen und Massenversammlungen durchführen, wo die Arbeiter auf direkte Art und Weise miteinander erleben, kämpfen, denken und sich als ein Ganzes fühlen. Weiter können sich andere Unterdrückte und Ausgebeutete dem Kampf anschließen. In dieser Bewegung beginnen die Spaltungen, welche die Arbeiter untereinander atomisieren, zu zerbrechen, und dadurch können die Arbeiter in lebendiger Weise erfahren, dass sie einer gemeinsamen Klasse angehören, indem sie ihre Kraft und Einheit wahrnehmen. "Das schlimmste für die Arbeiterklasse ist nicht die klare Niederlage, sondern das Gefühl eines Sieges nach einer verdeckten wirklichen und schlimmen Niederlage: Es war dieses Gefühl des "Sieges" (gegen den Faschismus und für die Verteidigung des "sozialistischen Vaterlandes"), das das effizienteste Gift darstellte, um das Proletariat in die im zwanzigsten Jahrhundert  über vier Jahrzehnte dauernde Konterrevolution versinken zu lassen und dort eingesperrt zu halten." IKS  16.09.05
(1) Kirchner, Präsident von Argentinien, der allgemein Herr K (el Señor K) genannt wird.
(2) Daten aus der Tageszeitung "Clarín" vom 30.08.2005.
(4) vgl. Internationale Revue Nr. 34 "Resolution über die Entwicklung des Klassenkampfes".
(5) a.a.O. Punkt 6
(7) Vgl. die Artikel über die Piqueteros-Bewegung in Internationale Revue Nr. 30 und über die Gruppe Núcleo Comunista Internacional Internationale Revue Nr. 35.

Geographisch: 

  • Argentinien [47]

Theoretische Fragen: 

  • Historischer Kurs [36]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarischer Kampf [6]

Demo gegen Jugendarbeitslosigkeit: Gegen Spaltungsversuche - Einheit der Arbeiterklasse!

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Anfang November 2005 führte die Gewerkschaft Unia eine Aktionswoche zum Thema Jugendarbeitslosigkeit durch, die am 5. November mit einer Demonstration in Zürich endete. Der Slogan der Gewerkschaften lautete: "Future Now! - Arbeit und Ausbildung für alle Jugendlichen". Obwohl die politische Unterstützung breiter nicht hätte sein können - von der Christlichen Volkspartei bis zum "Revolutionären Aufbau" - nahmen nur einige Hundert Leute daran teil, wobei ein Grossteil davon Gewerkschaftsaktivisten waren.
 
Die nur mässige Beteiligung an der Aktion der vereinigten Linken kann nicht daran liegen, dass das Thema Jugendarbeitslosigkeit niemanden interessieren würde. Auch wenn die Arbeitslosigkeit in der Schweiz noch nicht die gleichen Ausmasse angenommen hat wie in Deutschland, Frankreich oder Spanien, ist sie doch deutlich spürbar und nimmt ständig zu. Immer mehr Arbeitsplätze gehen verloren. Gerade für diejenigen, die die Schule verlassen, wird es immer schwieriger, eine Lehrstelle oder überhaupt eine Lohnarbeit zu finden.
Obwohl die staatlichen Statistiken längst nicht alle Arbeitslosen erfassen, sprechen sie mindestens in der Tendenz eine deutliche Sprache: Die offizielle Quote aller Arbeitslosen liegt gegenwärtig bei 3.7% (Oktober 2005). Zwischen 2001 und 2004 ist sie von 1.7% auf 3.9% angestiegen. Niemand rechnet ernsthaft mit einem Rückgang. In dieser Statistik gilt nur als "arbeitslos", wer in den letzten 14 Monaten seine Stelle verloren hat und bei der Arbeitslosenversicherung gemeldet ist. Das sind gegenwärtig etwa 145'000. Diejenigen, die nach 14 Monaten ausgesteuert worden sind, werden also nicht mehr als "Arbeitslose" erfasst. Hinzu kommen deshalb noch einmal 70'000 "Stellensuchende", die nicht als "arbeitslos" gelten, weil sie sich z.B. in einer Umschulung oder einem Beschäftigungsprogramm befinden oder einen Zwischenverdienst erzielen. Und schliesslich kommen all diejenigen hinzu, die überhaupt nicht mehr von diesen Statistiken registriert werden, weil sie die Hoffnung auf einen Job aufgegeben haben und mit der Sozialhilfe oder sonst irgendwie überleben. Auch hier zeigen die Zahlen die Tendenz mehr als deutlich auf: In der Stadt Zürich gab es Ende 2001 rund 6'000 Haushalte, die Sozialhilfe beanspruchten; Ende 2004 waren es schon über 9'000, was mit 15'500 betroffenen Personen 6.3% der Stadtbevölkerung ausmachte. 
Weiter ist klar, dass viele, die vor der Arbeitslosigkeit stehen, eine andere "Lösung" suchen: Ältere Arbeiter lassen sich früher pensionieren, als es eigentlich vorgesehen wäre; wer kann oder muss, meldet sich bei der Invalidenversicherung an; ImmigrantInnen verlassen die Schweiz wieder, weil sie schon lange nicht mehr hält, was sie als vermeintliches Schokoladenparadies versprochen hat; die Jugendlichen drücken weiterhin die Schulbank, weil sie keine Stelle finden. Gerade bei ProletarierInnen zwischen 15 und 25 Jahren ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch; sie stieg von 1.7% im Jahr 2001 auf 5.5% im Januar 2005, wobei die Quote in den Städten wesentlich höher, nämlich bei bis zu 10%, liegt. Auch bei der Sozialhilfe trifft es allen voran die junge Generation; in Zürich sind es 12% und in Basel gar 15% der Kinder, die Sozialhilfe beziehen müssen.

Welch ein Hohn: Dieses Wirtschaftssystem zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach Tausenden von Jahren des Fortschritts, dieser Kapitalismus mit Produktivkräften, wie sie nie zuvor eine menschliche Gesellschaft gekannt hat, kann nicht einmal mehr der Jugend eine Zukunft anbieten, geschweige denn den Menschen, die wegen ihres Alters oder der Gesundheit nicht mehr arbeiten können. Und niemand kann sich einer Illusion hingeben: Die sich verschlimmernden Verhältnisse in der Schweiz sind erst ein Vorgeschmack dessen, was der Kapitalismus dem Proletariat auch hier bereit hält. Die Lebensbedingungen in den französischen Vorstädten, in den argentinischen und brasilianischen Elendsvierteln zeigen die Richtung auf, in welche dieses todkranke System sich bewegt.
Der Staat kann sich in dieser Gesellschaft, die nach der Profitlogik funktioniert, die Ernährung der Arbeitslosen, die Pflege der Kranken, einen würdigen Lebensabend der Pensionierten je länger je weniger leisten. Nach 30 Jahren Krise, nachdem alle Kniffe mit Verschuldung, Subventionen, Protektionismus, Steuererhöhung für die Armen, Steuerreduktionen für die Reichen usw. ausgereizt worden sind, kann der Kapitalismus auch in den höchstentwickelten Ländern die Sozialversicherungen - diese verstaatlichte "Solidarität" - nicht mehr bezahlen. Es liegt nicht an den falschen Rezepten der jeweils gerade Regierenden. Vielmehr gibt es im Kapitalismus gar kein Rezept mehr. Es bleibt nur die Abschaffung des Kapitalismus, die revolutionäre Überwindung dieses Systems, das auf der einen Seite immer mehr Waren produziert, die nicht verkauft werden können, und auf der anderen Seite immer mehr Elend bei denjenigen, die diesen Reichtum eigentlich geschaffen haben, aber der Mittel beraubt sind, um ihn zu konsumieren.

Sabotageversuche des Kapitals

Um die Reifung dieses Bewusstseins über die Notwendigkeit der revolutionären Überwindung dieses Systems zu verhindern oder wenigstens so lange wie möglich hinauszuzögern, organisiert die Linke des Kapitals - d.h. die Gewerkschaften und die linken Parteien und Organisationen - solche Veranstaltungen wie die eingangs erwähnte Aktionswoche mit der krönenden Demonstration. Dabei gibt es innerhalb dieser Linken eine Arbeitsteilung:
Auf der einen Seite stehen diejenigen, die vorgeben, dieses kapitalistische System verbessern zu können. Sich bei den Jugendlichen anbiedernd, proklamieren sie "Future Now! - Arbeit und Ausbildung für alle Jugendlichen", als ob der Kapitalismus eine Zukunft hätte, und bieten eine Party mit R'n'B, Hip Hop und House an (vgl. offizieller Flyer der Gewerkschaften). Die Unia als Hauptorganisatorin fordert: "Ein Recht auf eine Ausbildung oder Lehrstelle, für alle. 10 Prozent mehr Ausbildungsplätze an Handelsmittelschulen und in Lehrwerkstätten. (...) Jeder Lehrling, jede Lehrtochter soll vom ausbildenden Betrieb während mindestens einem Jahr weiterbeschäftigt werden." (aus dem Flugblatt zur Aktionswoche). Dabei verschweigt sie, dass im Kapitalismus das Geld längst fehlt, um solche Massnahmen zu finanzieren: Entweder bezahlen es letztlich die Kapitalisten, die entsprechend ihre Profite schwinden sehen und angesichts der billiger produzierenden Konkurrenz bankrott gehen oder ihre Produktion in ein anderes Land ohne solche Vorschriften auslagern. Oder die von der Unia geforderten Massnahmen werden ganz oder teilweise von der Arbeiterklasse bezahlt, was noch mehr Angriffe auf ihre Lebensbedingungen bedeutet.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die zwar vollmundig gegen "Profite", "Ausbeutung" und "Kapitalismus" wettern und den "Kommunismus" als Lösung anpreisen, aber verschweigen, was sie damit meinen. Dazu zählen insbesondere die Stalinisten verschiedener Couleur, namentlich die Partei der Arbeit (PdA)  und der "Revolutionäre Aufbau". Für diese Organisationen ist Stalins Russland oder der so genannte Realsozialismus, wenn nicht gerade das Paradies auf Erden, so doch ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Der "Aufbau" unterstützt nach wie vor von der Bourgeoisie als "kommunistisch" bezeichnete Staaten wie Nordkorea oder Kuba und die "linksnationalistische Chavez-Regierung" in Venezuela . Die Antwort des Realsozialismus (im ehemaligen Ostblock) auf die Wirtschaftskrise war das Stachanow-Prinzip: Wer am schnellsten und längsten arbeitete, erhielt einen Orden als "Held der Arbeit". Die fehlende Entwicklung der Produktivkräfte, wurde durch die umso längere und intensivere Auspressung der verfügbaren Arbeitskräfte kompensiert . Dadurch "lösten" diese Staaten auch das Problem der Arbeitslosigkeit; alle mussten arbeiten - nicht zuletzt auch im Gulag. Das System beruhte aber auf der Warenproduktion, der Lohnarbeit und der Kapitalakkumulation, es war also durch und durch kapitalistisch. Als solches musste es sich auf dem Weltmarkt, in der Konkurrenz mit dem westlichen Kapitalismus bewähren, was ihm misslang. 1989 ist dieser als "Sozialismus" verkaufte Ostblock-Kapitalismus wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit zusammengebrochen. Das hindert die Stalinisten der verschiedenen Richtungen aber nicht daran, dieses Modell als Lösung zu verkaufen, wenn auch in einer Mogelpackung, auf der in knallroten Lettern "Kommunismus" und "revolutionär" steht. Wer die Arbeitslosigkeit heute mit solchen Schlagworten anprangert, dies aber auf der Grundlage der Sympathie mit dem Stalinismus und seinen Methoden zur "Vollbeschäftigung" tut, steht nicht auf der Seite der Arbeiterklasse.

Wie kämpfen gegen die Arbeitslosigkeit?

Es scheint absurd: Einerseits werden ständig Arbeitsplätze abgebaut, weil Überkapazitäten bestehen, also zuviel produziert wird; andererseits leiden etwa eine Milliarde Menschen an Unterernährung. Die Arbeitslosigkeit nimmt immer grössere Ausmasse an, gleichzeitig müssen diejenigen, die noch eine Stelle haben, sich immer mehr bis zur körperlichen und psychischen Erschöpfung auspressen lassen. Die Jugendlichen finden keine Stelle; gleichzeitig erhöhen die Regierungen das Rentenalter, zwingen also die älteren ArbeiterInnen zu noch mehr Arbeit.
All diese Widersprüche sind im Kapitalismus nicht lösbar. Die Profitlogik steht einer Lösung entgegen. Umgekehrt zeigen aber diese Widersprüche auf, wie überreif diese Gesellschaft und die mittlerweile entwickelten Produktivkräfte für eine neue Produktionsweise sind - für eine andere Gesellschaft, in der nicht für den Profit, sondern für die Bedürfnisse der Menschen produziert wird. Es kann genug produziert werden, niemand braucht Hunger zu leiden oder auf die Gesundheitspflege zu verzichten. Darüber hinaus ist es auch nicht nötig, dass wir alle den ganzen Tag malochen.

Aber diese klassenlose Gesellschaft wird erst das Resultat von Kämpfen der Arbeiterklasse sein. Diese Kämpfe beginnen heute mit der Verteidigung gegen die Angriffe, denen wir täglich als Arbeiter - ob jung oder alt, männlich oder weiblich, arbeitslos, Rentner oder erwerbstätig, gelernt oder ungelernt - ausgesetzt sind. Lassen wir uns nicht spalten! Wenn die Gewerkschaften und die Linken die Jugendarbeitslosigkeit in den Vordergrund stellen, ist dies ein typischer Spaltungsversuch. Als ob nur die "Jugendlichen Arbeit und Ausbildung" bräuchten. Diese Organisationen der Bourgeoise wollen gar nicht, dass die Arbeiterklasse als ganze zusammen kommt. Sie wollen hier und dort etwas Luft ablassen, die gärende Unzufriedenheit kanalisieren und in Forderungen nach einer Umverteilung der Arbeit versickern lassen. Dies steckt in Wirklichkeit hinter Mobilisierungen wie derjenigen am 5. November, die sich mit jugendfreundlichen Parolen schmücken.
Selbstverständlich ist es notwendig, dass sich jugendliche Arbeitslose zur Wehr setzen und das scheinbare Schicksal nicht passiv hinnehmen. Dazu gehört aber vor allem auch die Diskussion über die Ursachen dieser im Kapitalismus tatsächlich ausweglosen Situation. Ebenso wichtig ist die Überprüfung der vermeintlichen Lösungen und "Kampfmittel", die uns die kapitalistischen Organe von links bis rechts schmackhaft machen wollen, wie z.B. am 5. November. Dies ist ein erster Schritt, um sich dem Kampf der Arbeiterklasse als ganze anzuschliessen und so erst eine wirkliche Perspektive zu eröffnen.
Die Entlassungen gehen weiter. Die Stärke der Arbeiterklasse ist ihre Einheit. Wir müssen gegen die Angriffe auf die Löhne, die Renten, die Arbeits- und Lebensbedingungen überhaupt die Solidarität zum Tragen bringen; die Einheit mit anderen Arbeitern suchen; das allgemeine Interesse der ganzen Klasse in den Vordergrund stellen; die Kämpfe ausweiten, und zwar unabhängig von den Gewerkschaften und allen anderen staatskapitalistischen Organisationen. E/N, 14.11.05

(1)  vgl. dazu auch den Artikel "Massenarbeitslosigkeit: Bankrotterklärung des Kapitalismus" in Weltrevolution Nr. 129
(2)  Die PdA, die bis zum Zusammenbruch des Ostblocks offizielle prosowjetische Partei in der Schweiz, figuriert zwar unter den unterstützenden Organisationen der Demo gegen Jugendarbeitslosigkeit, scheint aber weder dafür mobilisiert noch ein Flugblatt geschrieben zu haben.
(3)   "Aufbau" Nr. 39 S. 6
(4)  vgl. für eine vertiefte Analyse über die kapitalistische Krise in den Ländern des Ostblocks den Artikel in Internationa

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in der Schweiz [7]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Linksextreme [4]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die Gewerkschaftsfrage [3]

Die Ursachen des imperialistischen Krieges

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Die Ursachen des imperialistischen Krieges Die Anarchie als Wesensmerkmal des Kapitalismus

In der Weltrevolution 124 berichteten wir über die erste einer Reihe von öffentlichen Veranstaltungen des Internationalen Büros für die revolutionäre Partei (IBRP) in Berlin. Die zweite Veranstaltung fand am 15. Mai 2004 statt. Dort wurde über die Ursachen des imperialistischen Krieges debattiert. Ein Vertreter von Battaglia Comunista (BC) hielt das Einleitungsreferat, welches die Hintergründe des Irakkrieges sowie die gegenwärtige Außenpolitik der USA beleuchtete. Der Genosse trug die Analyse des IBRP vor, der zufolge der amerikanische “Kreuzzug gegen den Terrorismus” hauptsächlich ökonomischen Zielen dient: Die Befestigung der amerikanischen Kontrolle über die Ölreserven der Welt, um die Vorherrschaft des Dollars über die Weltwirtschaft abzustützen, um die weitere Abschöpfung einer zusätzlichen Ölrente sicherzustellen. Auf Grund ihrer nachlassenden Wettbewerbsfähigkeit seien die USA auf eine parasitäre Absaugung des Mehrwerts angewiesen, um ihre eigene Wirtschaft über Wasser zu halten. Zudem würden strategische Überlegungen eine Rolle spielen, welche oft mit der Beherrschung von Ölreserven einhergehen und darauf abzielen, Russland und China von einander bzw. von wichtigen Ölfeldern abzutrennen, und die Europäische Union schwach und uneins zu halten.

Diese Analyse löste unterschiedliche Reaktionen unter den Veranstaltungsteilnehmern aus. Während ein Genosse der “Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft” (FKG) – der vormals die Gruppe “Aufbrechen” mit ins Leben gerufen hatte – die Fähigkeit des IBRP lobte, die konkreten wirtschaftlichen Ursachen des Krieges zu identifizieren, äußerte einer der anwesenden Sprecher der “Gruppe internationaler Sozialisten” (GIS) Zweifel gegenüber dieser Analyse. Er wies darauf hin, dass der Vorgang der Aufnahme von internationalen Finanzmitteln durch die USA in erster Linie Ausdruck und Fortsetzung einer klassischen Verschuldungspolitik der USA sei. Zudem wiederholte er die Auffassung, welche er bereits auf der ersten IBRP-Veranstaltung in Berlin vorgetragen hatte (siehe: Weltrevolution 124), der zufolge das Bestreben nach militärischer Beherrschung der Ölquellen weniger wirtschaftlichen als politischen und militärstrategischen Zielen diene. Ein Mitglied der Gruppe “Internationale KommunistInnen” wiederum wies darauf hin, dass nicht nur die USA, sondern auch andere führende imperialistische Staaten – allen voran die europäischen – gegenwärtig um die Weltvorherrschaft kämpften. Er stellte die These auf, dass während in diesem Kampf der US-Imperialismus hauptsächlich seine militärische Überlegenheit in die Waagschale werfe, Europa auf die Karte seiner wirtschaftlichen Stärke setzen würde.

Die Kritik der IKS an der Analyse des IBRP

Die IKS befasste sich in ihrem ersten Diskussionsbeitrag mit der Argumentationslinie des Büros. Dieser Auffassung zufolge hätten die USA weitgehend ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt eingebüßt. Um die Folgen dieser Entwicklung – gigantische Handels- und Zahlungsbilanzdefizite, zunehmend auch wieder Haushaltsdefizite der öffentlichen Hand – auszugleichen, führten die USA in aller Welt Kriege, um mittels der Kontrolle über Erdöl sowie die Vormachtsstellung des Dollars Kapital an sich zu ziehen.

Erstens ist aus der IKS diese Analyse politisch sehr gefährlich, weil sie die Ursachen des imperialistischen Krieges in der besonderen Lage eines bestimmten Staates sucht, anstatt in der Entwicklungsstufe und dem Reifegrad der Widersprüche des kapitalistischen Systems insgesamt. Kein Wunder also, wenn diese Analyse große Ähnlichkeiten aufweist mit der Argumentationslinie, welche von den pro-europäischen “Globalisierungsgegnern” bzw. von linken deutschen Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine vertreten werden, welche die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen auf einen angeblich besonders parasitären Charakter der US-Wirtschaft zurückführen.

Zweitens lässt diese Analyse zwei Fragen unbeantwortet:

* Weshalb hat ausgerechnet die Wirtschaft der USA – des immer noch mächtigsten kapitalistischen Staates der Welt mit den größten Konzernen, und mit einer nationalen Kultur, welche sich den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktionsweise besonders gut angepasst hat – solche Probleme mit ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit?

* Weshalb reagiert die amerikanische Bourgeoisie nicht auf dieses Problem, indem sie das tut, was am einfachsten, am naheliegendsten wäre, nämlich, massiv in ihren Produktionsapparat zu investieren, um ihre Konkurrenzfähigkeit wiederzuerlangen? Weshalb sollte sie statt dessen auf dieses wirtschaftliche Problem reagieren, indem sie – wie Battaglia behauptet – die ganze Welt mit Krieg übersäht?

Tatsächlich verwechselt das Internationale Büro in diesem Fall Ursache und Wirkung. Die USA rüsten nicht deshalb so hoch, weil sie nicht mehr konkurrenzfähig sind, sondern – insofern sie tatsächlich Wettbewerbsvorteile verloren haben – rührt dies vielmehr im großen Maße aus ihren riesigen Aufwendungen für die Rüstung.

Diese Entwicklung allerdings ist keine Besonderheit des US-Imperialismus. Bereits die UdSSR, Jahrzehnte Hauptrivale der USA, ist nicht zuletzt an dieser Rüstungsspirale zugrunde gegangen. In Wahrheit ist das Aufblähen des Kriegsbudgets auf Kosten der Entwicklung der Produktivkräfte sowie die zunehmende Indienstnahme der Wirtschaft durch den Militarismus ein Wesensmerkmal des niedergehenden Kapitalismus.

Drittens gibt es zwar einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Krise und Krieg im Kapitalismus. Aber dieser Zusammenhang lässt sich nicht auf die vereinfachende These eines Krieges um Öl oder um die Hegemonie des Dollars reduzieren. Der wirkliche Zusammenhang dieser beiden Faktoren zeigt beispielsweise die Konstellation auf, welche zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte. Damals gab es noch keine Weltwirtschaftsdepression wie die, welche erst später, 1929, ausbrach. Die Wirtschaftskrise von 1913 wies immer noch einen im Wesentlichen zyklischen Charakter auf und fiel vergleichsweise milde aus. Auch gab es damals keine mit heute vergleichbare Handels-, Zahlungs- oder Haushaltskrise Großbritanniens, Deutschlands oder anderer führender Protagonisten, und keine besonderen Währungsturbulenzen (damals wurde der Goldstandard noch weltweit anerkannt). Und dennoch brach der erste imperialistische Weltbrand vom Zaun. Weshalb? Wie lautet das allgemeine Gesetz des Imperialismus, dem die Kriege der Moderne zugrunde liegen?

Je entwickelter ein bürgerlicher Staat ist, je mächtiger die Konzentration seines Kapitals, je größer schließlich seine Abhängigkeit vom Weltmarkt, desto mehr ist der Staat auf gesicherte Zugänge zu den Ressourcen der Welt und deren Beherrschung angewiesen. In der Epoche des Imperialismus ist somit jeder Staat gezwungen zu versuchen, eine Einflusssphäre zu etablieren. Die Großmächte ihrerseits betrachten notwendigerweise die ganze Welt als ihre Einflusssphäre – nichts weniger reicht aus, um ihre Existenzgrundlage abzusichern. Je stärker die Wirtschaftskrise, je härter umkämpft der Weltmarkt wird, desto dringender wird dieses Bedürfnis.

Deutschland erklärte Großbritannien 1914 den Krieg, nicht auf Grund seiner unmittelbaren Wirtschaftslage, sondern, weil es für eine solche Macht - für die die Weltwirtschaft ihr Schicksal geworden war – nicht mehr politisch hinnehmbar war, dass ihr Zugang zum Weltmarkt auf Gedeih und Verderb vom Wohlwollen Großbritanniens (der damaligen Beherrscherin der Weltmeere sowie eines Großteils der Kolonien) abhing. Dies bedeutet, dass die deutsche Bourgeoisie gar nicht erst bis 1929 abzuwarten brauchte, bis es angesichts der weltweiten Depression von Seiten der alten Kolonialmächte vom Weltmarkt ausgeschlossen wurde. Sie zog es vielmehr vor, gewissermaßen vorbeugend, zu versuchen ihre missliche Lage zu verändern, bevor das Schlimmste eintraf. Dies erklärt weshalb am Anfang des 20. Jahrhunderts der Weltkrieg vor der Weltwirtschaftskrise ausbrach.

Die Tatsache, dass die kapitalistischen Mächte immer brutaler auf einander stoßen, bedeutet, dass der imperialistische Krieg immer mehr zum gegenseitigen Ruin der teilnehmenden Staaten führt. Darauf hat bereits Rosa Luxemburg in ihrer ‚Juniusbroschüre‘ hingewiesen. Auch der jüngste Irakkrieg zeigt diese Entwicklung. Der Irak war einst an der Peripherie des Kapitalismus einer der wichtigsten Großauftraggeber der europäischen und amerikanischen Industrie. Heute haben nicht nur die kapitalistische Wirtschaftskrise, sondern noch mehr die Kriege gegen den Iran und gegen die USA dieses Land vollständig ruiniert. Aber auch die amerikanische Wirtschaft blutet zusätzlich auf Grund der Kosten des Irakeinsatzes. Hinter der Idee, dass der Krieg heute um Dollarspekulationen oder eine angebliche Ölrente geführt wird, steckt die Annahme, dass der Krieg noch lukrativ, dass der Kapitalismus noch ein expandierendes System sei. Nicht nur die Politik der USA, sondern auch der Terrorismus vom Schlage Bin Ladens wurde durch den Vertreter Battaglias in diesem Sinne interpretiert: als Ausdruck des Bestrebens “200 saudi-arabische Familien” um einen größeren Anteil der Profite aus der eigenen Ölproduktion.

Die Gefahr des bürgerlichen Empirismus

Nachdem sowohl das IBRP als auch die IKS je die eigene Sichtweise der Kriegsursachen dargelegt hatten, folgte eine interessante und lebhafte Debatte. Dabei fiel auf, dass die Veranstaltungsbesucher großen Wert darauf legten, die jeweilige Position der beiden anwesenden linkskommunistischen Organisationen besser zu verstehen. Sie drängten darauf, dass beide Gruppen aufeinander antworten sollten. Diese Genossen beschränkten sich auch nicht darauf, Fragen zu stellen, sondern trugen ihrerseits Einwände vor und äußerten Kritiken.

So bezeichnete beispielsweise ein Genosse der FKG den von der IKS gemachten Vergleich der Analyse des IBRPs mit der von den Globalisierungsgegnern als “billige Polemik”. Er unterstrich, dass Battaglias Hinweis auf die Aggressorrolle der USA heute nichts mit der Verharmlosung der Rolle der europäischen Imperialismen durch deren bürgerliche Sympathisanten zu tun habe. Und er wies zu Recht darauf hin, dass auch in der Vergangenheit proletarische Internationalisten die Rolle bestimmter Staaten als Auslöser imperialistischer Kriege analysiert haben, ohne sich dadurch irgendwelche Konzessionen gegenüber den Rivalen dieser Staaten zu Schulden kommen zu lassen.

Allein: die Kritik der IKS bezog sich gar nicht auf die Identifizierung der gegenwärtigen Rolle der USA als Hauptauslöser der heutigen Kriege, sondern darauf, dass die Ursachen des Krieges nicht auf die Lage des Imperialismus insgesamt, sondern auf die besondere Stellung der USA zurückgeführt werden.

Der Sprecher Battaglias seinerseits bestritt gar nicht die Ähnlichkeit der von seiner Organisation erstellten Analyse mit denen verschiedener bürgerlicher Strömungen. Er argumentierte jedoch, dass die vom Büro angewandte Analyse innerhalb einer ganz anderen Weltsicht, und zwar einer proletarischen Weltsicht, verankert sei. Dies trifft glücklicherweise noch immer zu. Doch wir bleiben dabei, dass eine solche Analyse nicht nur die Wirksamkeit unseres Kampfes gegen die Ideologie des Klassengegners schwächen, sondern darüber hinaus die Festigkeit des eigenen proletarischen Standpunktes untergraben muss. Unserer Meinung nach ist die Ähnlichkeit der Analyse des IBRP mir der gängigen bürgerlichen Auffassung darauf zurückzuführen, dass sich die Genossen selbst eine bürgerliche Herangehensweise zu Eigen gemacht haben. Diese Betrachtungsweise haben wir Empirismus genannt. Damit meinen wir die Grundtendenz des bürgerlichen Denkens sich durch bestimmte besonders herausragende Tatsachen in die Irre führen zu lassen, anstatt durch eine tiefergehende theoretische Herangehensweise den wirklichen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Tatsachen aufzudecken. Diese Herangehensweise des Büros zeigte sich in der Diskussion exemplarisch daran, wie das IBRP die Tatsache, dass die amerikanische Wirtschaft ohne ausländischen Kapitalzufluss zusammenbrechen würde als Beweis dafür anführte, dass der Irakkrieg dazu gedient habe, die anderen Bourgeoisien zu zwingen, weiterhin ihr Geld in Amerika anzulegen. Doch die Gewißheit, dass die US-Ökonomie ohne diese Zuwendungen untergehen würde, ist schon Zwang genug, dass die europäischen und japanischen Kapitalismen weiterhin amerikanische Bonds und Anlagen kaufen – sie selbst würden einen Zusammenbruch der USA nicht überleben. (1)

Die Verbindung zwischen Krise und Krieg

Vor allem in diesem Teil der Diskussion wurden von verschiedenen Seiten kritische Fragen an die IKS gerichtet. Die Genossen hinterfragten die so betonte Bedeutung strategischer Fragen in unserer Analyse der imperialistischen Rivalitäten. Der Genosse von FKG kritisierte, dass die IKS – wie er meinte – die imperialistischen Spannungen allein aus den militärischen Rivalitäten ableiten würde, ohne Bezug zur Wirtschaftskrise und scheinbar unter Ausschluss wirtschaftlicher Motive. Er wies auf das Beispiel der wirtschaftlichen Kriegsziele Deutschlands im Zweiten Weltkrieg hin, um gegenüber den Auffassungen der IKS darauf zu bestehen, dass die imperialistischen Staaten durch den Krieg eine Lösung für die Wirtschaftskrise suchen. Ein Genosse aus Österreich (einst ein Gründungsmitglied der Gruppe “Internationale Kommunisten” – GIK) wollte von uns wissen, ob die IKS überhaupt die Rolle des Erdöls berücksichtige oder ob wir es für puren Zufall halten würden, dass der “Kampf gegen den Terrorismus” ausgerechnet dort schwerpunktmäßig geführt wird, wo sich die größten Erdölvorkommen der Welt befinden. Und auch der Vertreter der GIS verlangte eine Präzisierung unserer Aussage, dass moderner Krieg nicht die Lösung, sondern selbst ein Ausdruck, ja, eine Explosion der Krise darstellt.

Die Delegation der IKS antwortete, dass aus unserer Sicht der Marxismus, weitentfernt davon, den Zusammenhang zwischen Krise und Krieg zu verneinen, diesen Zusammenhang viel tiefer und umfassender zu begreifen im Stande ist. Für die IKS jedoch, ist der imperialistische Krieg nicht Ausdruck der zyklischen Krisen, welche für das 19. Jahrhundert charakteristisch waren, sondern der Krieg das Produkt der permanenten Krise des niedergehenden Kapitalismus ist. Als solches ist er Ausdruck der Rebellion der zu mächtig gewordenen Produktivkräfte gegen die zu eng gewordenen Produktionsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft. In seinem Werk “Anti-Dühring” behauptet Friedrich Engels, dass der zentrale Widerspruch des Kapitalismus der zwischen der bereits vergesellschafteten Produktion und der noch immer privaten, anarchischen Aneignung des Produktes ist. In der Epoche des Imperialismus ist einer der Hauptausdrücke dieses Widerspruchs der zwischen dem weltweiten Charakter des Produktionsprozesses und dem Nationalstaat als wichtigstem Instrument der kapitalistischen Privataneignung. Die Krise des dekadenten Kapitalismus ist eine Krise der gesamten bürgerlichen Gesellschaft. Sie findet ihren rein ökonomischen Ausdruck in Wirtschaftsdepressionen, Massenarbeitslosigkeit usw. Sie äußert sich aber auch auf der politischen, militärischen Ebene, z.B. durch immer zerstörerischere militärische Auseinandersetzungen. Charakteristisch für diese Krisenhaftigkeit des gesamten Systems ist die stetige Zuspitzung der Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten sowohl auf wirtschaftlicher wie auch auf militärischer Ebene. Somit sprachen wir uns gegen die Hypothese des Vertreters der “Internationalen KommunistInnen” aus, der zufolge die amerikanische Bourgeoisie mit militärischen, die europäische Bourgeoisie aber mit wirtschaftlichen Mitteln um die Weltherrschaft kämpfen würden. In der Realität wird dieser Kampf von allen Seiten mit allen Mitteln ausgetragen. Es tobt der Handelskrieg ebenso wie der militärische Krieg.

Zwar stimmt es, dass die Bourgeoisie nach wie vor im Krieg einen Ausweg aus der Krise sucht. Doch weil die Welt seit Anfang des 20. Jahrhunderts bereits aufgeteilt ist, kann diese ‚Lösung‘ jeweils nur auf Kosten anderer, in der Regel benachbarter kapitalistischer Staaten gehen. Im Falle der Großmächte liegt diese ‚Lösung‘ in der Weltherrschaft und erfordert somit den Ausschluss oder die vollständige Unterwerfung anderer Großmächte. Das bedeutet, dass diese Suche nach einer Lösung der Krise einen stets utopischeren oder unrealistischeren Charakter annimmt. Die IKS spricht von einer zunehmenden ‚Irrationalität‘ des Krieges.

In der Dekadenzphase des Kapitalismus stellt sich regelmäßig heraus, dass diejenige Macht, welche die Rolle des Kriegstreibers übernehmen muss, als Verlierer hervorgeht: z.B. Deutschland in zwei Weltkriegen. Dies zeigt den zunehmend irrationalen und immer schwerer beherrschbaren Charakter des modernen Krieges.

Was wir an der Kriegsanalyse des IBRP kritisieren, ist gar nicht die Behauptung, dass der Krieg wirtschaftliche Ursachen hat, sondern die Gleichsetzung von wirtschaftlichen Ursachen und wirtschaftlicher Gewinnträchtigkeit. Darüber hinaus kritisieren wir eine aus unserer Sicht vulgärmaterialistische Tendenz, jeden Schritt in der imperialistischen Auseinandersetzung von einer unmittelbaren wirtschaftlichen Ursache abzuleiten. Dies zeigt sich gerade in der Ölfrage. Das Vorhandensein der Erdölquellen im Nahen Osten spielt selbstverständlich eine große Rolle. Jedoch müssen die Industriestaaten – allen voran die USA – diese Quellen nicht erst militärisch besetzen, um ihre ökonomisch vorherrschende Rolle gegenüber diesen und anderen Rohstoffen durchzusetzen. Es geht vielmehr um die militärstrategische Hegemonie über diese möglicherweise kriegsentscheidenden Energiequellen.

Krieg und Niedergangsphase des Kapitalismus

Das Büro bestritt vehement die Behauptung der IKS, dass der moderne Krieg Ausdruck der Ausweglosigkeit des Kapitalismus sei. Zwar würde das zerstörerische Wesen des Kapitalismus irgendwann zur Zerstörung der Menschheit führen – so der Vertreter von Battaglia Comunista. Doch solange dieser endgültige Kladderatsch noch nicht eingetreten sei, könne der Kapitalismus unbegrenzt weiter expandieren. Nicht die gegenwärtigen, von den USA angezettelten Kriege, sondern die ‚wirklichen imperialistischen Kriege‘ der Zukunft, beispielsweise zwischen Amerika und Europa, seien dem Genossen von Battaglia zufolge die Mittel zu dieser Expansion, indem eine allgemeine Zerstörung eine neue Akkumulationsphase eröffnen würde. Wir stimmen darin überein, dass der Kapitalismus imstande ist, die Menschheit zu vernichten. Jedoch die Vernichtung überschüssiger Produkte reichte, historisch betrachtet, nicht mal aus, um die konjunkturellen, zyklischen Krisen des aufsteigenden Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Dazu war laut Marx und Engels auch noch die Erschließung neuer Märkte erforderlich. Denn während im Rahmen der Naturalwirtschaft Überproduktion immer nur als Überschuss über die maximale physiologische Konsumtionsgrenze hinaus auftreten kann, tritt sie in der Warenwirtschaft – und erst recht im Kapitalismus – stets im Verhältnis zu der Nachfrage der Geld besitzenden Konsumenten auf. Es handelt sich um eine ökonomische und nicht so sehr um eine physiologische Kategorie.

Das bedeutet aber, dass die Kriegszerstörung das Problem der fehlenden, zahlungskräftigen Nachfrage nicht lösen kann. Vor allem aber ist die hier vom Büro vertretene Auffassung hinsichtlich der möglichen Expansion des Kapitalismus bis zum Moment der physischen Vernichtung nicht vereinbar mit der Vorstellung von der Dekadenz des Kapitalismus – eine Auffassung, von der sich das IBRP faktisch immer mehr zu verabschieden scheint.

Denn nach der marxistischen Auffassung geht der Niedergang einer Produktionsweise stets einher mit der wachsenden Fesselung der Produktivkräfte durch die bestehenden Produktions- und Eigentumsverhältnisse. Aus der Sicht Battaglias jedenfalls scheint der Krieg wie im 19. Jahrhundert weiterhin die Rolle eines Motors der wirtschaftlichen Expansion spielen zu können.

Wenn der Vertreter des Büros von den kommenden ‚wirklichen imperialistischen Kriegen‘ redet, so festigt sich bei uns der Eindruck, dass diese Organisation die Kriege der Gegenwart lediglich als Fortsetzung der Wirtschaftspolitik der USA mit anderen Mitteln, nicht aber als imperialistische Konflikte betrachtet. Wir für unseren Teil bestanden darauf, dass auch diese Kriege inter-imperialistische Auseinandersetzungen sind. Auch die imperialistischen Großmächte geraten jetzt schon aneinander, zwar nicht direkt, aber in der Form von Stellvertreterkriegen. Die ursprünglich von Deutschland ausgelöste Kette kriegerischer Konflikte in Jugoslawien verdeutlicht zudem, dass dabei nicht allein die USA als Aggressor auftreten.

Eine sehr nützliche Debatte

In seinem Schlusswort vertrat der Sprecher des Büros die Auffassung, dass die Diskussion gezeigt habe, dass – so wörtlich - ‚die Debatte zwischen dem IBRP und der IKS nutzlos sei.‘

Dem IBRP zufolge zeige sich das darin, dass das Büro der IKS seit Jahrzehnten Idealismus‘, die IKS hingegen dem IBRP ‚Vulgärmaterialismus‘ vorwerfe, ohne dass die beiden Organisationen von ihren jeweiligen Positionen abgerückt wären.

Aus unserer Sicht ist das ein ziemlich herablassendes Urteil über eine Diskussion, an der sich außer den beiden Organisationen so unterschiedliche Positionen und politische Gruppen sehr rege beteiligt haben. Es liegt auf der Hand, dass die neue Generation politisch interessierter Menschen im deutschsprachigen Raum ein großes Interesse daran haben muss, die Positionen der bestehenden internationalistischen Organisationen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von deren Auffassungen möglichst umfassend kennenzulernen. Was könnte diesem Bedürfnis zweckdienlicher sein als die öffentliche Debatte?

Soweit wir wissen, ist kein Revolutionär bisher auf die Idee gekommen, beispielsweise die Debatte zwischen Lenin und Rosa Luxemburg über die nationale Frage nur deshalb als ‚nutzlos‘ zu bezeichnen, weil keiner der beiden Kontrahenten seine jeweilige Position geändert hat. Im Gegenteil: Vielmehr fußt die heutige ‚linkskommunistische‘ Position zur Frage der sog. ‚nationalen Befreiungsbewegungen‘ zum bedeutenden Teil auf dieser Debatte.

Die IKS für ihren Teil jedenfalls hat keine Angst vor der öffentlichen Diskussion, und wird sich weiterhin dafür einsetzen und sich daran beteiligen. Denn diese Debatte ist der unverzichtbare Bestandteil des Prozesses der Bewusstseinsentwicklung. -Weltrevolution

(1) Wir wollen an dieser Stelle hinzufügen, dass unabhängig von der Rivalität mit den USA, ihre Rivalen weiterhin ihr Kapital in der stabilsten Wirtschaft der Welt anlegen werden, da dieses Land militärisch und ökonomisch in absehbarer Zeit weltweit das mächtigste Land bleiben wird.

 

Koalitionsvertrag, Massenentlassungen zeigen: Die Sackgasse des Kapitalismus, die Notwendigkeit des Arbeiterkampfes

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Das große öffentliche Gejammer über das Fehlen eines “großen Wurfs” bei dem zwischen der Union und der SPD ausgehandelten Koalitionsvertrag dient einzig und allein dazu, davon abzulenken, dass die designierte Regierung das brutalste Maßnahmepaket der Nachkriegszeit auf Kosten der Bevölkerung geschnürt hat. Dazu gehören: Die drastische Anhebung der Mehrwertsteuer um gleich 3 Prozent; die schrittweise Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf zunächst 67 Jahre; die Kürzung bzw. ersatzlose Streichung  steuerlicher “Begünstigungen” wie der Entfernungspauschale oder der Eigenheimzulage; weitere Einschnitte von 4 Mrd. Euro bei den Ärmsten der Armen, bei den  “Hartz IV-Empfängern”; die flächendeckende Abschaffung des Kündigungsschutzes während der ersten zwei Jahre einer Beschäftigung; weitere “Nullrunden” bei der Rente, welche angesichts der jetzigen Teuerungsrate und der beschlossenen Steuererhöhungen faktisch drastische Kürzungen sein werden.

Ein Generalangriff gegen die Arbeiterklasse

Charakteristisch für diese verschärfte Kriegserklärung der Ausbeuter gegen die arbeitende Bevölkerung ist die Anhebung der Mehrwertsteuer. Während des vorangegangenen Wahlkampfes eiferte die SPD gegen die Steuerpläne des damals von Angela Merkel designierten Finanzministers Kirchhoff, der davon träumte, einen einheitlichen Eingangssteuersatz einzuführen, den Millionäre wie Geringbeschäftigte gleichermaßen zu entrichten hätten. Aber gerade die Anhebung der Mehrwertsteuer trifft die Armen doppelt schwer, da selbst Bettler und Obdachlose diese Steuer zu entrichten haben, sobald sie etwas kaufen.
Ein solcher Generalangriff der Herrschenden gegen die Lebensinteressen der Arbeiterklasse wird mit Sicherheit Zorn und Empörung auf Seiten der Betroffenen hervorrufen. Jedoch zeigt die Art und Weise, wie dieses Angriffs-“Paket” zusammengestellt wurde, dass die Ausbeuter alles tun wollen, um den Arbeiterwiderstand von vornherein zu erschweren. Neben der Brutalität der Maßnahmen ist an diesem rot-schwarzen Koalitionsvertrag v.a. eins kennzeichnend: Das Bemühen, die Lohnabhängigen gegeneinander auszuspielen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die geplante Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge. um zwei Prozentpunkte. Die Hälfte davon soll durch Kürzungen bei der Erwerbslosenunterstützung “gegenfinanziert” werden. Die andere Hälfte soll aus den zusätzlichen Einnahmen durch die Mehrwertsteuererhöhung bestritten werden. So soll ein Spalt zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen gesät werden. Dabei geht es bei dieser Maßnahme in Wahrheit um die Senkung der Lohnnebenkosten für die Unternehmer, die “paritätisch” (zur Hälfte”) an der herkömmlichen Arbeitslosenversicherung beteiligt sind. Die Kosten für diese Senkung – falls sie überhaupt zustande kommt – haben allein die Beschäftigen und Arbeitslosen zu tragen. Was es mit solchen angeblichen Entlastungen der Arbeiterklasse auf sich hat, zeigt beispielsweise die versprochene Senkung der Abgaben zur Gesundheitsversicherung seitens der rot-grünen Regierung. Während seitdem die Gesundheitsversorgung weiter erheblich eingeschränkt und verschlechtert wurde, ist bis heute keine Absenkung der Versicherungsbeiträge eingetreten. Im Gegenteil. Allein schon die Anhebung der Mehrwertsteuer wird für eine weitere Verteuerung auch auf diesem Gebiet sorgen.

Die parlamentarische Demokratie: Die ideale Verpackung der Angriffe

Was der Koalitionsvertrag darüber hinaus noch bestätigt, ist die Verlogenheit nicht nur der Wahlversprechen (beispielsweise hat die Union versprochen, die Gesamtsteuerlast für die Bevölkerung zu senken, die SPD, die Mehrwertsteuererhöhung zu verhindern), sondern des demokratischen Wahlkampfes überhaupt. So hat alle Welt so getan, als ob Christdemokraten und Sozialdemokraten, “Marktliberale” und “Verteidiger des Sozialstaates” unversöhnliche politische Lager bilden würden. Jetzt erlebt man von neuem, wie wunderbar Links und Rechts miteinander in einer Regierungskoalition sich verständigen, wenn es um die Durchsetzung der Interessen des Kapitals gegen die Ausgebeuteten geht. Dies trifft auf alle beteiligten Parteien zu, so z.B. auf die PDS überall dort, wo sie in den Ländern und Kommunen Regierungsverantwortung übernimmt. Wichtiger als die Lehre, dass die Wahlkämpfer lügen, ist jedoch die Erkenntnis, dass die bürgerliche Demokratie eine viel mächtigere, weil raffiniertere und elastischere Form des staatlichen Totalitarismus darstellt als die unverhüllte Gewaltherrschaft eines Hitlers oder Stalins. Durch die “freie Stimmabgabe” und die “freie Auswahl” an der Wahlurne wird den Untertanen der Eindruck vermittelt, die Regierung selbst einzusetzen und auch wieder abwählen zu können. Dabei gehorcht die Regierung nicht dem Willen des Volkes, sondern den Sachzwängen des kapitalistischen Systems. Es ist die kapitalistische Konkurrenz im Rahmen der Niedergangskrise des Systems, welche das Regierungsprogramm diktiert. Diese Krise schert sich einen Dreck um die Wahlergebnisse. Es zwingt den Einzelkapitalisten wie den kapitalistischen Staat bei Strafe des Untergangs dazu, die Arbeiterklasse anzugreifen. Der parlamentarische Zirkus dient lediglich dazu, die Proletarier in die Irre zu führen.

Der Koalitionsvertrag als Ausdruck der Ausweglosigkeit der Krise

Dabei ist das rot-schwarze Regierungsprogramm lediglich die direkt staatlich verwaltete Seite des kapitalistischen Angriffs. Was von den Versprechen der Politiker zu halten ist, dass die Hinnahme von Verschlechterungen und “Härten” jetzt zu einer baldigen Verbesserung der Lage der Hauptbetroffenen selbst führen wird, zeigen auch die Erfahrungen in der “Privatwirtschaft”. Nachdem bei der Telecom bereits die Streichung von Weihnachts- und Urlaubsgelder hingenommen wurde, folgt nun die Ankündigung erneuter Stellenstreichungen – nicht weniger als 32.000! Und nachdem bei Volkswagen immer mehr Beschäftigte tariflich “umgeschichtet” wurden und für 20 % weniger arbeiten, hat man nun im Gesamtkonzern Pausenregelungen und Nachtzuschläge gestrichen. Das sind die von der kapitalistischen Wirklichkeit erzeugten Nachrichten, welche die “Aufbruchstimmung” begleiten, welche die Bildung einer neuen Regierung erzeugen soll.

Die Arbeiter haben nichts als ihre Ketten zu verlieren

So zeigen die jüngsten Arbeiterkämpfe in Deutschland eine mit dem Rücken zur Wand kämpfende Klasse. Bei den Werksbesetzungen bei AEG in Nürnberg und bei Infineon in München ging es nicht um die Verhinderung von Werksschließungen, sondern darum, zu verhindern, dass die durch diese Schließungen auf die Straße Geworfenen von heute auf morgen mittellos dastehen. Vorbei die Zeiten, da die führenden Konzerne der High-Tech-Branche – wie eben Infineon – Entlassenen “freiwillig” Abfindungen zahlten, um sozialen Explosionen vorzubeugen. Gar nicht lange ist es her, da hat man über einen “endgültigen Siegeszug” des Kapitalismus geschwafelt und festgestellt, der Ausspruch von Marx und Engels, demzufolge die Proletarier nichts zu verlieren haben als ihre Ketten, sei durch die Geschichte widerlegt worden. Die Lage der Beschäftigten bei AEG und Infineon heute beweist die ganze Aktualität der berühmten Formulierung des Kommunistischen Manifestes.
Diese Kämpfe zeigen die Wut der Betroffenen – eine Wut, die, wie gesagt, durch das Vorhaben der neuen Regierung angeheizt wird. Das ist auch wichtig, denn ohne diese Wut kann es zu keinem Arbeiterkampf kommen. Aber Wut allein reicht nicht. Wut ohne Klassenbewusstsein lässt sich leicht in harmlose Richtungen kanalisieren. Auch das ist eine durch den jüngsten Wahlgang erneut bestätigte Lehre. Die Wut der Betroffenen wurde in Richtung Wahlurne gelenkt. Das Angebot des demokratischen Staates lautete: Die Verantwortlichen – v.a. also die regierende SPD und die CDU/CSU als neue Kanzlerpartei in spe – bei den Wahlen “abzustrafen”. Tatsächlich hatten beide “Volksparteien” ihr schlechtestes Wahlergebnis seit langem. Das Ergebnis? Ausgerechnet die “Abgestraften” bilden die neue Regierung, werden von der herrschenden Klasse für ihre Mühen belohnt. Deutlicher könnte die Ohnmacht des demokratischen “Abstrafens” als Protestform nicht zu Tage treten.

Sich auf Jahrzehnte lange Kämpfe einstellen

Überhaupt ist es ungeheuer wichtig, dass die Arbeiterklasse, die während der letzten Jahre noch verbleibenden Illusionen über die Wirklichkeit des kapitalistischen Systems ablegt. Hinter der Wucht der Angriffe steckt die Ausweglosigkeit der Krise eines mit dem Fortschritt der Menschheit nicht mehr zu vereinbarendem Gesellschaftssystems. Die Arbeiterklasse muss um diese Einsicht ringen. Denn gerade der linke, angeblich arbeiterfreundliche Flügel des demokratischen Staates macht heute mobil, um diese Einsicht im Keim zu ersticken. So haben im Oktober und November 2005 die Gewerkschaften in einer Reihe Europäischer Staaten – u.a. in Frankreich, Belgien und Griechenland – Aktionstage veranstaltet, um gegen bestimmte Regierungsmaßnahmen zu protestieren. Sie wollen damit nicht nur Dampf ablassen, der sich sonst in den Reihen der Arbeiter gefährlich (für das Kapital) aufstauen könnte. Sie sollen darüber hinaus die Illusion aufrechterhalten, dass es sich bei diesen Angriffen nicht um Äußerungen des Bankrotts des Kapitalismus handelt, sondern um einzelne Maßnahmen oder um eine “verfehlte Politik”, welche durch punktuelle und begrenzte Aktionen abgewehrt oder infrage gestellt werden können. Das parlamentarische Gegenstück dazu bilden heute die “Globalisierungsgegner”, welche in Form der Linkspartei-PDS gerade in Fraktionsstärke und mit viel Tamtam in den neuen deutschen Bundestag gezogen sind. Diese Kräfte behaupten, die Ursache des Leids der Arbeiterklasse heute sei nicht die Krise des Systems, sondern die Tatsache, dass das Kapital in den letzten Jahren international und damit übermächtig geworden sei. Ihre Antwort darauf: den Nationalstaat stärken. Tatsächlich wird durch diese Sichtweise der Bankrott des Systems verhüllt. Dass das Kapital international agiert, ist überhaupt nicht neu. Bereits zu Marxens Lebzeit   gründeten die Arbeiter die 1. Internationale, nicht zuletzt um zu verhindern, dass Arbeiter aus anderen Ländern als Streikbrecher eingesetzt werden konnten. Nicht nur die Bewegungen des Kapitals und seine Krisen, sondern der Kampf der Arbeiterklasse war von Anfang an international. Was aber den Kapitalismus kennzeichnet, ist nicht allein sein globaler Charakter, sondern wesentlich der Widerspruch zwischen Weltmarkt und Nationalstaat, zwischen internationaler Produktion und nationalstaatlicher Aneignung. Die gnadenlose “Standortkonkurrenz” aller Staaten der Erde ebenso wie das Aufflammen militärischer Konflikte zeigt heute auf, wie wenig dieser Widerspruch verschwunden ist. Der Nationalstaat ist die höchste Form der kapitalistischen Konkurrenz. Er ist Teil des Problems und niemals Teil der Lösung.
Somit ist auch das neue deutsche Regierungsprogramm nur eine Erscheinungsform eines weltweiten Phänomens. Angesichts dieser Entwicklung muss die Arbeiterklasse sich auf große Kämpfe, ja auf Jahrzehnte lange Kämpfe einstellen.

Die Notwendigkeit der internationalen Solidarität

Regierung und Opposition, Links und Rechts streiten sich um den wirkungsvollsten, gerechtesten und sozialverträglichsten Weg zur Stärkung des Standorts Deutschland. In allen Ländern wiederholt sich, in unterschiedlichen Formen, dieses Schauspiel. Die Bourgeoisie kennt auch keine andere Antwort auf die Krise des Systems, als sich immer wieder der Konkurrenz zu stellen. Die Konkurrenz ist keine Antwort auf die und kein Ausweg aus der Krise, sondern das Grundprinzip des Kapitalismus. Sie ist die Ursache der Unmenschlichkeit der Lebenslage der Arbeiter sowie der Ohnmacht des Proletariats. Vor dem Kapitalismus wurden die Ausgebeuteten gewaltsam zur Mehrarbeit gezwungen. Im Kapitalismus hingegen ist es die Konkurrenz der Arbeiter untereinander, welche das Proletariat zwingt, sich der Ausbeutung zu unterwerfen. Die Arbeiterklasse kann nur eine eigene Macht entwickeln, indem sie der kapitalistischen Konkurrenz ihr Prinzip der Klassensolidarität entgegenstellt. Erst diese Solidarität ermöglicht die Entwicklung des Arbeiterkampfes als wirkliche Gegenmacht und als alternatives Gesellschaftsprojekt zur Welt des jeder gegen jeden. Hier keimt die Saat einer neuen, klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft.

Diese Solidarität ist zu aller erst internationalistisch. Die Arbeiterklasse ist die einzige internationale und zur weltweiten Solidarität befähigte Klasse der heutigen Gesellschaft. Es handelt sich hierbei keineswegs um ein abstraktes Prinzip oder um eine erst in einer fernen Zukunft sich stellende Frage. Wie die Beschäftigten bei VW in Wolfsburg, die jüngst gegen ihre Kolleginnen und Kollegen in Portugal um den preiswerteren Produktionsort des neuen Marrakesch-Models ausgespielt wurden, steht die gesamte Arbeiterklasse vor dieser Frage. Die Frage lautet: Entweder sich den Profitinteressen der “eigenen” Kapitalisten unterordnen, oder überall entschlossen sich gegen die Angriffe des Kapitals zu Wehr setzen - im politischen Bewusstsein, einen gemeinsamen solidarischen Kampfes zu führen.
“Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!”    15.11.05

Nationale Situationen: 

  • Nationale Lage in Deutschland [1]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [17]

Leserbrief aus Süddeutschland: Die Bedeutung theoretischer Arbeit

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Die Bedeutung theoretischer Arbeit

Ohne einen aktiven Austausch von Standpunkten, ohne Debatte ist eine Klärung kommunistischer Positionen unmöglich.  Deshalb versuchen wir möglichst regelmäßig in unserer Zeitung Zuschriften von Leser/Innen zu veröffentlichen und darauf so ernsthaft wie möglich zu antworten. Wir unsererseits sind nicht nur erfreut, sondern auch dankbar für jede Zuschrift, die wir erhalten, weil sie uns zu einer selbstkritischen  Auseinandersetzung mit unserer Arbeit und unseren Positionen zwingt. Deshalb, wenn euch an unserer Zeitung etwas besonders angesprochen aber auch missfallen hat, schreibt uns, auch wenn es nur ein paar Zeilen sind.

Leserbrief aus Süddeutschland

Zunächst einmal muß ich mich bei euch entschuldigen, dass ich Nichts von mir habe hören lassen. Vor etwa einem Jahr habe ich so ziemlich jede linke Organisation zwecks Informationen angeschrieben und infolgedessen bei einigen auch Materialien bestellt. Ebenso bei der IKS - hier ein "Weltrevolution"-Abo und diverse Publikationen.

Wenn ich versuche im Folgenden auf euch einzugehen, dann bitte ich zu bedenken, dass mir als Quellenmaterial nur die letzten vier Ausgaben der "Weltrevolution" und "Plattform und Manifest der IKS" zu Verfügung standen. Für die restlichen Publikationen habe ich noch keine Zeit zum Lesen gefunden.

Ich stimme mit euch überein, dass die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt ist. Marx und Engels haben dies im Kommunistischen Manifest nachgewiesen. Gleichzeitig halte ich den Begriff, den ihr vom Proletariat habt, für ziemlich abstrakt. Da wird die Arbeiterklasse "geschwächt und an Händen und Füßen gefesselt in den II. Weltkrieg geführt" und  "dazu gezwungen , eine vom Krieg zerstörte, in Trümmern liegende Welt wiederaufzubauen". Sind wir nicht alle ein bißchen Opfer ? möchte man fragen.

Kein Arbeiter steht außerhalb der Welt. Jeder handelt eigenverantwortlich zugunsten oder eben zuungunsten der "eigenen Sache". Das die naheliegende Revolution nur so selten angegangen wird, und wenn, dann meist ziemlich schnell in der Scheiße landet, hat viele Ursachen. Die Bourgeoisie hält eine Aktie daran, das Proletariat die andere. Über die Bedenken des Proletariats bezüglich der revolutionären Frage sollte aber schon Klarheit bestehen (auch wenn es sich nur um die Tatsache handelt, dass Arbeiterkinder während der revolutionären Krise schneller verhungern als Generalsfamilien). Das kann dann schon ein verdammt gutes Argument dafür sein, die Füße still zu halten und die Faust in der Tasche zu ballen. Wenn es da an Lösungswegen mangelt, liegt die Schuld hierbei aber weder bei der Bourgeoisie noch beim Proletariat, sondern vielmehr bei der revolutionären Partei.

Auch der Begriff "Dekadenz des Kapitalismus" wirkt auf mich eher verwirrend als erleuchtend. Während ihr damit zum einen auf die "Überproduktionskrise" eingeht, werden etwas später auch die Toten der "systematischen, fabrikmäßigen Massenmorde" hierunter subsumiert.

Die Überproduktionskrise wirkt auf mich weniger dekadent, als vielmehr notwendig logisch aus der Krise der Akkumulation. Diese wiederum hat ihren Ursprung in einer unvernünftigen Ideologie namens Kapitalismus. Ebenso "vernünftig" erscheint auch die Vernichtung von Lebensmitteln, während nebenan Millionen Hunger leiden. Auch dies ist notwendiger Bestandteil des kapitalistischen Systems. Dekadent bleibt dabei vielleicht die Tatsache, dass man Kinder im Rahmen der Entwicklungshilfe im vierten Lebensjahr für zehn Jahre gegen Viruserkrankungen immunisiert, während man genau weiß, dass diese das achte Lebensjahr mangels Nahrung sowieso nicht erreichen. Dies ist auch innerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik nicht nachzuvollziehen.

Die "Massenmorde", auf die ihr dagegen hinweist - und hier vor allem die Shoah -, sind meines Erachtens auch keiner "Dekadenz des Kapitalismus" geschuldet, sondern vielmehr in der Unendlichkeit der menschlichen Dummheit zu suchen. Es gibt nicht eine einzige These die glaubhaft den Zusammenhang zwischen den Erkenntnissen aus Marxens "Kapital" mit der "Notwendigkeit" von Ausschwitz herstellt.

Während ich euren Thesen zum Staatskapitalismus, den "sozialistischen" Ländern, den Gewerkschaften, den bürgerlichen Quatschbuden und zur "nationalen Befreiung" teile, möchte ich euch in den "partiellen Kämpfen" widersprechen. Zu diesen Auseinandersetzungen zähle ich mal grundsätzlich alle "Ein-Punkt-Bewegungen", also nicht nur Umwelt, Gender, Rassismus, sondern auch Antifaschismus. Diese Bewegungen grundsätzlich als "Mittel der Bourgeoisie, um die Ziele der Arbeiter zu vernebeln" zu brandmarken, halte ich grundsätzlich für falsch. Oftmals sind solche Zusammenhänge erst der Beginn eines politischen Bewußtseins. Sicherlich habt ihr recht, wenn ihr meint, dass man sich nicht in einzelnen Kämpfen aufreiben darf. Aber Leuten, die eine fortschrittliche Linie verfolgen, dann die Solidarität mit der Begründung zu entziehen - insbesondere wenn der bürgerliche Staat denen gegenüber repressiv auftritt -, dass sowieso nur die Sache der Konterrevolution vertreten wird, kann ich nur als zynisch und der Konterrevolution als dienlicher bezeichnen. (Darin ist vielleicht auch ein Grund zu sehen; warum die warum die "Fraktionen der kommunistischen Linken" so sang- und klanglos in den 30ern ausgestorben sind. Das Proletariat brauchte damals keine Schwätzer und Schreiber.

Dies bringt mich zum letzten Kritikpunkt: "Unsere Aktivität"

Hier wird von der "Umgruppierung der Revolutionäre im Hinblick auf die Schaffung einer wirklichen kommunistischen Weltpartei" geschrieben. Dass sich dies in theoretischen Veranstaltungen zu erschöpfen scheint, finde ich ziemlich schade. Ein reiner Diskussionsclub ist ein bißchen wenig für eine revolutionäre Perspektive. Statt dessen wird sich in altlinker Manier mit Verrätern und Abweichlern gekloppt. Bitte zukünftig gelassener und besser werden als KPD/ML und Genossen.

Abschließend möchte ich noch zu eurer letzten Ausgabe der "Weltrevolution" Nr. 130 ein paar Zeilen verlieren.

Der Artikel "60. Jahrestag der Befreiung der KZs, der Bombardierung Dresdens, Hiroshimas, der Kapitulation Deutschlands" besticht vor allem durch eins, es geht um Bombardierung und Vertreibung und arbeitende Deutsche - ähem deutsche Arbeiter. Natürlich alle Opfer der barbarischen englischen, amerikanischen und russischen Bourgeoisie. Gleichzeitig wird kurz vor Kriegsende ein zweites 1918 halluziniert. Ursache und Wirkung wird mal wieder schön ausgeblendet. Weder wird der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Tschechoslowakei, Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Luxemburg; Frankreich, England, Jugoslawien, Griechenland und der Sowjetunion thematisiert, noch wird auf die Befreiung der Zwangsarbeiter, der koreanischen, chinesischen und der kommunistischen KZler eingegangen. Kriegsverbrechen auf deutscher und japanischer Seite ? - Fehlanzeige !

Ich persönlich bin der Meinung, dass alle humanistischen Leistungen auch zur Geschichte des Proletariats gehören. Und zur größten humanistischen Leistung des 20. Jahrhunderts -gehört nun mal die Befreiung vom NS-Regime,vom japanischen und italienischen Faschismus. Ich wäre heute nicht am Leben, hätten die Nazis damals gesiegt.

Hand aufs Herz Leute: Den gleichen Sermon kann man in Publikationen wie den "Funkenflug" der Heimattreuen Deutschen Jugend, dem "Fahnenträger" oder der "Volk in Bewegung" lesen. Wenn der Schwachsinn auf angloamerikanischen Haufen gewachsen ist, dann bitte auch nur dort publizieren. Danke !Trotzdem werde ich natürlich mein Abo verlängern. Den Betrag füge ich diesem Schreiben in bar bei.

Mit freundlichen Grüßen 

Antwort der IKS  

Lieber Genosse,

auch wenn du deine Korrespondenz vom 06.07.2005 mit der Äußerung beendest, dass dein Brief ”hoffentlich nicht zu streng klingt” – wir haben uns darüber sehr gefreut. Erstens weil für uns die politische Debatte das Lebensblut der Arbeiterklasse darstellt, unverzichtbare Vorbedingung der Klärung ist. Diese Auseinandersetzung soll ruhig kontrovers und polemisch geführt werden, solange die Argumente aufrichtig sind und der Klärung dienen. Schließlich ist unser Thema, der Klassenkampf des Proletariats, eine äußerst wichtige und auch emotional ergreifende Angelegenheit! Zweitens weil es eine Reihe von Punkten gibt, wo du Übereinstimmung mit uns signalisierst. So stellst du von vorne weg klar: ”Ich stimme mit euch überein, dass die Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt ist.” Darüber hinaus schreibst du, dass du unsere ”Thesen zum Staatskapitalismus, den ‘sozialistischen’ Ländern, den Gewerkschaften, den bürgerlichen Quatschbuden und zur ‘nationalen Befreiung’” teilst. Auch wenn du dich sonst eher kritisch über die Kommunistische Linke in deinem Brief äußerst, erscheint es uns wichtig, darauf hinzuweisen, dass du einigen der wichtigsten Thesen zustimmst, welche diese internationalistische Strömung von den Positionen der Stalinisten, Trotzkisten und auch vielen Anarchisten radikal unterscheidet. Selbst gegenüber dem Bereich, den du als ”Ein-Punkt-Bewegungen” bezeichnest (wozu du ”nicht nur Umwelt, Gender, Rassismus, sondern auch Antifaschismus” zählst), wo du unsere Ansicht nicht teilst, stimmst du uns zumindest in einem wichtigen Punkt zu: ”Sicherlich habt ihr recht, wenn ihr meint, dass man sich nicht in einzelnen Kämpfen aufreiben darf. 

Der alte Maulwurf am Werk

Wenn wir diese Übereinstimmungen betonen, dann nicht um die zwischen uns bestehenden, schwerwiegenden Meinungsunterschiede herunterzuspielen. Was uns bedeutsam erscheint ist, dass wir in letzter Zeit immer mehr Briefe erhalten – nicht nur aus Deutschland, sondern aus der ganzen Welt – worin die Leser unserer Presse teilweise, manchmal aber auch umfassend und begeistert unseren Positionen zustimmen. Unsere politische Tradition, die der Kommunistischen Linken, entstand ursprünglich als Reaktion auf die Degeneration der russischen Revolution und der Kommunistischen Internationale. Sie musste ihre programmatischen Positionen ausarbeiten inmitten der vom Stalinismus, Nazismus und von der totalitären Demokratie geprägten Konterrevolution. Und selbst nach der Beendigung dieser langen Phase der Konterrevolution durch die weltweite Wiederbelebung des Klassenkampfes nach 1968 mussten wir Jahrzehnte lang in gewisser Weise gegen den Strom der kapitalistischen Linken anschwimmen, welche die ”politische Hoheit” über die große Mehrheit der politisierten Teile der neuen, ungeschlagenen Generation der Arbeiterklasse gewann. Es ist noch gar nicht so lange her, da wirkten proletarische Positionen - etwa die Ablehnung der sog. nationalen Befreiung und der Gewerkschaften - noch schockierend auf die große Mehrheit der Politisierten. Heute hingegen stimmen immer mehr dieser politisierten, proletarische Positionen Suchenden den Thesen des ”Linkskommunismus” zu. Wir sehen darin einen ganz wichtigen Ausdruck eines Prozesses, welchen wir mit Marx als unterirdische Bewusstseinsentwicklung bezeichnen möchten.

Für uns ist diese Arbeit des ”alten Maulwurfs” – welche das Potenzial birgt, nach der Niederlage des revolutionären Ansturms in Deutschland, Österreich-Ungarn und schließlich Russland am Ende des Ersten Weltkrieges, einen zweiten Anlauf zur proletarischen Weltrevolution vorzubereiten – in erster Linie ein Ergebnis der aktuellen Weltlage: Zuspitzung der kapitalistischen Krise, langsamer Illusionsverlust der Arbeiterklasse. Aber es ist auch ein Ergebnis der programmatischen Arbeit der kommunistischen Linken in den 20er und 30er Jahren. Denn ohne diese theoretische Vorarbeit würden die oft jungen, nach Klarheit suchenden politischen Vorkämpfer der Arbeiterklasse keine Orientierungspunkte vorfinden.

Nun aber zu deinen Divergenzen. Dass du uns in der Frage der ”Ein-Punkt-Bewegungen” nicht zustimmst, haben wir bereits erwähnt. Vielleicht können wir diesen Punkt für einen späteren Briefwechsel aufheben. Grundlegender erscheint uns die Frage der Dekadenz des Kapitalismus.(...) Schließlich ist die Dekadenztheorie keine Erfindung der IKS oder der Kommunistischen Linken. In seiner berühmten Vorrede zur ”Kritik der politischen Ökonomie” erklärte bereits Marx die Vorstellung, dass jede bisherige Produktionsweise eine aufsteigende und eine niedergehende Entwicklungsphase durchlief, zum Eckpfeiler seiner dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung. 

Die Einschätzung des Antifaschismus und des 2. Weltkriegs

Eine andere in deinem Brief aufgeworfene, sehr grundlegende Frage ist die Einschätzung des Antifaschismus und des 2. Weltkriegs. Hier äußerst du keinen Zweifel, sondern erhebst entschieden Widerspruch gegen unsere internationalistische Auffassung. Das, was weithin die ”Befreiung vom NS-Regime” durch den angloamerikanisch-sowjetischen  Block genannt wird, betrachtest du als eine ”humanistische Leistung” welche zur ”Geschichte des Proletariats” gehört. Du behauptest sogar, ”den gleichen Sermon” nicht nur bei uns, sondern auch bei den Rechtsradikalen lesen zu können. Stimmt das?

Die Neonazis sind Nationalisten. Auch die Stalinisten sind Nationalisten. Alle bürgerlichen Demokraten sind Nationalisten. Spätestens dann, wenn wichtige imperialistische Kriege ausbrechen, kann man beobachten, wie sie alle sich beeilen, für eine der kriegsführenden Seiten Partei zu ergreifen. Was alle diese – durch und durch bürgerlichen – Kräfte gemeinsam haben, ist ihr Glaube, dass die Nation, dass der Nationalstaat noch eine fortschrittliche Rolle in der Menschheitsgeschichte spielen kann. Diese Auffassung stirbt nicht aus, sobald der Kapitalismus, durch die Schaffung eines einheitlichen Weltmarktes und eines Weltproletariats, die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus geschaffen hat. Im Gegenteil. Je brutaler der Widerspruch der Entwicklung der materiellen Produktivkräfte mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen wird - und damit der Gegensatz zwischen den Bedürfnissen der weltweiten Produktion und dem Fortbestand einer durch Nationalstaaten organisierten privaten Aneignung - desto wahnwitziger die Art und Weise, wie die herrschende Klasse die Nation hochhält. Zwei der aberwitzigsten Ausdrücke dieser den Bedürfnissen der geschichtlichen Entwicklung total widersprechenden, nationalen Wahnsysteme griffen in den 20er und 30er Jahren um sich: Der Nationalsozialismus und der Stalinismus. Während der Nationalsozialismus im Rassismus eine neue ideologische Grundlage für die bürgerliche Nation suchte, verstieg sich der Stalinismus sogar zu der Behauptung, dass der Nationalstaat den geeigneten Rahmen für die Entwicklung des Sozialismus liefern könnte.

Das Grundprinzip des Proletariats hingegen ist, dass die Arbeiter kein Vaterland haben. Das heißt aber nicht, dass die marxistische Auffassung über die Rolle des Nationalstaates unwandelbar ist. Denn die Rolle der Nation in der Geschichte vollzieht selbst einen Wandel. Die Nation spielte eine fortschrittliche Rolle gegen die feudale Zersplitterung. Sie trug entscheidend dazu bei, große, durch die Produktion und den modernen Verkehr miteinander verbundene Abteilungen des Proletariats zu erschaffen. Deshalb gab die Arbeiterbewegung in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus bestimmten, fortschrittlichen nationalen Bewegungen ihre kritische Unterstützung, ohne aber sich die Ideologie des Nationalismus zu Eigen zu machen. Jedoch hat der Erste Weltkrieg aufgezeigt, dass diese Phase im Leben des Kapitalismus zu Ende war. Aus einem Faktor des gesellschaftlichen Fortschritts ist die Nation zu einem Faktor der Zerstörung der bis dahin entwickelten, materiellen Voraussetzungen des Sozialismus geworden.

In deinem Brief listest du die Verbrechen Deutschlands, Italiens und Japans im Zweiten Weltkrieg auf, sozusagen als Beweis für die Fortschrittlichkeit des Antifaschismus. Du wirfst uns sogar vor, diese Verbrechen zu verschweigen. Jedoch vom Standpunkt des Marxismus können die Verbrechen der einen Seite eines imperialistischen Krieges niemals ausreichen, um die Fortschrittlichkeit der anderen Kriegsseite zu beweisen. Dies wurde bereits beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich. Führende Sozialdemokraten aller kriegsführenden Länder haben ihre Kriegsteilnahme mit der Barbarei der Gegenseite zu rechtfertigen versucht. Jedes Mal beriefen sie sich auf die Haltung von Marx und Engels gegenüber dem barbarischen Russland. Was sie dabei verschwiegen: Marx und Engels haben niemals behauptet, dass die von den modernen, demokratischen, bürgerlichen Nationen angewendeten Mittel – beispielsweise in den Kolonien – weniger barbarisch waren als die zaristisch-russischen. Die Barbarei, von der sie in Bezug auf Russland sprachen, war die feudale Barbarei, welche alle fortschrittlichen, bürgerlichen Bewegungen auf dem europäischen Festland bekämpfte.

Die Barbarei der Nazis beweist keineswegs die Fortschrittlichkeit des angloamerikanisch-sowjetischen Blocks im Zweiten Weltkrieg – genau so wenig wie sie die im Namen des Antifaschismus verübten Verbrechen aus der Welt schaffen kann. Wir meinen, dass gerade diese Frage die entscheidende Wichtigkeit des Konzepts von der Dekadenz des Kapitalismus unterstreicht. Die Ablehnung des Nationalismus ist ein Prinzip des Proletariats. Dass die Arbeiterbewegung dennoch bestimmte nationale Bewegungen gutheißen konnte, war eine Ausnahme, welche nur die Regel bestätigt – eine Ausnahme auf Grund der Tatsache, dass die materiellen Vorbedingungen der proletarischen Revolution noch nicht vorhanden waren. Dass diese Ausnahmephase, in der die Arbeiterklasse unter Umständen ihren  natürlichen Hauptfeind, die Bourgeoisie, gegen den Feudalismus unterstützen konnte, mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende ging, trifft aus unserer Sicht nicht nur für die Rolle des Nationalstaates und der ”nationalen Befreiung” zu, sondern auch was die Demokratie anbetrifft, ist eine Ausnahmephase zu Ende gegangen. Hat die Arbeiterklasse, der Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft, in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus oft der revolutionären und ”liberalen” Bourgeoisie gegen das Mittelalter geholfen, so bestimmt nicht, weil diese demokratische Bourgeoisie weniger barbarische Mittel zum Einsatz bringen würde oder weniger rassistisch wäre (das Gegenteil ist viel eher der Fall, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts bestätigt hat), sondern weil die demokratische und parlamentarische Republik für eine freiere Entwicklung des Kapitalismus und damit für die Voraussetzungen des Sozialismus günstige Bedingungen schuf. Deshalb sind wir auch nicht damit einverstanden, wenn du den Antifaschismus zu den ”Ein-Punkt-Bewegungen” zählst. Wir lehnen die Ein-Punkt-Bewegungen ab, nicht weil ihre Zielsetzungen als solche falsch wären (die Beseitigung des Rassismus, des Sexismus, der Umweltzerstörung gehören selbstverständlich zu den Zielen des kämpfenden Proletariats), sondern weil diese Ziele nicht innerhalb des Kapitalismus, sondern nur durch seine revolutionäre Beseitigung erreicht werden können. Wir lehnen hingegen die Zielsetzung des Antifaschismus rundweg ab, die darin besteht, eine bestimmte Form der Kapitalherrschaft gegen eine andere zu verteidigen, da erstere angeblich menschlicher wäre oder zumindest ”das kleinere Übel” für die Arbeiterklasse darstelle. Die Geschichte zeigt, dass die Demokratie die stärkste Waffe der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse darstellt, und dass die Herrschenden diese Waffe erst bei Seite legen kann , wenn die Arbeiterklasse bereits geschlagen ist.

Wir sind aber der Ansicht, dass deine, aus unserer Sicht falsche Einschätzung des Zweiten Weltkrieges und des Antifaschismus nicht nur mit der Dekadenzfrage, sondern auch mit deiner Einschätzung der Rolle der Kommunistischen Linken in den 1930er Jahren zusammenhängt. Du deutest an, dass die Linkskommunisten, da sie ”Leuten die eine fortschrittliche Linie verfolgen dann die Solidarität mit der Begründung [entziehen …], dass sowieso nur die Sache der Konterrevolution vertreten wird” eine Haltung einnehmen, welche du als ”zynisch” und ”der Konterrevolution dienlich” bezeichnest. Denn du fügst direkt hinzu: ”Darin ist vielleicht auch ein Grund zu sehen, warum die ‘Fraktionen der kommunistischen Linken’ so sang- und klanglos in den 30ern ausgestorben sind. Das Proletariat brauchte damals keine Schwätzer und Schreiber.” 

Das Wirken der Fraktionen der Kommunistischen Linken

Das erste, was wir dazu anmerken wollen, ist, dass weder die Fraktionen der Kommunistischen Linken in den 30er Jahren, noch die IKS als die international wichtigste linkskommunistische Organisation der Gegenwart, Leuten ”die eine fortschrittliche Linie” verfolgt haben, die Solidarität entzogen haben. Die italienische Fraktion, auf dessen Verhaltenskodex und Organisationsverständnis die IKS sich beruft, nahm immer eine solidarische Haltung allen proletarischen Strömungen gegenüber ein, nicht nur gegenüber der deutsch-holländischen Linken (allen politischen Divergenzen zum Trotz), sondern auch beispielsweise gegenüber den Trotzkisten, welche sogar eine Zusammenarbeit mit der Konterrevolution, mit Stalinismus und Sozialdemokratie befürwortet haben. Nicht zuletzt auf Grund dieser solidarischen Haltung gelang es den Linkskommunisten, die besten Genossen im Lager der Trotzkisten für ihre internationalistische Haltung gegenüber dem 2. Weltkrieg zu gewinnen, während der Trotzkismus die Arbeiterklasse verraten hat. Was allerdings wahr ist: Die Linkskommunisten zählten bürgerliche Demokraten, Stalinisten, Sozialdemokraten (und auch nicht die CNT Anarchisten, welche 1937 in der Regierung saßen, welche auf kämpfende Arbeiter in Barcelona scharf schießen ließ) nicht zu denjenigen, welche eine ”fortschrittliche Linie” verfolgten. Wir auch nicht. Was meinst du dazu?

Zweitens stimmt es nicht, dass die Kommunistische Linke in den 30er Jahren ”sang- und klanglos” ausgestorben ist. Die Vertreter dieser Strömung in Italien und Frankreich, in Belgien oder in den Niederlanden, haben ihr Leben riskiert, und oft auch hingegeben, um den politischen Kampf gegen den imperialistischen Krieg während des zweiten Weltgemetzels weiterzuführen. Dabei taten sie im Prinzip nichts anderes, als Lenin oder Rosa Luxemburg gegenüber dem Ersten Weltkrieg: in Wort und Tat den proletarischen Internationalismus gegen alle kriegsführenden Seiten hochzuhalten. Sie setzten sich dafür ein, dass der Klassenkampf gegen den Krieg fortgeführt wird, dass die Proletarier in Uniform ihre Waffen, nicht gegen ihre Klassenbrüder und Schwester, sondern gegen ihre eigenen Offiziere richten, dass der imperialistische Krieg in einen Bürgerkrieg verwandelt wird. Du wirfst unserer Strömung vor, ”kurz vor Kriegsende ein zweites 1918 halluziniert” zu haben. Muss man im Nachhinein diese internationalistische Politik als falsch oder unnütz betrachten, da es nicht zum gewünschten Erfolg führte, da der Zweite, im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg nicht durch die Revolution beendet werden konnte? Die Internationalisten im Ersten Weltkrieg haben mehrere Jahre lang in großer Isolation gegen den Strom des Chauvinismus ankämpfen müssen, bevor die Masse der Arbeiter von der Richtigkeit dieser Politik überzeugt werden konnte. Die Internationalisten des Zweiten Weltkriegs mussten Jahrzehnte  bis 1968 darauf warten, bis zumindest ein Teil der Politisierten einer neuen, ungeschlagenen Generation der Arbeiterklasse von der Richtigkeit und der Unerlässlichkeit dieser internationalistischen Haltung überzeugt wurde. Heute, ca. weitere 30 Jahre später, beginnt sich der politisierteste Teil der jetzigen neuen Generation von diesem Internationalismus zu überzeugen – wobei dieser Prozess, wenn auch weniger spektakulär, so doch viel breiter und tiefer in der Klasse insgesamt verwurzelt zu sein verspricht als nach 1968. Ist das etwa kein Beweis für die Wirksamkeit proletarischer Politik? Wir meinen ja, es sei denn, man misst den Erfolg ausschließlich an den unmittelbaren Auswirkungen.

Aber du behauptest, dass die Internationalisten von damals ”Schwätzer und Schreiber” waren, die das Proletariat nicht brauchte. Diese Behauptung wird durch die geschichtlichen Tatsachen selbst am besten widerlegt. Zwei Beispiele. Erstens: Während im gesamten Verlauf des Zweiten Weltkriegs der westlich-”sowjetische” Block es systematisch unterließ, auch nur das Geringste zu unternehmen, um die Juden vor der Vernichtung zu bewahren, trat das niederländische Proletariat gegen die Deportationen in den Massenstreik, wobei die Internationalisten eine aktive, vorantreibende Rolle gespielt haben. Zweitens: Eines der berühmtesten politischen Manifeste des Zweiten Weltkrieges – Das Manifest von Buchenwald – wurde im KZ Buchenwald kurz vor der dortigen Erhebung  am Kriegsende von einem Genossen der österreichische RKD verfasst, welche sich auf Grund des politischen Einflusses der Französischen Kommunistischen Linken (die direkte Vorläuferin der IKS) von dem die internationalistischen Klassenprinzipien verratenden Trotzkismus gelöst hatten. 

Der spezifische Beitrag der Revolutionäre – die theoretische Arbeit

Wir finden, dass man die Hochhaltung des proletarischen Internationalismus nicht als ”Geschwätz” gering schätzen sollte. Bereits Friedrich Engels stellte fest, dass der proletarische Klassenkampf drei Hauptbestandteile hat. Neben dem ökonomischen und dem politischen Kampf nannte Engels den theoretischen Kampf als dritte Säule der Befreiung der Arbeit. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Revolutionäre sich entschlossen an den ökonomischen und politischen Kämpfen ihrer Klasse zu beteiligen haben. Ja, sie haben sich nach Möglichkeit an die Spitze dieser Kämpfe zu stellen. Jedoch ist der theoretische Kampf nicht nur ebenso wichtig wie die beiden anderen Dimensionen – es ist die  Ebene des theoretischen Kampfes, worin der spezifische Beitrag der Revolutionäre besteht und ausschlaggebend ist.

Die Arbeit der Revolutionäre besteht nicht nur darin, die vorwärtsstürmenden Massen voranzutreiben. Da – um mit Marx zu sprechen – die herrschende Ideologie in der Regel die Ideologie der herrschenden Klasse ist, besteht sogar die Hauptaufgabe der Revolutionäre über weite Strecken darin, gegen den Strom zu schwimmen. So nannten Lenin und Sinoview ihre während des 1. Weltkriegs in der Schweiz herausgegebene Zeitschrift ”Gegen den Strom”. Wir sprachen vorhin davon, wie die Internationalisten im Zweiten Weltkrieg ihr Leben riskierten, um den Prinzipien ihrer Klasse treu zu bleiben. Nun, nicht nur die Revolutionäre, sondern Millionen von Soldaten haben damals, während des ersten wie des zweiten imperialistischen Gemetzels ihr Leben aufs Spiel gesetzt bzw. setzen müssen. Worin bestand der besondere Mut der Internationalisten? Er bestand darin, Risiken auf sich zu nehmen für eine Sache, welche von der offiziellen Gesellschaft – und manchmal sogar, zumindest vorübergehend, von einer Mehrheit der Bevölkerung – gehasst, verfolgt und verleumdet wird. Marx spricht von Augenblicken in der Geschichte, wo große umstürzlerische revolutionäre Ideen von der Masse Besitz ergreifen. Besteht die vornehmste Aufgabe der Kommunisten nicht darin, sich und die Klasse auf diesen Umsturz vorzubereiten, indem sie diese Ideen hochhalten und in der Klasse verbreiten? Eine große Revolution kann nicht gemacht werden auf Grund von reaktionären oder halbherzigen Prinzipien. Nur Ideen, welche zutiefst dem Wesen und den Klasseninteressen des Proletariats entsprechen, können die lohnabhängige Bevölkerung mit Macht ergreifen. Hierin liegt aus unserer Sicht die große Gefahr des Aktivismus. Damit meinen wir eine Herangehensweise, welche v.a. auf den unmittelbaren Erfolg bzw. die unmittelbare Einflussnahme abzielt auf Kosten der langfristigen Ziele. Bereits Bernstein, der bekannteste Sprecher des Opportunismus und ”Revisionismus” innerhalb der deutschen Sozialdemokratie am Ende des 19. Jahrhunderts erklärte: ”Die Bewegung ist alles. Das Ziel ist nichts.” Für den revolutionären Marxismus hingegen müssen Ziel und Mittel übereinstimmen. Deswegen erscheint es uns so gefährlich, Genossen, welche inmitten der tiefsten Konterrevolution in der Geschichte des Proletariats Klassenprinzipien verteidigt haben, als ”Schwätzer” zu bezeichnen.

Wir wissen, dass wir nicht alle Punkte deines Briefes hiermit angesprochen und beantwortet haben (beispielsweise unseren Umgang mit der so genannten ”internen Fraktion der IKS). Andere wichtige Aspekte, etwa die Dekadenztheorie, haben wir hier nur kurz angeschnitten. Wir halten aber nichts davon, alles in einen Brief zu stopfen. Wir hoffen vielmehr auf die Entwicklung einer lebhaften Korrespondenz mit dir.

Mit kommunistischen Grüßen die IKS.            August 2005

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Antifaschismus/-rassismus [42]

Historische Ereignisse: 

  • Zweiter Weltkrieg [26]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Das Klassenbewusstsein [20]

Produktionsverlagerungen - Die Gesetze der kapitalistischen Ausbeutung

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Die Produktionsverlagerungen werden von der bürgerlichen Propaganda bei jeder Gelegenheit benutzt, so dass dadurch nicht nur die anderen Angriffe, die auf die Arbeiterklasse niederprasseln, verdrängt werden, sondern diese werden auch durch die Produktionsverlagerungen begründet. Antiglobalisierer, die Vertreter der Extremen Linken und die Linksparteien stehen an vorderster Stelle, um den ‚Neoliberalismus’ von geierhaften Arbeitgebern und dividendenhungrigen Aktionären zu kritisieren, die in Anbetracht verschiedener Optionen für “eine bessere Welt” die schlechteste gewählt hätten. Wir wollen dagegen in diesem Artikel aufzeigen, dass die Arbeitsplatzverlagerungen auf die eigentlichen Gesetze des Kapitalismus selbst zurückzuführen sind.

Im Gegensatz zu den Spinnereien der Antiglobalisierer “gegen die Verwandlung der Welt zu Waren” steht fest, dass Warenbeziehungen alle gesellschaftlichen und menschlichen Beziehungen der Gesellschaft seit der Entstehung des Kapitalismus beherrschen. In der kapitalistischen Gesellschaft stellen die Herstellung und der Verkauf einer Ware das einzige Mittel dar, einen Teil der produzierten Güter zu erhalten, wenn man nicht völlig ohne Subsistenzmittel dastehen möchte. Diejenigen, die über überhaupt keine Produktionsmittel verfügen, nämlich die Arbeiter, und die damit nicht in der Lage sind, mit ihren Mitteln Waren herzustellen, können auf dem Markt nur eine einzige, besondere Ware anbieten: ihre Arbeitskraft.

Die kapitalistische Ausbeutung der Arbeitskraft

Wie bei jeder anderen Ware spiegelt sich der Wert der Arbeitskraft auf dem Markt im Preis, im  Lohn wieder. Die Ware Arbeitskraft unterscheidet sich überhaupt nicht von den anderen am Markt erhältlichen Waren, außer dass sie mit ihrem Verkäufer, dem Arbeiter, untrennbar verbunden ist, und dass es für diese Ware unhaltbar ist, zu lange auf einen Käufer  zu warten, da sie mit ihrem Träger, dem Arbeiter, sonst wegen Ermangelung von Lebensmitteln zum Untergang verdammt ist.
Die Arbeitskraft stellt für den kapitalistischen Käufer, den Bourgeois, der die Ware verbraucht, die Quelle seines Profits dar. Wenn der Industriekapitalist den von ihm eingestellten Beschäftigten nur für die Zeit arbeiten ließe, die dem Arbeiter reicht, um den Lohnanteil zu produzieren, den er bezahlt bekommt, würde der Unternehmer keinen Gewinn erzielen. Der Arbeiter muss zusätzlich zu dieser Zeit arbeiten. Die Arbeitszeit eines jeden Arbeiters zerfällt – ohne dass der Beschäftigte sich dessen bewusst ist – in zwei Bestandteile: einen bezahlten Teil, in dem der Arbeiter nur den Wert seines Lohns erarbeitet, und einen unbezahlten Teil, in dem er kostenlos arbeitet oder für den Kapitalisten, welcher sich die gesamte Produktion aneignet,  Mehrarbeit leistet. Die Lage der Arbeiter kommt durch die Unsicherheit ihrer Existenz zum Ausdruck:
“Der Proletarier ist hülflos; er kann für sich selbst nicht einen einzigen Tag leben. Die Bourgeoisie hat sich das Monopol aller Lebensmittel im weitesten Sinne des Worts angemaßt. Was der Proletarier braucht, kann er nur von dieser Bourgeoisie, die durch die Staatsgewalt in ihrem Monopol geschützt wird, erhalten. Der Proletarier ist also rechtlich und tatsächlich der Sklave der Bourgeoisie; sie kann über sein Leben und seinen Tod verfügen. Sie bietet ihm ihre Lebensmittel an, aber für ein »Äquivalent«, für seine Arbeit; sie läßt ihm sogar noch den Schein, als ob er aus freiem Willen handelte, mit freier, zwangloser Einwilligung, als mündiger Mensch einen Vertrag mit ihr abschlösse. Schöne Freiheit, wo dem Proletarier keine andere Wahl bleibt, als die Bedingungen, die ihm die Bourgeoisie stellt, zu unterschreiben.” [Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 180. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 10441 (vgl. MEW Bd. 2, S. 307)]
Im Kapitalismus kennt das Verlangen nach Ausbeutung der Mehrarbeit kenne Grenzen: Je mehr der Kapitalismus aus der unbezahlten Arbeit der Arbeiter herauspresst, desto besser für ihn. Grenzenlos Mehrwert herauszupressen, sind das Ziel und die Rolle des Kaufs der Ware Arbeitskraft durch den Kapitalisten. “...so bleibt doch auch der industrielle Kapitalist im Grunde ein Kaufmann. Seine Tätigkeit als Kapitalist (...) beschränkt sich wie die des Handelsmannes auf den Markt. Seine Aufgabe ist es, die nötigen Rohstoffe, Hilfsstoffe, Arbeitskräfte usw. so zweckentsprechend und billig als möglich zu kaufen und die in seinem Unternehmen fertiggestellten Waren so teuer als möglich zu verkaufen. Auf dem Gebiete der Produktion hat er nichts zu tun, als dafür zu sorgen, dass die Arbeiter für möglichst kleinen Lohn möglichst viel Arbeit leisten, dass ihnen möglichst viel Mehrwert ausgepresst wird.” (K.Kautsky, Erfurter Programm, II, Das Proletariat, 1. Proletarier und Handwerksgeselle)
Diese Ausbeutung wird nur durch die Erschöpfung des Ausgebeuteten und die Widerstandsfähigkeit der Arbeiterklasse gegen die Ausbeuter begrenzt. Um den Anteil der kostenlosen Arbeit zu erhöhen, durch die der Proletarier dem Kapitalismus seinen Mehrwert liefert, verfügt das Kapital über verschiedene Mittel: Die Intensivierung des Arbeitsrhythmus während der Arbeit und die Senkung der Löhne; selbst wenn nur ein Mindestlohn bezahlt wird, der für das einfache Überleben des Arbeiters bezahlt wird.
Wie jede Ware unterliegt die Arbeitskraft der Konkurrenz und den Schwankungen des kapitalistischen Marktes:
“Und wenn mehr Arbeiter da sind, als die Bourgeoisie zu beschäftigen für gut hält, wenn also am Ende des Konkurrenzkampfs doch noch eine Zahl übrigbleibt, die keine Arbeit findet, so muß diese Zahl eben verhungern; denn der Bourgeois wird ihnen doch wahrscheinlich keine Arbeit geben, wenn er die Produkte ihrer Arbeit nicht mit Nutzen verkaufen kann.” [Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 182. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 10443 (vgl. MEW Bd. 2, S. 308)]
“Die Konkurrenz ist der vollkommenste Ausdruck des in der modernen bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Kriegs Aller gegen Alle. Dieser Krieg, ein Krieg um das Leben, um die Existenz, um alles, also auch im Notfalle ein Krieg auf Leben und Tod, besteht nicht nur zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft, sondern auch zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Klassen; jeder ist dem andern im Wege, und jeder sucht daher auch alle, die ihm im Wege sind, zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen. Die Arbeiter konkurrieren unter sich, wie die Bourgeois unter sich konkurrieren.”
Dabei konkurrieren Arbeitslose und Beschäftigte, einheimische und zugewanderte Arbeiter miteinander.
Diese Konkurrenz der Arbeiter gegeneinander ist aber die schlimmste Seite der jetzigen Verhältnisse für den Arbeiter, die schärfste Waffe gegen das Proletariat in den Händen der Bourgeoisie.” [Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England, S. 179. Digitale Bibliothek Band 11: Marx/Engels, S. 10440 (vgl. MEW Bd. 2, S. 306-307)]

Die Arbeitsplatzverlagerungen – ein Ergebnis der kapitalistischen Konkurrenz

Die Verlagerung von Produktionsstandorten von den Industriestaaten in Niedriglohnländer spiegelt das kapitalistische Gesetz der Suche nach einem Höchstprofit wider. Unter dem Druck der wilden Konkurrenz unter den großen kapitalistischen Industriestaaten um immer mehr begrenzte Märkte stellen die Durchschnittsstundenlöhne von 18€ in Spanien, 4 € in Polen und der Tschechischen Republik, 2€ in Brasilien und Mexiko, 1 € in Rumänien, 0,7€ in Indien oder in China gegen 23€ in Westeuropa oder den USA eine reichhaltige Fundgrube für den Kapitalismus, dieses Vampirs der Arbeitskraft, dar.

Vom 19. Jahrhundert an hat die Bourgeoisie nie gezögert, wenn immer die Produktionstechniken es ermöglichten, Arbeitsplätze zu vernichten, zum Beispiel die des Webers, um an anderen Orten der Erde billigere oder leichter auszubeutenden Arbeitskräfte  zu suchen.
Selbst wenn die Arbeitsplatzverlagerungen für die Arbeiterklasse nichts Neues, sondern ein altes und internationales Phänomen sind, das in allen Ländern anzutreffen ist, hat dieses Phänomen seit den 1990er Jahren unter dem Druck der seit mehr als drei Jahrzehnten dauernden Wirtschaftskrise an Schärfe zugenommen. In einigen Wirtschaftsbereichen, in denen die Lohnkosten einen Großteil der Gesamtproduktionskosten darstellen, hat die Verlagerung von den Industriestaaten in Billiglohnländer “längst stattgefunden” (5).
In der Autobranche zum Beispiel haben die Hersteller seit Jahren Arbeitsplätze verlagert. So produziert zum Beispiel Renault das Modell R12 seit 1968 in Rumänien. “Seit den 1970er Jahren hat Renault wie auch Peugeot die Zahl seiner Werke in Brasilien, Mexiko, Argentinien, Kolumbien, der Türkei erhöht. (…) Nach den Umstrukturierungen der 1980er Jahre stürzte sich Renault in den Kauf von Samsung in Südkorea und 1999 von Dacia in Rumänien” (6). Die Bourgeoisie hat übrigens nicht erst den Zusammenbruch der stalinistischen Regime und das Ende einer angeblichen “sozialistischen Wirtschaft” abgewartet, damit die Staaten des ehemaligen westlichen Blocks in den ehemaligen Ostblockstaaten investieren und dorthin Arbeitsplätze verlagern.
Während alle Bereiche der kapitalistischen Produktion durch die Arbeitsplatzverlagerungen betroffen sind, wird jedoch nicht die gesamte Produktion verlagert, wie auch die Propaganda der Bourgeoisie verlautbaren lässt. “Die Teile der Industrie, die von den Arbeitsplatzverlagerungen betroffen sind, sind zahlreich: Leder, Textil, Bekleidung, Metall, Elektrohaushaltsgeräte, Fahrzeugbau, Elektronik… Aber auch der Dienstleistungsbereich wird davon erfasst: Telefonzentralen, Informatik, Buchhaltung… Tatsächlich steht jede Massenproduktion und jede sich wiederholende Tätigkeit zur Disposition und gerät auf die Liste der möglichen Verlagerung in Billiglohnländer” (7). Der starke Rückgang der Transportkosten in den 1990er Jahren (ein Rückgang um 45% bei den Transporten per Schiff, um 35% bei der Luftfracht zwischen 1985-1993) hat den Nachteil der großen Entfernung zwischen Produktionsstätten und Märkten noch schrumpfen lassen.

Die Ausbeutung der in den Hightech-Bereichen Beschäftigten, die in den westlichen Industriestaaten als zu teuer gilt, mittels Niedriglöhne wird überall geradezu frenetisch betrieben; gleichzeitig will man damit die hohen Ausbildungskosten umgehen, da die Arbeitskräfte vor Ort kostengünstig ausgebildet wurden. In China errichten immer mehr westliche staatliche und private Unternehmen, “vor Ort Forschungszentren wie z.B. France Telecom in Kanton im Juni 2004, um von den fantastisch niedrigen Lohnkosten für die Wissenschaftler in den chinesischen Labors zu profitieren” (9). Indien ist innerhalb weniger Jahre ebenso eine Softwareschmiede geworden.
Gleichzeitig werden die Arbeitsplatzverlagerungen dazu ausgenutzt, um die unproduktiven Kosten der Großunternehmen um 40-60% zu senken. “Alles, was irgendwie aus der Ferne erledigt oder per Telefon oder Satellit übermittelt werden kann, gilt als ‚verlagerungsfähig’”. So kann man im Falle Indiens davon sprechen, dass das Land zum Hinterhof ‚amerikanischer und britischer Firmen’ wird (5).
Bei dem mörderischen Konkurrenzkampf, in dem die Nationen stehen, begrenzen die entwickelten Staaten ausdrücklich die Verlagerung gewisser Tätigkeitsfelder ins Ausland. Im Lande über gewisse Industrien mit militärischer Bedeutung zu verfügen, mit Hilfe derer man mit gleichrangigen Nationen rivalisieren kann, ist eine strategische Notwendigkeit und auf imperialistischer Ebene eine Überlebensfrage. Es ist allgemein auf wirtschaftlicher Ebene unabdingbar, dass zentrale Produktionsteile verschiedener wichtiger Schlüsselbereiche im Land verbleiben, weil man solche Trümpfe gegenüber der Konkurrenz nicht aus der Hand geben will. (…) (6).
Die Zahl der Länder, wohin Arbeitsplätze verlagert werden, ist begrenzt. “Indien, der Maghreb, die Türkei, die Länder Mittel- und Osteuropas, Asien (insbesondere China)” (7). Während jedes nationale Kapital sein bevorzugtes Investitionsgebiet besitzt, entspricht dies jeweils den gleichen zwingenden Kriterien. Diese Länder müssen nicht nur über eine gewisse innere Stabilität verfügen, was für immer weniger Länder zutrifft, weil viele Gebiete der Erde heute durch Kriege verwüstet werden. Aber sie müssen ebenso über eine ausreichende Infrastruktur und Arbeitskräfte verfügen, die an die die kapitalistische Ausbeutung gewöhnt und relativ gut ausgebildet sind. In den meisten “Empfängerländern” gab es eine industrielle Vergangenheit (Osteuropa) oder einen Anschein von Industrialisierung. An den afrikanischen Ländern der Subsahara sind die Arbeitsplatzverlagerungen bislang vorbeigegangen.

Die ausweglose Überproduktionskrise

Die Definition der Arbeitsplatzverlagerungen als “die Verlagerung einer bestehenden Wirtschaftstätigkeit ins Ausland (z.B. nach Frankreich), dessen Produktion anschließend wieder nach Frankreich eingeführt wird”, (8) liefert uns einen Teil des Geheimnisses der großartigen Zahlen, die uns von der Bourgeoisie zu den angeblichen Wirtschaftswundern Chinas und Indiens geliefert werden. Wenn man die Gesamtheit der Weltproduktion zusammenfasst, stellen die Arbeitsplatzverlagerungen eine Nullsumme dar. Während es auf der einen Seite sehr wohl zur Schaffung eines Industriezentrums kommt, das vorher nicht existierte, kann man keinesfalls von Entwicklung oder dem neuen Aufstieg der kapitalistischen Produktion reden, da die Schaffung einer vorher nicht vorhandenen Aktivität in einem “Empfängerland” direkt verbunden ist mit der Deindustrialisierung und der Stagnation der am meisten fortgeschrittenen Länder.
Jahrzehntelang sind in diesen Ländern die Investitionen ausgeblieben  für die umfangreiche Anschaffung einer modernen Technologie, die eine Vorbedingung ist für die Entwicklung der Konkurrenzfähigkeit der höher entwickelten Staaten und um Zugang zu haben zu einem Niveau der Industrialisierung, das diesen Namen verdient, selbst mit einer billigen Arbeitskraft. Ihre Unterentwicklung und das Bestreben, dass diese Staaten in diesem Zustand verharren, sind sogar heute eine der Bedingungen für die Ausbeutung der Arbeiterklasse vor Ort durch fremde Kapitalisten.
Fehlende Perspektiven für die Verbesserung der Lebensbedingungen des Proletariats in den Ländern, wohin die Arbeitsplätze verlagert werden, sowie die weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit in den westlichen Industriestaaten, in denen der Großteil der verlagerten Produktion verkauft wird, verhindern jedoch die weitere Expansion des Kapitalismus, sondern bewirken eine Zuspitzung der Überproduktionskrise.

Die Arbeitsplatzverlagerungen stellen als solche nicht die Ursache der Arbeitslosigkeit und der Absenkung des Lebensstandards der Arbeiterklasse. Sie stellen nur eine Form der Angriffe dar, unter denen das Proletariat leidet; aber sie alle besitzen die gleichen Wurzeln: Die Wirtschaftsgesetze des kapitalistischen Systems, die sich jeder Nation und jedem Unternehmer aufzwingen, und die die kapitalistische Welt in eine ausweglose Überproduktionskrise stürzen.
Um den von der Arbeiterklasse produzierten und in den Waren vergegenständlichten Mehrwert zu realisieren, muss der Kapitalist aber die Waren auf dem Markt verkaufen.
Die kapitalistischen Überproduktionskrisen, die die Geißeln des kapitalistischen Systems sind, sind immer verwurzelt in der Unterkonsumption der Massen, vor der die Arbeiterklasse infolge des kapitalistischen Ausbeutungssystems der Lohnarbeit steht, welche den Teil der gesellschaftlichen Produktion, der dem Proletariat zuzuordnen ist, ständig reduziert. Der Kapitalismus muss einen Teil seiner zahlungsfähigen Käufer außerhalb des Bereichs der Leute finden, die dem Verhältnis Arbeit-Kapital unterworfen sind.
Weil es zuvor im inneren Markt große Teile der vorkapitalistischen Produktion gab (handwerklich und vor allem bäuerlich), die relativ wohlhabend waren, bildeten diese den unabdingbaren Nährboden für das kapitalistische Wachstum.
Die außerkapitalistischen Kolonialmärkte, die seinerzeit erobert wurden, stellten auf Weltebene eine Möglichkeit dar, den Überschuss der in den Industrieländern produzierten Waren abzusetzen. Seitdem der Kapitalismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts den gesamten Erdball seinen Wirtschaftsbeziehungen unterworfen hat, sind die historischen Bedingungen nicht mehr vorhanden, die ihm zuvor ermöglicht hatten, mit seinen Widersprüchen fertig zu werden.
Seitdem ist er unwiderruflich in seine Niedergangsphase eingetreten, die die Menschheit in immer mehr Kriege, in immer tiefere Erschütterungen der Krise und in allgemeine Verarmung stürzt mit der Gefahr, dass die Menschheit ganz einfach ausgelöscht wird.  Scott

(1)    Engels, Die Lage der Arbeiterklasse in England, MEW 2, S.
(2)    K. Kautsky, Das Erfurter Programm, Das Proletariat,
(3)    Engels, ebenda, S.
(4)    Engels, ebenda, S.
(5)    Noethics.fr 10.01.2001
(6)    L’Expansion, 27.01.2004
(7)    Vie publique.fr 12.01.2004
(8)    Le Monde.fr 27.06.2004

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [22]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [19]

SPD -Bester Verteidiger des Kapitalismus

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Die derzeitige Änderung der wirtschaftlichen Großwetterlage und der gesellschaftlichen Stimmung in den wichtigsten Industriestaaten zeigt sich exemplarisch anhand der öffentlichen Kapriolen der neuen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Wahlkampf trat sie auf als radikale Reformerin, gewillt, eine Art neoliberale Revolution durchzuführen. Wie einst Ludwig Erhardt mit seiner damals umstrittenen Währungsreform von 1948 wollte sie dem Land bittere Medizin verordnen und versprach, mittels der “Entfesselung der Marktkräfte” und der Wiederherstellung des Vertrauens in den Standort Deutschland ein neues “Wirtschaftswunder”. Nach der Wahl hingegen präsentiert sich nun die neue Bundeskanzlerin als Anführerin einer Großen Koalition, welche unter dem Motto “Mut und Menschlichkeit” durch “schmerzliche, aber ausgewogene” Einschnitte Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen und damit den “deutschen Sozialstaat bewahren” möchte. Der zwischen Union und SPD ausgehandelte Koalitionsvertrag – weit entfernt, einem wie auch immer gearteten neoliberalen Manifest zu ähneln – zeigt keinerlei Berührungsängste mit den Schlagwörtern und Forderungen der linksextremen Globalisierungsgegner. So werden die jährlich 7,5 Milliarden an öffentlichen Investitionen, welche das Regierungsprogramm vorsieht, propagandistisch über vier Jahre addiert und als “milliardenschweres Investitionsprogramm” der Öffentlichkeit vorgestellt. Dabei sind diese staatlichen Investitionen im Verhältnis zur vorgesehenen Neuverschuldung so niedrig, dass damit der für 2006 vorgestellte Staatsetat als nicht verfassungskonform gilt. Auch andere Worthülsen der Globalisierungsgegner finden sich im Programm der Regierung Merkel wieder, wie etwa die Forderung nach internationaler Kontrolle der Finanzmärkte, insbesondere der “Hedge Fonds” als Symbole des “wildwuchernden Kapitalismus”.
Als sie am 11.11.2005 ihr Regierungsprogramm vorstellte, gab sich Merkel nicht mehr als Vertreterin einer radikalen Schocktherapie, sondern als (trotz zu erhebender Praxisgebühr) fürsorgliche Hausärztin. Die Tatsache, dass die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer erst ab 2007 eingeführt werden soll, erklärte sie mit der Notwendigkeit, “den Patienten” auf die notwendig gewordene “Operation” erst vorzubereiten. Als ob um zu beweisen, dass die neue Sprache des “sozialen Ausgleichs” ihr nicht bloß durch ihren neuen, sozialdemokratischen Koalitionspartner aufgezwungen wurde, nutzte Merkel die Gelegenheit, um einen Frontalangriff gegen die Arbeitgeberverbände zu lancieren. Die sollten – so Merkel – ihr eigenes Haus in Ordnung bringen, anstatt sich in die Politik einzumischen.
Was steckt hinter diesem offenkundig gewordenen politischen Stilwechsel? Es liegt auf der Hand, dass das verheerende Abschneiden der Union bei der Bundestagswahl vom 18. September ausschlaggebend war. Merkel und ihre Berater haben mit ihrem “Mut zur Wahrheit” – Wahlkampf und ihrer Ankündigung einer neoliberalen Revolution die Stimmung im Lande völlig falsch eingeschätzt. Selbst viele Stammwähler der Christdemokraten wurden dadurch abgeschreckt. Offensichtlich war die dadurch erlittene Wahlschlappe notwendig (die Union lag mit 36% der abgegebenen Wahlstimmen nur ein Prozentpunkt vor der nach sieben Jahren an der Regierung sehr unbeliebt gewordenen SPD), um Merkel die Augen dafür zu öffnen, dass in Anbetracht des Ausmaßes der Wirtschaftskrise immer breitere Teile der Bevölkerung von einer tiefsitzenden Angst vor der Zukunft erfasst worden sind.

Die Sozialdemokratie leitet eine politische Akzentverschiebung ein

Dennoch sind die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, welche zu dem unerwarteten Ergebnis einer Großen Koalition in Deutschland geführt haben, keinesfalls das Ergebnis der Bundestagswahl von September 2005. Die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die politischen Parteien der herrschenden Klasse und ihr Auftreten nach Außen beschränken sich auch nicht auf Merkel und die Union. Die Änderung in der politischen Sprache der Spitzenvertreter des Staates begann bereits vor der Wahl und erfasste zuallererst die Reihen der Sozialdemokratie.
Zu Erinnerung: als vor sieben Jahren Rot-Grün die Regierung Kohl ablöste, gewann die SPD – damals noch unter dem Parteivorsitzenden Lafontaine – die Wahl mit einem eher links angehauchten, leicht “keynesianistisch” anmutenden Regierungsprogramm. Kurz danach jedoch verjagte der neue Bundeskanzler Schröder seinen Rivalen Lafontaine und leitete einen propagandistischen Kurswechsel ein, indem er die Arbeit seiner Regierung ins Licht eines “moderaten Neoliberalismus” stellte. Um diese Korrektur zu verstehen, ist es notwendig, sich vor Augen zu halten, dass die deutsche Sozialdemokratie Ende der 90er Jahre unter etwas anderen Vorzeichen die Regierungsverantwortung übernahm als etwa “New Labour” in Großbritannien. Während in England die “Entschlackung” des Staates mittels Privatisierungen und radikalem Abbau von Sozialleistungen bereits von Tony Blairs konservativer Vorgängerin Thatcher in Angriff genommen wurde, wurde diese Aufgabe in Deutschland aufgrund der Wiedervereinigung erst mit Verspätung angegangen. Sie wurde erst unter Rot-Grün konsequent angepackt. Dieser Vorgang machte die vorsichtige Übernahme der Sprache des “Neoliberalismus” erforderlich, um beispielsweise die “Agenda 2010” zu rechtfertigen. Es ging darum die Illusion anzufachen, dass es möglich wäre, die Staatsverschuldung und die Massenarbeitslosigkeit durch die Reduzierung der “Staatsquote” (also den Anteil der öffentlichen Hand am Wirtschaftsleben) zu drücken.
Als nach der verheerenden Niederlage der SPD bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen in März 2005 Schröder sich dazu entschloss, die für den Herbst 2006 vorgesehene Bundestagswahl um ein Jahr vorzuziehen, steckte hinter dieser Entscheidung bereits die Erkenntnis, dass angesichts der auf schwindelerregender Höhe verharrenden Staatsverschuldung und Massenarbeitslosigkeit die Glaubwürdigkeit der neoliberalen Versprechungen dahinschmelzen würde. Dabei hatte Schröder nicht nur die enormen wirtschaftlichen Probleme im eigenen Land vor Augen, sondern ebenfalls die Tatsache, dass die für die angeblichen Erfolge des neoliberalen Kurses als Modell dienenden Länder wie die USA, Großbritannien oder die nordischen Staaten ebenfalls immer offensichtlicher zu straucheln begannen.
Die gesamte herrschende Klasse Deutschlands begrüßte einhellig das Vorziehen der Bundestagswahl. Sie begrüßte dies nicht nur, weil der Wahlzirkel zumindest vorläufig das beste Mittel ist, um dem Nachdenken der Arbeiterklasse über die Wirklichkeit und die Perspektive der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzutreten. Darüber hinaus setzte die Bourgeoisie auf einen Regierungswechsel, um der Bevölkerung weiszumachen, nicht das kapitalistische System, sondern die amtierende Regierung sei schuld an der wirtschaftlichen Misere, insbesondere an der Massenarbeitslosigkeit. Gerade jetzt, wo der kapitalistisch nicht lösbare Charakter der Wirtschaftskrise sichtbarer zu werden droht, gehört es zu den obersten Prioritäten der herrschende Klasse, sich selbst gegenüber, vor allem aber der Arbeiterklasse gegenüber den historischen Bankrott des Systems zu verhüllen.
Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie jedoch wurden bereits weiterreichende Schlussfolgerungen aus der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung gezogen. Dort ging die Entscheidung zu Neuwahlen mit einer politischen Kursänderung einher. Die beiden wichtigsten Ausdrücke dieser Kursänderung waren:
- die Entscheidung Lafontaines, die Partei zu verlassen und eine gesamtdeutsche, auf den Thesen der linken Globalisierungsgegner eingeschworene politische Kraft aus der Taufe zu heben
- die Entscheidung Schröders, den Wahlkampf zu nutzen, um den neo-liberalen Sprachgebrauch abzuschütteln.
Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass nicht alle bedeutenden Gruppierungen der deutschen Bourgeoisie sofort die volle Tragweite dieser Änderungen erfassten. Es ist auch offenkundig, dass einflussreiche Fraktionen der herrschenden Klasse zunächst auf eine Ablösung von Rot-Grün durch eine konservative, schwarz-gelbe (aus CDU/CSU und FDP) bestehende Koalition setzten, um die Aufbruchswirkung einer neuen Regierung zu verstärken, und um der Sozialdemokratie eine Erholungspause in der Opposition zu gönnen. Aber gerade die Ungeschicktheit Merkels sowie ihre neoliberalen Exzesse im Wahlkampf haben das ihre getan, um der deutschen Bourgeoisie klarzumachen, dass eine solche Regierung angesichts von steigendem Unmut und einem vertieften Nachdenken innerhalb der Bevölkerung dazu führen könnte, eine Radikalisierung der Arbeiterklasse eher weiter zu provozieren als dieser entgegenzuwirken.

Die “soziale Frage” rückt wieder in den Mittelpunkt

Es handelt sich bei dieser, von der Sozialdemokratie eingeleiteten Akzentverschiebung keineswegs um eine Änderung der Wirtschaftspolitik. In der heutigen Zeit ist die Wirtschaftspolitik im wesentlichen von der Tiefe der kapitalistischen Krise vorbestimmt. Einerseits ist auch der fanatischste Anhänger des neoliberalen Credos in der Praxis gezwungen, auf die Macht des kapitalistischen Staates zu setzen, um die Wirtschaft vor der Gefahr plötzlicher Einbrüche zu schützen. Andererseits ist ohnehin kein Geld mehr vorhanden, um beispielsweise ein klassisch “keynesianisches” staatliches Konjunkturprogramm zu finanzieren.
Es geht vielmehr um eine Modifizierung des politischen Stils. Da das neoliberale Licht am Ende des Tunnels nicht mehr glaubwürdig erscheint, muss die Bourgeoisie andere Argumente anführen, um die Angriffe gegen die Arbeiterklasse zu rechtfertigen. So verteidigt heute die Große Koalition die faktischen Rentenkürzungen mit der Notwendigkeit der Entlastung der jungen Generation; die Einschränkung der Pendlerpauschale und die Abschaffung der Eigenheimzulage mit der Vordringlichkeit der Förderung von Bildung; die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die neuen Einschnitte bei der Arbeitslosenunterstützung mit der beabsichtigten Senkung der Lohnnebenkosten. Letztendlich soll alles der “Rettung des Sozialstaates” dienen, indem sein Unterhalt “erwirtschaftet” wird. Es ist die Neuauflage des alten Märchens, demzufolge der Unternehmer investiert, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Es geht außerdem keineswegs darum, das Ausmaß der Angriffe zu drosseln, sondern darum, ein verfeinertes Fingerspitzengefühl bei der Durchsetzung dieser Angriffe zu entwickeln. Bezeichnend hierfür ist die Art und Weise, wie die neue Regierung bereits auf die ersten Anzeichen der Empörung gegenüber den angekündigten Angriffen reagiert. Angesichts des Unmuts gegenüber dem Vorhaben, die Arbeitszeit der Staatsbeschäftigten zu verlängern und ihr Jahreseinkommen um bis zu 4% zu kürzen, stellte die Regierung fest, dass zwar an dem “Einsparziel” von 1 Mia. Euro nicht zu rütteln sei, dass aber die Frage, wie diese Opfer zu vollbringen seien, und wen es am meisten treffen solle, durchaus Gegenstand von ausgiebigen “Verhandlungen” und “Dialoge” sein sollte.

Da die Merkels und Westerwelles im konservativen Lager über ein solches Fingerspitzengefühl nicht verfügen, hat die deutsche Bourgeoisie eingesehen, dass eine Große Koalition unter den gegebenen Bedingungen die beste Ablösung der alten, in der Bekämpfung der Wirtschaftskrise offensichtlich gescheiterten rot-grünen Koalition bietet. Und zwar eine große Koalition, wo die Sozialdemokraten “auf Augenhöhe” mitregieren d.h. die Regierungspolitik und ihre Akzentsetzungen im Wesentlichen bestimmen. Dass der schwergewichtige Parteichef der bayrischen CSU Stoiber doch nicht der neuen Regierung beigetreten ist, passt zu diesem Bild, indem das relative Gewicht der SPD innerhalb der Koalition dadurch erhöht wird.

Die Sozialdemokratie als Speerspitze der Verteidigung des Kapitalismus

Dass die deutsche Bourgeoisie den politischen Vorgaben der Sozialdemokratie gefolgt sind, widerlegt abermals die alte aber weitverbreitete Vorstellung, derzufolge die Wirtschaftsverbände einseitig die Politik des Staates festlegen. Die letzten Wochen und Monate haben vielmehr unter Beweis gestellt, dass in der heutigen Zeit die Sozialdemokratie die politisch ausschlaggebende Kraft des deutschen Staates darstellt. Die Sozialdemokratie hat als erstes erkannt, dass das Zeitalter des starken Wiederauflebens der Illusionen in das kapitalistische System, welches mit dem Mauerfall von 1989 anbrach, zu Ende geht. Die Sozialdemokratie hat als erste daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass heute die “soziale Frage” wieder Dreh- und Angelpunkt der Politik geworden ist. Inzwischen scheint selbst Angela Merkel in dieser Frage ein Licht aufgegangen zu sein.
Die SPD bleibt angesichts dieser Lage in die Regierungsverantwortung eingebunden, um angesichts einer langsam explosiver werdenden Situation möglichst zu vermeiden, die Arbeiterklasse mehr als nötig zu provozieren. (1) Das Wiedererlangen der eigenen Klassenidentität durch das Proletariat soll dadurch  - so viel es geht  - hinausgeschoben werden. Die linken Sozialdemokraten um Lafontaine wiederum – im Bündnis mit den Altstalinisten in der neuen Linkspartei – sollen mit ihren radikalisierten, “globalisierungskritischen” Reformismus- Tendenzen innerhalb des Proletariat der Infragestellung des kapitalistischen Systems entgegenwirken.

Die Änderungen, welche heute im Innern der Gesellschaft vor sich gehen, sind von welthistorischer Tragweite. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus ist die Bourgeoisie – auf Grund der Tiefe der historischen Krise – nicht mehr in der Lage, auf diesen Niedergang mit einem Ausbau der Sozialleistungen des Staates zu reagieren. Infolge dessen droht das Wesen des Kapitalismus in den Augen der Ausgebeuteten offenkundig zu werden: die absolute Unsicherheit des Daseins der Arbeiterklasse unter dem Regime der Lohnarbeit.
Die Bourgeoisie hat dies erkannt und stellt sich darauf ein, um mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mittel das Ausbeutungssystem, von dem sie lebt, zu verteidigen.      22.11.05

(1) Wir leugnen damit keineswegs, dass es auch andere gewichtige Gründe dafür gab, einer Großen Koalition den Vorzug zu geben, wie etwa die Möglichkeit einer großen Verfassungsreform, damit Bundestag und Bundesrat sich nicht mehr gegenseitig blockieren, oder aber die Chance zu versuchen, zwei unterschiedlich nuancierte Auffassungen in der Außenpolitik unter einen Hut zu bringen.

Nationale Situationen: 

  • Wahlen in Deutschland [35]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Der parlamentarische Zirkus [17]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/5/weltrevolution-2005

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