Wir veröffentlichen hier eine Reihe von Dokumenten, die vom 23. Kongress der IKS stammen: Berichte, die diskutiert und ratifiziert wurden (oder Auszüge daraus), und Resolutionen, die angenommen wurden. Dazu gehören auch ein Artikel über die gesamte Arbeit des Kongresses und der Bericht über den Historischen Kurs mit einer kurzen Einführung dazu. Wir fügen dieser Sammlung einen Bericht zur Aktualisierung unserer Analyse über den Zerfall hinzu, der bereits vom 22. IKS-Kongress ratifiziert worden ist und einen Rahmen für einige der Berichte an den 23. Kongress gibt.
Im Frühjahr 2019 hielt die IKS ihren 23. Internationalen Kongress ab. In diesem Artikel wollen wir über unsere Arbeit berichten.
Punkt 4 des Berichts über die Struktur und die Funktionsweise der revolutionären Organisation definiert den Internationalen Kongress als „(…) Ort, wo die Einheit der Organisation in ihrem ganzen Ausmaß zum Ausdruck kommt. Auf dem Internationalen Kongreß wird das Programm der IKS definiert, bereichert und korrigiert; dort werden auch die Organisationsformen und Funktionsweisen festgelegt, verändert oder präzisiert; die Analysen und Gesamtausrichtungen angenommen; eine Bilanz der vergangenen Aktivitäten gezogen und Arbeitsperspektiven für die Zukunft verabschiedet.“[1]
Im Mittelpunkt dieses Kongresses stand unsere Kontinuität mit der Kommunistischen Internationale, deren hundertjähriges Gründungsjubiläum im vergangenen Jahr stattfand. Historische Kontinuität und Transmission sind ein grundlegendes Anliegen der revolutionären Organisation. Auf dieser Grundlage wurde in der vom Kongress verabschiedeten Aktivitätenresolution daran erinnert, dass „die Kommunistische Internationale vor hundert Jahren im März 1919 mit der Absicht gegründet wurde, die ‚Partei des revolutionären Aufstandes des Weltproletariats‘ zu sein. Heute, unter anderen Umständen, aber unter Bedingungen, die immer noch durch die historische Epoche der Dekadenz des Kapitalismus bestimmt sind, bleibt das von der Kommunistischen Internationale gesteckte Ziel, die Schaffung der weltpolitischen Partei der revolutionären Arbeiterklasse, das Ziel der fraktionsähnlichen Arbeit der IKS.“
Die Resolution besteht auf der Tatsache, dass „die Kommunistische Internationale nicht aus heiterem Himmel geschaffen wurde, ihre Gründung hing von den vorangegangenen Jahrzehnten der fraktionsähnlichen Arbeit der marxistischen Linken in der Zweiten Internationale ab, insbesondere von der bolschewistischen Partei“[2]. Das bedeutet für die heutigen Revolutionäre, dass „so wie die Komintern nicht ohne die Vorarbeit der marxistischen Linken hätte geschaffen werden können, so wird die zukünftige Internationale nicht ohne eine internationale zentralisierte fraktionähnliche Tätigkeit der organisatorischen Erben der Kommunistischen Linken zustande kommen“.
Wir haben daran erinnert, dass „die Kommunistische Internationale unter den schwierigsten Umständen gegründet wurde, die man sich vorstellen kann: Sie folgte auf vier Jahre massenhaften Gemetzels und Verelendung des Weltproletariats; die revolutionäre Bastion in Russland war einer totalen Blockade und militärischen Interventionen durch die imperialistischen Mächte unterworfen; der Spartakisten-Aufstand in Deutschland war im Blut ertränkt worden, und zwei der Schlüsselfiguren der neuen Internationale, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wurden kurz vor ihrer Gründung ermordet“. Die Resolution unterstreicht, dass trotz der Unterschiede zur Zeit der revolutionären Reaktion auf den Ersten Weltkrieg und der darauf folgenden Konterrevolution“die IKS immer schwierigeren Bedingungen gegenübersteht, da der dekadente Kapitalismus in seiner Phase des Zerfalls immer mehr in eine barbarische Spirale aus Wirtschaftskrise und imperialistischem Konflikt versinkt. Um ihre historischen Aufgaben zu erfüllen, muss die IKS Kraft und Kampfgeist aus den Krisen schöpfen, denen sie ausgesetzt sein wird, so wie es die marxistische Linke von 1919 tat.“
Uns in eine Linie der Kontinuität mit den Bemühungen der Kommunistischen Internationale stellend, sah der Kongress sein Ziel darin, unsere Arbeit ähnlich wie die einer Fraktion zu entwickeln und zu konkretisieren. Der Begriff der Fraktion war in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer von entscheidender Bedeutung. Wie die Arbeiterklasse als Ganzes sind ihre politischen Organisationen dem Druck fremder Ideologien ausgesetzt, sowohl der bürgerlichen als auch der kleinbürgerlichen. Dies führt insbesondere zur Krankheit des Opportunismus.[3] Um gegen diese Krankheit zu kämpfen, erzeugt das Proletariat linke Fraktionen innerhalb seiner Organisationen: „Es war immer die Linke, die für die Kontinuität zwischen den drei wichtigsten internationalen politischen Organisationen des Proletariats sorgte. Es war die Linke, die durch die marxistische Strömung die Kontinuität zwischen der Ersten und Zweiten Internationale gegen die proudhonistischen, bakuninistischen, blanquistischen und korporatistischen Strömungen gewährleistete. Es war die Linke – die zuerst die reformistischen Tendenzen bekämpfte und dann die „Sozialpatrioten“ –, die während des Krieges die Kontinuität zwischen der Zweiten und Dritten sicherstellte. Und es war wiederum die Linke, und insbesondere die Italienische und Deutsch-Holländische Linke, welche die revolutionären Errungenschaften der Dritten Internationale, die von der sozialdemokratischen und stalinistischen Konterrevolution unterworfen wurde, aufgriff und weiterentwickelte.“[4]
Wenn sein Kampf siegreich sein soll, braucht das Proletariat eine Kontinuität in seinem Klassenbewusstsein. Andernfalls ist es dazu verdammt, Spielball der Pläne seines Feindes zu sein. Die linken Fraktionen waren immer die engagiertesten und entschlossensten bei der Verteidigung dieser Kontinuität des Klassenbewusstseins, seiner Entwicklung und Bereicherung.
Gruppen wie die Internationalistische Kommunistische Tendenz (IKT) erheben folgenden Einwand: „Fraktion von was? Lange Zeit gab es innerhalb des Proletariats keine kommunistischen Parteien.“[5] Und es stimmt, dass die Kommunistischen Parteien in den 1930er Jahren endgültig zur Bourgeoisie überliefen. Wir sind keine Fraktionen, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht eine ähnliche Arbeit wie eine Fraktion leisten müssten.[6] Ein Werk, das sich zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügt:
Der Kongress vertiefte unser Verständnis der fraktionsähnlichen Arbeit auf der Ebene unserer Presse, unserer Intervention, der theoretischen Methode, der Ausarbeitung der marxistischen Methode und der Verteidigung der Organisation. Es gibt eine ganze Arbeit, die mit dem Bau einer Brücke zur zukünftigen Partei verbunden ist und die auf sehr festen theoretischen, programmatischen, analytischen und organisatorischen Grundlagen beruhen muss. Das ist es, was das Proletariat braucht, wenn es einen Weg durch die schrecklichen Erschütterungen des Kapitalismus finden und eine revolutionäre Offensive zum Sturz dieses Systems entwickeln will.
In diesem Rahmen der fraktionsähnlichen Arbeit wurde dem Kongress ein Bericht über die Transmission (d.h. die Weitergabe der Erfahrung) vorgelegt, obwohl wir aus Zeitmangel nicht in der Lage waren, ihn zu diskutieren. Angesichts der Bedeutung der Frage werden wir jedoch die Diskussion in der nächsten Zeit führen. Die Transmission von Erfahrungen ist für das Proletariat lebenswichtig. Viel mehr als alle anderen revolutionären Klassen in der Geschichte braucht es die Lehren aus den Kämpfen seiner vorangegangenen Generationen, um sich deren Errungenschaften anzueignen und seinen Kampf in Richtung seiner revolutionären Ziele voranzutreiben. Die Weitergabe ist für die Kontinuität der revolutionären Organisationen besonders wichtig, weil es eine ganze Reihe von Ansätzen, Praktiken, Traditionen und Erfahrungen gibt, die zum Proletariat gehören und den fruchtbaren Boden bilden, auf dem die proletarisch-politische Organisation ihre Arbeitsweise entfaltet und ihre Lebendigkeit bewahrt. Wie es in der vom Kongress verabschiedeten Aktivitätenresolution heißt: „Die IKS muss in der Lage sein, den neuen Genossen die Notwendigkeit zu vermitteln, die Geschichte der revolutionären Bewegung gründlich zu studieren und ein wachsendes Wissen über die verschiedenen Elemente der Erfahrung der Kommunistischen Linken in der Zeit der Konterrevolution zu entwickeln.“
Der Bericht über die Transmission widmet ein zentrales Kapitel dem Verständnis der Bedingungen der Militanz und den historischen Errungenschaften, die sie leiten müssen. Die Bildung bewusster, entschlossener Militanter, die fähig sind, den härtesten Prüfungen standzuhalten, ist eine sehr schwierige Aufgabe, aber sie ist für die Bildung der zukünftigen Partei der proletarischen Revolution unerlässlich.
In den 1980er Jahren begann die IKS zu verstehen, dass die Gesellschaft weltweit in eine historische Sackgasse geraten war. Einerseits hatte der Kapitalismus angesichts des Widerstands des Proletariats der zentralen Länder gegen eine massive militärische Mobilisierung keine freie Hand, um sich auf das organische Ergebnis seiner historischen Krise – den allgemeinen imperialistischen Weltkrieg – zuzubewegen. Andererseits war das Proletariat trotz der Fortschritte in seinen Kämpfen zwischen 1983 und 1987 nicht in der Lage, seine eigene Perspektive hin zur proletarischen Revolution zu eröffnen. Da keine der beiden Klassen in der Lage war, ihre jeweilige Perspektive durchzusetzen, begann die Gesellschaft auf der Stelle zu treten, sie trat in einen Fäulnisprozess ein, ein wachsendes Chaos, die Ausbreitung zentrifugaler Tendenzen, jeder kämpft für sich selbst. Eine spektakuläre Erscheinung dieser Dynamik war der Zusammenbruch des Ostblocks.
Die IKS musste sich einer Herausforderung für die marxistische Theorie stellen. Einerseits haben wir im September 1989 die Thesen über die ökonomische und politische Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern[7] vorgelegt, in denen wir zwei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer den brutalen Untergang der UdSSR ankündigten. Andererseits waren wir gezwungen, die neue Situation gründlich zu verstehen, indem wir 1990 die Thesen über den Zerfall ausarbeiteten, deren Grundgedanke folgender war: „(...) den allgemeinen Zerfall herauszustellen, in den dieses System gegenwärtig versinkt und der sich noch verschlimmern wird. Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.“[8]
Der 23. Kongress hat die beträchtliche Verschärfung des Zerfallsprozesses, von dem insbesondere die zentralen Länder betroffen sind, sorgfältig untersucht. Wir haben spektakuläre Beispiele dafür gesehen – unter anderem den Brexit in Großbritannien, den Sieg von Trump oder die Regierung Salvini in Italien.
All diese Punkte wurden in den Berichten und Beschlüssen des Kongresses, die wir veröffentlicht haben[9], weitgehend aufgegriffen, und wir laden unsere Leser und Leserinnen dazu ein, diese Dokumente aufmerksam und kritisch zu studieren. Mit diesen Dokumenten versuchen wir, auf die wichtigsten Tendenzen der gegenwärtigen Situation zu reagieren.
Der Zerfall, der sich unserer Ansicht nach weltweit ausbreitet und immer mehr alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens beherrscht, ist ein in der Geschichte der Menschheit beispielloses Phänomen. Im Kommunistischen Manifest von 1848 wurde eine solche Möglichkeit in Betracht gezogen: „Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ Historische Beispiele, die den Zusammenbruch einer ganzen Zivilisation und den „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ betrafen, waren jedoch lokal begrenzt und konnten durch die spätere Herrschaft neuer Eroberer leicht überwunden werden. In dem Maße, in dem die Dekadenz der Produktionsweisen vor dem Kapitalismus (Sklaverei, Feudalismus) das mächtige wirtschaftliche Aufkommen der neuen herrschenden Klasse mit sich brachte und diese eine Ausbeuterklasse war, konnten die neuen Produktionsverhältnisse den Zerfall der alten Ordnung begrenzen und sogar für ihre eigenen Interessen von diesem profitieren. Im Gegensatz dazu ist dies im Kapitalismus unmöglich, da „die kommunistische Gesellschaft, die allein dem Kapitalismus folgen kann, sich nicht innerhalb desselben entwickeln kann; es gibt es keine Möglichkeit irgendeiner Regeneration der Gesellschaft, wenn es zuvor nicht einen gewaltsamen Sturz der bürgerlichen Klasse und die Auslöschung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse gegeben hat.“ (Thesen über den Zerfall)
Das Proletariat muss sich den Bedingungen und Auswirkungen dieser neuen historischen Epoche stellen und alle Lehren ziehen, die sich daraus für seinen eigenen Kampf ergeben, insbesondere über die Notwendigkeit, noch energischer als in der Vergangenheit seine politische Klassenautonomie zu verteidigen, da der Zerfall diese in große Gefahr bringt. Der Zerfall begünstigt Teilbereichs-Kämpfe (Feminismus, Ökologie, Antirassismus, Pazifismus, usw.), Kämpfe, die nicht an die Wurzeln der Probleme gehen, sondern nur deren Auswirkungen ansprechen und, schlimmer noch, sich auf bestimmte Aspekte des Kapitalismus konzentrieren, während das System als Ganzes erhalten bleibt. Diese Mobilisierungen verwässern das Proletariat in einer klassenübergreifenden Masse, die sich in eine Reihe falscher „Gemeinschaften“ auf der Grundlage von Rasse, Religion, Affinität usw. zersplittert und auflöst. Die einzige Alternative ist der Kampf des Proletariats gegen die Ausbeutung, denn „der Kampf gegen die ökonomischen Grundlagen des Systems beinhaltet den Kampf gegen die Überbaubereiche der kapitalistischen Gesellschaft, aber im umgekehrten Fall triff das nicht zu“ (Punkt 12 unserer Plattform).
Die revolutionäre Organisation zeichnet sich durch ein kämpferisches Engagement innerhalb der Klasse aus. Dies konkretisiert sich in der Verabschiedung von Resolutionen, in denen die gegenwärtige Situation in einen historischen Rahmen gestellt wird, um Perspektiven aufzuzeigen, die eine Orientierung für den proletarischen Kampf geben können. So hat der Kongress eine spezifische Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und eine allgemeinere Resolution zur internationalen Lage verabschiedet.
Der Zerfall hat einen starken Einfluss auf den Kampf des Proletariats. Konfrontiert mit den blendenden Auswirkungen des Sturzes des angeblichen „Sozialismus“ 1989 und der enormen antikommunistischen Kampagne der Bourgeoisie, hat die Arbeiterklasse einen tiefen Rückschlag in ihrem Bewusstsein und in ihrer Kampfbereitschaft erlitten, deren Auswirkungen immer noch andauern – und in den letzten 30 Jahren sogar noch schlimmer geworden sind.[10]
Der Kongress vertiefte den historischen Rahmen für das Verständnis des Klassenkampfes, indem er die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen seit 1968[11] genau untersuchte. Die Resolution unterstreicht folgendes:
Auf dem Kongress gab es unterschiedliche Einschätzungen über den Klassenkampf und seine Dynamik. Hat das Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins Niederlagen erlitten, die seine Fähigkeiten ernsthaft schwächen? Gibt es eine unterirdische Reifung des Bewusstseins, oder erleben wir im Gegenteil eine Vertiefung des Rückgangs der Klassenidentität und des Bewusstseins?
Diese Fragen sind Teil einer laufenden Debatte, wobei Änderungsanträge zur Kongressresolution[13] vorgelegt wurden.
Entsprechend seiner Verantwortung untersuchte der Kongress auch weitere Aspekte, die die Entwicklung der Welt bestimmen:
Der Marxismus ist eine lebendige Theorie. Das bedeutet, dass er in der Lage sein muss, zu erkennen, dass bestimmte Instrumente zur Analyse der historischen Situation nicht mehr genügen. Dies ist der Fall bei dem Begriff des Historischen Kurses, der auf die Periode 1914-89 voll und ganz zutraf, der aber als Mittel zum Verständnis der Dynamik des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in der gegenwärtigen historischen Periode in gewissen Aspekten die Geltung verloren hat und erweitert werden muss. Dies veranlasste den Kongress, einen Bericht zu dieser Frage zu verabschieden.[15]
Die revolutionäre Organisation ist ein Fremdkörper in der bürgerlichen Gesellschaft. Das Proletariat ist „einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist“ (Marx). Die Arbeiter können nie wirklich ihren Platz in dieser Gesellschaft finden, weil sie als ausgebeutete Klasse, die jeglicher Produktionsmittel beraubt ist, wirtschaftlich immer in einer prekären Situation und der Arbeitslosigkeit ausgeliefert sind, und weil sie politischen „Parias“ („Ausgestoßene“) sind, die ihre Perspektive und ihre Emanzipation nur außerhalb des Kapitalismus finden können. Dies ist nur möglich in einer kommunistischen Gesellschaft, die nicht entstehen kann, bevor der bürgerliche Staat weltweit gestürzt wird. Die Bourgeoisie, ihre Politiker, ihre Ideologen mögen den „arbeitenden Bürger“, die Arbeiter als eine Summe entfremdeter Individuen verächtlich akzeptieren, aber sie verabscheuen und lehnen das Proletariat als Klasse wütend ab. Entsprechend den Eigenschaften ihrer Klasse sind revolutionäre Organisationen, obwohl sie Teil der kapitalistischen Welt sind, gleichzeitig ein Fremdkörper innerhalb dieser Welt, weil ihre eigentliche Existenzberechtigung und ihr Programm auf der Notwendigkeit eines totalen Bruchs mit der Funktionsweise, der Herangehensweise und den Werten der heutigen Gesellschaft beruhen.
In diesem Sinne ist die revolutionäre Organisation ein Gebilde, das von der bürgerlichen Gesellschaft heftigst abgelehnt wird. Nicht nur wegen der historischen Bedrohung, die sie als Vorhut des Proletariats darstellt, sondern weil ihre bloße Existenz die Bourgeoisie ständig daran erinnert, dass sie selbst von der Geschichte verurteilt ist. Eine Bestätigung der dringenden Notwendigkeit, dass die Menschheit den tödlichen Wettbewerb eines „Jeden gegen Alle“ durch die Vereinigung freier und gleichgestellter Individuen ersetzen muss. Es ist diese neue Form der Radikalität, die die Bourgeoisie nicht verstehen kann und die sie mit Angst erfüllt, so dass sie sich ständig gegen die Organisationen und Revolutionäre des Proletariats mobilisieren muss. Wie es das Kommunistische Manifest unterstreicht: „Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgange am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird.“
Ein Fremdkörper zu sein bedeutet, dass die revolutionäre Organisation ständig bedroht ist. Dies nicht nur durch Repression und die Versuche, sie von innen heraus durch spezialisierte staatliche Organe oder durch die Aktionen parasitärer Gruppen (dazu später) zu infiltrieren und zu zerstören, sondern auch durch die ständige Gefahr, durch das Eindringen arbeiterfeindlicher Ideologien von ihren Aufgaben und ihrer Funktion abgelenkt zu werden.
Die Organisation kann ohne permanenten Kampf nicht existieren. Der Kampfgeist ist ein wesentliches Merkmal der revolutionären Organisation. Kämpfe, Krisen und Schwierigkeiten sind die ureigensten Merkmale aller revolutionären Organisationen.
„In der Zweiten Internationale (1889-1914) war die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) bekannt wegen ihrer Anfälligkeit für Krisen und Spaltungen, die sie erlebt hatte. Sie wurde deshalb von den gewichtigsten Parteien der Internationale mit Missachtung bestraft, vor allem von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), die von Erfolg zu Erfolg zu eilen schien und deren Mitgliederzahlen und Wählerstimmen sich stetig vermehrten. Doch die Krisen der russischen Partei und der Kampf des bolschewistischen Flügels, sie zu überwinden und aus ihnen zu lernen, stählten die revolutionäre Minderheit in ihrer Bereitschaft, Widerstand gegen den imperialistischen Krieg von 1914 zu leisten und die Oktoberrevolution von 1917 anzuführen. Im Gegensatz dazu kollabierte die Fassade der Einheit der SPD (die nur von „Störenfrieden“ wie Rosa Luxemburg herausgefordert wurde) 1914 vollkommen und unwiderruflich mit dem totalen Verrat ihrer internationalistischen Prinzipien angesichts des Ersten Weltkrieges.“[16]
Die Verteidigung der Organisation ist ein fester Bestandteil der Tätigkeit der Organisation und war daher ein wichtiger Punkt in der Bilanz und den Perspektiven unserer Aktivitäten auf diesem Kongress. Dieser Kampf wird an allen Fronten geführt. Die wichtigste und spezifischste ist der Kampf gegen Versuche, sie zu zerstören (durch Verleumdung, Verunglimpfung, Verdacht und Misstrauen). Aber gleichzeitig „ist auch die IKS dem Druck des Opportunismus auf die programmatischen Positionen ausgesetzt; und sie muss gegen die Gefahr einer Sklerose kämfen, die die anderen Gruppen der Kommunistischen Linken schon in einem höheren Ausmaß geschwächt haben“ (Aktivitätsresolution des Kongresses). Deshalb besteht eine Einheit und eine Kohärenz zwischen diesem lebenswichtigen Aspekt des Kampfes gegen die drohende Zerstörung und der nicht minder wichtigen Notwendigkeit, gegen jeden Ausdruck von Opportunismus, der in unseren Reihen entstehen könnte, zu kämpfen:“Ohne diesen permanenten Kampf auf langfristiger historischer Ebene und Wachsamkeit gegenüber dem politischen Opportunismus, werden die Verteidigung der Organisation, ihre Zentralisierung und die Prinzipien ihrer Funktionsweise als solche nutzlos sein. Wenn es wahr ist, dass ohne proletarisch-politische Organisation das beste Programm eine Idee ohne soziale Kraft ist, so ist es ebenso wahr, dass ohne volle Treue zum historischen Programm des Proletariats die Organisation zu einer leeren Hülle wird. Zwischen den Prinzipien der politischen Organisation und den programmatischen Prinzipien des Proletariats gibt es Einheit und keinen Gegensatz oder Trennung.“ (ebenda)
Dennoch muss auf jeden Versuch, die Organisation zu zerstören, schnell und energisch reagiert werden, denn, „während der Kampf für die Verteidigung der Theorie und der Kampf für die Verteidigung der Organisation untrennbar und gleichermaßen unverzichtbar sind, so stellt das Aufgeben der Verteidigung der Theorie eine Bedrohung dar, sicherlich tödlich, aber eher mittelfristig, während das Aufgaben der Organisation schon eine kurzfristige Bedrohung darstellt. Solange sie existiert, kann sich die Organisation erholen, auch auf der Ebene der Theorie, aber wenn die Organisation nicht mehr existiert, wird keine Theorie sie wiederbeleben.“ (ebenda)
Die Geschichte der Arbeiterbewegung hat eine Gefahr verdeutlicht, die heute eine erhebliche Bedeutung erlangt hat – die Gefahr des Parasitismus. Die Erste Internationale musste sich bereits gegen diese von Marx und Engels identifizierte Gefahr verteidigen: „Es ist außerdem an der Zeit, ein für allemal den inneren Kämpfen ein Ende zu bereiten, die durch das Vorhandensein dieser parasitären Körperschaft täglich von neuem in unserer Assoziation provoziert werden. Diese Streitigkeiten dienen nur dazu, Kräfte zu vergeuden, die dazu benutzt werden sollten, das jetzige bourgeoise Regime zu bekämpfen. Indem die Allianz die Tätigkeit der Internationale gegen die Feinde der Arbeiterklasse lähmt, dient sie ausgezeichnet der Bourgeoisie und den Regierungen.“ (Engels, Der Generalrat an alle Mitglieder der Internationalen Arbeiterassotiation)
Die Internationale musste gegen das Komplott von Bakunin kämpfen, einem Abenteurer, der eine Fassade des Radikalismus benutzte, um ein Werk der Intrigen und Verleumdungen gegen Militante wie Marx und Engels, Angriffe auf das Zentralorgan der Internationale (den Generalrat), Destabilisierung und Desorganisation der Sektionen, die Schaffung geheimer Strukturen zur Verschwörung gegen die Tätigkeit und das Funktionieren der proletarischen Organisation zu verbergen.[17]
Zweifellos sind die historischen Bedingungen, unter denen sich der heutige proletarische Kampf entwickelt, ganz anders als zur Zeit der Ersten Internationale. Es handelte sich um eine Massenorganisation, die alle lebendigen Kräfte des Proletariats zusammenfasste, eine „Macht“, die die bürgerlichen Regierungen wirklich beunruhigte. Heute ist das proletarische Milieu extrem schwach, reduziert auf eine Anzahl kleiner Gruppen, die keine unmittelbare Gefahr für die Bourgeoisie darstellen. Dennoch haben die Schwierigkeiten und Gefahren, denen dieses Milieu ausgesetzt ist, Ähnlichkeiten mit denjenigen, mit denen die Erste Internationale konfrontiert war. Insbesondere die Existenz von „parasitären Körpern“, deren Daseinsgrund nicht darin besteht, zum Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie beizutragen, sondern im Gegenteil darin, die Tätigkeit der in diesem Kampf engagierten Organisationen zu sabotieren. Zur Zeit der Ersten Internationale führte die von Bakunin angeführte Allianz eine Sabotagearbeit innerhalb der Internationalen selbst durch (bevor sie auf dem Haager Kongress im September 1872 ausgeschlossen wurde). Heute, vor allem wegen der Zersplitterung des proletarischen Milieus in eine Handvoll kleiner Gruppen, operieren die „Parasiten“ nicht innerhalb einer bestimmten Gruppe, sondern am Rande, im Umfeld dieser Gruppen und versuchen, entweder aufrichtige, aber unerfahrene Leute zu rekrutieren oder jene, die von kleinbürgerlichen Ideen beeinflusst wurden (wie es die Allianz in Spanien, Italien, der Schweiz und Belgien tat). Sie können dadurch die authentisch proletarischen Gruppen diskreditieren und ihre Aktivitäten sabotieren (wie es die Allianz tat, als sie erkannte, dass sie nicht in der Lage sein würde, die Kontrolle über die Internationale zu übernehmen).
Leider ist diese Lehre aus der Geschichte von der Mehrheit der Organisationen der Kommunistischen Linken vergessen worden. Da die Priorität der Parasiten darin besteht, die größte Organisation der Kommunistischen Linken, die IKS, ins Visier zu nehmen, halten diese Organisationen dies für ein „Problem der IKS“ und gehen sogar so weit, dass sie in bestimmten Momenten herzliche Beziehungen zu parasitären Gruppen unterhalten. Das Verhalten der parasitären Gruppen (von der Communist Bulletin Group vor fast 40 Jahren über eine Reihe kleiner Gruppen, Blogs oder Einzelpersonen bis zur Internationalen Gruppe der Kommunistischen Linken GIGC) spricht jedoch für sich selbst:
Der Generalrat der Ersten Internationale war der Ansicht, dass das Bündnis „ausgezeichnet der Bourgeoisie und den Regierungen“ dient. Ebenso wird in der Aktivitätenresolution des 23. Kongresses die Auffassung vertreten, dass „in der gegenwärtigen historischen Epoche der Parasitismus objektiv im Namen der Bourgeoisie arbeitet, um die IKS zu zerstören“ und dass, „wie die Erfahrung der letzten 30 Jahre zeigt, der politische Parasitismus eine der größten Gefahren ist, denen wir uns stellen müssen. (...) In den vergangenen Jahrzehnten hat der politische Parasitismus nicht nur weiter agiert, sondern sein gegen die IKS gerichtetes Arsenal weiter entwickelt und sein Repertoire erweitert.“
So konnten wir in letzter Zeit eine raffiniertere, aber auch gefährlichere Art von Machenschaften beobachten: die Verfälschung der Tradition der Kommunistischen Linken durch die irreführende Verbreitung der Idee einer Existenz einer Kommunistischen Linken auf der Grundlage des Trotzkismus. Unabhängig von der dahinter steckenden Absicht zielt ein solches Unterfangen darauf ab, die Front der Verleumdung und des Denunziantentums zu verstärken, um so einen „Sperrring zu schaffen, der die IKS von den anderen Organisationen und Gruppen des proletarisch-politischen Milieus und von den suchenden politisierten Leuten isoliert.“ (ebenda)
Aus diesem Grund verpflichtete der Kongress die gesamte Organisation zu einem entschlossenen und unnachgiebigen Kampf gegen den Parasitismus, da der Kongress der Ansicht ist, dass „eine wesentliche, langfristige Achse der Intervention der IKS ein offener und kontinuierlicher politischer und organisatorischer Kampf gegen den Parasitismus sein muss, um ihn aus dem proletarischen Milieu zu verbannen.“ (ebenda)
Unsere fraktionsähnliche Tätigkeit hat also eine Reihe von Facetten, die eine Einheit bilden: Verteidigung der Organisation, Kampf gegen den Parasitismus, Entwicklung des Marxismus, Fähigkeit zur Analyse und Intervention angesichts der Entwicklung der Weltlage. Diese Einheit stand im Mittelpunkt dieses Kongresses und wird die Tätigkeit der IKS leiten müssen. Wie wir zu Beginn dieses Artikels sagten, standen im Mittelpunkt des 23. Kongresses eine kämpferische Erinnerung an die Erfahrung der Dritten Internationale und das Bemühen, alle Lehren aus dieser Erfahrung zu ziehen. Deshalb endet die Aktivitätenresolution mit folgender Verpflichtung: „Um ihre historischen Aufgaben zu erfüllen, muss die IKS Kraft und Kampfgeist aus den Krisen schöpfen, denen wir ausgesetzt sind, wie es die marxistische Linke von 1919 tat. Wenn sie fähig ist, fraktionsähnliche Arbeit zu übernehmen, dann wird sie die Mittel haben, die gegenwärtigen und neuen revolutionären Energien der Kommunistischen Linken auf klaren programmatischen Grundlagen neu zu gruppieren und so ihre Rolle bei der Gründung der zukünftigen Partei voll und ganz zu spielen.“
IKS, Dezember 2019
[2]Innerhalb der Zweiten Internationale leisteten nur die Bolschewiki eine konsequente Fraktionsarbeit, während andere Strömungen gegen den zügellosen Opportunismus kämpften, allerdings ohne einen kohärenten und globalen Kampf auf allen Ebenen zu führen (Luxemburg, Pannekoek, Bordiga usw.). Diese Unterscheidung ist wichtig: siehe Teil 3 und 4 unserer Polemik mit dem BIPR: "Das Verhältnis zwischen Fraktion und Partei in der marxistischen Tradition [3]".
[3] Siehe: Resolution on opportunism and centrism in the periode of decadence, International Review Nr. 44, https://en.internationalism.org/content/3152/6th-congress-icc-what-stake [4]
[4] "Understanding the Decadence of Capitalism: The classe nature of the social democracy [5]", International Review Nr. 50 (engl., franz. und span. Ausgabe).
[5] https://www.leftcom.org/en/articles/2018-12-22/the-fraction-party-question-in-the-italian-left [6]
[6] Internationale Revue Nr. 53: Bericht über die Rolle der IKS als „Fraktion“ [7].
[9] siehe: Resolution über die internationale Lage (2019), Bericht über die Auswirkungen des Zerfalls auf das politische Leben der Bourgeoise (2019, auf Englisch, Französische, Spanisch), Bericht über den Zerfall heute (Mai 2017)
[10] de.internationalism.org/content/1374/kollaps-des-stalinismus-die-arbeiterklasse-vor-einer-schwierigeren-lage [10]
[12] Siehe dazu: und https://en.internationalism.org/international-review/201111/4593/indignados-spain-greece-and-israel [12]
[13] Die IKS hatte immer als zentrale Orientierung das Bemühen, dass ihre Debatten vor der gesamten Klasse und dem politisierten Milieu veröffentlicht werden. Dabei haben wir eine genaue Methode eingehalten: „Weil die Debatten, die in der Organisation stattfinden, im allgemeinen die ganze Arbeiterklasse betreffen, müssen diese auch nach Außen getragen werden, wobei aber die folgenden Bedingungen eingehalten werden müssen:
- Diese Debatten betreffen allgemeine politische Fragen und sie müssen einen ausreichenden Reifegrad erreicht haben, damit ihre Veröffentlichung einen wirklichen Beitrag zur Bewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse liefert.
- Die Bedeutung und der Raum für diese Debatten darf das allgemeine Gleichgewicht der Publikationen nicht stören.
- Die Organisation als Ganzes entscheidet und übernimmt die Veröffentlichung dieser Publikationen entsprechend den gültigen Kriterien, die auch für das Schreiben irgendeines anderen Artikels in der Presse angewandt werden: der Grad der Klarheit und der Redaktionsform, das Interesse, das er für die Arbeiterklasse darstellt. Deshalb soll man keine Texte auf irgendeine Einzelinitiative von einzelnen Mitgliedern der Organisation hin außerhalb der für diesen Zweck bestimmten Organe veröffentlichen. Auch gibt es kein „formales“ Recht innerhalb der Organisation (weder für ein einzelnes Mitglied noch für eine Tendenz), einen bestimmten Text veröffentlichen zu lassen, wenn die Verantwortlichen der Publikationen dessen Nützlichkeit nicht sehen oder den Zeitpunkt nicht für angebracht erachten.“ (Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre, in Internationale Revue Nr. 22)
[14] auf Englisch (https://en.internationalism.org/content/16711/report-impact-decomposition-political-life-bourgeoisie-23rd-icc-congress [13]), Französisch und Spanisch auf unserer Webseite veröffentlicht
[15] Vgl. https://de.internationalism.org/content/2929/einfuehrung-zum-bericht-ueber-den-historischen-kurs-2019 [14] und https://de.internationalism.org/content/2930/bericht-ueber-den-historischen-kurs [15]
[16] Ausserordentliche Internationale Konferenz der IKS: Die Nachrichten über unser Ableben sind stark übertrieben [16], Internationale Revue Nr. 52.
Der Bericht zur Frage des "Historischen Kurses" des 23. Kongresses der IKS, den wir nachstehend veröffentlichen, bestätigt eine wesentliche Änderung der Analyse in einem Grundlagentext von 1978, mit dem Titel Der Historische Kurs (Internationale Revue Nr. 5)
Diese Änderung der Analyse ist eine direkte Folge der Veränderung des globalen Kontextes nach dem Zusammenbruch des imperialistischen Ostblocks im Jahr 1989, der ebenfalls zum Zerfall des Westblocks führte. Was sich in der neuen Situation mit dem Eintritt der Welt in die Periode des Zerfalls des Kapitalismus tatsächlich aufdrängt, ist die Notwendigkeit, die bedeutenden Veränderungen in der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen zu analysieren. Insbesondere die Tatsache, dass die alternative „Revolution oder die Zerstörung der Menschheit“ durch einen Weltkrieg sich nicht mehr unter den gleichen Bedingungen stellt, da mit dem Verschwinden der beiden imperialistischen Blöcke der Weltkrieg momentan nicht mehr auf der Tagesordnung steht.
Bei der Erarbeitung der notwendigen Änderung unserer Analyse haben wir die Methode von Marx und der marxistischen Bewegung seit ihrer Gründung aufgegriffen, die darin besteht, Positionen, die Analyse oder sogar das komplette Programm zu ändern, wenn sie nicht mehr dem Lauf der Geschichte entsprechen, um dem eigentlichen Zweck des Marxismus als revolutionäre Theorie treu zu bleiben. Ein berühmtes Beispiel ist das der wichtigen Änderungen, die Marx und Engels im Laufe der Zeit am Kommunistischen Manifest selbst vorgenommen haben und die in den späteren Vorworten, die sie diesem grundlegenden Werk hinzugefügt haben, im Lichte der historischen Veränderungen zusammengefasst wurden. Nachfolgende Generationen von revolutionären Marxisten verwendeten die gleiche kritische Methode:
„Der Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewährt.“ (Rosa Luxemburg, Antikritik, Ges. Werke, Band 5, Seite 523)
Luxemburgs Beharren auf der Notwendigkeit, frühere Analysen zu überdenken, um dem Wesen und der Methode des Marxismus als revolutionäre Theorie treu zu bleiben, stand damals in direktem Zusammenhang mit der tiefen Bedeutung des Ersten Weltkriegs. Der Krieg von 1914-1918 markierte den Wendepunkt in der Produktionsweise des Kapitalismus, von seiner Periode des Aufstiegs oder Fortschritts hin zu einer Periode der Dekadenz und des Zusammenbruchs, welche die Bedingungen und das Programm der Arbeiterbewegung grundlegend veränderte. Aber lediglich die Linke in der Zweiten Internationale erkannte, dass die vorangegangene Periode endgültig vorbei war und dass das Proletariat in die "Epoche der Kriege und Revolutionen" – wie die Dritte Internationale es später ausdrückte – eintrat. Der opportunistische rechte Flügel der Sozialdemokratie behauptete fälschlicherweise, der imperialistische Erste Weltkrieg sei ein nationaler Verteidigungskrieg – wie die begrenzten und kleineren Kriege des 19. Jahrhunderts – und schloss sich mit der imperialistischen Bourgeoisie zusammen. Der zentristische Flügel behauptete, der Krieg sei nur eine vorübergehende Verirrung und die Dinge würden nach der Einstellung der Feindseligkeiten "wieder zur Normalität zurückkehren". Vertreter dieser beiden Strömungen kämpften schließlich offen gegen die proletarische revolutionäre Welle, die den Ersten Weltkrieg beendete, während die Führer der proletarischen Revolutionsversuche wie Luxemburg, Lenin und Trotzki in den neu gegründeten kommunistischen Parteien die "Ehre des internationalen Sozialismus" bewahrten, indem sie die überholten Formeln der Sozialdemokratie ablegten, die nun zur Rechtfertigung der Konterrevolution benutzt wurden.
Die großen Veränderungen, welche sich mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 ausdrückten, hatten nicht das gleiche Ausmaß wie die von 1914. Aber sie markierten eine bedeutende neue Etappe in der Entwicklung der kapitalistischen Dekadenz, die mit der Entstehung ihrer letzten Phase, der des sozialen Zerfalls, zusammenfällt. Die Wende von 1989 änderte zwar nicht das politische Programm der Arbeiterklasse, das während der gesamten Dekadenz des Kapitalismus gültig blieb, aber sie markierte eine große Veränderung gegenüber den Bedingungen, unter denen sich der Klassenkampf in den sieben Jahrzehnten zwischen 1914 und 1989 entwickelt hatte. Der Bericht, den wir hier veröffentlichen, trägt zu den kritischen Bemühungen bei, die marxistische Analyse über diesen wichtigen Wendepunkt in der Weltgeschichte zu aktualisieren.
Im Jahr 1989, genau zum Zeitpunkt der genannten Ereignisse, welche die Welt erschütterten, hatte die IKS bereits in verschiedenen Texten die sich abzeichnenden wichtigen Veränderungen analysiert. Im Text Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft von 1990, und im Orientierungstext Militarismus und Zerfall von 1991 (beide in: Internationale Revue Nr. 13) unterstrich die IKS, dass die folgende Periode vom beschleunigten Zerfall und dem Chaos einer Produktionsweise in ihrer Agonie beherrscht würden, die noch immer von den gewaltsamen und zerstörerischen Widersprüchen der kapitalistischen Dekadenz geprägt ist, nun jedoch in einer neuen Form und in einem neuen Kontext. Das Wiederaufleben des proletarischen Klassenkampfes ab 1968, der den Ausbruch eines dritten Weltkrieges verhinderte, stand nun vor neuen Schwierigkeiten und einer sich abzeichnenden langen Periode des Rückzugs und der Desorientierung der Arbeiterklasse. Aber die sich vertiefende Wirtschaftskrise wird das Proletariat dazu drängen, seinen Kampf wieder aufzunehmen.
Darüber hinaus beendete der Zusammenbruch des Ostblocks, vielleicht endgültig, die Teilung der Welt in zwei bewaffnete Lager, welche die prägende Konstellation war, in die der Imperialismus die Welt in seiner dekadenten Phase gesteuert hatte. Der Erste und der Zweite Weltkrieg sowie die Ereignisse davor und danach zeigten, dass der Kapitalismus sich nicht mehr wie im 19. Jahrhundert durch koloniale Expansion entwickeln konnte und dass es jedem der rivalisierenden imperialistischen Staaten überlassen blieb, durch die Massaker des Krieges eine neue Aufteilung des Weltmarkts zu seinem Vorteil zu betreiben. Dieser Versuch drückte sich in der Tendenz aus, die verschiedenen Länder hinter jedem der beiden mächtigsten Gangster neu zu gruppieren, ein Prozess, der sich nach 1945 voll und ganz bestätigt hat. Nach dem Zeitraum 1914-1989, der von der Teilung der Welt in zwei rivalisierende imperialistische Blöcke beherrscht war, hörte die Tendenz zur Blockbildung in den interimperialistischen Beziehungen auf und jede Macht verfolgt bisher ihren blutigen Weg, der vom "Jeder für sich" geprägt ist.
Der Bericht untersucht und bekräftigt diese seit 1989 modifizierte Analyse. Aber er erweitert ihren Geltungsbereich.
2015 begann der 21. Kongress der IKS mit einem großen, langfristigen Projekt, das 40 Jahre unseres Bestehens Revue passieren ließ, um „ein möglichst klares Licht auf unsere Stärken und Schwächen zu werfen und festzustellen, was in unseren Analysen gültig ist und wo wir uns geirrt haben. Dies mit dem Ziel, uns zu stärken und unsere Schwächen zu überwinden.“ (40 Jahre nach der Gründung der IKS: Welche Bilanz, welche Perspektiven für unsere Arbeit, Internationale Revue Nr. 53) Der hier publizierte Bericht über die Frage des Historischen Kurses vom 23. Kongresses ist eine Folge dieser spezifischen Bemühungen und führt die Analyse, die bereits in den vor dreißig Jahren verfassten Texten enthalten ist, einen Schritt weiter, indem er den ursprünglichen Text über den Historischen Kurs von 1978 Punkt für Punkt untersucht. Dabei kommt er zum Schluss, dass allein der Begriff "Historischer Kurs" nicht mehr als ausreichend angesehen werden kann, um alle Perioden des Klassenkampfes abzudecken. Er gilt für den Zeitraum von Sarajevo 1914 bis zum Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1989, nicht aber für die vorangegangene oder die folgende Periode. Mit dieser Schlussfolgerung unterstreicht der Bericht eine sehr wichtige Unterscheidung, die zwischen zwei verschiedenen Konzepten zu machen ist:
- Einerseits das Konzept des Historischen Kurses, das auf die Zeit von Sarajevo bis zum Fall der Berliner Mauer (einschließlich ihrer verschiedenen Phasen) anwendbar ist und die Dynamik der Gesellschaft in diesem Zeitraum betrifft, die unlösbar mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verbunden, aber nicht identisch ist.
- Andererseits das Konzept des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, das für alle Perioden des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat gilt.
Diese beiden Begriffe – Historischer Kurs und Kräfteverhältnis zwischen den Klassen – sind daher nicht identisch oder synonym, aber der Text von 1978 legt diese Unterscheidung nicht eindeutig fest.
Wir freuen uns, dass der Bericht vor seiner Veröffentlichung bereits eine lebhafte öffentliche Debatte ausgelöst hat (mehrere Dutzend Beiträge in unserem Online-Forum zu diesem Thema seit Juli 2019), da seine wichtigsten Schlussfolgerungen bereits in der Resolution zur internationalen Lage des 23. Kongresses enthalten waren, die unseren Lesern bereits zugänglich sind. Heute ist noch nicht der Zeitpunkt, um eine Bilanz dieser Debatte zu ziehen, die sich noch im Anfangsstadium befindet. Aber sie muss entwickelt werden. Die kritische Debatte ist ein wesentlicher Teil der marxistischen Bemühungen, ein neues Verständnis der Aktualität zu gewinnen, während wir im „geschichtlichen Blitz und Donner“ stehen.
In der materialistischen Geschichtsauffassung von Marx drängen die Widersprüche des Kapitalismus zur Alternative: Sozialismus oder Barbarei. Entweder ein Kampf des Proletariats zur Überwindung der Herrschaft der Bourgeoisie oder die absolute Zerstörung dieser sich gegenüberstehen Klassen und der gesamten Gesellschaft.
Ein Verständnis der Entwicklung des Klassenkampfes innerhalb des Kapitalismus – in seinen verschiedenen historischen Etappen, mit seinen Fortschritten und Rückschritten, der wechselnden relativen Stärke der sich gegenüberstehenden Akteure – war deshalb für die Analyse der Avantgarde des Proletariats und für die Anwendung der marxistischen Methode immer von entscheidender Bedeutung.
Der einschneidende Veränderung der globalen Situation, hervorgerufen durch den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 und den Schritt des Kapitalismus in die Phase des gesellschaftlichen Zerfalls, forderte von unserer Organisation, unter Einbezug der wachsenden Schwierigkeiten der Arbeiterklasse in dieser neuen Situation, eine Anpassung der Analyse über die gesellschaftliche Dynamik bezüglich des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. Konkret: Die Analyse über den Historischen Kurs vom 3. Internationalen Kongress der IKS im Jahr 1978 (Internationale Revue Nr. 5) war nach 1989 nicht mehr anwendbar, da die imperialistischen Rivalitäten nicht mehr die Form einer Konfrontation zwischen zwei Blöcken annahm und eine kapitalistische Antwort in der Form eines neuen imperialistischen Weltkrieges für die nächste Zukunft nicht mehr bevorstand. Der Text Militarismus und Zerfall von 1991 (Internationale Revue Nr. 13), den die IKS unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Ostblocks verfasste, die Thesen über den Zerfall von 1990 (Internationale Revue Nr. 13), der Text Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, Destabilisation und Chaos" von 1990 (Internationale Revue Nr. 12) betrachteten das weltweite Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bereits auf eine andere Art und Weise, im Vergleich zum Text von 1978.
In den folgenden zwei Jahrzehnten untersuchte die IKS den Wechsel in der Analyse über das Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und die Auswirkungen für die Dynamik der gesamten Gesellschaft in vielen Texten und Artikeln, vor allem in veröffentlichen Berichten und Resolutionen über den Klassenkampf für unsere Internationalen Kongresse. Diese bestätigten die zunehmenden Schwierigkeiten und Bedrohungen für die Arbeiterklasse, hervorgerufen durch die Periode des sozialen Zerfalls des Kapitalismus.
Dazu können zum Beispiel verweisen auf den Bericht über den Klassenkampf vom 13. Kongress der IKS 1999 (Internationale Revue Nr. 25) und den Bericht über den Klassenkampf für den 14. Kongress mit dem Titel: Die revolutionäre Bewegung und das Konzept des Historischen Kurses (Internationale Revue Nr. 29 und 30).
Andere Artikel über die Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in der Periode des Zerfalls behandelten diese Frage ebefalls: Weshalb hat die Arbeiterklasse den Kapitalismus noch nicht überwunden? (International Review Nr. 103 und 104, engl., franz., span. Ausgabe) und Den Zerfall des Kapitalismus verstehen (Internationale Revue Nr. 34)[1]
Auch wenn die IKS die wichtigsten theoretischen Elemente entwickelte, um zu verstehen, was sich im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verändert hatte, so stellten wir bisher noch keine spezifische Untersuchung über den Text zum Historischen Kurs von 1978 an. Zweifellos ist eine Korrektur dieses Versäumnisses – wenn auch verspätet – erforderlich, wenn wir unserer historischen Methode treu bleiben wollen. Dies nicht nur, um unsere Analyse und Argumentation angesichts der großen Ereignisse zu ergänzen oder zu ändern, sondern um diese Änderung auch unter konkreter Bezugnahme auf die ursprüngliche Analyse zu begründen. Unsere politische Methode bestand nie darin, frühere Positionen oder Analysen aufzugeben, ohne öffentlich auf das, was wir früher entwickelt hatten, zu berücksichtigen, denn eine ahistorische Invarianz oder ein Monolithismus sind widersinnig und stellen ein Hindernis für die Klärung des Klassenbewusstseins dar. Was im Text über den Historischen Kurs von 1978 gültig bleibt, was durch den veränderten historischen Kontext innerhalb des dekadenten Kapitalismus überholt ist und die Grenzen dieses Textes aufgezeigt hat, all das muss genauer verstanden und erklärt werden, damit etwaige verbliebene Anachronismen aufgedeckt und geklärt werden können.
Punkt 1: Revolutionäre müssen fähig sein, Voraussagen zu treffen. Dies ist eine spezielle Fähigkeit und Notwendigkeit des menschlichen Bewusstseins (Marx verglich die aus Instinkt schaffende Biene und den mit Bewusstsein bauenden menschlichen Architekten). Der Marxismus, als eine wissenschaftliche Methode wie die Wissenschaft, kann „nur durch die Umwandlung der auf eine Reihe von Experimenten gegründeten Hypothesen in Vorhersagen und durch die Konfrontation dieser Vorhersagen mit neuen Experimenten als Forscher diese Hypothesen für richtig (oder falsch) erklären und sein Verständnis fortentwickeln“. (Der Historische Kurs, Internationale Revue Nr. 5)
Der Marxismus stellt seine Voraussagen über die kommunistische Revolution auf eine wissenschaftliche, materialistische Analyse über den Zusammenbruch des Kapitalismus und die Klasseninteressen des revolutionären Proletariats. Diese allgemeine und langfristige Perspektive ist für Marxisten relativ einfach. Die Schwierigkeit für RevolutionärInnen besteht darin, mittelfristige Vorhersagen darüber zu treffen, ob der Klassenkampf voranschreitet oder zurückgeht. Vor allem kann sich der Marxismus offensichtlich nicht auf kontrollierte Experimente verlassen, so wie es die Laborwissenschaft tun kann.
Punkt 2: Der proletarische Klassenkampf ist von sehr unterschiedlichen Entwicklungsphasen, von extremen Höhen und Tiefen gekennzeichnet, was darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeiterklasse eine ausgebeutete Klasse ist, die in der alten Gesellschaft keinerlei Machtbasis hat und daher für lange Perioden zur Unterwerfung verurteilt ist. Die relativ kurzen Aufschwünge ihres Kampfes werden durch die Krisenzeiten des Kapitalismus (Wirtschaftskrise und Krieg) bestimmt. Das Proletariat kann nicht von einem Erfolg zum nächsten voranschreiten, so wie es die aufstrebenden Ausbeuterklassen in der Vergangenheit jeweils konnten. Tatsächlich ist der endgültige Erfolg des Proletariats durch eine lange Reihe von schmerzhaften Niederlagen gekennzeichnet. Daher Marx' Aussage in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von 1852 über die extrem ungleiche Entwicklung des Klassenkampfes.[2] Die Existenz einer derart ungradlinigen Entwicklung des Klassenkampfes war in der Vergangenheit offensichtlich, aber die Länge und Tiefe der Konterrevolution zwischen 1923 und 1968 hat sie verschleiert.
Punkt 3: Dennoch sind genaue mittelfristige Vorhersagen der Revolutionäre über die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen unerlässlich. Die Folgen von Fehlern in dieser Hinsicht sind ernst: das Abenteurertum von Willich-Schapper nach den Niederlagen der Revolutionen von 1848; die „Theorie der Offensive“ der KAPD, als die revolutionäre Welle in den 1920er Jahren verebbte, Trotzkis Gründung der 4. Internationale von 1938 in der Tiefe der Konterrevolution. Im Gegensatz zu diesen Beispielen haben sich einige Vorhersagen als vollkommen gültig erwiesen: Marx und Engels, die erkannten, dass nach 1849 und 1871 jeweils eine Periode des Rückzugs der Arbeiterklasse unvermeidlich war; Lenins Vorhersage einer weltrevolutionären Welle in den Aprilthesen von 1917; die Klarsicht der Italienischen Kommunistischen Linken bezüglich der 1930er Jahre als eine Periode der entscheidenden Niederlage.
Punkt 4, 5, 11: Die Vorhersage über die Dynamik und Richtung des Klassenkampfes zeigt an, ob Revolutionäre mit oder gegen den Strom schwimmen. Fehler oder Unwissenheit darüber, was diese Richtung ist, können katastrophal sein. Dies gilt insbesondere in der kapitalistischen Dekadenz, wo der Gegensatz – imperialistischer Krieg oder proletarische Revolution – viel höher ist als in der Periode des kapitalistischen Aufstiegs.
Punkt 6: Der Gegensatz und der gegenseitige Ausschluss der beiden Begriffe der historischen Alternative Krieg oder Revolution. Während die Krise des dekadenten Kapitalismus zu einer dieser beiden Alternativen führen kann, entwickeln sich Krieg oder Revolution nicht im Einklang, sondern antagonistisch. Dieser Punkt richtet sich insbesondere an Battaglia Comunista und die Comunist Workers Organisation CWO, die Weltkrieg und Revolution in der Zeit seit 1968 als gleichermaßen möglich angesehen haben – und dies immer noch tun.
Punkte 7, 8: Diese Punkte zeigen, dass die imperialistischen Weltkriege des 20. Jahrhunderts und insbesondere derjenige von 1939-45 erst dann entfacht werden konnten, als das Proletariat besiegt, seine revolutionären Versuche zerschlagen, und es dann hinter den Kriegsideologien seiner jeweiligen imperialistischen Herren mobilisiert worden war. Dies mit Hilfe des Verrats der ehemaligen Arbeiterparteien, die die Klassengrenze unwiderbringlich überschritten hatten.
Punkt 9: Die Situation des Proletariats seit 1968 ist nicht mehr dieselbe wie vor den beiden vorangegangenen Weltkriegen. Es ist ungeschlagen und kämpferisch, widerstandsfähig gegen die mobilisierenden Ideologien der imperialistischen Blöcke und stellt somit ein Hindernis für die Entfesselung eines dritten Weltkrieges dar.
Punkt 10: Alle militärischen und wirtschaftlichen Bedingungen für einen neuen Weltkrieg sind bereits vorhanden, nur die Unterwerfung des Proletariats fehlt. Ein Punkt, der auch an Battaglia Comunista gerichtet war, welche Gruppe andere unplausible Erklärungen dafür hatte, weshalb der Weltkrieg noch nicht ausgebrochen war.
Die ersten fünf Punkte des Textes über den Historischen Kurs behalten ihre absolute Gültigkeit bezüglich der Bedeutung und Notwendigkeit, dass die Revolutionäre die zukünftige Entwicklung des Klassenkampfes vorhersagen: die Notwendigkeit, solche Vorhersagen aus der Sicht der marxistischen Methode auszuarbeiten; die Stichhaltigkeit der historischen Beispiele, die den kritischen Charakter der Prognosen der Revolutionäre bezüglich des Klassenkampfes und die schwerwiegenden Folgen von Fehlern in dieser Hinsicht zeigen; die Argumente gegen die Gleichgültigkeit oder den Agnostizismus von Battaglia Comunista und der CWO in dieser Frage.
Das zentrale Argument des Textes behält auch für den Zeitraum 1914-1989 seine volle Gültigkeit. Mit dem Beginn der Periode der Dekadenz des Kapitalismus haben sich die Bedingungen der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen gegenüber denen der Periode des Aufstiegs des Kapitalismus grundlegend geändert. Die Tendenz des Imperialismus in der Periode der Dekadenz führte zu weltweiten Konfrontationen zwischen rivalisierenden Blöcken, welche, als der Erste Weltkrieg mit voller Wucht ausbrach, die massive Mobilisierung der Arbeiterklasse als Kanonenfutter erforderten. Der Ausbruch der Feindseligkeiten hing von einer politischen Niederlage der wichtigsten Teile des Weltproletariats ab. Die sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften, die durch einen langen Prozess der opportunistischen und revisionistischen Degeneration verfault waren, scheiterten im kritischen Moment von 1914 kläglich und gaben, von einigen Ausnahmen abgesehen, den Internationalismus auf und schlossen sich den Kriegsanstrengungen ihrer eigenen nationalen herrschenden Klasse an, wobei sie die orientierungslose Arbeiterklasse hinter sich herzogen. Die Erfahrung des beispiellosen Abschlachtens von Arbeitern in Uniform in den Schützengräben und das Elend an der "Heimatfront" führten jedoch nach einigen Jahren zur Wiedererlangung des Gewichts des Proletariats auf der Waage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und eröffneten die weltrevolutionäre Welle von 1917-1923, welche die Bourgeoisie zwang, den Krieg zu beenden, um die Ausbreitung der proletarischen Revolution zu verhindern.
Seit dem Ersten Weltkrieg wurde daher die Vorstellung eines historischen Kurses des Klassenkampfes in Richtung Krieg oder in Richtung Revolution klar bestätigt. Um seine militärische Antwort auf die Krisen der kapitalistischen Dekadenz durchzusetzen, musste der Kapitalismus die revolutionären Bestrebungen des Proletariats besiegen und dieses, als es geschlagen war, hinter den Interessen der Bourgeoisie mobilisieren. Umgekehrt stellte ein wiederauflebendes Proletariat ein großes Hindernis für dieses Unterfangen dar und eröffnete die Möglichkeit der Alternative des Proletariats: die kommunistische Revolution.
Die Niederlage der Revolution in Russland und in Deutschland in den 1920er Jahren eröffnete den Kurs hin zum Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gab es in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg keine Veränderung im Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, da das Proletariat nicht nur politisch, sondern auch physisch durch die beispiellose Brutalität und den Terror des Stalinismus und Faschismus einerseits, und des demokratischen Antifaschismus andererseits, vor, während, und unmittelbar nach dem Massenmord des Krieges besiegt wurde. Aus den Trümmern des Krieges von 1939-45 ging keine revolutionäre Welle hervor, im Gegensatz zur Lage am Ende des Krieges von 1914-18. Die Situation der fortgesetzten proletarischen Niederlage führte jedoch nicht zu einem dritten Weltkrieg nach 1945, wie es Revolutionäre damals glaubten. Die 1950er und 60er Jahre brachten einen langen wirtschaftlichen Wiederaufbau und einen langwierigen Kalten Krieg mit stellvertretenden lokalen Kriegen mit sich. In dieser Zeit gewann das Proletariat allmählich seine Stärke zurück, und das Gewicht der Kriegsideologien der 1930er Jahre verminderte sich. Mit dem Ausbruch einer neuen Weltwirtschaftskrise begann 1968 auch ein neues Wiederaufleben des Klassenkampfes, das eine weitere imperialistische Lösung durch einen dritten Weltkrieg vereitelte. Aber die Arbeiterklasse war nicht in der Lage, von ihren defensiven Kämpfen zu einer revolutionären Offensive überzugehen. Der Zusammenbruch eines der beiden imperialistischen Blöcke, des Ostblocks im Jahr 1989, setzte der Möglichkeit eines Weltkriegs ein Ende, obwohl imperialistischen Kriege selbst unter dem Druck der sich verschärfenden Weltwirtschaftskrise in chaotischer Form weiter zunahmen.
Für das bessere Verständnis des Problems zitieren wir hier aus einem Treffen unseres Zentralorgans im Januar 1990:
"In der Periode der kapitalistischen Dekadenz sind alle Staaten imperialistisch und ergreifen die notwendigen Maßnahmen, um ihren Appetit zu befriedigen: Kriegswirtschaft, Waffenproduktion usw. Wir müssen klar sagen, dass die sich vertiefenden Erschütterungen der Weltwirtschaft und die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Staaten auch zunehmend auf militärischer Ebene nur noch schärfer werden können. Der Unterschied wird in der kommenden Periode darin bestehen, dass diese Gegensätze, die bisher von den beiden großen imperialistischen Blöcken gesteuert und genutzt wurden, nun in den Vordergrund treten werden. Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und das zukünftige Verschwinden des amerikanischen Gendarmen öffnen, was ihre ehemaligen "Partner" betrifft, die Tür zur Entfesselung einer ganzen Reihe weiterer lokaler Rivalitäten. Im Augenblick können diese Rivalitäten und Konfrontationen nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn man annimmt, dass das Proletariat nicht mehr in der Lage wäre, Widerstand zu leisten). Mit dem Verschwinden der von den beiden Blöcken auferlegten Disziplin, drohen diese Konflikte jedoch häufiger und gewaltsamer zu werden, vor allem natürlich in den Gebieten, in denen das Proletariat am schwächsten ist (...) der Trend zu einer neuen Teilung der Welt zwischen zwei Militärblöcken wird durch das immer tiefer und weiter verbreitete Phänomen der Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft, wie wir bereits hervorgehoben haben, eingeschränkt und vielleicht sogar endgültig gefährdet.
In einem solchen Kontext des Kontrollverlusts der Weltbourgeoisie über die Situation ist es unwahrscheinlich, dass die dominanten Sektoren der Weltbourgeoisie heute in der Lage sind, die für die Wiederherstellung der Militärblöcke notwendige Organisation und Disziplin umzusetzen (...) Deshalb ist es von grundlegender Bedeutung zu betonen, dass, wenn die Lösung des Proletariats – die kommunistische Revolution – die einzige ist, die sich der Zerstörung der Menschheit entgegenstellen kann (welche die einzige „Antwort“ darstellt, welche die Bourgeoisie auf ihre Krise geben kann), diese Zerstörung nicht unbedingt aus einem dritten Weltkrieg resultieren muss. Sie kann auch Folge der Fortsetzung des Zerfalls bis hin zu den extremen Folgen (ökologische Katastrophen, Epidemien, Hungersnöte, entfesselte lokale Kriege usw.) sein.
Nachdem sich die historische Alternative "Sozialismus oder Barbarei", wie sie der Marxismus immer hervorhob, während des größten Teils des 20. Jahrhunderts in der Form von "Sozialismus oder imperialistischer Krieg" ausgedrückt hat, ist in den letzten Jahrzehnten durch die Entwicklung von Atomwaffen in der erschreckenden Form von "Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit" offensichtlich geworden. Auch heute, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, ist diese Perspektive voll und ganz gültig. Aber es muss betont werden, dass eine solche Zerstörung durch einen allgemeinen imperialistischen Krieg ODER durch den Zerfall der Gesellschaft entstehen kann. (…)
Auch wenn der Weltkrieg zum gegenwärtigen Zeitpunkt und vielleicht endgültig keine Bedrohung für das Leben der Menschheit darstellen kann, so kann diese Bedrohung, wie wir gesehen haben, sehr wohl vom Zerfall der Gesellschaft ausgehen. Und dies um so mehr, da die Entfesselung des Weltkrieges das Festhalten des Proletariats an den Idealen der Bourgeoisie erfordert, ein Phänomen, das im Augenblick bei seinen entscheidenden Teilen keineswegs auf der Tagesordnung steht. Der Zerfall braucht dieses Festhalten an den Idealen der Bourgeoisie durch die Arbeiterklasse nicht, um die Menschheit zu zerstören. In der Tat stellt der Zerfall der Gesellschaft streng genommen keine "Antwort" der Bourgeoisie auf die offene Krise der Weltwirtschaft dar. In Wirklichkeit kann sich diese Zersetzung gerade deshalb entwickeln, weil die herrschende Klasse aufgrund der Nicht-Rekrutierung des Proletariats nicht in der Lage ist, ihre eigene spezifische Antwort auf diese Krise, den Weltkrieg und die Mobilisierung für ihn zu geben. Die Arbeiterklasse kann, indem sie ihre Kämpfe entwickelt (wie sie es seit Ende der 1960er Jahre getan hat) und sich nicht unter bürgerliche Fahnen stellen lässt, die Bourgeoisie daran hindern, den Weltkrieg auszulösen. Andererseits kann nur der Sturz des Kapitalismus den Zerfall der Gesellschaft aufhalten. So wie die Kämpfe des Proletariats in diesem System in keiner Weise dem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus entgegenwirken können, so können die Kämpfe des Proletariats in diesem System kein Hindernis gegen dessen Zerfall darstellen."
1989 markiert einen grundlegenden Wandel in der allgemeinen Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft in der Phase der Dekadenz.
Vor diesem Datum war das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen der bestimmende Faktor dieser Dynamik. Von diesem Kräfteverhältnis hing der Ausgang der Verschärfung der Widersprüche im Kapitalismus ab: entweder die Entfesselung des Weltkriegs oder die Entwicklung des Klassenkampfes, mit der Perspektive der Überwindung des Kapitalismus.
Nach 1989 war diese allgemeine Dynamik der kapitalistischen Dekadenz nicht mehr direkt durch das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bestimmt. Wie auch immer dieses Kräfteverhältnis aussehen mag, der Weltkrieg steht nicht mehr auf der Tagesordnung, aber der Kapitalismus wird weiterhin im Zerfall versinken, da der gesellschaftliche Zerfall dazu neigt, der Kontrolle der sich gegenüberstehenden Klassen zu entgleiten.
Im Paradigma, das den größten Teil des 20. Jahrhunderts beherrschte, definierte der Begriff des "Historischen Kurses" die beiden möglichen Ergebnisse einer historischen Entwicklung: entweder Weltkrieg oder Klassenkonflikte. Nachdem das Proletariat eine entscheidende Niederlage erlitten hatte (wie am Vorabend von 1914 oder als Folge der Zerschlagung der revolutionären Welle von 1917-23), wurde der Weltkrieg unausweichlich. Im Paradigma, das die gegenwärtige Situation definiert (bis zur Rekonstituierung zweier neuer imperialistischer Blöcke, was vielleicht nie geschehen wird), ist es durchaus möglich, dass das Proletariat eine tiefe Niederlage erleidet, ohne dass dies eine entscheidende Auswirkung auf die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft hat. Man kann sich natürlich fragen, ob eine solche Niederlage die Konsequenz hätte, das Proletariat dauerhaft daran zu hindern, seinen Kopf wieder zu erheben. Wir müssten dann von einer endgültigen Niederlage sprechen, die zum Ende der Menschheit führen würde. Eine solche Möglichkeit ist nicht auszuschließen, insbesondere angesichts des zunehmenden Gewichts des Zerfalls. Diese Bedrohung wird im Manifest des 9. Kongresses deutlich aufgezeigt: "Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit". Aber wir können keine Prognose in dieser Richtung abgeben, weder in Bezug auf die gegenwärtige Situation der Schwäche der Arbeiterklasse noch für den Fall, dass sich diese Situation weiter verschlechtert. Deshalb ist der Begriff des "Historischen Kurses" nicht mehr in der Lage, die Dynamik der gegenwärtigen Weltlage und das Kräfteverhältnis zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat in der Periode des Zerfalls zu definieren. Nachdem er zu einem für diese neue Periode unzureichenden Konzept geworden ist, muss er aufgegeben werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Text über den Historischen Kurs von 1978, obwohl er in Bezug auf die Methode und die Analyse der Periode 1914-1989 richtig war, heute begrenzt ist. Dies weil er erstens von großen und beispiellosen historischen Ereignissen überholt wurde, und zweitens durch seine Tendenz, den Begriff des Historischen Kurses und denjenigen der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen als identisch zu setzen, obwohl sie nicht identisch sind. Insbesondere spricht der Text von 1978 vom Historischen Kurs, um die verschiedenen Momente des Klassenkampfes im 19. Jahrhundert zu beschreiben, auch wenn in Wirklichkeit:
- eine Zunahme der Arbeiterkämpfe weder die Aussicht auf eine revolutionäre Periode zu einer Zeit bedeutete, in der die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand, noch den Ausbruch eines großen Krieges verhindern konnte (z.B. den Krieg zwischen Frankreich und Preußen 1870, als die Macht des Proletariats zunahm);
- eine große Niederlage des Proletariats (wie die Zerschlagung der Pariser Kommune) nicht zu einem neuen Krieg führte.
In gewisser Weise ähnelt diese Tendenz, den Historischen Kurs fälschlicherweise mit dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen im Allgemeinen zu identifizieren, der unpräzisen Art und Weise, wie der Begriff des Opportunismus verwendet wurde. Eine Zeit lang gab es innerhalb der IKS, und im weiteren Sinne im politischen proletarischen Milieu, eine Identifizierung zwischen Opportunismus und Reformismus. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beruhte eine solche Identifizierung, auch wenn sie bereits ein Fehler war, auf einer Realität: In der Tat war zu dieser Zeit eine der wichtigsten Erscheinungsformen des Opportunismus der Reformismus. Aber mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Periode der Dekadenz hat der Reformismus nicht mehr seinen Platz in der Arbeiterbewegung: Organisationen oder Strömungen, die die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus durch progressive Reformen des gegenwärtigen Systems befürworten, gehören notwendigerweise auf die Seite der Bourgeoisie, während der Opportunismus weiterhin eine Krankheit darstellt, die die proletarischen Organisationen vergiften und zerstören kann.
Wir haben dazu tendiert, auf der Grundlage der Erfahrungen der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert den Begriff der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat mit dem Begriff eines "Historischen Kurses" zu identifizieren, während dieser auf eine grundlegende und exklusive Alternative in den Konsequenzen hinweist, den Weltkrieg oder die Revolution, also eine Auswirkung jenes Kräfteverhältnisses. In gewisser Weise ähnelt die gegenwärtige historische Situation der des 19. Jahrhunderts: Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen kann sich in die eine oder andere Richtung entwickeln, ohne das Leben der Gesellschaft entscheidend zu beeinflussen. Ebenso wenig kann dieses Kräfteverhältnis oder seine Entwicklung als "Kurs" bezeichnet werden. In diesem Sinne kann der Begriff "Niederlage des Proletariats", wenn er in der gegenwärtigen Periode seinen ganzen Wert behält, nicht mehr dieselbe Bedeutung haben wie in der Zeit vor 1989. Wichtig hingegen ist es, die Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat zu berücksichtigen, und ständig zu studieren: Können wir davon ausgehen, dass diese Entwicklung zugunsten des Proletariats verläuft (was noch nicht bedeutet, dass es kein Zurück mehr gibt) oder dass wir uns in einer Dynamik der Schwächung der Klasse befinden (in dem Wissen, dass diese Dynamik auch umgekehrt werden kann).
In einem allgemeineren und langfristigen Sinne bringt der Verzicht auf das Konzept des "Historischen Kurses" die Notwendigkeit mit sich, dass revolutionäre Marxisten eine vertiefte historische Untersuchung der gesamten Entwicklung des proletarischen Klassenkampfes an die Hand nehmen, um die Kriterien für die Bewertung des Kräfteverhältnisses zwischen Bourgeoisie und Proletariat in der Periode des kapitalistischen Zerfalls besser zu verstehen.
[1]Dieser Artikel erwähnt die Gleichgültigkeit anderer Gruppen der Kommunistischen Linken gegenüber dieser Frage und ihre entschiedene Ablehnung der Analyse der IKS als „nicht-marxistisch“, was darauf hindeutet, dass sie noch keinen theoretischen Beitrag zu dieser lebenswichtigen Frage der Entwicklung des Gleichgewichts der Klassenkräfte leisten können – zumal sie die berühmte erste Zeile des Kommunistischen Manifests, und damit ein wesentliches Gebot des historischen Materialismus, vergessen haben. Bezüglich des Parasitismus denunziert der Artikel den Angriff der polizeiähnlichen "Internen Fraktion der IKS" (heute die IGCL) auf den IKS-Bericht über den Klassenkampf vom 14. Kongress und seine Analyse der Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls auf den Klassenkampf als eine "opportunistische" und "revisionistische" "Liquidierung des Klassenkampfes", obwohl das Personal dieser Gruppe mit dieser Analyse noch einverstanden war, als diese Leute kurz zuvor noch Mitglieder der IKS waren. Organisatorischer Verrat geht im parasitären Milieu Hand in Hand mit politischem.
[2] „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“
Vor mehr als 25 Jahren hat die IKS die Thesen zum Zerfall verabschiedet . Seitdem ist diese Analyse der gegenwärtigen Phase der Gesellschaft zu einem Schlüsselelement im Verständnis unserer Organisation über die Entwicklung der Welt geworden. Das folgende Dokument ist im Hinblick auf die Entwicklung der Weltlage im letzten Vierteljahrhundert und insbesondere in der jüngsten Zeit eine Aktualisierung der Thesen zum Zerfall.
Konkret müssen wir die wesentlichen Punkte der Thesen mit der gegenwärtigen Situation konfrontieren: In welchem Maße sind die verschiedenen Elemente bestätigt, ja sogar verstärkt worden, und inwieweit sind sie widerlegt worden oder müssen weiterentwickelt werden. Insbesondere die gegenwärtige Weltlage erfordert es, dass wir auf drei Fragen von zentraler Bedeutung zurückkommen:
- Terrorismus
- Flüchtlinge
- den Aufstieg des Populismus als Ausdruck des Kontrollverlusts der Bourgeoisie über das „politische Spiel”.
„Doch so wie es angebracht ist, eine klare Unterscheidung zwischen der Dekadenz des Kapitalismus und der Dekadenz früherer Gesellschaften zu machen, so ist es auch unverzichtbar, den grundlegenden Unterschied zwischen den Zerfallselementen, die den Kapitalismus seit Anfang des Jahrhunderts erfaßt haben, und dem allgemeinen Zerfall herauszustellen, in den dieses System gegenwärtig versinkt und der sich noch verschlimmern wird. Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.” (Punkt 2)
„Konkret: nicht nur, daß der imperialistische Charakter aller Staaten, die Drohung eines neuen Weltkriegs, die Absorption der Gesellschaft durch den staatlichen Moloch, die permanente kapitalistische Wirtschaftskrise in der Zerfallsphase fortbestehen, sie erreichen in Letzterer eine Synthese und einen ultimativen Abschluß.” (Punkt 3)
„Doch die Geschichte bleibt in solch einer Situation, in der die beiden fundamentalen – und antagonistischen – Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne ihre eigene Antwort durchsetzen zu können, nicht stehen. Noch weniger als in den anderen vorhergehenden Produktionsweisen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein „Einfrieren“ des gesellschaftlichen Lebens möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich noch weiter zuspitzen, führen die Unfähigkeit der Bourgeoisie, der gesamten Gesellschaft irgendeine Perspektive anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, die seinige offen zu behaupten, zum Phänomen des allgemeinen Zerfalls, zur Fäulnis der Gesellschaft bei lebendigem Leib.” (Punkt 4)
„Tatsächlich kann sich keine Produktionsweise entwickeln, sich lebensfähig halten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt sicherstellen, wenn sie nicht in der Lage ist, der von ihr dominierten Gesellschaft in ihrer Gesamtheit eine Perspektive anzubieten. Und dies trifft besonders auf den Kapitalismus als dynamischste Produktionsweise der Geschichte zu.” (Punkt 5)
„In einer historischen Lage dagegen, in der die Arbeiterklasse noch nicht in der Lage ist, sich unmittelbar im Kampf für ihre eigene Perspektive, für die einzige realistische, die kommunistische Revolution zu engagieren, in der aber auch die Bourgeoisie keine Perspektive anzubieten hat, noch nicht mal kurzfristig, kann die einstige Fähigkeit Letzterer, das Phänomen des Zerfalls in der Dekadenzperiode einzuschränken und zu kontrollieren, nicht mehr helfen, sondern löst sich unter den wiederholten Schlägen der Krise in Luft auf.” (Punkt 5)
Zunächst müssen wir auf einem wesentlichen Aspekt unserer Analyse bestehen: Der Begriff „Zerfall“ wird auf zwei verschiedene Arten verwendet. Zum einen bezieht er sich auf ein Phänomen, das die Gesellschaft besonders in der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus betrifft, und zum anderen bezieht er sich auf eine bestimmte historische Phase des Kapitalismus, seine Endphase.
„Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.” (Punkt 2)
Auf der Grundlage unserer Analyse des Zerfalls können wir diese beispiellose Situation erkennen, in der keine der beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft, weder die Bourgeoisie noch das Proletariat, in der Lage ist, ihre eigene Antwort auf die Krise der kapitalistischen Wirtschaft – entweder den Weltkrieg oder umgekehrt die kommunistische Revolution umzusetzen. Selbst wenn es zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Klassen gekommen wäre, wenn sich die Bourgeoisie z.B. auf einen neuen allgemeinen Krieg zubewegt oder wenn das Proletariat Kämpfe geführt hätte, die eine revolutionäre Perspektive eröffneten, würde das nicht bedeuten, dass die Periode des Zerfalls der Gesellschaft beendet wäre (wie die IGCL dümmlich behauptet). Der Zerfallsprozess der Gesellschaft ist unumkehrbar, weil er der Endphase der kapitalistischen Gesellschaft entspricht. Das Einzige, was bei einer solchen Wende hätte geschehen können, ist eine Verlangsamung dieses Prozesses, sicherlich keine „Umkehr“. Aber eine solche Wende ist auf jeden Fall nicht eingetreten. Das Weltproletariat war im vergangenen Vierteljahrhundert völlig unfähig, sich überhaupt eine Perspektive für den Umsturz der bestehenden Ordnung zu verschaffen. Ganz im Gegenteil, wir haben einen Rückschritt in seiner Kampfbereitschaft sowie in seiner Fähigkeit, die grundlegende Waffe seines Kampfes, die Solidarität, zu zeigen, erlebt.
Ebensowenig ist es der Bourgeoisie gelungen, für sich selbst eine wirkliche Perspektive zu erreichen, „außer der Flickschusterei, um die Wirtschaft zu stützen“ (Thesen, Punkt 9). Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks schien die Weltwirtschaft nach einer Periode der Instabilität in diesem Bereich eine deutliche Erholung von ihrer Krise zu erleben. Vor allem die BRIC-Staaten zeigten beeindruckende Wachstumsraten. Doch die Euphorie, die die Weltbourgeoisie erfasst hatte, die sich vorstellte, dass ihre Wirtschaft wie in der Zeit des „Nachkriegsbooms“ wieder aufleben könnte, wurde durch die Erschütterungen der Jahre 2007-2008, welche die Zerbrechlichkeit des Finanzsektors vor Augen führten, als eine Depression ähnlich der der 1930er Jahre drohte, grausam gedämpft. Der Weltbourgeoisie gelang es, den Schaden zu begrenzen, insbesondere mit einer massiven Injektion von öffentlichen Geldern in die Wirtschaft, die zu einer Explosion der Staatsschulden führte und namentlich die Euro-Krise in den Jahren 2010-2013 auslöste. Gleichzeitig blieb die Wachstumsrate der größten Volkswirtschaft der Welt auf einem niedrigeren Niveau als vor 2007, obwohl die Zinssätze praktisch bei Null lagen. Was die hochgelobten BRIC-Länder betrifft, so sind sie nun auf die „ICs” (Indien und China) reduziert worden, da Brasilien und Russland mit einer spektakulären Verlangsamung ihres Wachstums oder sogar einer Rezession konfrontiert sind. Was heute in der herrschenden Klasse dominiert, ist nicht Euphorie, der Glaube an eine „strahlende Zukunft“, sondern Ernüchterung und Angst, was sicherlich nicht der gesamten Gesellschaft das Gefühl vermittelt, dass eine „bessere Zukunft möglich ist“, insbesondere bei den Ausgebeuteten, deren Lebensbedingungen sich weiter verschlechtern.
Die historischen Bedingungen, die zu dieser Phase des Zerfalls geführt haben, bestehen also nicht nur weiter, sondern haben sich verschlechtert, was zu einer Vertiefung der meisten Erscheinungen des Zerfalls geführt hat.
Um diese Verschlimmerung vollständig zu verstehen, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass – wie Punkt 2 der Thesen hervorhebt – von der Epoche oder Phase des Zerfalls, und nicht nur von „Erscheinungen des Zerfalls“ die Rede ist.
Punkt 1 der Thesen besteht darauf, dass es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Dekadenz des Kapitalismus und der Dekadenz anderer Produktionsweisen, die ihm vorausgegangen sind, gibt. Diesen Unterschied zu betonen ist wichtig in Bezug auf die Frage, die den Schlüssel zum Zerfall darstellt: die Perspektive. Wenn wir die Dekadenz des Feudalismus betrachten, können wir sehen, dass sie durch die „parallele“ Entstehung der kapitalistischen Beziehungen und den allmählichen und teilweisen Aufstieg der Klasse der Bourgeoise begrenzt wurde. Der Zerfall einer Reihe von wirtschaftlichen, sozialen, ideologischen und politischen Formen der Feudalgesellschaft wurde in der Realität (nicht unbedingt mit einem wirklichen Bewusstsein) durch die neu sich herausbildende Produktionsweise in gewisser Weise abgeschwächt. Zwei Beispiele seien genannt: Der Absolutismus wurde in einigen Ländern für die wirtschaftliche Entwicklung des Kapitals genutzt und trug zur Bildung eines nationalen Marktes bei; und die religiöse Auffassung von der „Reinigung des Körpers“ – der angeblich die Heimstätte des Teufels war – hatte einen Nutzen für die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, indem sie die Geburtenrate erhöhte und den zukünftigen Proletariern und Proletarierinnen Disziplin aufzwang.
Aus diesem Grund mag es in der Dekadenz des Feudalismus mehr oder weniger fortgeschrittene Erscheinungen des gesellschaftlichen Zerfalls gegeben haben, aber es konnte keine spezifische Zerfallsphase geben. In der Geschichte der Menschheit konnten einige sehr isolierte Zivilisationen in einem vollständigen Zerfall enden, was zu ihrem Verschwinden führte. Aber nur der Kapitalismus kann in seiner Dekadenz als historisches und weltweites Phänomen eine globale Ära des Zerfalls aufweisen.
Die Thesen von 1990 wiesen auf die wichtigsten sozialen Erscheinungsformen des Zerfalls hin:
• „die Zunahme von Hungersnöten in den Ländern der „Dritten Welt“ [...]
• die Umwandlung der „Dritten Welt“ in ein gewaltiges Slum, in dem Hunderte von Millionen Menschen wie Ratten in der Kanalisation leben [...]
• die Ausbreitung desselben Phänomens im Herzen der großen Städte der „fortgeschrittenen“ Länder [...]
• die „zufälligen“ Katastrophen, deren Zahl sich in der letzten Zeit vervielfacht hat [...]
• die immer zerstörerischeren Folgen von „Naturkatastrophen“ auf menschlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene [...]
• die Umweltverschmutzung, die unglaubliche Ausmaße annimmt [...]” (Punkt 7)
Die offiziellen Zahlen der FAO zeigen einen Rückgang der Unterernährung seit den 1990er Jahren. Dennoch gibt es auch heute noch fast eine Milliarde Menschen, die an Unterernährung leiden. Diese Tragödie betrifft insbesondere Südasien und vor allem Afrika südlich der Sahara, wo in einigen Regionen fast die Hälfte der Bevölkerung, vor allem die Kinder, dem Hunger zum Opfer fallen, mit dramatischen Folgen für ihr Wachstum und ihre Entwicklung. Während die Technologie zu phänomenalen Produktivitätssteigerungen, auch im Agrarsektor, geführt hat, können die Bauern in vielen Ländern ihre Produkte nicht verkaufen, und der Hunger ist wie in den schlimmsten Zeiten der Menschheitsgeschichte weiterhin eine Geißel für Hunderte von Millionen Menschen. Und wenn er die reichen Länder nicht trifft, dann deshalb, weil der Staat noch immer in der Lage ist, seine Armen zu ernähren. Zum Beispiel erhalten 50 Millionen Menschen in den Vereinigten Staaten Nahrungsmittelhilfe-Gutscheine.
Heute leben mehr als eine Milliarde Menschen in Slums, und die Zahl hat sich seit 1990 noch erhöht. Die „Verwandlung der Dritten Welt in ein riesiges Slum“ ist also so offensichtlich, dass der dem Davos-Forum 2015 vorgelegte Bericht über globale Risiken erstmals die „rasche und unkontrollierte Urbanisierung“ zu den großen Risiken zählt, die den Planeten bedrohen, wobei er insbesondere feststellt, dass „40 % des urbanen Wachstums weltweit in Barackensiedlungen stattfindet“, was bedeutet, dass dieser Anteil in den unterentwickelten Ländern viel höher ist.
Und dieses Phänomen des Wachstums von Elendsvierteln breitet sich tendenziell in den reichsten Ländern aus, und zwar in verschiedenen Formen: Millionen von Amerikanern, die während der Subprime-Krise ihr Zuhause verloren, die Zahl der bestehenden Obdachlosen, die Lager von Roma oder Flüchtlingen am Rande vieler europäischer Städte und sogar in den Zentren ... Und selbst von denjenigen, die in dauerhaften Wohnungen leben, hausen zig Millionen in echten Slums. Im Jahr 2015 lebten 17,4 % der Einwohner der Europäischen Union unter überfüllten Bedingungen, 15,7 % der Wohnungen hatten undichte Leitungen oder Fäulnis, und 10,8 % der Wohnungen waren ohne Heizung. Dies galt nicht nur für die armen Länder Europas, denn die Zahlen lagen bei 6,7 %, 13,1 % bzw. 5,3 % in Deutschland und 8 %, 15,9 % bzw. 10,9 % im Vereinigten Königreich.
Wir könnten auch viele Beispiele für „zufällige“ Katastrophen in den letzten 25 Jahren anführen. Aber es genügt, zwei der spektakulärsten und dramatischsten Beispiele zu nennen, die nicht in der Dritten Welt, sondern in den beiden am weitesten entwickelten Wirtschaftsmächten zu finden sind: die Überschwemmungen von New Orleans im August 2005 (fast 2000 Tote, eine fast entvölkerte Stadt) und die Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011, die mit der von Tschernobyl 1986 vergleichbar ist.
Was das „die Umweltverschmutzung“ betrifft, „die unglaubliche Ausmaße annimmt“, so waren wir, als wir diese Worte schrieben noch weit entfernt von den heutigen Beobachtungen und Prognosen, die in wissenschaftlichen Kreisen allgemein anerkannt sind und auf die die meisten Sektoren der Bourgeoisie jedes Landes sich berufen (auch wenn die herrschende Klasse aufgrund der Gesetze des Kapitalismus nicht in der Lage ist, die erforderlichen Maßnahmen durchzuführen). Die Liste ist lang, nicht nur der Katastrophen, die die Menschheit aufgrund der Umweltzerstörung erwarten, sondern auch derjenigen, die uns schon jetzt treffen: die Verschmutzung der Luft in den Städten und des Wassers der Ozeane, der Klimawandel, der immer heftigere Wetterphänomene mit sich bringt, die sich ausbreitende Wüstenbildung, das zunehmende Verschwinden von Pflanzen- und Tierarten, die das biologische Gleichgewicht unseres Planeten immer mehr bedrohen (das Verschwinden der Bienen zum Beispiel ist eine Bedrohung für unsere Nahrungsressourcen).
Das Bild, das wir 1990 zeichneten, war folgendes:
• „die unglaubliche Korruption, die im politischen Apparat wächst und gedeiht [...]
• die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten unter Verletzung von „Gesetzen“, die der Kapitalismus einst verabschiedet hatte, um die Konflikte zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse zu „reglementieren“
• der ununterbrochene Anstieg der Kriminalität, der Unsicherheit, der Gewalt in den Städten [...]
• die Flutwelle der Drogen, die heute zu einem Massenphänomen werden und stark zur Korruption im Staat und den Finanzorganismen beitragen [...]
• die Fülle an Sekten, das Wiederaufleben religiöser Geisteshaltungen auch in fortgeschrittenen Ländern, die Ablehnung eines vernunftgesteuerten, zusammenhängenden, konstruktiven Denkens [...]
• die Belanglosigkeit, die Käuflichkeit all der „künstlerischen“ Produktionen, der Literatur, der Musik, der Malerei, der Architektur [...]
• das „Jeder für sich“, die Atomisierung des Einzelnen, die Zerstörung der Familienbeziehungen, die Ausgrenzung der alten Menschen, die Zerstörung der Gefühle [...]” (Punkt 8)
All diese Aspekte haben sich bestätigt und sogar noch verschlimmert. Lässt man die Aspekte, die mit den nachstehend hervorgehobenen Punkten (Terrorismus, Flüchtlingsfrage und Zunahme des Populismus) zusammenhängen, kurz beiseite, so kann man beispielsweise feststellen, dass die Gewalt und die städtische Kriminalität in vielen Ländern Lateinamerikas und auch in den Vororten einiger europäischer Städte – teilweise im Zusammenhang mit dem Drogenhandel, aber nicht nur dort – explodiert ist. Was diesen Handel und sein enormes Gewicht in der Gesellschaft, auch auf wirtschaftlicher Ebene, betrifft, so kann man sagen, dass es sich um einen ständig wachsenden „Markt“ handelt, da das Unbehagen und die Verzweiflung, die jede Schicht der Bevölkerung trifft, zunehmen. Was die Korruption und all die Machenschaften – in anderen Worten „Wirtschaftskriminalität“ – angeht, so sind in den letzten Jahren viele Fälle aufgedeckt worden (wie die „Panama-Papiere“, die nur eine winzige Spitze des Eisbergs des Gangstertums sind, in dem der Finanzsektor immer mehr Fuß fassen muss). In Bezug auf die Käuflichkeit von Kulturschaffenden und ihre Rehabilitierung können wir die jüngste Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan, künstlerisches Symbol der Revolte in den 1960er Jahren, zitieren, aber es gibt noch viele andere, die wir nennen könnten. Schließlich hat sich die Zerstörung der menschlichen Beziehungen, der Familienbande und des menschlichen Mitgefühls nur noch verschlimmert, wie der Gebrauch von Antidepressiva, die Explosion von psychischem Druck und Stress am Arbeitsplatz und das Aufkommen neuer Berufe, die solche Menschen „unterstützen“ sollen, belegen. Es gibt auch Hinweise auf echte Massaker wie das vom Sommer 2003 in Frankreich, wo 15.000 ältere Menschen während der Hitzewelle starben.
Diese Frage ist selbstverständlich weder in der Geschichte noch in den Analysen der IKS neu (siehe z.B. den Text Terror, Terrorismus und Klassengewalt, der in der Nummer 3 der Internationalen Revue veröffentlicht wurde. Gleichwohl ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass unser Genosse MC auf der Grundlage der Bombenanschläge von Paris im Jahr 1985 eine Reflexion über den Zerfall begann. Als besonders bedeutsam analysieren die Thesen den Eintritt des Kapitalismus in die Phase des Zerfalls: „die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten unter Verletzung von „Gesetzen“, die der Kapitalismus einst verabschiedet hatte, um die Konflikte zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse zu ‘reglementieren’“.
Es ist kaum notwendig, darauf hinzuweisen, wie weit diese Frage im Leben des Kapitalismus einen herausragenden Platz eingenommen hat. Heute ist der Terrorismus als Instrument des Krieges zwischen Staaten in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens gerückt. Wir haben sogar die Konstituierung eines neuen Staates, das Kalifat des IS, mit seiner Armee, seiner Polizei, seiner Verwaltung, seinen Schulen erleben müssen, für den der Terrorismus die auserkorene Waffe ist.
Die quantitative und qualitative Zunahme der Rolle des Terrorismus hat vor 15 Jahren mit dem Angriff auf die Twin Towers einen entscheidenden Schritt getan, und es war die führende Weltmacht, die diesem Angriff bewusst die Tür öffnete, um ihre Intervention in Afghanistan und im Irak zu rechtfertigen. Die Anschläge von Madrid 2004 und London 2005 haben dies bestätigt. Die Gründung des IS in den Jahren 2013-14 und die Angriffe in Frankreich in den Jahren 2015-16, Belgien und Deutschland im Jahr 2016 stellen einen weiteren Schritt in diesem Prozess dar.
Darüber hinaus geben uns die Thesen einige Anhaltspunkte dafür, die wachsende Faszination eines Teils der Jugend in den entwickelten Ländern für den Dschihadismus und Selbstmordattentate zu verstehen:
• „die Ausbreitung des Nihilismus, der Selbstmorde unter Jugendlichen, der Hoffnungslosigkeit [...], des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit
• die Fülle an Sekten, das Wiederaufleben religiöser Geisteshaltungen auch in fortgeschrittenen Ländern, die Ablehnung eines vernunftgesteuerten, zusammenhängenden, konstruktiven Denkens [...]
• das Überhandnehmen von Gewalt- und Horrorszenen, von Blut und Massakern in eben diesen Medien [...]”
All diese Aspekte haben sich in den vergangenen Jahrzehnten nur noch verstärkt. Sie betreffen alle Bereiche der Gesellschaft. Im fortgeschrittensten Land der Welt ist eine „religiöse Rechte“ (die „Tea Party“) innerhalb einer der beiden politischen Parteien entstanden, die für die Verwaltung der Interessen des nationalen Kapitals zuständig ist, eine Bewegung, die die am meisten begünstigten Gesellschaftsschichten umfasst. In ähnlicher Weise hat in einem Land wie Frankreich die Einführung der Homo-Ehe (die an sich nur ein Manöver der Linken war, um vom Verrat ihrer Wahlversprechen und den Angriffen auf die Ausgebeuteten abzulenken) Millionen von Menschen aus allen gesellschaftlichen Bereichen mobilisiert, vor allem aber die Bürgerlichen und Kleinbürger, die eine solche Maßnahme als Beleidigung Gottes betrachteten. Gleichzeitig nehmen Obskurantismus und religiöser Fanatismus unter den am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen, insbesondere unter den jungen proletarischen Eingewanderten, die muslimisch sind, weiter zu und ziehen eine beträchtliche Anzahl von „einheimischen“ Jugendlichen mit sich. Noch nie haben wir in europäischen Städten so viele Schleier oder gar „Burkas“ um die Köpfe muslimischer Frauen gesehen. Und was ist mit der Haltung jener Zehntausenden von jungen Menschen, die nach der Ermordung der Karikaturisten der Zeitung Charlie Hebdo der Meinung waren, sie hätten sich das selbst zuzuschreiben, indem sie den „Propheten“ gezeichnet haben?
Diese Frage wird in den Thesen von 1990 nicht behandelt. Deshalb bieten wir hier eine Ergänzung an, die sich mit diesem Problem befasst.
Die Frage der Flüchtlinge hat in den letzten Jahren einen zentralen Platz im Leben der Gesellschaft erhalten. Im Jahr 2015 waren mehr als 6 Millionen Menschen gezwungen, ihr Land zu verlassen, wodurch die Zahl der Flüchtlinge auf der Welt auf über 65 Millionen angestiegen ist (mehr als die Bevölkerung Großbritanniens). Dazu kommen noch die 40 Millionen Menschen, die innerhalb ihres eigenen Landes vertrieben werden. Dieses Phänomen ist seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellos.
Vertreibung und Auswanderung sind Teil der Geschichte der Menschheit, einer Spezies, die vor 200.000 Jahren in einem kleinen Teil Ostafrikas auftauchte und sich überall auf der Welt ausbreitete, wo es verwertbare Ressourcen für Nahrung und andere Grundbedürfnisse des Lebens gab. Einer der großen Momente dieser Bevölkerungsbewegungen ist die Kolonialisierung des größten Teils des Planeten durch die europäischen Mächte, ein Phänomen, das vor 500 Jahren entstand und mit dem Aufstieg des Kapitalismus zusammenfiel (siehe hierzu den entsprechenden Abschnitt des Kommunistischen Manifests). Im Allgemeinen setzen sich die Migrationsströme (auch wenn sie Händler, Abenteurer oder durch Eroberung getriebene Soldaten umfassen) hauptsächlich aus Bevölkerungsgruppen zusammen, die aus ihrem Land wegen Verfolgung (englische Protestanten der „Mayflower“, Juden aus Osteuropa) oder Armut (Iren, Sizilianer) fliehen. Erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus in seiner Dekadenzphase werden die vorherrschenden Migrationsströme umgekehrt. Zunehmend sind es die Bewohner der Kolonien, die, vom Elend getrieben, in die Metropolen kommen, um Arbeit (im Allgemeinen gering qualifiziert und sehr schlecht bezahlt) zu finden. Dieses Phänomen setzte sich nach den Entkolonialisierungswellen fort, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1960er Jahre aufeinander folgten. Ende der 1960er Jahre führte die offene Krise der kapitalistischen Wirtschaft mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in den entwickelten Ländern bei gleichzeitiger Zunahme der Armut in den ehemaligen Kolonien zu einem deutlichen Anstieg der illegalen Einwanderung. Seitdem hat sich die Situation trotz der heuchlerischen Reden der herrschenden Klasse nur noch verschlimmert, die in den „Papierlosen“ noch billigere Arbeitskräfte findet im Vergleich zu denen, die Papiere haben.
Mehrere Jahrzehnte lang ging es bei den Migrationsströmen also hauptsächlich um wirtschaftliche Auswanderung. Neu ist jedoch, dass in den letzten Jahren der Anteil der Einwandernden, die aus Kriegs- oder Repressionsgründen aus ihrem Land geflohen sind, explodiert ist und eine Situation wie nach dem Spanischen Krieg oder dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen hat. Jahr für Jahr steigt die Zahl der Flüchtlinge, die mit allen möglichen Mitteln, auch mit den gefährlichsten, an die Türen Europas klopfen, was die Aufnahmefähigkeit der europäischen Länder auf die Probe stellt und die Flüchtlingsfrage zu einem wichtigen politischen Thema in diesen Ländern macht (siehe unten zur Frage des Populismus).
Die massiven Bevölkerungsbewegungen sind keine Phänomene, die der Phase des Zerfalls vorbehalten sind. Aber sie nehmen heute eine Dimension an, die sie zu einem eigenständigen Element des Zerfalls macht, und wir können auf dieses Phänomen die Analyse anwenden, die wir 1990 zur Arbeitslosigkeit vorgelegt haben:
„Zwar ist die Arbeitslosigkeit, die direkt aus der Wirtschaftskrise resultiert, als solche kein Ausdruck des Zerfalls, aber sie kann in dieser besonderen Phase der Dekadenz zu Konsequenzen führen, die aus ihr ein singuläres Element im Zerfall machen.” (Punkt 14)
Das Jahr 2016, insbesondere mit der Brexit-Abstimmung und der Wahl von Donald Trump an die Spitze der ersten Weltmacht, markiert eine Phase von großer Bedeutung in der Entwicklung eines Phänomens, das noch keine bedeutende Rolle gespielt hatte, als es in Ländern wie Frankreich, Österreich oder, in geringerem Maße, Italien mit dem Aufstieg der populistischen extremen Rechten bei den Wahlen auftrat. Dieses Phänomen ist offensichtlich nicht das Ergebnis eines bewussten politischen Willens der herrschenden Teile der Bourgeoisie, auch wenn diese Teile es eindeutig gegen das Bewusstsein des Proletariats einzusetzen wissen.
In den Thesen von 1990 heißt es:
„Unter den Hauptkennzeichen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft muß man die zunehmenden Schwierigkeiten der Bourgeoisie hervorheben, die Entwicklung der Lage auf politischer Ebene zu kontrollieren.” (Punkt 9)
„Diese allgemeine Tendenz der Bourgeoisie, die Kontrolle über die Leitung ihrer Politik zu verlieren, ist ein wichtiger Faktor beim Zusammenbruch des Ostblocks, und er wird mit diesem Zusammenbruch noch stärker werden, aufgrund:
• der Zuspitzung der Wirtschaftskrise, die aus Letzterem resultiert;
• der Auflösung des westlichen Blocks infolge des Verschwindens des rivalisierenden Blocks;
• der Schürung der einzelnen Rivalitäten, die das vorübergehende Zurückdrängen der Perspektive eines Weltkriegs zwischen verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie (insbesondere zwischen nationalen Fraktionen, aber auch zwischen Cliquen innerhalb eines gleichen Nationalstaats) bewirkt.” (Punkt 10)
Die Verschärfung der Wirtschaftskrise infolge des Zusammenbruchs des Ostblocks hat sich zu Beginn nicht fortgesetzt. Dennoch haben die anderen Aspekte ihre Gültigkeit behalten. Was in der gegenwärtigen Situation betont werden muss, ist die volle Bestätigung dieses Aspekts, den wir vor 25 Jahren festgestellt haben: die Tendenz, dass die herrschende Klasse zunehmend die Kontrolle über ihren politischen Apparat verliert.
Offensichtlich werden diese Ereignisse von verschiedenen Sektoren der Bourgeoisie (insbesondere von denen der Linken) aus bekannten historischen Gründen dazu benutzt, die Flamme des Antifaschismus (dies ist besonders in Deutschland der Fall) wiederzubeleben. Auch in Frankreich gab es bei den letzten Regionalwahlen im Dezember 2015 eine „Republikanische Front“, bei der die Sozialistische Partei ihre Kandidaten zurückzog und dazu aufrief, für die Rechte zu stimmen, um dem Front National den Weg zu blockieren. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass das Hauptangriffsziel antifaschistischer Kampagnen, die Arbeiterklasse, derzeit keine Bedrohung oder auch nur eine große Sorge für die Bourgeoisie darstellt.
In der Tat kann die fast einhellige Meinung der verantwortungsbewusstesten Sektoren der Bourgeoisie und ihrer Medien gegen den Brexit, gegen die Wahl von Trump, gegen die extreme Rechte in Deutschland oder gegen den Front National in Frankreich nicht als ein Manöver betrachtet werden: die vom Populismus vorgeschlagenen wirtschaftlichen und politischen Optionen sind keineswegs realistische Option für die Verwaltung des nationalen Kapitals (im Gegensatz zu den Optionen der Linken des Kapitals, die angesichts der „Exzesse“ der neoliberalen Globalisierung eine Rückkehr zu keynesianischen Lösungen vorschlagen). Wenn wir uns auf den Fall Europas beschränken, könnten populistisch geführte Regierungen, wenn sie ihre Programme umsetzen, nur zu einer Art Vandalismus führen, der die Instabilität, die die Institutionen dieses Kontinents bedroht, nur noch weiter verschärfen würde. Und dies um so mehr, als das politische Personal der populistischen Bewegungen zwar eine ernsthafte Erfahrung auf dem Gebiet der Demagogie gesammelt hat, aber keineswegs bereit ist, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
Bei der Entwicklung unserer Analyse des Zerfalls sind wir davon ausgegangen, dass dieses Phänomen sich sowohl auf die Form der imperialistischen Konflikte (siehe den Artikel Militarismus und Zerfall, in der Internationalen Revue 13) als auch auf das Bewusstsein des Proletariats auswirkt. Demgegenüber waren wir der Ansicht, dass es keine wirklichen Auswirkungen auf die Entwicklung der Krise des Kapitalismus haben würde. Wenn der gegenwärtige Aufstieg des Populismus dazu führen würde, dass diese Strömung in einigen der wichtigsten europäischen Länder an die Macht käme, so würde der Zerfall jedoch auch eine solche Auswirkung entfalten.
In der Tat kann der Aufstieg des Populismus in einem bestimmten Land spezifische Ursachen haben (wie z. B. nach dem Sturz des Stalinismus für bestimmte osteuropäische Länder, die Auswirkungen der Finanzkrise von 2007-2008, die Millionen von Amerikanern ruiniert und ihrer Häuser beraubt hat, usw.). Dennoch hat er ein gemeinsames Element, das in den meisten fortgeschrittenen Ländern auftritt: der tiefe Vertrauensverlust in die „Eliten“, d.h. die traditionellen Regierungsparteien (konservative oder fortschrittliche wie die Sozialdemokraten) aufgrund ihrer Unfähigkeit, die Gesundheit der Wirtschaft wiederherzustellen, den stetigen Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Armut zu stoppen. In diesem Sinne stellt der Aufstieg des Populismus eine Art Revolte gegen die derzeitigen politischen Führer dar, aber eine Revolte, die nicht zu einer alternativen Perspektive zum Kapitalismus führen kann. Die einzige Klasse, die eine solche Alternative bieten kann, ist das Proletariat, wenn es sich auf seinem Klassenterrain mobilisiert und sich der Notwendigkeit und der Möglichkeit der kommunistischen Revolution bewusst wird. Mit dem Populismus ist es dasselbe wie mit dem allgemeinen Phänomen des Zerfalls der Gesellschaft, das die gegenwärtige Lebensphase des Kapitalismus kennzeichnet: Ihre entscheidende Ursache ist die Unfähigkeit des Proletariats, eine eigene Antwort, eine eigene Alternative zur Krise des Kapitalismus zu finden. In diesem Vakuum wird der Vertrauensverlust in die offiziellen Institutionen der Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage sind, sie zu schützen, der Vertrauensverlust in die Zukunft, die Tendenz, in die Vergangenheit zu blicken, Sündenböcke zu suchen, die für die Katastrophe verantwortlich sind, immer stärker. In diesem Sinne ist der Aufstieg des Populismus ein Phänomen, das ganz typisch für die Epoche des Zerfalls ist. Dies gilt umso mehr, als er wertvolle Verbündete im Aufstieg des Terrorismus findet, der ein wachsendes Gefühl der Angst und Hilflosigkeit hervorruft, insbesondere angesichts des massiven Zustroms von Flüchtlingen, die die Angst schüren, dass sie gekommen sind, um den Einheimischen die Arbeit wegzunehmen oder neue Terroristen zu infiltrieren.
Als wir den Eintritt des Weltkapitalismus in die akute Phase seiner Wirtschaftskrise erkannten, wiesen wir darauf hin, dass es diesem System zunächst gelungen war, seine katastrophalsten Auswirkungen auf die Peripherie abzuwälzen, dass diese Auswirkungen aber wie ein Bumerang in das Zentrum zurückkehren würden. Dasselbe Modell gilt für die drei Fragen, die seither ausführlicher diskutiert wurden:
- Der Terrorismus existiert bereits in einem viel dramatischeren Ausmaß in einigen Ländern der Peripherie;
- dieselben Länder haben ein weitaus größeres Problem mit Flüchtlingen als die zentralen Länder;
- diese Länder sind auch den Erschütterungen ihres politischen Apparates ausgesetzt.
Die Tatsache, dass die zentralen Länder heute eine derartigen Bumerangeffekt erleben, ist ein Anzeichen dafür, dass die menschliche Gesellschaft weiter und tiefer in den Zerfall rutscht.
Einer der Gründe für die Schwierigkeiten, auf die das Proletariat und vor allem seine eigene Avantgarde gestoßen sind, um diese Epoche des Zerfalls zu erkennen und zu verstehen und sich gegen sie zu wappnen, liegt in der Natur des Zerfalls als einer historischen Phase.
Der Prozess des Zerfalls, der die gegenwärtige historische Periode prägt, stellt ein Phänomen dar, das auf sehr heimtückische Weise voranschreitet. Insofern er die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens am tiefsten berührt und sich in der Zerrüttung der tiefsten sozialen Beziehungen manifestiert, hat er nicht unbedingt einen einzigen und unbestreitbaren Ausdruck, wie z.B. der Ausbruch des Weltkrieges oder revolutionäre Verhältnisse. Vielmehr drückt sie sich durch eine Vielzahl von Phänomenen aus, die in keinem offensichtlichen Zusammenhang miteinander stehen.
Jedes der Phänomene könnte für sich genommen zeigen, dass der Zerfall nicht neu ist, sondern mit früheren Stadien der kapitalistischen Dekadenz verbunden ist. Zum Beispiel gibt es eine Fortsetzung der imperialistischen Kriege. Innerhalb dieser Kontinuität findet man jedoch das Element der Tendenz des „Jeder-für-sich“ und insbesondere „die Entwicklung des Terrorismus, der Geiselnahmen als Mittel der kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Staaten unter Verletzung von „Gesetzen“, die der Kapitalismus einst verabschiedet hatte, um die Konflikte zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse zu ‘reglementieren’“ (These 8). Diese Elemente erscheinen „undeutlich“ inmitten der klassischen und allgemeinen Züge des imperialistischen Krieges, was es schwierig macht, sie zu identifizieren. Eine oberflächliche Untersuchung wird sie nicht aufdecken. Dasselbe gilt für den politischen Apparat der Bourgeoisie (so kann das Aufkommen des Populismus fälschlicherweise mit dem Phänomen des Faschismus zwischen den beiden Kriegen in Verbindung gebracht werden).
Die Tatsache, dass die beiden wesentlichen Klassen der Gesellschaft (das Proletariat und die Bourgeoisie) nicht in der Lage sind, eine Perspektive zu bieten, begünstigt das Fehlen einer globalen Vision und führt zu einer passiven Anpassung an die bestehende Realität. Dies begünstigt engstirnige, blinde, kleinbürgerliche Visionen ohne Zukunftsorientierung. Man kann sagen, dass der Zerfall an sich schon ein mächtiger Faktor ist, der das Bewusstsein der eigenen Wirklichkeit auslöscht. Das ist sehr gefährlich für das Proletariat. Aber es erzeugt auch eine Blindheit der Bourgeoisie, so dass der Zerfall aufgrund der Schwierigkeit, ihn zu erkennen, ein kumuliertes Phänomen erzeugt, das in seinen Auswirkungen spiralförmig ansteigt.
Schließlich verschärfen zwei dem Kapitalismus eigentümliche Tendenzen diese Schwierigkeit, den Zerfall und seine Folgen zu erkennen, noch weiter:
Der „Kapitalismus als dynamischste Produktionsweise der Geschichte” (Punkt 5); und „die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.” (Kommunistisches Manifest).
Dies vermittelt den Eindruck einer permanenten „Modernität“, einer Gesellschaft, die trotz allem „fortschreitet“ und sich entwickelt. Eine Folge davon ist, dass der Zerfall nicht in allen Ländern einheitlich verläuft. Er ist in China und anderen asiatischen Ländern stärker abgeschwächt. Andererseits nimmt er in anderen Teilen der Welt eine viel extremere Form an, zum Beispiel in Afrika oder in einigen Ländern Lateinamerikas. All dies neigt dazu, den Zerfall zu „verschleiern“. Man könnte sagen, dass der ekelerregende Geruch, den er erzeugt, durch den verführerischen Duft der „Modernität“ vermindert wird.
In den fortgeschrittensten Ländern ist die Bourgeoisie mit der Entwicklung des Staatskapitalismus immer noch in der Lage, bestimmte Gegentendenzen zu erzeugen, um die Auswirkungen des Zerfalls zu vermindern. Wir können dies beim Brexit sehen, wo die britische Bourgeoisie sich schnell wieder organisiert hat, um den Schaden zu begrenzen.
In Punkt 13 der Thesen wird diese Frage in den folgenden Passagen behandelt:
„Die verschiedenen Elemente, die die Stärke des Proletariats ausmachen, stoßen direkt mit den verschiedenen Facetten dieses ideologischen Zerfalls zusammen:
• Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem „Jeder für sich“, dem „Frechheit zahlt sich aus“ zusammen.
• Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen.
• Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des „No future“ immer mehr überhand nimmt.
• Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren.” (Punkt 13)
Die Erfahrungen der Kämpfe der letzten 25 Jahre haben diese Analysen weitgehend bestätigt. Dies gilt insbesondere, wenn man die beiden am weitesten fortgeschrittenen Bewegungen dieser Periode betrachtet: die Anti-CPE-Bewegung in Frankreich im Jahr 2006 und die Bewegung der Indignados in Spanien im Jahr 2011. Es trifft zu, dass die Solidarität im Zentrum beider Bewegungen stand, wie sie auch im Zentrum begrenzterer Erfahrungen stand – wie anlässlich der Mobilisierung gegen die Rentenreform in Frankreich 2003 oder beim U-Bahnstreik in New York 2005. Diese Ausdrücke blieben jedoch isoliert und riefen, abgesehen davon, dass sie auf eine eher passive Sympathie stießen, keine allgemeine Mobilisierung der Klasse hervor.
Solidarität und kollektives Handeln ist eines der grundlegenden Merkmale des proletarischen Kampfes, aber es war viel schwieriger, es zum Ausdruck zu bringen als in der Vergangenheit, trotz der schweren Angriffe auf die Arbeiterklasse, zum Beispiel auf der Ebene der Entlassungen. Es stimmt, dass die einschüchternde Erfahrung der Krise zu einem vorübergehenden Rückzug in der Kampfbereitschaft geführt hat, aber die Tatsache, dass ein solcher Rückzug fast permanent geworden ist, bedeutet, dass wir verstehen müssen, dass dieser Faktor zwar eine Rolle spielt, aber nicht der einzige ist, und wir sollten die Bedeutung dessen bedenken, was These 13 über das „Jeder-für-sich“, die Atomisierung und den individuellen Rückzug sagt.
Die Frage der Organisation steht im Mittelpunkt des Kampfes des Proletariats. Abgesehen von den enormen Schwierigkeiten, die revolutionäre Minderheiten haben, sich ernsthaft mit der Frage der Organisation auseinanderzusetzen (die einen weiteren Text verdienen würde), haben die Probleme der Klasse sich zu organisieren, trotz der spektakulären Verbreitung von Vollversammlungen in der Bewegung der Indignados oder in der Anti-CPE-Bewegung, verschärft. Abgesehen von diesen fortgeschritteneren Beispielen, die ein zukunftsweisender Schritt bleiben, haben viele andere ähnliche Kämpfe große Schwierigkeiten gehabt, sich zu organisieren. Dies gilt insbesondere für die „Occupy“-Bewegung im Jahr 2011 oder die Bewegungen in Brasilien und der Türkei im Jahr 2013.
Das Vertrauen in die eigene Stärke als Klasse ist ein Schlüsselelement des Kampfes des Proletariats, das bisher so sehr fehlte. In den Fällen der beiden soeben erwähnten wichtigen Bewegungen erkannte sich die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer nicht als Teil der Arbeiterklasse. Sie sahen sich selbst als „normale Bürger*innen“, was vom Standpunkt der Auswirkungen demokratischer Illusionen, aber auch angesichts der gegenwärtigen populistischen Welle sehr gefährlich ist.
Auch das Vertrauen in die Zukunft und insbesondere in die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft fehlte, abgesehen von einigen wenigen sehr allgemeinen Einsichten oder der Fähigkeit, auf sehr embryonale Weise Fragen über den Staat, die Moral, die Kultur usw. zu stellen. Diese Überlegungen sind aus der Sicht der Zukunft sicherlich sehr interessant. Sie sind jedoch sehr begrenzt geblieben und im Allgemeinen weit unter dem Niveau der Überlegungen, das 1968 in den am weitesten entwickelten Bewegungen erreicht wurde.
Die Entwicklung des Bewusstseins und des kohärenten und einheitlichen Denkens ist eines der Elemente, das, wie in Punkt 13 der Thesen erwähnt, in dieser Phase auf enorme Hindernisse stößt. Während das Jahr 1968 durch einen bedeutenden sozialen Umwälzungsprozess unter verschiedenen Minderheiten vorbereitet wurde und danach, zumindest für eine Weile, eine Vielzahl von suchenden Elementen hervorbrachte, sollten wir feststellen, dass nur sehr wenig dieser sozialen Reifung die Bewegungen von 2006 und 2011 vorbereitet bzw. überdauert hat. Trotz des Ernstes der historischen Situation – unvergleichlich ernster als 1968 – ist keine neue Generation von revolutionären Minderheiten aufgetaucht. Dies zeigt, dass sich die traditionelle Kluft innerhalb des Proletariats – wie Rosa Luxemburg betonte – zwischen objektiver Entwicklung und subjektivem Verständnis – mit dem nicht zu unterschätzenden Phänomen des Zerfalls bedeutend verschärft hat.
Die kapitalistische Gesellschaft, die sich in der Endphase ihres Niedergangs befindet, bringt eine ganze Reihe von „Identitätskrisen“ hervor. Die Atomisierung, die dem System der verallgemeinerten Warenproduktion innewohnt, erreicht neue Dimensionen, und das gilt sowohl für das gesellschaftliche Leben als Ganzes als auch für die Reaktionen auf das zunehmende Elend und die zunehmende Unterdrückung, die das System hervorruft. Einerseits werden Gruppen und Einzelpersonen, die unter besonderer Unterdrückung leiden, ermutigt, als bestimmte Gruppen dagegen zu kämpfen – als Frauen, als Schwule, als Transgender, als ethnische Minderheiten usw. –, wobei sie nicht selten direkt miteinander konkurrieren, wie bei der aktuellen Konfrontation zwischen Transgender-Aktivist*innen und bestimmten Zweigen des Feminismus. Diese Phänomene der „Identitätspolitik“ werden gleichzeitig vom linken Flügel der Bourgeoisie bis hin zu ihren angesehensten Akademiker*innen und mächtigsten politischen Kreisen (wie in der Demokratischen Partei in den USA) übernommen.
Unterdessen erhebt sich der rechte Flügel der Bourgeoisie, während er vordergründig den Aufstieg der Identitätspolitik ablehnt, zur Verteidigung seiner eigenen Form der Identitätssuche: die Suche nach den wahren Männern, die vom Gespenst des Feminismus bedroht seien, die Sehnsucht nach dem Ruhm der Weißen Rasse, die von ausländischen Horden verdrängt werde.
Die Suche nach diesen partiellen und manchmal völlig fiktiven Identitäten und Gemeinschaften ist ein Gradmesser für die Selbstentfremdung der Menschheit in einer historischen Epoche, in der eine universelle menschliche Gemeinschaft sowohl möglich als auch notwendig für das Überleben der Gattung ist. Und vor allem ist sie, wie andere Erscheinungsformen des sozialen Zerfalls, das Produkt des Verlustes der einen Identität, deren Bestätigung zur Schaffung einer solchen Gemeinschaft führen kann, auch bekannt als Kommunismus: der Klassenidentität des Proletariats. Die jüngste Bewegung der „Gelb-Westen“ in Frankreich veranschaulicht die Gefahren, die sich aus diesem Verlust der Klassenidentität ergeben: dass eine große Zahl von Arbeiter*innen, zu Recht verärgert über die ständigen Angriffe auf ihren Lebensstandard, nicht für ihre eigenen Interessen, sondern hinter den Forderungen und Handlungen anderer sozialer Klassen mobilisiert wird – in diesem Fall des Kleinbürgertums und eines Teil der Bourgeoisie selbst[1].
Die Ausbeutung der Arbeiterklasse ist der Grundstein für das gesamte Gebäude des Kapitalismus. Es ist nicht nur eine Form der Unterdrückung unter vielen, wie die Befürworter der Identitätspolitik offen oder heimlich argumentieren. Denn trotz aller Veränderungen, die der Kapitalismus in den letzten zwei Jahrhunderten durchgemacht hat, regiert der Kapitalismus weiterhin die Erde, und das, was Karl Marx 1844 über das revolutionäre Wesen des Proletariats schrieb und oft zitiert wurde, bleibt so wahr wie eh und je. Es ist eine Klasse, deren Kampf gegen den Kapitalismus die Lösung für all das „besondre Unrecht“ dieser Gesellschaft beinhaltet – eine „Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“[2]
In der Heiligen Familie, die er in der gleichen Zeit schrieb, erklärt Marx, dass die Arbeiterklasse ihrem Sein gemäß eine revolutionäre Klasse ist, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst ist:
„Wenn die sozialistischen Schriftsteller dem Proletariat diese weltgeschichtliche Rolle zuschreiben, so geschieht dies keineswegs, wie die kritische Kritik zu glauben vorgibt, weil sie die Proletarier für Götter halten. Vielmehr umgekehrt. Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Lebensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuweisende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieterische Not - den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit - zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusammenfassen, aufzuheben. Es macht nicht vergebens die harte, aber stählende Schule der Arbeit durch. Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“[3]
Klassenidentität hat also eine objektive Grundlage, die so lange unveränderlich bleibt, wie es den Kapitalismus gibt, aber das subjektive Bewusstsein dessen, „was das Proletariat ist“, wird seit langem von der negativen Seite der proletarischen Bedingung zurückgehalten: der Tatsache, dass „der Mensch im Proletariat sich selbst verloren hat“, dass es eine Klasse ist, die unter dem vollen Gewicht der menschlichen Selbstentfremdung leidet. In späteren Werken erklärte Marx, dass die besonderen Formen der Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft – der Prozess, der auch als „Verdinglichung“ bekannt ist, der Schleier der Mystifizierung, der dem universellen Warenaustausch innewohnt – es den Ausgebeuteten besonders schwer machen, das wirkliche Wesen ihrer Ausbeutung und die wahre Identität ihrer Ausbeuter zu begreifen. Und deshalb muss es ein „theoretisches Bewusstsein dieses Verlustes“ geben, und der Sozialismus muss in seinen Methoden wissenschaftlich werden. Aber dieses theoretische Bewusstsein ist keineswegs von den realen Bedingungen der Arbeit und ihrer Revolte gegen die Unmenschlichkeit der kapitalistischen Ausbeutung getrennt.
Wenn Marx schreibt, dass sich das Proletariat „nicht selbst befreien (kann), ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben“, meint die so genannte „Kommunisierungs“-Strömung, dass jeder positive Bezug auf eine Klassenidentität nur reaktionär sein könne, da sie nicht mehr als eine Beschönigung dessen sei, was das Proletariat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ist, deshalb verlange die kommunistische Revolution die sofortige Selbstaufhebung der Arbeiterklasse. Aber damit verliert diese Strömung die dialektische Wirklichkeit einer Arbeiterklasse aus den Augen als einer Klasse, die sowohl der kapitalistischen Gesellschaft als auch nicht ihr angehört, die zugleich ausgebeutet wie auch revolutionär ist. Wir bestehen mit Marx darauf, dass das Proletariat nur dann den Weg zur wirklichen Auflösung aller Klassen und zum „völligen Neubeginn“ der Menschheit ebnen kann, wenn es sich sowohl auf der Ebene seiner wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe wie auch als tonangebend für die politische Ausrichtung der Gesellschaft behauptet. Deshalb wird sich dieser Bericht genau auf das Problem der Klassenidentität konzentrieren: von seiner ersten Entwicklung in der aufstrebenden Phase des Kapitalismus über seinen späteren Verlust bis hin zur zukünftigen Wiederaneignung.
Das Proletariat ist per Definition die Klasse der Besitzlosigkeit. Es formte sich nach der Enteignung der Bauern von ihren kleinen Grundstücken oder der Handwerker von ihren Produktionsmitteln; die Enteigneten wurden in die verseuchten Elendsviertel der frühen Industriegesellschaft getrieben. Engels schreibt in Die Lage der arbeitenden Klasse in England über all die demoralisierenden Auswirkungen dieses Prozesses, der zahlreiche Proletarier in Alkoholsucht und Kriminalität führte und sie dem brutalsten Wettbewerb untereinander aussetzte. Aber Engels lehnte jede moralisierende Verurteilung dieser rein individuellen Reaktionen auf ihren Zustand ab und verwies auf die Alternative, die sich bereits abzeichnete: den kollektiven Kampf der Arbeiter für die Verbesserung ihres Zustands durch die Gründung von Gewerkschaften, Bildungs- und Kulturvereinen und politischen Parteien wie den Chartisten - all dies letztlich inspiriert von der Vision einer höheren Gesellschaftsform. Die physische Zusammenführung der Arbeiter in den Städten und Fabriken war die objektive Voraussetzung für diesen Kampf. Dies ist eine Dimension der Arbeitsvereinigung, die die relative Isolation von Handwerkern und Bauern überwindet; aber als rein „soziologischer“ Prozess war die Maschinerie der frühen Industrialisierung so brutal und traumatisch, dass sie auch zur Produktion einer gleichgültigen Masse von Armen und sogar zum Aussterben des Proletariats durch Hunger und Krankheit hätte führen können. Es war die Anerkennung eines gemeinsamen Klasseninteresses, im Gegensatz zu dem der Bourgeoisie, das die eigentliche Grundlage für die ursprüngliche Klassenidentität des Proletariats war. Die „Organisation der Proletarier zur Klasse“, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, war also untrennbar mit dem Wachstum des Klassenbewusstseins und der Organisation verbunden: „und damit zur politischen Partei“, wie es weiter fährt. Die Arbeiterklasse ist nicht nur eine assoziierte Klasse „an sich“, nicht nur objektiv: Assoziation als Voraussetzung für eine höhere Form der sozialen Organisation entsteht erst, wenn die subjektive Dimension, die Selbstorganisation und Vereinigung der Klasse im Kampf gegen Ausbeutung, aus ihrer Stellung im kapitalistischen Gesellschaftsverhältnis heraus entsteht.
Aber das Proletariat bleibt die Klasse der Besitzlosigkeit, und das galt schließlich für seine Instrumente selbst, die es zu seiner eigenen Verteidigung geschaffen hatte. Die ersten Gewerkschaften und politischen Parteien, die eigentlich auf dem Verständnis beruhten, dass das Proletariat keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft war, und das Projekt der Aufhebung der bestehenden Ordnung verfolgten, waren auch an die Notwendigkeit gebunden, dass die Klasse ihr Los innerhalb des Systems verbessern musste. Und entgegen den ersten Erwartungen der Gründer des Marxismus war dieses System noch weit entfernt von einer „finalen Krise“ oder Periode des Niedergangs, so dass je länger und umfangreicher das Proletariat seine Organisationen innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Gesellschaft schmiedete, desto größerer wurde die Gefahr, dass diese Organisationen Teil der bürgerlichen Gesellschaft – institutionalisiert werden. Wie Engels es 1892 formulierte: „Die Trades Unions, vor kurzem noch als Teufelswerk verrufen, wurden jetzt von den Fabrikanten kajoliert und protegiert als äußerst wohlberechtigte Einrichtungen und als ein nützliches Mittel, gesunde ökonomische Lehren unter den Arbeitern zu verbreiten.“[4] Im Rückblick und nach bitterer historischer Erfahrung wissen wir, dass der Weg zur Revolution nicht über den schrittweisen Aufbau von Massenorganisationen der Arbeiter*innen innerhalb des Systems führt. Im Gegenteil, als die eigentliche Probe mit dem Beginn der Dekadenz bevorstand, wurden diese Organisationen, die durch die herrschende Gesellschaft und Ideologie langsam, aber sicher korrumpiert worden waren, von der herrschenden Klasse endgültig übernommen, um ihr bei der Führung ihrer imperialistischen Kriege und der Bekämpfung der Revolution zu helfen.
Dies war keineswegs ein linearer Prozess. Das Proletariat wurde ständig daran erinnert, dass es im Wesentlichen eine gesetzlose Klasse war – eine Kraft für die Revolution. Seine ersten Bemühungen, elementarste Vereinigungen zu seiner Verteidigung zu bilden, wurden von der Bourgeoisie schonungslos unterdrückt, die lange Zeit brauchte, um zu verstehen, dass sie die eigenen Organisationen der Arbeiter*innen gegen sie einsetzen konnte. Darüber hinaus drängten die politischen Bedingungen in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts das Proletariat in mindestens zwei wichtigen historischen Momenten zu offenen Aufständen gegen die herrschende Klasse: 1848 und 1871. In Frankreich, wo die Revolution nach der Erfahrung von 1789-93 bereits heimisch war, nahm die Arbeiterklasse die Waffen gegen den Staat in die Hand und stellte insbesondere 1871 konkret die Aufgabe seiner Zerstörung und der Ersetzung durch die Diktatur des Proletariats. Aber Klassenbewegungen, die auf eine revolutionäre Zukunft hindeuteten, waren nicht auf Frankreich beschränkt: In England, dem Land der „graduellen Veränderungen“, enthüllte die Streikbewegung von 1842 bereits die Konturen des Massenstreiks, der in einer späteren Epoche zur charakteristischen Kampfmethode werden sollte[5]. Die Chartistenbewegung selbst verstand ihre Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht als eine Forderung, dass die Arbeiterklasse die politische Macht in die eigenen Hände nehmen sollte, und ihre Methoden beschränkten sich nicht auf Petitionen an die Bourgeoisie: Sie führten auch zu einem Flügel der „physischen Gewalt“, der 1839 während des Aufstandes in Newport nicht zögerte, sich gegen das bestehende Regime zu bewaffnen[6]. Die Gründung der Ersten Internationale 1864, obwohl sie ihren Ursprung in der Notwendigkeit der internationalen Koordination von Abwehrkämpfen hatte, war ein weiterer Beleg dafür, dass die Arbeiterklasse mit den Fundamenten der bürgerlichen Gesellschaft zusammen stieß – dass eine wirklich selbstbewusste Klassenidentität nicht in den Rahmen des Nationalstaats gezwängt werden konnte.
Die Angst, die die Internationale und die Pariser Kommune in den Herzen der Bourgeoisie weckten, sowie die objektiven Bedingungen der kapitalistischen Expansion auf den ganzen Planeten in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten die Grundlage für die spätere Integration der Massenarbeiterorganisationen in die bürgerliche Gesellschaft und schließlich in den Staatsapparat selbst. Zu diesen Faktoren kommen die Verwirrungen und opportunistischen Zugeständnisse hinzu, die innerhalb der proletarischen Bewegung selbst entstanden sind, nicht zuletzt die Identifikation des Proletariats mit dem nationalen Interesse, die die Zweite Internationale mit ihrer föderalen Struktur und ihren Schwierigkeiten, die Entwicklung der nationalen Frage zu verstehen, nie überwinden konnte. Aber das Gefühl einer Klassenidentität, das während der langen Zeit der Sozialdemokratie entstand, einer Zeit, in der die organisierte Arbeiterbewegung einem großen Teil der Arbeiter*innen nicht nur Organe zur wirtschaftlichen Verteidigung und zur politischen Betätigung, sondern ein ganzes soziales und kulturelles Leben zur Verfügung stellte, verschwand keineswegs mit dem Anbruch der Epoche des kapitalistischen Niedergangs. Im Gegenteil, verwandelt in eine gegen das Proletariat gerichtete Mystifikation, lastete es „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ und wurde insbesondere von den sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien übernommen, um ihre Kontrolle über die Arbeiterklasse zu behalten: „Klassenidentität ist die Anerkennung durch das Proletariat, dass es eine eigenständige Klasse in der Gesellschaft darstellt, der Bourgeoisie gegenüber steht und eine aktive Rolle in der Gesellschaft spielt. Dies bedeutet jedoch nicht mechanisch, dass es sich selbst als die revolutionäre Klasse in der Gesellschaft erkennt. Viele Jahre lang stand die Klassenidentität im Zeichen der Vorstellung einer Klasse der kapitalistischen Gesellschaft, die einen angemessenen Lebensstandard anstrebte und Anerkennung als gesellschaftliche Kraft genoss.
Diese Art der Identität wurde durch die Konterrevolution und insbesondere durch die Gewerkschaften und den Stalinismus geschaffen, indem sie sich auf bestimmte Schwächen stützten, die auf die Zeit der Zweiten Internationale zurückgehen: ein Arbeiter, der sich um seine Rechte in der Gesellschaft kümmert, von ihr anerkannt wird, mit den Großunternehmen und Arbeitervierteln verbunden ist, stolz auf seinen Zustand als „Arbeiterbürger“ ist und zum Universum der großen Arbeiterfamilie gehört.
Eine solche Identität war sehr stark mit einer bestimmten Periode verbunden: der des Zenits des Kapitalismus (1870-1914), aber ihre Verlängerung in die Zeit der Dekadenz, in der die von Marx angekündigte Vision eines Proletariats, das zutiefst von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen ist, dazu geführt hat, dass sie zu einer sehr gefährlichen falschen Identität geworden ist, voller Illusionen darüber, in die kapitalistische Gesellschaft integriert zu werden, sich ihr anzupassen, wodurch eine wirkliche Klassenidentität und ein wirkliches Bewusstsein angegriffen wurden. Die einzige mögliche Identität für das Proletariat ist die einer Klasse, die von dieser Gesellschaft ausgeschlossen ist und die die kommunistische Perspektive in sich trägt“[7].
Ein Text über das Krafteverhältnis zwischen den Klassen, den unser internationales Zentralorgan im April 2018 angenommen hat und der sich auf den Orientierungstext über Vertrauen und Solidarität[8] bezog, skizzierte zwei Phasen in der Geschichte der Arbeiterbewegung seit 1848. Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung und der Verlust des Selbstbewusstseins der Arbeiterklasse, aber diese Frage ist sehr eng mit dem Problem der Klassenidentität verbunden: Die Arbeiterklasse kann nur dann Vertrauen in sich selbst haben, wenn sie sich ihrer eigenen Existenz und Interessen bewusst ist.
„Während der ersten Phase, die vom Beginn seiner Selbstbehauptung als autonome Klasse bis zur revolutionären Welle 1917–23 reichte, war die Arbeiterklasse trotz einer Reihe von oftmals blutigen Niederlagen in der Lage, mehr oder weniger kontinuierlich ihr Selbstvertrauen und ihre politische und gesellschaftliche Einheit zu formen. Die wichtigsten Manifestationen dieser Fähigkeit waren, in Ergänzung zum Arbeiterkampf selbst, die Entwicklung einer sozialistischen Vision, einer theoretischen Kapazität, einer politischen revolutionären Organisation. All dies, das Werk von Jahrzehnten und Generationen, wurde von der Konterrevolution unterbrochen und gar in sein Gegenteil verkehrt. Nur winzige revolutionäre Minderheiten waren imstande, ihr Vertrauen in das Proletariat in den folgenden Jahrzehnten aufrechtzuerhalten. 1968, mit dem Ende der Konterrevolution, begann sich diese Tendenz erneut umzukehren. Jedoch blieben die neuen Ausdrücke des Selbstvertrauens und der Klassensolidarität durch diese neue und ungeschlagene proletarische Generation in den immediatistischen Kämpfen verwurzelt. Sie beruhten nicht im gleichen Maße wie vor der Konterrevolution auf eine sozialistische Vision, auf die politische Erschaffung einer Klassentheorie und auf das Weiterreichen angesammelter Erfahrung und Kenntnisse von einer Generation an die nächste. Mit anderen Worten, das historische Selbstvertrauen des Proletariats und seine Traditionen der aktiven Einheit und kollektiven Auseinandersetzung gehören zu den Aspekten seiner Auseinandersetzung, die am meisten durch den Bruch in der organischen Kontinuität gelitten haben. Zudem gehören sie zu den schwierigsten Aspekten, die es wiederherzustellen gilt, da sie mehr als viele andere von einer lebenden politischen und sozialen Kontinuität abhängen. Dies erhöht umgekehrt die besondere Verwundbarkeit der neuen Generationen der Klasse und ihrer revolutionären Minderheiten.“
Wir können hinzufügen, dass der große Verrat von 1914-18 schon vor dem erschütternden Schlag der Niederlage der ersten revolutionären Welle den Verlust jahrzehntelanger geduldiger Arbeit beim Aufbau ihrer Gewerkschaften und politischen Parteien bedeutete, ein Verlust, der für die Arbeiterklasse besonders schwer zu akzeptieren und zu verstehen war: Selbst unter den Revolutionären, die sich diesem Verrat widersetzten, konnte nur eine Minderheit begreifen, dass diese Organisationen für die Klasse unwiederbringlich verloren gegangen waren. Mit dem Aufstieg des Stalinismus wurde das, was bislang bloß eine Schwäche in der Klarheit gewesen war, zur Grundlage für die Bildung einer Schein-Identität, wie es der Bericht über die Perspektiven des Klassenkampfs nachzeichnete. Aber obwohl diese schreckliche Last, die aus der Vergangenheit stammt, katastrophale Auswirkungen auf den Fortschritt der revolutionären Welle hatte – was insbesondere in der Theorie und der Praxis der Einheitsfront zum Ausdruck kam –, warf diese Periode auch Licht auf die neue Form der Klassenidentität, die sich im Massenstreik, in der Bildung von Arbeiterräten und im Aufstieg der Dritten Internationale ausdrückte. Wie Marx bereits gesagt hatte, ist das Proletariat revolutionär oder es ist nichts: Diese wiederentdeckte Klassenidentität war nicht wirklich „neu“, sondern brachte nur das zum Vorschein, „was das Proletariat ist“. In der Epoche der Kriege und Revolutionen kann die Klasse ihre Identität nur begreifen, indem sie sich außerhalb aller bestehenden Institutionen und in direkter Antithese zur kapitalistischen Gesellschaft organisiert.
Die folgenden Jahrzehnte der Konterrevolution vertieften diesen Prozess der Enteignung. In den 1930er Jahren wurde das Proletariat mit der größten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Kapitalismus konfrontiert, der ersten realen Wirtschaftskrise der Dekadenz. Aber die Kommunistischen Parteien, die gegründet worden waren, um dem Verrat von 1914 entgegenzuwirken, hatten ihrerseits den Internationalismus zugunsten der berüchtigten Theorie des Sozialismus in einem Land aufgegeben und versuchten über die Volksfront, die Arbeiterklasse politisch in die Nation aufzulösen und sie auf den Krieg vorzubereiten. Sogar die anarchistischen Gewerkschaften, die in Spanien ein proletarisches Leben aufrecht erhalten hatten, verfielen diesem weiteren Verrat. Der Ausbruch des Krieges 1939 bedeutete entgegen Vercesis Argument nicht das „soziale Verschwinden des Proletariats“ und damit die Nutzlosigkeit organisierter politischer Aktivitäten für Revolutionäre. Das Proletariat kann sozial nicht verschwinden, solange es Kapital gibt, und die Bildung revolutionärer Minderheiten entspricht einem ständigen Bedürfnis innerhalb der Klasse. Aber er bedeutete sicherlich einen neuen Schritt in ihrer Orientierungslosigkeit, nicht nur wegen des Terrors von Faschismus und Stalinismus, sondern, noch heimtückischer, durch ihre Einbindung in das Projekt der Verteidigung der Demokratie. Und es beinhaltete die schnelle Integration der trotzkistischen Opposition in die Kriegsanstrengungen und die Auflösung ihrer linken Fraktionen. Das Proletariat meldete sich gegen Ende des Krieges in einigen Ländern zurück, vor allem in Italien 1943, aber entgegen den Erwartungen eines großen Teils der italienischen kommunistischen Linken (einschließlich Vercesi) bedeutete dies keine Umkehrung des konterrevolutionären Kurses.
Die Konterrevolution, die immer totalitärere Formen annahm, hielt auch in der Zeit des Aufschwungs nach dem Krieg an, während das Kapital neue Formen entdeckte, um das Selbst-Bewusstsein des Proletariats zu untergraben. Dies war die Zeit, in der „Soziologen mit der Theoretisierung der ‚Verbürgerlichung‘ der Arbeiterklasse begannen, die sie als Folge der Entwicklung von Konsumgesellschaft und Wohlfahrtsstaat sahen. Und in der Tat bremsen diese beiden Aspekte des Kapitalismus nach 1945 immer noch die Arbeiterklasse auf ihrem Weg zur Bildung einer revolutionäre Kraft. Die Konsumgesellschaft atomisiert die Arbeiterklasse und verbreitet die Illusion, dass jede*r ins Paradies des individuellen Besitzes eintreten könne. Der Wohlfahrtsstaat – der in manchen Fällen von linken Parteien eingeführt und als Eroberung der Arbeiterklasse dargestellt wurde – ist ein noch bedeutenderes Instrument der kapitalistischen Kontrolle. Er untergräbt das Selbstvertrauen der Arbeiterklasse und macht sie abhängig vom Wohlwollen des Staates; und später, in der Phase der Massenmigration, bedeutete deren Organisierung durch den Nationalstaat, dass die Frage des Zugangs zu medizinischer Versorgung, zu Wohnungen und anderen Dienstleistungen zu einem starken Faktor bei der Stempelung der Migrant*innen zu Sündenböcken und bei Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse wurde.“[9]
Die Wiederbelebung des Klassenkampfes nach 1968, der mit dem Massenstreik in Polen 1980 seinen Höhepunkt erreichte, widerlegte die Vorstellung, wonach die Arbeiterklasse in den Kapitalismus integriert worden sei, und gab uns einen weiteren Einblick in ihre wesentliche Identität als einer Kraft, die sich nur durch die Zerschlagung ihrer institutionellen Ketten ausdrücken kann. Wildcat-Streiks außerhalb der Gewerkschaften, Generalversammlungen und jederzeit abwählbare Streikkomitees, starke Tendenzen zur Ausweitung des Kampfes – Embryonen oder tatsächliche Erscheinungsformen des Massenstreiks – riefen die Perspektive der Arbeiterräte wach. Gleichzeitig bildete sie den Nährboden für eine kleine, aber wichtige Wiederbelebung der internationalen kommunistischen Bewegung, die in den 1950er Jahren beinahe ganz verschwunden war – eine wesentliche Voraussetzung für die zukünftige Gründung einer neuen Weltpartei.
Und doch gilt, wie die oben zitierte Passage aus dem Orientierungstext über Vertrauen und Solidarität argumentiert: Während der Mai 68 und die nachfolgenden Bewegungen die Frage nach einer neuen Gesellschaft auf theoretischer Ebene aufwarfen, blieb der Klassenkampf als Ganzes auf dem wirtschaftlichen Terrain und es gelang ihm nicht, in eine politische Konfrontation mit dem Kapitalismus hinüberzuwachsen. Die Grenzen des proletarischen Wiedererwachens enthielten die Samen der neuen Phase des Zerfalls, in der das Proletariat nahe an den Punkt gekommen ist, wo es seine Klassenidentität ganz verliert.
Um zu verstehen, warum sich das Selbst-Bewusstsein des Proletariats als soziale Kraft seit Ende der 1980er Jahre zurückzieht, ist es notwendig, seine verschiedenen Dimensionen getrennt zu untersuchen, um zu begreifen, wie sie zusammenwirken.
Zunächst einmal neigt eine kapitalistische Gesellschaft, deren Voraussetzungen fragwürdig werden, eine Gesellschaft in offener Auflösung, eine Gesellschaft, die schon jahrzehntelang im Niedergang begriffen und in ihrer weiteren Entwicklung blockiert ist, mehr oder weniger automatisch dazu, die soziale Atomisierung zu verschärfen, die von Anfang an ein wesentliches Merkmal dieser Gesellschaft war, wie Engels in Die Lage der arbeitenden Klasse in England festhielt:
„(...) und wenn wir auch wissen, daß diese Isolierung des einzelnen, diese bornierte Selbstsucht überall das Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewußt auf als gerade hier in dem Gewühl der großen Stadt. Die Auflösung der Menschheit in Monaden, deren jede ein apartes Lebensprinzip und einen aparten Zweck hat, die Welt der Atome ist hier auf ihre höchste Spitze getrieben.“[10]
In der Endphase dieser Gesellschaft verschärft sich der Krieg eines jeden gegen jeden auf allen Ebenen: von der zunehmenden Entfremdung des Einzelnen über den gewaltsamen Konkurrenzkampf zwischen Straßenbanden, die auf der Ebene dieser oder jener Wohnsiedlung oder Nachbarschaft operieren, über den rasenden Kampf zwischen Unternehmen um ihren Anteil an einem begrenzten Markt bis hin zum wachsenden Chaos der militärischen Rivalitäten zwischen Staaten und Protostaaten auf internationaler Ebene. Diese Tendenz liegt auch der Suche nach Gemeinschaften zugrunde, die auf einer beschränkten Identität beruhen, auf die wir bereits hingewiesen haben – ein Reflex gegen die Atomisierung, der aber nur dazu dient, sie auf einer anderen Ebene zu verstärken. Diese Auflösung der sozialen Bindungen schreitet dauernd und heimtückisch fort – in umgekehrter Richtung zum Potenzial für die Vereinigung der Arbeiterklasse um ihre gemeinsamen Interessen, mit anderen Worten: zur Neubildung der proletarischen Klassenidentität.
Die Bourgeoisie ist natürlich direkt von diesem Prozess betroffen – wie wir in Bezug auf ihre Fähigkeit zur Kontrolle ihres politischen Apparats und in Bezug auf die wachsende Schwierigkeit, stabile Allianzen auf der Ebene der Beziehungen zwischen den Staaten aufrechtzuerhalten, festgestellt haben. Aber im Gegensatz zur Arbeiterklasse kann die Bourgeoisie die Auswirkungen des Zerfalls bis zu einem gewissen Grad zu ihrem Vorteil nutzen und sogar verstärken. Der Zusammenbruch des Ostblocks zum Beispiel war ein Paradebeispiel für die „objektiven“ Zerfallsprozesse, die durch eine sich vertiefende und unlösbare Wirtschaftskrise angetrieben wurden. Aber aufgrund der besonderen historischen Umstände, die mit der Bildung dieses Blocks verbunden waren – das Ergebnis einer besiegten proletarischen Revolution, die zu einem System führte, das sich vom Kapitalismus des Westens abzuheben schien –, gelang es der Bourgeoisie, aus diesen Ereignissen einen wahrhaften ideologischen Ansturm gegen das Proletariat zu orchestrieren, einen Angriff auf das Klassenbewusstsein, der seit den 90er Jahren eine wichtige Rolle beim Rückfluss des Kampfes spielte. In einer Arbeiterklasse, die bereits in den Kampfwellen nach 68 große Schwierigkeiten hatte, eine Perspektive für ihren Widerstand zu entwickeln, griffen die Kampagnen über den „Tod des Kommunismus“ diese wesentliche Dimension des Klassenbewusstseins frontal an: ihre Fähigkeit, perspektivisch zu denken und sich eine Orientierung für die Zukunft zu geben. Aber diese Kampagnen hörten damit nicht auf: Sie verkündeten nicht nur das Ende jeder Möglichkeit einer Alternative zum Kapitalismus, sondern auch das Ende des Klassenkampfes und der Arbeiterklasse selbst. Dabei war sich die Bourgeoisie selbst der Notwendigkeit bewusst, die Klassenidentität als Mittel zur Bekämpfung der Bedrohung durch die proletarische Revolution zu untergraben.
Eine dritte Dimension der Untergrabung der Klassenidentität in der Zeit des Zerfalls hängt damit zusammen: Das Beharren darauf, dass die Arbeiterklasse eine bedrohte oder ausgestorbene Art sei, wird durch die strukturellen Veränderungen gestützt, zu deren Einführung die herrschende Klasse als Reaktion auf die Wirtschaftskrise ihres Systems verpflichtet war – alles, was unter die irreführenden Titel Neoliberalismus und Globalisierung fällt, vor allem aber der Prozess der „Deindustrialisierung“ der alten kapitalistischen Zentren. Dieser Prozess wurde natürlich von der Notwendigkeit bestimmt, unrentable Industrien aufzugeben und Kapital in Gebiete der Welt zu verlagern, in denen die gleichen Waren viel billiger produziert werden können. Aber es gab immer ein direktes arbeiterfeindliches Element in diesem Prozess: Die Bourgeoisie war sich zum Beispiel bewusst, dass sie sich mit dem Sieg über die Bergleute in Großbritannien und der Schließung der Minen nicht nur von einem großen wirtschaftlichen Klotz am Fuß befreien, sondern auch einen schweren Schlag gegen einen sehr kämpferischen Teil ihres Klassenfeindes ausführen würde. Natürlich schaffte die Bourgeoisie durch die Verlagerung ganzer Industrien in den Fernen Osten und anderswo neue proletarische Bataillone im Klassenkrieg, aber sie hatte auch ein gewisse Ahnung davon, dass die industrielle Arbeiterklasse der wichtigsten kapitalistischen Zentren eine besondere Gefahr für sie darstellte. Die Arbeiterklasse beschränkt sich nicht allein auf das Industrieproletariat, aber dieser Sektor war schon immer das Herzstück der Arbeiterbewegung und insbesondere der massiven und revolutionären Kämpfe der Vergangenheit – was sich zum Beispiel in der Rolle der Putilow-Werke in der Russischen Revolution, der Arbeiter des Ruhrgebiets in der Deutschen Revolution, der Renault-Arbeiter im französischen Massenstreik von 1968 und der Werftarbeiter in Polen im Jahr 1980 zeigte.
Neben der Schließung vieler dieser alten Industrien hat der Kapitalismus versucht, ein neues Modell der Arbeiterklasse zu schaffen, insbesondere in den Dienstleistungsbranchen, die in den älteren kapitalistischen Ländern wie Großbritannien ein größeres Gewicht im Wirtschaftsleben erhielten. Dieses Modell ist die so genannte „Gig Economy“, in der die Arbeiter*innen aufgefordert werden, sich nicht als Arbeiter*innen zu verstehen, sondern als Einzelunternehmer*innen, die, wenn sie hart genug arbeiten, vorwärts kommen können, die mit dem Unternehmen individuell verhandeln können, um ihre Löhne und sonstigen Bedingungen zu verbessern. Auch diese Veränderungen werden letztendlich von den Bedürfnissen des Profits diktiert, aber sie werden auch von der Bourgeoisie aufgegriffen, um zu verhindern, dass sich die Arbeiter*innen als Arbeiter*innen und als Teil einer ausgebeuteten Klasse sehen.
Seit unserem letzten Kongress im April 2017 hat sich der populistische Aufschwung fortgesetzt, trotz der Bemühungen der maßgebenden Fraktionen der Bourgeoisie, einen Damm gegen ihn zu errichten, wie bei der Wahl von Macron in Frankreich und dem von der Demokratischen Partei und einem Teil der staatlichen Sicherheitsdienste in den USA organisierten „Widerstand“ gegen Trump. Die Zuverlässigkeit Deutschlands als Hindernis für die Ausbreitung des Populismus wurde durch die Wahlerfolge der AfD und die Entwicklung einer pogromistischen Bewegung auf der Straße an Orten wie Chemnitz stark geschwächt. Die Spaltung und Beinahe-Lähmung der britischen Bourgeoisie bezüglich Brexit haben sich verstärkt. Die Einsetzung einer populistischen Regierung in Italien zusammen mit der Opposition populistischer Regierungen in Osteuropa haben die Zukunft der EU ernsthaft erschwert. Die Bedrohung der Einheit des spanischen Staates durch die Kräfte des katalanischen und anderer Nationalismen ist nicht überwunden. In Brasilien ist der Sieg von Bolsanaro ein neuer Schritt im Aufstieg der „starken Führer“, die sich offen für Staatsterror gegen jede Opposition gegen ihre Herrschaft einsetzen. Schließlich zeigt das Phänomen der „Gelben Westen“ in Frankreich und anderswo die Fähigkeit der Populisten, sich nicht nur im Wahlzirkus, sondern auch auf den Straßen in großen Demonstrationen zu manifestieren, die einige der Anliegen und sogar die Methoden der Arbeiterklasse aufgreifen können, während sie gleichzeitig die Bedeutung der Klassenidentität weiter vernebeln.
Der Populismus mit seiner aggressiv nationalistischen und fremdenfeindlichen Sprache, seiner Geringschätzung für sachliche Beweise und wissenschaftliche Forschung, seiner Verbreitung von Verschwörungstheorien und seiner kaum verborgenen Nähe zur nackten Gewalt faschistischer Straßenbanden ist zweifellos ein reines Produkt des Zerfalls, der Hinweis darauf, dass die Kapitalistenklasse angesichts des historischen Patts zwischen den Klassen sogar nach ihren eigenen Begriffen Rückschritte macht. Aber während der Populismus ein Produkt des sozialen Zerfalls ist und dazu neigt, die Kontrolle der Bourgeoisie über ihren gesamten politischen und wirtschaftlichen Apparat zu untergraben, kann die herrschende Klasse auch hier die Probleme des Populismus in ihrem dauerndem Krieg gegen das Klassenbewusstsein nutzen.
Dies zeigt sich bei Teilen des Proletariats, die, ohne jede Perspektive auf Klassenwiderstand gegen den Kapitalismus und die Auswirkungen seiner Krise, direkt in die populistische Politik hineingezogen wurden und in eine neue Version des „Sozialismus der Narren“ verfallen sind: die Idee, dass ihr Elend durch die wachsende Flut von Migranten und Flüchtlingen verursacht werde, die wiederum die Schocktruppen finsterer Eliten seien, die darauf abzielten, die christliche, weiße oder nationale Kultur zu untergraben. Diese Wahnvorstellungen verbinden sich mit der bedingungslosen Unterstützung der populistischen Parteien und Demagogen, die sich als „gegen die Elite“ gerichtete Kräfte, als Tribüne des „wahren Volkes“ präsentieren. Der Einfluss solcher Ideen – die auch eine bedeutende Minderheit in Richtung der Praxis des Pogroms und des Terrorismus führen können – wirkt eindeutig dagegen, dass diese Teile des Proletariats ihre wahre Identität als Teil einer ausgebeuteten Klasse wiedererlangen, als Teil der Klasse, die nicht durch antinationale Intrigen ins Elend gedrängt wurde, sondern durch die unerbittlichen Auswirkungen der globalen kapitalistischen Krise.
Aber eingedenk Bordigas berühmten Diktums, dass „das schlimmste Produkt des Faschismus der Antifaschismus ist“, müssen wir auch darauf hinweisen, dass die bürgerliche Opposition gegen den Populismus eine nicht minder wichtige Rolle in dem ideologischen Schwindel spielt, der das Proletariat daran hindert, seine unabhängigen und antagonistischen Klasseninteressen gegen alle Flügel der herrschenden Klasse anzuerkennen. Luxemburg schrieb auf den ersten Seiten ihrer Junius-Broschüre über die Pogromstimmung, die sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Deutschland ausbreitete, eine „Kischinjow-Luft“, „in der der Schutzmann an der Ecke der einzige Vertreter der Menschenwürde war“.
In den USA wird das gleiche Erscheinungsbild durch die ungeheuren Äußerungen und Praktiken von Trump geschaffen, so dass die Demokraten, liberale Republikaner, Richter am Obersten Gerichtshof und sogar das FBI und die CIA beginnen, wie die Guten auszusehen. In Großbritannien stimuliert die scheinbare Dominanz des politischen Lebens durch eine kleine Bande von „Brexit-Extremisten“, die wiederum mit Geld zweifelhafter Herkunft und sogar mit den Machenschaften des russischen Imperialismus verbunden ist, die Entwicklung einer Massen-Opposition gegen den Brexit, die mit der offenen Ermutigung von Teilen der Medien bis zu 750.000 Menschen auf den Straßen von London mobilisieren kann, um ein zweites Referendum zu fordern. Obwohl solche Mobilisierungen oft als brave Mittelstandsbewegung verspottet werden, ziehen sie zweifellos eine große Zahl dieses gebildeten städtischen Proletariats an, das durch die Lügen der Populisten verärgert ist, sich aber noch nicht von den liberalen und linken Fraktionen der Bourgeoisie lösen kann.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die gesamte politische Debatte wird in der Regel durch die Fragen von für oder gegen Trump, für oder gegen den Brexit usw. dominiert, eine Debatte, die von patriotischen und demokratischen Ideologien völlig beherrscht wird. Die bürgerliche Opposition gegen Trump stellt sich als das wirkliche, eigentliche Amerika dar, noch mehr als Trump und seine Anhänger, und sie verurteilt die gegenwärtige Regierung vor allem wegen ihrer Verletzung demokratischer Normen; ebenso geht es im Vereinigten Königreich immer um die wahren Interessen „unseres Landes“, und beide Seiten präsentieren sich als diejenige, die an Demokratie und dem Willen des Volkes interessiert sei. Dieselbe Polarisierung lässt sich in den „Kulturkriegen“ beobachten, die den Aufstieg des Populismus vorangetrieben haben: Wie wir bereits erwähnt haben, ist der Populismus selbst eine Form der Identitätspolitik, die sich als Verteidiger der ausschließlichen Interessen dieser oder jener Nation oder ethnischen Gruppe versteht, und er führt einen sich aufschaukelnden Kampf mit allen anderen Formen der Identitätspolitik, sei es mit den islamistischen Banden, die dazu dienen, die Wut einer bestimmten Schicht von hoffnungslosen jungen Proletarier*innen, die in städtischen Ghettos festsitzen, in die Irre zu lenken, oder sei es mit der Linken und ihren Kampagnen zu Rassen- und Geschlechterfragen. Diese Polarisierung ist ein echter Ausdruck einer zerfallenden und zunehmend gespaltenen Gesellschaft, aber angesichts des Proletariats zeigt der dekadente Kapitalismus seinen totalitären Charakter, insofern als gerade diese Polarisierung das soziale und politische Terrain einnimmt und dazu neigt, die Entstehung von Debatten oder Aktionen auf dem Terrain des Proletariats zu blockieren.
Die kapitalistische Welt in ihrem Zerfall erzeugt zwangsläufig apokalyptische Stimmungen. Sie kann der Menschheit keine Zukunft bieten, und ihr Potenzial für die Zerstörung in einem Ausmaß, das jede Phantasie übertrifft, ist für weite Teile der Weltbevölkerung immer offensichtlicher geworden. Die extremste Ausprägung dieses Gefühls, dass die Welt, in der wir leben, an ihr Ende gelangt sei, , drückt sich in der verzerrten Mythologie des islamischen Dschihadismus oder der rechtsgerichteten christlichen Überlebensideologie aus, aber es geht dabei um eine viel allgemeinere Stimmung. Zunehmend beunruhigende Berichte von wissenschaftlichen Gremien über Klimawandel, Artenzerstörung und toxische Verschmutzung aller Art haben das Gefühl des Untergangs verstärkt: Wenn die Wissenschaftler sagen, dass wir 12 Jahre Zeit haben, um eine Umweltkatastrophe zu verhindern, dann ist bereits jetzt klar, dass die Regierungen und Unternehmen der Welt fast nichts tun werden, um die in diesen Berichten befürworteten Maßnahmen durchzuführen, aus Angst, den Wettbewerbsvorteil der Volkswirtschaften zu schwächen. Mit dem Aufkommen populistischer Regierungen wird die Weigerung, etwas gegen die Klimaerwärmung zu tun, trotz der realen Gefahren für die Welt immer krasser; man setzt auf reinen Vandalismus, den Rückzug aus internationalen Abkommen und die Beseitigung aller Grenzen der Ausbeutung der Natur, wie im Falle von Trump in den USA und Bolsanaro in Brasilien. Hinzu kommt, dass der imperialistische Krieg chaotischer und unberechenbarer wird, während eine wachsende Zahl von Staaten Zugang zu Atomwaffen hat; so ist es kaum verwunderlich, dass Nihilismus und Verzweiflung noch weiter verbreitet sind als in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, trotz der nicht verblichenen Schatten von Auschwitz, Hiroshima und eines drohenden Atomkriegs zwischen den beiden imperialistischen Blöcken.
Nihilismus und Verzweiflung entstehen aus einem Gefühl der Machtlosigkeit, aus einem Verlust der Überzeugung, dass es eine mögliche Alternative zu dem vom Kapitalismus vorbereiteten Alptraumszenario gibt. Nihilismus und Verzweiflung neigen dazu, die Reflexion und den Willen zum Handeln zu lähmen. Und wenn die einzige soziale Kraft, die diese Alternative darstellen könnte, praktisch nichts von ihrer eigenen Existenz weiß, bedeutet das, dass das Spiel vorbei ist, dass der Punkt, ab welchem es kein Zurück mehr gibt, bereits erreicht ist?
Wir sind uns durchaus bewusst, dass der Kapitalismus umso mehr die Grundlage für eine menschlichere Gesellschaft untergräbt, je länger er im Zerfall versinkt. Auch dies wird am deutlichsten durch die Zerstörung der Umwelt veranschaulicht, die den Punkt erreicht, an dem sie die Tendenz zu einem vollständigen Zusammenbruch der Gesellschaft beschleunigen kann, ein Sachverhalt, der nicht die Selbstorganisation und das Vertrauen in die Zukunft begünstigt, die für die Durchführung der Revolution erforderlich sind; und selbst wenn das Proletariat auf dem ganzen Planeten an die Macht kommt, wird es mit einer gigantischen Arbeit konfrontiert sein, die nicht nur das von der kapitalistischen Akkumulation hinterlassene Chaos aufräumt, sondern auch eine Spirale der Zerstörung umkehrt, die bereits in Gang gesetzt wurde.
Aber wir wissen ebenso, dass Verzweiflung die Realität auch verzerrt, einerseits Panik und andererseits Verdrängung erzeugt und es uns nicht erlaubt, klar über die Möglichkeiten nachzudenken, die uns noch zur Verfügung stehen. In einer Reihe jüngerer Dokumente, die den Kongressen der IKS und den Treffen des Zentralorgans vorgelegt wurden, hat die Organisation eine Reihe objektiver Entwicklungen untersucht, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden (oder besser gesagt sich fortgesetzt) haben und die sich für das Proletariat auszahlen könnten. Die wichtigsten dieser Entwicklungen sind:
Aber wir müssen bedenken, dass diese objektiven Faktoren, obwohl sie für die Wiederherstellung der Klassenidentität und des Klassenbewusstseins notwendig sind, an sich nicht ausreichend sind, und dass es andere Faktoren gibt, die der Realisierung des darin enthaltenen Potenzials entgegenwirken. So haben die neuen Generationen von Industriearbeitern im Osten oft ein hohes Maß an Militanz gezeigt (z.B. massive Streiks in der Textilindustrie in Bangladesch), aber es fehlen ihnen die langen politischen Traditionen des westlichen Proletariats, auch wenn diese weitgehend begraben wurden. Die Integration von Frauen in die Lohnarbeit war, wenn das Klassenbewusstsein gering ist, oft begleitet von einer Zunahme an Belästigungen. Und wir haben auch gesehen (sicherlich in den 1930er Jahren, aber auch bis zu einem gewissen Grad nach 2008), dass die Wirtschaftskrise unter bestimmten Umständen eher zu einem Faktor der Demoralisierung und der individuellen Atomisierung als der kollektiven Mobilisierung werden kann.
Die Arbeiterklasse ist die Klasse des Bewusstseins. Im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution basiert ihre Revolution nicht auf einer stetigen Anhäufung von Reichtum und wirtschaftlicher Macht. Es kann nur Erfahrung, die Tradition der Kämpfe, Organisationsmethoden und so weiter sammeln. Zusammenfassend ist das subjektive Element entscheidend, um ein objektives Potenzial zu begreifen und umzusetzen.
Dieses subjektive Potenzial kann nicht unmittelbar gemessen werden. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen existiert historisch, und wir können sagen, dass, auch wenn die Zeit nicht auf unserer Seite steht, und obwohl der Zerfall zu einer wachsenden Bedrohung wird und man bei der Arbeiterklasse gewaltige Unterschiede bei dem Bestreben der Überwindung des gegenwärtigen Rückflusses feststellen kann, sie weltweit seit 1968 nicht geschlagen worden ist und somit ein Hindernis gegen den vollständigen Absturz in die Barbarei bleibt; sie behält somit das Potenzial zur Überwindung des gesamten Systems. – Aber wir können dies nur dann weiter behaupten, wenn wir die unmittelbaren Ausdrucksformen der Rebellion gegen die soziale Ordnung sorgfältig prüfen. Und diese fehlen nicht:
Im Hinblick auf die offenen Kämpfe der Klasse werden wir uns zwei aktuelle Beispiele ansehen:
1. In Großbritannien haben wir in den letzten zwei Jahren kleine, aber bedeutende Streiks von Arbeiter*innen in der „Gig“-Ökonomie erlebt, wie in einem Artikel von Worldrevolution beschrieben:
Vor der Drohung mit einem neuen Vertrag, der den Wechsel ergäbe von einem Stundenlohn plus Bonus für jede Lieferung (7 Pfund plus 1 Pfund) zu bloß einem Lohn für jede Lieferung, organisierten die Arbeiter*innen von Deliveroo, trotz ihrer scheinbaren Isolation voneinander und ihrer prekären Umstände, Treffen, um ihren Kampf zu führen, eine Moped- und Fahrrad-Demo durch die Straßen von London und einen 6-tägigen Streik. Sie bestanden auf gemeinsamen Verhandlungen gegenüber dem „Angebot“ des Geschäftsführers, mit ihnen individuell zu sprechen. Am Ende wurde die Drohung, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren würden, wenn sie den neuen Vertrag nicht unterschreiben würden, zurückgezogen; und er wurde von denen, die sich dafür entscheiden, vor Gericht angefochten. Ein Teilsieg.
Einige UberEats-Fahrer*innen kamen zu Deliveroo-Meetings. Sie sehen sich ähnlichen Bedingungen gegenüber und erhalten fälschlicherweise den Status einer selbständigen Erwerbstätigkeit; die Bezahlung ist gesunken, so dass sie kaum den Mindestlohn verdienen, ohne garantierte Bezahlung, nur 3,30 Pfund pro Lieferung. Nach einem wilden Streik wurde ein Arbeiter entlassen (oder „deaktiviert“, da er nicht durch das Arbeitsrecht geschützt ist), was den Mut unterstreicht, den Arbeiter*innen brauchen, die in so unsicheren Branchen kämpfen…“[12].
In jüngerer Zeit, im Oktober 2018, streikten die Beschäftigten einer Reihe von Schnellimbissen in verschiedenen Städten im Vereinigten Königreich – Macdonalds, TGI Fridays und JD Witherspoon wie auch UberEats-Fahrer*innen, und die einen schlossen sich wechselseitig den Streikposten und Demonstrationen der anderen an. Wie der Artikel in Worldrevolution, der Zeitung der IKS in Großbritannien, sagt, basieren diese Aktionen auf der Erkenntnis, dass die Arbeiter*innen dieser Unternehmen tatsächlich Teil einer kollektiven gesellschaftlichen Klasse, und nicht einfach isolierte Individuen sind. Es war auch bedeutsam, dass an diesen Streiks neben den im Vereinigten Königreich Geborenen auch viele Migrations-Arbeiter*innen beteiligt waren, während einige der Aktionen mit Streiks in denselben Unternehmen in Europa koordiniert wurden. Gleichzeitig, so die BBC, „werden die Streiks parallel zu den Arbeitskämpfen der Fast-Food-Arbeiter in Chile, Kolumbien, den USA, Belgien, Italien, Deutschland, den Philippinen und Japan durchgeführt“[13].
Der Begriff des „Prekariats“, der auf diese Arbeiter*innen angewendet wird, impliziert, dass es sich um eine neue Klasse handelt, aber prekäre Beschäftigung war schon immer Teil der Lage der Arbeiterklasse. In gewisser Weise führen uns die Methoden der „Gig-Economy“, bei der die Arbeiter*innen oft sehr kurzfristig und zufällig beschäftigt werden, zurück zu den Tagen, in denen Bau- oder Hafenarbeiter als Tagelöhner in der Warteschlange zur Arbeitssuche anstanden.
Die Versuche von Arbeiter*innen aus verschiedenen Unternehmen und Ländern, zusammenzukommen, sind eine Bestätigung der Klassenidentität gegenüber dem zuvor erwähnten „neuen Modell“ und zeigen, dass kein Teil der Klasse, egal wie zerstreut und unterdrückt, unfähig ist, für seine Interessen zu kämpfen. Gleichzeitig hat die Tatsache, dass diese Arbeiter*innen von den traditionellen Gewerkschaften weitgehend ignoriert wurden, einen Raum für radikalere Formen der Gewerkschaftsarbeit eröffnet: In Großbritannien haben halbsyndikalistische Organisationen wie „die IWW“, die „Independent Workers Union of Great Britain“ und „United Voices of the World“ dies schnell ausgenutzt, um die Arbeiter*innen zu „organisieren“. Dies ist wohl unvermeidlich in einer Situation, in der es keine allgemeine Klassenbewegung gibt, aber der Einfluss dieser radikalen Gewerkschaften zeugt von der Notwendigkeit für die Bourgeoisie, einer echten Radikalisierung unter einer Minderheit von Arbeiter*innen zu begegnen.
2. Kämpfe gegen die Kriegswirtschaft im Nahen Osten: Die Streiks und Demonstrationen, die im Juli 2018 in vielen Teilen Jordaniens, des Irak und des Iran ausbrachen und in mehreren kürzlich auf unserer Webseite[14] veröffentlichten Artikeln beschrieben wurden, waren eine direkte Reaktion der Proletarier*innen der Region auf das Elend, das der Bevölkerung durch die Kriegswirtschaft zugefügt wurde. Die Forderungen der Proteste konzentrierten sich stark auf grundlegende wirtschaftliche Fragen: Wasserknappheit und Gesundheitsversorgung, Armutslöhne oder ausstehende Lohnzahlungen, Arbeitslosigkeit, was beweist, dass diese Bewegungen auf einem Klassenterrain begannen. Sie stellten auch eine Reihe politischer Forderungen, die dazu neigten, proletarische Interessen gegen die Interessen der herrschenden Klasse und ihrer Kriege voranzustellen: Im Iran zum Beispiel wurden sowohl „fundamentalistische“ als auch „Reform“-Fraktionen der Theokratie in einen Topf geworfen und die imperialen Ansprüche des iranischen Regimes häufig verspottet; im Irak riefen Demonstranten, dass sie weder Sunniten noch Schiiten seien; und „nicht nur Regierungs- und Kommunalgebäude waren das Ziel von Angriffen der Demonstrationen, sondern auch die schiitischen Institutionen, deren „Unterstützung“ für die Welle der Proteste als scheinheilig entlarvt wurde. Die Delegation des „radikalen“ Populisten al-Sadr zu den Demonstrierenden wurde angegriffen und davongejagt – das zeigten Filme in den Sozialen Medien“[15].
Noch wichtiger ist, dass es im Herbst 2018 eine Reihe von sehr kämpferischen Arbeiterstreiks in der iranischen Industrie gab, mit einigen klaren Ausdrucksformen der Solidarität zwischen den Arbeiter*innen verschiedener Unternehmen, wie im Falle der Stahlarbeiter*innen von Foolad und der Zuckerarbeiter*innen von HaftTappeh. Letzterer Kampf wurde auch international bekannt durch die Abhaltung von Vollversammlungen und Äußerungen eines wichtigen Streikführers, Ismail Bakhshi, über ihren Streikausschuss als einer Art embryonalen Sowjets oder Arbeiterrates. Dies griffen verschiedene Leuten des Milieus auf, die damit suggerierten, dass Arbeiterräte im Iran auf der unmittelbaren Tagesordnung stünden, was unserer Meinung nach bei weitem nicht der Fall ist. Andere Aussagen von Bakhshi zeigen, dass es selbst bei den fortgeschritteneren Arbeiter*innen ernsthafte Verwirrung über die Selbstverwaltung gibt[16]. Es ist auch so, dass einige der Parolen in den früheren Straßenprotesten einen nationalistischen und sogar monarchistischen Charakter hatten. Trotz dieser tiefgreifenden Schwächen sind wir nach wie vor der Meinung, dass diese Kampfwelle im Iran ein wichtiger Ausdruck des intakten Potenzials des Klassenkampfes war. Da der Krieg zu einer ständig gegenwärtigen Realität für wachsende Teile der Klasse wird, erinnern diese Bewegungen nicht nur an den absoluten Antagonismus zwischen dem Proletariat und dem imperialistischen Krieg, sondern auch an ein embryonales Bewusstsein für diesen Antagonismus, das sich sowohl in einigen der formulierten Parolen als auch in der internationalen Gleichzeitigkeit dieser Aufwallungen im Iran, im Irak und in Jordanien ausdrückt.
Diese Beispiele werden nicht als Beweis für eine globale Wiederbelebung des Klassenkampfes oder gar des Endes seines Rückzugs präsentiert, was ohnehin das Entstehen wichtiger Klassenbewegungen in den zentralen Ländern des Systems erfordern würde. In diesen Ländern ist die soziale Situation noch stärker durch das Fehlen großer Kämpfe auf dem proletarischen Terrain gekennzeichnet. Und doch haben wir eine Reihe von Protesten erlebt, die eine wachsende Empörung über die Brutalität und Zerstörungskraft der kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Insbesondere in den USA haben wir die direkten Aktionen an den Flughäfen gegen die Inhaftierung und Vertreibung von Reisenden aus muslimischen Ländern gesehen; riesige Demonstrationen nach Polizeischüssen auf junge Schwarze in einer Reihe von Städten: Charlotte, St. Louis, New York, Sacramento ... und die massive Mobilisierung junger Menschen nach den Schießerei an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland, Florida. Der Klimawandel und die Zerstörung der Umwelt sind auch ein Grund für Proteste, insbesondere die in vielen Ländern unter dem Dach von „Youth for Climate“ organisierten Schulstreiks oder die Proteste von Extinction Rebellion in London, gegen die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten. Ebenso wurde die Empörung über die herablassende und gewalttätige Behandlung von Frauen - nicht nur in „rückständigen“ Ländern wie Indien, sondern auch in den so genannten „liberalen Demokratien“ - auch auf der Straße ausgedrückt und nicht auf Internetforen beschränkt.
Angesichts des allgemeinen Verlustes der Klassenidentität kann man kaum verhindern, dass solche Proteste in die Fallen der Bourgeoisie tappen – in Mystifikationen über Identitätspolitik und Reformismus, und somit direkt von linken und demokratischen bürgerlichen Fraktionen manipuliert werden. Das Phänomen der Gelbwesten zeigt auch die Gefahr, dass sich die Klasse weiter in interklassistischen Bewegungen verliert, die von der Ideologie des Populismus und Nationalismus dominiert werden.
Nur durch die Wiedererlangung des Selbstbewusstseins als Klasse, durch die Entwicklung des Kampfes auf dem eigenen Terrain, können all die Energie und der legitime Zorn, die heute in sterile oder schädliche Richtungen gelenkt werden, morgen vom Proletariat „wiederhergestellt“ werden. Dass dies mehr als ein vager Wunsch ist, zeigt die Dynamik der Indignados-Bewegung im Jahr 2011. Motiviert durch „klassische“ Themen der Arbeiterklasse – Arbeitslosigkeit, Arbeitsplatzunsicherheit, die Auswirkungen des Crashs 2008 auf den Lebensstandard – war sie eine Bewegung, die auch Fragen nach der Zukunft der Menschheit in einem System aufwarf, das viele ihrer Teilnehmer*innen als „veraltet“ betrachteten. In der Folge organisierten sie alle möglichen Diskussionen über Moral, Wissenschaft, Umwelt, Fragen von Sex und Geschlecht usw. – in diesem Sinne wurde der Geist vom Mai 68 wieder belebt, indem sie die Frage nach einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft stellten. Dies war Ausdruck einer proletarischen Bewegung, die zu verstehen begonnen hatte, dass sie sowohl die Antwort auf „besondere Fehler“ als auch diejenige auf den „Fehler im Allgemeinen“ enthält. Es zeigte sich, dass sich der Klassenkampf nicht nur auf weitere Sektoren der kapitalistischen Wirtschaft, sondern auch auf die Bereiche Politik und Kultur erstrecken muss.
Dennoch bleibt das Problem bestehen, dass, auch wenn die Indignados im Wesentlichen eine Bewegung des Proletariats waren, größtenteils zusammengesetzt aus Erwerbstätigen, prekär Beschäftigten, Arbeitslosen, Studierenden und Gymnasiast*innen, sich die Mehrheit ihrer Protagonist*innen vor allem als Bürger*innen sah und daher besonders anfällig für die Ideologie von „Echte Demokratie jetzt“ und anderen Linken war, die versuchten, die Bewegung in ein reformiertes parlamentarisches Regime zu integrieren. Es gab natürlich einen beträchtlichen proletarischen Flügel der Bewegung (im politischen und nicht im soziologischen Sinne), der die Dinge anders sah, aber diese Leute blieben eine Minderheit und scheinen eine noch viel kleinere Minderheit von Leuten hervorgebracht zu haben, die sich in Richtung revolutionärer Politik bewegt haben. Das „Identitätsproblem“ der Indignados-Bewegung wurde 2017 weiter betont, als so viele derjenigen, die wirklich empört über die Zukunft des Kapitalismus waren, in den Betrug des Nationalismus, insbesondere seiner katalanischen Version, verfallen sind.
Eine der größten Schwächen der Bewegung war ihre mangelnde Verbindung zwischen der Bewegung auf den Straßen und Plätzen und den Kämpfen am Arbeitsplatz, und diese Lücke ist etwas, das zukünftige Kämpfe überwinden müssen. Wir haben in den jüngsten Bewegungen im Nahen Osten und vielleicht noch deutlicher bei den Streiks der Metallarbeiter in Vigo im Jahr 2006 einen Blick darauf geworfen. Denn so, wie die Gewinnung der Straße für die Zusammenführung von Arbeiter*innen aus verschiedenen Sektoren wie auch mit Arbeitslosen unerlässlich ist, so ist die Bewegung an den Arbeitsplätzen der Schlüssel, um alle Menschen auf der Straße daran zu erinnern, dass sie Teil einer Klasse sind, die ihre Arbeitskraft an das Kapital verkaufen muss.
Diese Verbindung wird auch bei der Lösung der Aufgabe, vereinigenden Organisationen in den künftigen Massenbewegungen zu finden, – bei der Frage der Arbeiterräte – von Bedeutung sein. In früheren revolutionären Bewegungen entstanden die Arbeiterräte spontan aus der Zentralisierung der Vollversammlungen in den großen Industrieeinheiten. Dies wird zweifellos ein wichtiger Faktor in Regionen bleiben, in denen solche Einheiten noch bestehen (z.B. in Deutschland) oder in der letzten Zeit entwickelt worden sind (China, indischer Subkontinent, etc.). Aber angesichts der Bedeutung der alten Zentren des Klassenkampfes, vor allem Europas, die einem langen Prozess der Deindustrialisierung unterworfen gewesen sind, ist es möglich, dass Räte aus einem Zusammenschluss von Versammlungen, die an zentralen Arbeitsplätzen wie Krankenhäusern, Universitäten, Lagern usw. abgehalten werden, und Massentreffen hervorgehen, die auf Straßen und Plätzen abgehalten werden, wo Arbeiter*innen aus verstreuten Arbeitsplätzen, Arbeitslose und prekär Beschäftigte ihre Kämpfe vereinigen können.
Die Tatsache, dass große Teile der Bevölkerung durch die kombinierten Auswirkungen der Krise und die Veränderungen in der „Zusammensetzung“ der Arbeiterklasse proletarisiert wurden, bedeutet, dass Versammlungen, die auf territorialen und nicht auf industriellen Einheiten beruhen, einen proletarischen Charakter behalten werden, auch wenn die Gefahr des Einflusses kleinbürgerlicher und anderer Schichten in solchen Organisationsformen offensichtlich besteht. Solche Dilemmata führen uns zur Frage der Autonomie der Klasse und ihres Verhältnisses zum Übergangsstaat in der Revolution der Zukunft, denn die Arbeiterklasse, die ihre Identität als revolutionäre soziale Kraft wiederentdeckt hat, wird diese Identität als Autonomie während der Übergangszeit politisch und organisatorisch bewahren müssen, bis alle Proletarier*innen geworden sind und somit keine*r mehr Proletarier*in ist.
Es ist auch wahrscheinlich, dass diese neu gefundene revolutionäre Identität in Zukunft eine direktere politische Form annehmen wird: Mit anderen Worten, dass sich die Klasse durch ein wachsendes Festhalten an der kommunistischen Perspektive definieren wird, nicht zuletzt, weil die Tiefe der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise die Illusionen in eine mögliche „Rückkehr zur Normalität“ des im Zerfall befindlichen Kapitalismus aufgelöst haben wird. Wir sahen einen Hinweis darauf beim Erscheinen des proletarischen Flügels in der Indignados-Bewegung: Sein proletarischer Charakter basierte nicht so sehr auf seiner soziologischen Zusammensetzung, sondern auf seinem Kampf zur Verteidigung der Autonomie der Versammlungen und einer allgemeinen Perspektive der sozialen Transformation gegenüber den verschiedenen linken Trittbrettfahrern. Die Partei der Zukunft könnte durch das Zusammenspiel solcher großen proletarischen Minderheiten mit den kommunistischen politischen Organisationen entstehen. Natürlich bedeutet die Zerbrechlichkeit des bestehenden Milieus der Kommunistischen Linken, dass es keine Garantie dafür gibt, dass das Rendezvous stattfindet. Aber wir können sagen, dass das Auftauchen neuer Elemente, die sich heute in Richtung der Kommunistischen Linken bewegen – einige von ihnen sind sehr jung – ein Zeichen dafür ist, dass der Prozess der unterirdischen Reifung eine Realität ist und dass er trotz der sehr offensichtlichen Schwierigkeiten des Klassenkampfes weitergeht. Auch wenn wir verstehen, dass die Partei der Zukunft keineswegs eine Massenorganisation sein wird, die die Klasse als Ganzes umfassen will, bringt diese Dimension der Politisierung des Kampfes das zum Vorschein, was im klassischen marxistischen Wort zusammengefasst ist: „Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei“.
(28.12.18)
[1] https://de.internationalism.org/content/2834/die-bewegung-der-gelbwesten-ein-volksaufstand-ohne-perspektive [18]
[2] Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung
[4] Vorwort zur englischen Ausgabe (von 1892) zu Die Lage der arbeitenden Klasse in England
[6] Dieser Bewegung war der Aufstand der Merthyr im Jahre 1831 vorausgegangen, der, so könnte man argumentieren, besser organisiert und erfolgreicher war, auch wenn die Arbeiter*innen nur in einer Stadt und nur für einen kurzen Moment die Macht übernehmen konnten. Er war auch der erste dokumentierte Moment, in dem die Arbeiter unter der roten Flagge marschierten.
[7] Aus einem Bericht über die Perspektiven des Klassenkampfes, Dezember 2015
[8] Internationale Revue Nr. 31, 2003, Orientierungstext: Das Vertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats; /content/615/orientierungstext-das-vertrauen-und-die-solidaritaet-im-kampf-des-proletariats-1-teil [21]
[9] Resolution zum Klassenkampf, 22. IKS-Kongress
[10] Aus dem Kapitel „Die großen Städte“.
[11]Siehe zum Beispiel Paul Masons Buch, Postkapitalismus, Grundrisse einer kommenden Ökonomie, und seine Kritik durch die Communist Workers‘ Organisation (CWO).
[12] Deliveroo, Uber Eats: Struggle by precarious and immigrant workers (https://en.internationalism.org/icconline/201610/14136/deliveroo-ubereats-struggles-precarious-and-immigrant-workers [22], 2016)
1) Vor dreißig Jahren betonte die IKS die Tatsache, dass das kapitalistische System in die letzte Phase seiner Dekadenzzeit, die seines Zerfalls eingetreten war. Diese Analyse basierte auf einer Reihe von empirischen Fakten, bot aber gleichzeitig einen Rahmen für das Verständnis dieser Fakten: „Doch die Geschichte bleibt in solch einer Situation, in der die beiden fundamentalen - und antagonistischen - Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne ihre eigene Antwort durchsetzen zu können, nicht stehen. Noch weniger als in den anderen vorhergehenden Produktionsweisen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein ‘Einfrieren’ des gesellschaftlichen Lebens möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich noch weiter zuspitzen, führen die Unfähigkeit der Bourgeoisie, der gesamten Gesellschaft irgendeine Perspektive anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, die seinige offen zu behaupten, zum Phänomen des allgemeinen Zerfalls, zur Fäulnis der Gesellschaft bei lebendigem Leib.“ (Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Mai 1990, auch Thesen über den Zerfall genannt, Punkt 4, Internationale Revue Nr. 13)
Unsere Analyse hat die beiden Bedeutungen des Begriffs „Zerfall“ sorgfältig geklärt; einerseits gilt er für ein Phänomen, das die Gesellschaft betrifft, insbesondere in der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus, und andererseits bezeichnet er eine bestimmte historische Phase dieser Phase, ihre Endphase: „.... so ist es auch unverzichtbar, den grundlegenden Unterschied zwischen den Zerfallselementen, die den Kapitalismus seit Anfang des Jahrhunderts erfaßt haben, und dem allgemeinen Zerfall herauszustellen, in den dieses System gegenwärtig versinkt und der sich noch verschlimmern wird. Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.“ (a.a.O., Punkt 2)
Vor allem dieser letzte Punkt, die Tatsache, dass der Zerfall tendenziell zum entscheidenden Faktor für die Entwicklung der Gesellschaft und damit aller Komponenten der Weltsituation wird – eine Idee, die von den anderen Gruppen der Kommunistischen Linken keineswegs geteilt wird –, bildet den Schwerpunkt dieser Resolution.
2) Die Thesen über den Zerfall vom Mai 1990 heben eine ganze Reihe von Merkmalen in der Entwicklung der Gesellschaft hervor, die sich aus dem Eintritt des Kapitalismus in diese letzte Phase seiner Existenz ergeben. Der vom 22. Kongress angenommene Bericht stellte fest, dass sich all diese Merkmale verschlechtern, wie z.B.:
Der gleiche Bericht des 22. Kongresses des IKS betonte auch die Bestätigung und Verschärfung der politischen und ideologischen Erscheinungsformen des Zerfalls, die wir 1990 festgestellt hatten:
„- die unglaubliche Korruption, die im politischen Apparat wächst und gedeiht, (...);
Der Bericht des 22. Kongresses konzentrierte sich insbesondere auf die Entwicklung eines Phänomens, das bereits 1990 festgestellt wurde (und das eine wichtige Rolle im Bewusstsein der IKS über den Eintritt des dekadenten Kapitalismus in die Zerfallsphase gespielt hatte): die Benutzung des Terrorismus in imperialistischen Konflikten. Der Bericht stellte fest, dass: „Die quantitative und qualitative Zunahme des Stellenwerts des Terrorismus hat mit dem Angriff auf die Zwillingstürme (...) einen entscheidenden Schritt getan (...). Dies wurde anschließend mit den Anschlägen in Madrid 2004 und London 2005 (....), der Gründung von Daesh 2013-14 (...), den Angriffen in Frankreich 2015-16, Belgien und Deutschland 2016 bestätigt“. Der Bericht stellte auch fest, dass im Zusammenhang mit diesen Angriffen und als charakteristischer Ausdruck des Zerfalls der Gesellschaft die Ausbreitung des radikalen Islamismus, der ursprünglich von der Schiiten inspiriert war (mit der Errichtung des Mullah-Regimes im Iran im Jahr 1979), aber im Wesentlichen das Ergebnis war der sunnitischen Bewegung ab 1996 mit der Ausbreitung und Festsetzung der Taliban in Kabul und, noch mehr, nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Irak durch amerikanische Truppen.
3) Zusätzlich zur Bestätigung der bereits in den Thesen von 1990 festgestellten Tendenzen stellte der vom 22. Kongress angenommene Bericht fest, dass zwei neue Phänomene aufgetreten waren, die sich aus dem anhaltenden Zerfall ergeben hatten und eine wichtige Rolle im politischen Leben vieler Länder spielen sollten:
Massive Bevölkerungswanderungen sind kein für die Phase des Zerfalls spezifisches Phänomen. Sie erhalten nun jedoch eine Dimension, die sie zu einem singulären Element dieses Zerfalls machen, sowohl in Bezug auf ihre aktuellen Ursachen (insbesondere das Chaos des Krieges, das in den Herkunftsländern herrscht) als auch auf ihre politischen Folgen in den Zielländern. Insbesondere die massive Ankunft von Flüchtlingen in Europa war eine wichtige Grundlage für die populistische Welle, die sich in Europa entfaltete, obwohl diese Welle schon lange vorher zu steigen begann (vor allem in einem Land wie Frankreich mit dem Aufstieg des Front National).
4) Tatsächlich haben populistische Parteien in Europa in den letzten zwanzig Jahren mittlerweile dreimal mehr Stimmen erhalten (ihr Anteil stieg von 7% auf 25%), wobei die Zahl nach der Finanzkrise 2008 und der Flüchtlingskrise 2015 stark gestiegen ist. In etwa zehn Ländern nehmen diese Parteien an der Regierung oder einer Mehrheit im Parlament teil: Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Bulgarien, Österreich, Dänemark, Norwegen, Schweiz und Italien. Auch dort, wo populistische Gruppen nicht an der Regierung beteiligt sind, haben sie einen erheblichen Einfluss auf das politische Leben der Bourgeoisie. Wir zitieren drei Beispiele:
Ob die populistischen Strömungen in der Regierung sind oder einfach nur das klassische politische Spiel stören, sie entsprechen weder einer rationalen Option für die Verwaltung des nationalen Kapitals noch einer bewussten Karte der maßgebenden Teile der bürgerlichen Klasse, die, insbesondere durch ihre Medien, diese Strömungen ständig anprangern. Was der Aufstieg des Populismus tatsächlich ausdrückt, ist die Verschlimmerung eines Phänomens, das bereits in den Thesen von 1990 angekündigt wurde: „Unter den Hauptkennzeichen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft muß man die zunehmenden Schwierigkeiten der Bourgeoisie hervorheben, die Entwicklung der Lage auf politischer Ebene zu kontrollieren.“ (Punkt 9) Ein Phänomen, das im Bericht des 22. Kongresses deutlich erwähnt wird: „Was in der gegenwärtigen Situation betont werden muss, ist die volle Bestätigung dieses Aspekts, den wir vor 25 Jahren identifiziert haben: der Trend zu einem wachsenden Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihren politischen Apparat.“
Der Aufstieg des Populismus ist unter den gegenwärtigen Umständen Ausdruck des zunehmenden Kontrollverlustes der Bourgeoisie über das Funktionieren der Gesellschaft, der sich im Wesentlichen daraus ergibt, was im Kern ihres Zerfalls liegt, der Unfähigkeit der beiden grundlegenden Klassen der Gesellschaft, eine Antwort auf die unlösbare Krise zu geben, in die die kapitalistische Wirtschaft versinkt. Mit anderen Worten, der Zerfall ist im Wesentlichen das Ergebnis der Ohnmacht der herrschenden Klasse, einer Ohnmacht, die in ihrer Unfähigkeit verwurzelt ist, diese Krise in der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden, und die zunehmend dazu neigt, ihren politischen Apparat zu beeinflussen.
Zu den aktuellen Ursachen der populistischen Welle gehören die Hauptmanifestationen des sozialen Zerfalls: der Anstieg von Verzweiflung, Nihilismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, verbunden mit einer wachsenden Ablehnung der „Eliten“ (die „Reichen“, Politiker, Technokraten) und in einer Situation, in der die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, selbst auf embryonale Weise eine Alternative anzubieten. Es ist natürlich möglich, dass der Populismus in Zukunft seinen Einfluss verliert, entweder weil er selbst seine eigene Machtlosigkeit und Korruption bewiest oder weil ein Wiedererstarken der Arbeiterkämpfe ihm den Boden unter den Füßen wegzieht. Andererseits kann sie in keiner Weise die historische Tendenz der Gesellschaft, im Zerfall zu versinken, oder die verschiedenen Erscheinungsformen davon in Frage stellen, einschließlich des zunehmenden Kontrollverlustes der Bourgeoisie über ihr politisches Spiel. Und das hat nicht nur Auswirkungen auf die Innenpolitik jedes Staates, sondern auch auf alle Beziehungen zwischen Staaten und die imperialistischen Konfigurationen.
5) 1989-90 analysierten wir angesichts des Auseinanderbrechens des Ostblocks dieses in der Geschichte beispiellose Phänomen des Zusammenbruchs eines ganzen imperialistischen Blocks ohne einen generalisierten Konflikt als erste große Verdeutlichung der Phase des Zerfalls. Gleichzeitig untersuchten wir die neue Weltkonstellation, die sich aus diesem historischen Ereignis ergab:
„Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen wichtigsten ‚Partnern‘ von einst öffnet Tür und Tor für eine ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn das Proletariat nicht in der Lage wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen). (...) Bislang hat im Zeitalter der Dekadenz solch eine Situation der ‚Verzettelung‘ der imperialistischen Antagonismen in Abwesenheit von Blöcken (oder von Schlüsselregionen), die die Welt unter sich aufgeteilt haben, nie lange angedauert. Das Verschwinden der imperialistischen Konstellation, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war, trug die Tendenz zur Bildung zweier neuer Blöcke in sich. Heute steht dies jedoch noch nicht auf der Tagesordnung“, denn „die Tendenz zur Aufteilung der Welt zwischen zwei neuen Blöcken (wird) durch das sich immer mehr zuspitzende und ausdehnende Phänomen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft konterkariert oder gar irreparabel geschädigt, wie wir bereits hervorgehoben haben. (...)
Vor einem solchen Hintergrund, dem Kontrollverlust der Weltbourgeoisie über die Lage, läßt sich nicht beurteilen, ob die dominanten Teile unter ihr heute in der Lage sind, die notwendige Organisierung und Disziplinierung für die Neubildung von militärischen Blöcken umzusetzen.“ (Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – Destabilisierung und Chaos, Internationale Revue Nr. 12)
So stellte 1989 einen grundsätzlichen Wechsel in der allgemeinen Dynamik der kapitalistischen Gesellschaft dar:
6) In dem Paradigma, das den größten Teil des 20. Jahrhunderts beherrschte, definierte der Begriff des „Historischen Kurses“ das Ergebnis einer historischen Entwicklung: entweder Weltkrieg oder Klassenkämpfe, und sobald das Proletariat eine entscheidende Niederlage erlitten hatte (wie am Vorabend von 1914 oder nach der revolutionären Welle von 1917-23), wurde der Weltkrieg unvermeidlich. Im Paradigma, das die gegenwärtige Situation definiert (solange sich nicht zwei neue imperialistische Blöcke herausbilden, was möglicherweise nie mehr geschehen wird), ist es möglich, dass das Proletariat eine so tiefe Niederlage erleidet, die endgültig ein Wiedererstarken verhindert, aber es ist durchaus auch möglich, dass das Proletariat eine tiefe Niederlage erleidet, ohne dass dies eine entscheidende Konsequenz für die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft hat. Deshalb ist der Begriff des „Historischen Kurses“ nicht mehr geeignet, die Situation der gegenwärtigen Welt und das Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu definieren.
In gewisser Weise ähnelt die aktuelle historische Lage der des 19. Jahrhunderts. Denn zu jener Zeit:
- bedeutete eine Zunahme der Arbeiterkämpfe nicht die Aussicht auf eine Revolution – in einer Epoche, in der die proletarische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand; ebenso wenig konnte sie verhindern, dass ein großer Krieg ausbrach (z.B. der Krieg zwischen Frankreich und Preußen 1870, als die Macht des Proletariats mit der Entwicklung der IAA anstieg);
Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass der Begriff des „Historischen Kurses“, wie er von der Italienischen Fraktion in den 1930er Jahren und von der IKS zwischen 1968 und 1989 verwendet wurde, durchaus gültig war und den grundlegenden Rahmen für das Verständnis der Weltlage bildete. Die Tatsache, dass unsere Organisation seit 1989 die neuen, noch nie aufgetretenen Tatsachen dieser Situation berücksichtigen musste, kann keineswegs als Infragestellung unseres Analyserahmen bis zum damaligen Zeitpunkt interpretiert werden.
7) Bereits 1990, zur gleichen Zeit, als wir das Verschwinden der imperialistischen Blöcke sahen, die den „Kalten Krieg“ beherrscht hatten, betonten wir, dass sich die militärischen Auseinandersetzungen fortsetzen und sogar verschärfen würden:
„Im Zeitalter der Dekadenz des Kapitalismus sind ALLE Staaten imperialistisch und treffen ihre Vorkehrungen, um sich dieser Realität anzupassen: Kriegswirtschaft, Aufrüstung usw. Daher werden die zunehmenden Erschütterungen der Weltwirtschaft die Zwietracht zwischen den verschiedenen Staaten schüren, einschließlich und zunehmend auf der militärischen Ebene. (...) Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (...). Hingegen werden diese Konflikte aufgrund des Wegfalls der vom Block auferzwungenen Disziplin viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere natürlich in den Regionen, wo das Proletariat am schwächsten ist.“ (Internationale Revue Nr. 12, Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – Destabilisierung und Chaos).
Keineswegs „impliziert das gegenwärtige Verschwinden der Blöcke eine Verringerung oder gar Infragestellung des beherrschenden Einflusses des Imperialismus auf die Gesellschaft. Der fundamentale Unterschied liegt in der Tatsache, daß, wenn das Ende des Stalinismus der Eliminierung einer besonders absurden Form des Staatskapitalismus gleich kam, das Ende der Blöcke die Tür zu einer noch barbarischeren, absurderen, chaotischeren Form des Imperialismus öffnet.“ (Internationale Revue Nr. 13, Militarismus und Zerfall)
Seitdem hat die globale Situation diese Tendenz zu einem sich verschlimmernden Chaos, wie wir vor einem Jahr beobachtet haben, nur noch bestätigt:
„Die Entwicklung des Zerfalls hat zu einer blutigen und chaotischen Entfesselung von Imperialismus und Militarismus geführt. Die Explosion der Tendenz eines jeden für sich selbst hat zum Aufstieg der imperialistischen Ambitionen der Mächte der zweiten und dritten Ebene sowie zur zunehmenden Schwächung der dominanten Stellung der USA in der Welt geführt. Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch imperialistische Spannungen und ein immer weniger kontrollierbares Chaos, vor allem aber durch seinen höchst irrationalen und unberechenbaren Charakter, der mit den Auswirkungen des populistischen Drucks verbunden ist, insbesondere mit der Tatsache, dass die stärkste Macht der Welt heute von einem populistischen Präsidenten geführt wird, der mit von seinem Temperament geprägten unberechenbaren Reaktionen regiert.“ (Internationale Revue Nr. 55, Bericht über die imperialistischen Spannungen, Juni 2018).
8) Im Nahen Osten, wo die Schwächung der amerikanischen Führung am deutlichsten zu erkennen ist und wo die amerikanische Unfähigkeit, sich militärisch direkt in Syrien zu engagieren, das Feld für andere Imperialismen offen gelassen hat, bündeln sich diese historischen Tendenzen:
Russland hat sich dank seiner militärischen Stärke im syrischen Konfliktfeld ausbreiten können und sich als eine wichtige Kraft zur Erhaltung seines Marinestützpunktes in Tartus etabliert.
Der Iran ist durch seinen militärischen Sieg zur Rettung seines Verbündeten, des Assad-Regimes, und durch den Bau eines irakisch-syrischen Landkorridors, der den Iran direkt mit dem Mittelmeer und der libanesischen Hisbollah verbindet, der Hauptnutznießer und hat sein Ziel erreicht, in dieser Region die Führung zu übernehmen, insbesondere durch den Einsatz von Truppen außerhalb seines Territoriums.
Die Türkei, besessen von der Angst vor der Einrichtung autonomer kurdischer Zonen, die sie destabilisieren, operiert militärisch in Syrien.
Die militärischen „Siege“ im Irak und in Syrien gegen den Islamischen Staat und der Machterhalt Assads bieten keine Aussicht auf Stabilisierung. Im Irak hat die militärische Niederlage des Islamischen Staates die Ressentiments der ehemaligen sunnitischen Fraktion um Saddam Hussein, der sie hervorgebracht hat, nicht beseitigt: Die erstmalige Machtausübung durch die Schiiten treibt sie nur noch weiter an. In Syrien bedeutet der militärische Sieg des Regimes nicht die Stabilisierung oder Befriedung des gemeinsamen syrischen Raums, der der Intervention verschiedener Imperialismen mit konkurrierenden Interessen ausgesetzt ist.
Russland und der Iran sind tief gespalten über die Zukunft des syrischen Staates und die Anwesenheit ihrer Truppen auf seinem Territorium; weder Israel, das der Stärkung der Hisbollah im Libanon und in Syrien feindlich gegenübersteht, noch Saudi-Arabien, das sich gegen den Aufstieg des Irans mit anderen zusammenschließt, können diesen iranischen Fortschritt tolerieren; während die Türkei die übermäßigen regionalen Ambitionen ihrer beiden Rivalen nicht akzeptieren kann.
Auch die Vereinigten Staaten und der Westen können ihre Ambitionen in diesem strategischen Bereich der Welt nicht aufgeben.
Die zentrifugale Aktion der verschiedenen kleinen und großen Mächte, deren divergierende imperialistische Appetite ständig aufeinander prallen, fördert nur das Fortbestehen der gegenwärtigen Konflikte, wie im Jemen, sowie die Aussicht auf zukünftige Konflikte und die Ausbreitung von Chaos.
9) Während Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1989 dazu verdammt schien, nur eine untergeordnete Machtrolle zu spielen, feiert es ein starkes Comeback auf der imperialistischen Ebene. Als Macht im Niedergang und ohne die wirtschaftliche Fähigkeit, den militärischen Wettbewerb mit anderen Großmächten langfristig aufrechtzuerhalten, hat es durch die Wiederherstellung seiner militärischen Fähigkeiten seit 2008 seine sehr hohe militärische Aggressivität und seine Macht bewiesen, international als Störfaktor aufzutreten:
Die derzeitige Annäherung Russlands an China auf der Grundlage der Ablehnung amerikanischer Allianzen im asiatischen Raum hat nur schwache Aussichten auf eine langfristige Allianz angesichts der unterschiedlichen Interessen der beiden Staaten. Die Instabilität der Beziehungen zwischen den Mächten verleiht dem russischen eurasischen Staat und dem Kontinent jedoch eine neue strategische Bedeutung im Hinblick auf die Rolle bei der Eindämmung Chinas.
10) Die aktuelle Situation ist vor allem durch den schnellen Machtzuwachs Chinas geprägt. Dieses hat die Aussicht (durch massive Investitionen in neue technologische Bereiche, in künstliche Intelligenz usw.), sich bis 2030-50 als führende Wirtschaftsmacht zu etablieren und bis 2050 eine „Weltklasse-Armee zu schaffen, die in der Lage ist, in jedem modernen Krieg den Sieg zu erringen“. Die sichtbarste Ausdrucksform ihrer Ambitionen ist die seit 2013 eingeleitete Errichtung der „Neuen Seidenstraßen“ (Schaffung von Verkehrskorridoren auf See und an Land, Zugang zum europäischen Markt und Schutz ihrer Handelsrouten), die als Mittel zur Stärkung ihrer wirtschaftlichen Präsenz, aber auch als Instrument zur Entwicklung ihrer imperialistischen Macht in der Welt und auf lange Sicht konzipiert sind und die die amerikanische Vorherrschaft unmittelbar bedrohen.
Dieser Aufstieg Chinas führt zu einer allgemeinen Destabilisierung der Beziehungen zwischen den Mächten, die bereits in eine ernsthafte strategische Phase eingetreten sind, in der die dominante Macht, die Vereinigten Staaten, versucht, die chinesischen Macht, die sie bedroht, einzudämmen und deren Aufstieg zu brechen. Die von Obama begonnene amerikanische Reaktion – von Trump wieder aufgegriffen und mit anderen Mitteln verstärkt – stellt einen Wendepunkt in der amerikanischen Politik dar. Die Verteidigung ihrer Interessen als Nationalstaat folgt nun der Politik des „Jeder-für-sich“, die die imperialistischen Beziehungen dominiert: Die Vereinigten Staaten entwickeln sich vom Weltpolizisten zum Hauptfaktor einer Politik des „Jeder-für-sich“, d.h. einer Politik des Chaos und stellen die seit 1945 unter ihrer Schirmherrschaft entstandene Weltordnung in Frage.
Dieser „strategische Kampf für die neue Weltordnung zwischen den Vereinigten Staaten und China“, der in allen Bereichen gleichzeitig geführt wird, erhöht die Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit weiter, die bereits in der besonders komplexen, instabilen und sich wandelnden Situation des Zerfalls verankert sind: Dieser große Konflikt zwingt alle Staaten, ihre sich entwickelnden imperialistischen Optionen zu überdenken.
11) Die Phasen des Aufstiegs Chinas sind untrennbar mit der Geschichte der imperialistischen Blöcke und ihrem Verschwinden 1989 verbunden: Die Position der Kommunistischen Linken über die „Unmöglichkeit der Entstehung neuer Industrienationen“ in der Zeit der Dekadenz und die Verurteilung von Staaten, „die ihren industriellen Rückstand vor dem Ersten Weltkrieg nicht wettmachen konnten“, dazu, „in totaler Unterentwicklung zu stagnieren oder in eine chronische Abhängigkeit gegenüber den hochindustrialisierten Ländern zu geraten“, galt im Zeitraum von 1914 bis 1989. Es war die Zwangsjacke der Organisation der Welt in zwei gegnerische imperialistische Blöcke (andauernd zwischen 1945 und 1989) zur Vorbereitung auf den Weltkrieg, die jede größere Umwälzung der Hierarchie zwischen den Mächten verhinderte. Chinas Aufstieg begann mit der amerikanischen Hilfe, die seine imperialistische Annäherung an die Vereinigten Staaten im Jahr 1972 belohnte. Er setzte sich nach dem Verschwinden der Blöcke im Jahr 1989 entschlossen fort. China scheint der Hauptnutznießer der „Globalisierung“ zu sein, nachdem es 2001 der WTO beigetreten und zur Werkstatt der Welt geworden war; dorthin wurden immer mehr Produktionsstandorte aus dem Westen verlagert und seitens des Westens immer mehr investiert, so dass es schließlich zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt wurde. Es bedurfte der beispiellosen Umstände der historischen Epoche des Zerfalls, um China den Aufstieg zu ermöglichen; ohne diese Umstände des Zerfalls wäre es nicht dazu gekommen.
Chinas Macht trägt alle Stigmata der Endphase des Kapitalismus: Sie basiert auf der extremen Ausbeutung der proletarischen Arbeitskräfte, auf der ungezügelten Entwicklung der Kriegswirtschaft durch das nationale Programm der „militärisch-zivilen Fusion“ und wird von der katastrophalen Zerstörung der Umwelt begleitet, während der „nationale Zusammenhalt“ auf der polizeilichen Kontrolle der Massen beruht, die der politischen Bildung der Einheitspartei und in Xinjiang und Tibet brutaler physischer Unterdrückung unterworfen sind. Tatsächlich ist China nur eine riesige Metastase des generalisierten militärischen Krebsgeschwürs des gesamten kapitalistischen Systems: Seine Rüstungsproduktion entwickelt sich in rasendem Tempo, sein Verteidigungshaushalt hat sich in 20 Jahren versechsfacht und liegt seit 2010 an zweiter Stelle der Welt.
12) Die Errichtung der „Neuen Seidenstraße“ und Chinas allmählicher, anhaltender und langfristiger Fortschritt (Abschluss von Wirtschaftsabkommen oder zwischenstaatlichen Partnerschaften in der ganzen Welt (mit Italien; mit dem Zugang zum Hafen von Athen im Mittelmeerraum) bis nach Lateinamerika; mit der Errichtung einer Militärbasis in Dschibuti – dem Tor zu seinem wachsenden Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent) betrifft alle Staaten und stört das ganze „bestehende Gleichgewicht“.
In Asien hat China bereits das Gleichgewicht der imperialistischen Kräfte zum Nachteil der Vereinigten Staaten verändert. Es ist jedoch nicht möglich, dass es die durch den Niedergang der amerikanischen Führung hinterlassene „Lücke“ automatisch füllt, weil das Jeder-für-sich im imperialistischen Bereich dominiert und das Misstrauen, das seine Macht hervorruft. Bedeutende imperialistische Spannungen haben sich insbesondere in folgenden Konflikten aufgebaut:
Die Feindseligkeit dieser beiden Staaten gegenüber China treibt ihre Konvergenz und ihre Annäherung an die Vereinigten Staaten voran. Letztere haben eine Vier-Parteien-Allianz Japan-Vereinigte Staaten-Australien-Indien ins Leben gerufen, die einen Rahmen für die diplomatische, aber auch militärische Annäherung zwischen den verschiedenen Staaten gegen den Aufstieg Chinas bietet.
In dieser Phase des „Aufholens“ gegenüber der US-Macht durch China versucht dieses, seine hegemonialen Ambitionen zu verbergen, um eine direkte Konfrontation mit seinem Rivalen zu vermeiden, die seinen langfristigen Plänen schadet, während die Vereinigten Staaten jetzt die Initiative ergreifen, die chinesischen Bemühungen zu blockieren, und den größten Teil ihrer imperialistischen Aufmerksamkeit auf den indisch-pazifischen Raum richten.
13) Trotz Trumps Populismus, trotz Meinungsverschiedenheiten innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie über die Verteidigung ihrer Führung und trotz Spaltungen, insbesondere in Bezug auf Russland, verfolgt die Trump-Administration eine imperialistische Politik in Kontinuität und Übereinstimmung mit den grundlegenden imperialistischen Interessen des amerikanischen Staates. Die Mehrheit der Sektoren der amerikanischen Bourgeoisie ist sich einig, dass es wichtig ist, den Rang der USA als unbestritten führende Weltmacht zu verteidigen.
Angesichts der chinesischen Herausforderung durchlaufen die Vereinigten Staaten eine große Transformation ihrer imperialistischen Weltstrategie. Diese Verschiebung basiert auf der Beobachtung, dass der Rahmen der „Globalisierung“ die Position der Vereinigten Staaten nicht gesichert, sondern eher geschwächt hat. Die Formalisierung des Prinzips der Verteidigung nur ihrer Interessen als Nationalstaat und die Auferlegung profitabler Machtverhältnisse als Hauptgrundlage für die Beziehungen zu anderen Staaten durch die Trump-Administration bestätigt das Scheitern der Politik der letzten 25 Jahre des Kampfes gegen die Tendenz des „Jeder-für-sich“ als Weltpolizist zur Verteidigung der ab 1945 geltenden Weltordnung und zieht die Konsequenzen daraus.
Diese Trendwende der Vereinigten Staaten spiegelt sich wider in:
- dem Rückzug aus (oder Infragestellung von) internationalen Abkommen und Institutionen, die zu Hindernissen für ihre Vorherrschaft geworden sind oder den gegenwärtigen Bedürfnissen des amerikanischen Imperialismus widersprechen: Rückzug aus dem Pariser Abkommen über den Klimawandel, Reduzierung der Beiträge an die UNO und Rückzug aus der UNESCO, dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, dem Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration;
Das Vandalen-Verhalten eines Trump, das amerikanische internationale Verpflichtungen über Nacht unter Missachtung etablierter Regeln kündigen kann, stellt einen neuen und starken Faktor der Unsicherheit dar und gibt weitere Impulse zum „Jeder-für-sich“. Es ist ein weiteres Kennzeichen der neuen Phase, in der der Kapitalismus weiter in die Barbarei und den Abgrund des ungezügelten Militarismus versinkt.
14) Der Wandel in der amerikanischen Strategie ist auf einigen den wichtigsten imperialistischen Schauplätzen spürbar:
Washington fügt jedoch China eindeutig einen Rückschlag zu, das Venezuela zu seinem politischen Verbündeten zur Ausweitung seines Einflusses auserwählt und sich als machtlos gegenüber den USA erwiesen hat, sich ihrem Druck zu widersetzen. Es ist nicht unmöglich, dass diese amerikanische Offensive der imperialistischen Rückeroberung ihres lateinamerikanischen Hinterhofes eine systematischere Offensive gegen China auf anderen Kontinenten einleiten könnte. Vorläufig ebnet sie den Weg zum Einbruch Venezuelas in das Chaos eines festgefahrenen Zusammenstoßes zwischen bürgerlichen Fraktionen sowie zu einer zunehmenden Destabilisierung der gesamten südamerikanischen Zone.
15) Die gegenwärtige allgemeine Verstärkung der imperialistischen Spannungen spiegelt sich in der Wiederbelebung des Wettrüstens und des Kampfes um die militärische technologische Vorherrschaft nicht nur dort wider, wo die Spannungen am deutlichsten sind (in Asien und im Nahen Osten), sondern für alle Staaten, alle führenden Großmächte. Alles deutet darauf hin, dass eine neue Phase der interimperialistischen Auseinandersetzungen und der tieferen Versenkung des Systems in die Kriegsbarbarei bevorsteht.
In diesem Kontext wird die EU (Europäische Union) in Bezug auf die internationale imperialistische Situation weiterhin der Tendenz zur Fragmentierung begegnen, wie sie im Bericht über die imperialistischen Spannungen vom Juni 2018 (International Review Nr. 161, engl./frz./span. Ausgabe; auf Deutsch auf der Webseite unter Bericht über die imperialistischen Spannungen [28]) analysiert ist.
16) Auf wirtschaftlicher Ebene ist die Situation des Kapitalismus seit Anfang 2018 durch eine starke Verlangsamung des weltweiten Wachstums gekennzeichnet (von 4% im Jahr 2017 auf 3,3% im Jahr 2019), aufgrund derer die Bourgeoisie eine weitere Verschlechterung in den Jahren 2019-20 erwartet. Diese Verlangsamung erwies sich 2018 als stärker wie erwartet, und der IWF musste seine Prognosen für die nächsten zwei Jahre zurückschrauben, und sie betrifft praktisch alle Teile des Kapitalismus gleichzeitig: China, die Vereinigten Staaten und die Eurozone. Im Jahr 2019 haben sich 70% der Weltwirtschaft verlangsamt, insbesondere in den „fortgeschrittenen“ Ländern (Deutschland, Vereinigtes Königreich). Einige der Schwellenländer befinden sich bereits in der Rezession (Brasilien, Argentinien, Türkei), während China, das sich seit 2017 verlangsamt und 2019 voraussichtlich noch um 6,2% wachsen wird, die niedrigsten Wachstumsraten seit 30 Jahren verzeichnet.
Der Wert der meisten Währungen in den Schwellenländern hat sich teilweise deutlich abgeschwächt, wie in Argentinien und der Türkei.
Ende 2018 verzeichnete der Welthandel ein Nullwachstum, während die Wall Street 2018 die größten „Korrekturen“ an den Aktienmärkten der letzten 10 Jahre erlebte. Die meisten Indikatoren blinken und legen die Aussicht auf einen neuen Tiefpunkt in der kapitalistischen Wirtschaft frei.
17) Die Kapitalistenklasse hat keine Zukunft anzubieten, ihr System wurde von der Geschichte verurteilt. Seit der Krise von 1929, der ersten großen Krise im Zeitalter der Dekadenz des Kapitalismus, hat die Bourgeoisie nicht aufgehört, die Intervention des Staates zur Ausübung der allgemeinen Kontrolle über die Wirtschaft zu vergrößern. Zunehmend mit einer Verengung der außerkapitalistischen Märkte konfrontiert, die mehr und mehr von einer allgemeinen Überproduktion bedroht sind, hat sich „der Kapitalismus (...) durch die bewusste Intervention der Bourgeoisie am Leben (erhalten), die es sich nicht länger leisten kann, der unsichtbaren Hand des Marktes zu trauen. Doch die Lösungen werden auch zu Problemen:
Seit den 70er Jahren haben diese Probleme zu verschiedenen Wirtschaftsstrategien geführt, die abwechslungsweise auf den „Keynesianismus“ und den „Neo-Liberalismus“ setzten, doch keine kann die bestehenden Probleme in den Griff bekommen, geschweige denn eine endgültige Lösung herbeiführen. Bemerkenswert ist jedoch die Entschlossenheit der Bourgeoisie, ihre Wirtschaft um jeden Preis am Leben zu erhalten und ihre Fähigkeit, die Tendenz zum Zusammenbruch durch eine gigantische Verschuldung zu bremsen.“ (Resolution zur internationalen Lage, 16. Kongress der IKS, 2005)
Der auf der Ebene jedes nationalen Kapitals errichtete Staatskapitalismus, der aus den Widersprüchen der Dekadenz und der historischen Sackgasse des kapitalistischen Systems hervorgeht, gehorcht jedoch nicht einem strengen wirtschaftlichen Determinismus; im Gegenteil, sein Handeln, das im Wesentlichen politischer Natur ist, integriert und kombiniert gleichzeitig die wirtschaftliche Dimension, die soziale (wie man seinen Klassenfeind entsprechend dem Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bekämpft) und die imperialistische Dimension (die Notwendigkeit, einen riesigen Rüstungssektor im Zentrum jeder wirtschaftlichen Aktivität zu halten). So hat der Staatskapitalismus in der Geschichte der Dekadenz verschiedene Phasen und Organisationsmodalitäten erlebt.
18) In den 1980er Jahren wurde unter dem Einfluss der großen Wirtschaftsmächte eine solche neue Phase eingeleitet: die der „Globalisierung“. In einem ersten Schritt erfolgte sie zunächst in Form der Reaganomics, schnell gefolgt von einer zweiten, die die beispiellose historische Situation des Zusammenbruchs des Ostblocks nutzte, um eine umfassende Reorganisation der kapitalistischen Produktion auf globaler Ebene zwischen 1990 und 2008 zu erweitern und zu vertiefen.
Die Aufrechterhaltung der Zusammenarbeit zwischen den Staaten, insbesondere unter Nutzung der alten Strukturen des Westblocks, und die Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung im Handel waren Mittel zur Bewältigung der sich verschärfenden Krise (die Rezessionen von 1987 und 1991-93), aber auch der ersten Auswirkungen der Zerfalls, die im wirtschaftlichen Bereich damit weitgehend abgeschwächt werden konnten.
Nach dem Beispiel der EU bei der Beseitigung von Zollschranken zwischen den Mitgliedstaaten wurde die Integration vieler Zweige der Weltproduktion durch die Entwicklung echter Produktionsketten auf globaler Ebene verstärkt. Durch die Kombination von Logistik, Informationstechnologie und Telekommunikation, werden Größenvorteile erzielt; durch die verstärkte Nutzung der Arbeitskraft des Proletariats (durch erhöhte Produktivität, internationalen Wettbewerb, Freizügigkeit der Arbeitskräfte, um niedrigere Löhne durchzusetzen), die Unterordnung der Produktion unter die finanzielle Logik der maximalen Rentabilität hat der Welthandel, wenn auch in geringerem Maße, weiter zugenommen, die Weltwirtschaft stimuliert und einen „zweiten Atemstoß“ erzeugt, der die Existenz des kapitalistischen Systems verlängert hat.
19) Der Krach von 2007/09 bedeutete einen weiteren Schritt beim Versinken des kapitalistischen Systems in seine unumkehrbare Krise: Nach vier Jahrzehnten des Rückgriffs auf Kredite und Schulden, um dem wachsenden Hang zur Überproduktion entgegenzuwirken, unterbrochen von immer tieferen Rezessionen und immer begrenzteren Erholungen, war die Rezession 2009 die bedeutendste seit der Weltwirtschaftskrise. Es war das massive Eingreifen der Staaten und ihrer Zentralbanken, welches das Bankensystem vor dem völligen Bankrott bewahrte und eine riesige Staatsverschuldung schuf, indem die Zentralbanken Staatsanleihen zurückkauften, die nicht mehr zurückgezahlt werden konnten.
Das chinesische Kapital, das auch stark von der Krise betroffen ist, hat eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung der Weltwirtschaft gespielt, indem es Pläne zur Wiederbelebung der Wirtschaft in den Jahren 2009, 2015 und 2019 auf der Grundlage massiver Staatsverschuldung umgesetzt hat.
Nicht nur die Ursachen der Krise 2007-2011 sind nicht gelöst oder überwunden, sondern auch die Schwere und die Widersprüche der Krise sind auf ein höheres Niveau gerückt: Es sind nun die Staaten selbst, die mit der erdrückenden Last ihrer Schulden konfrontiert sind (den „Staatsschulden“), die ihre Interventionsfähigkeit zur Wiederbelebung ihrer jeweiligen Volkswirtschaften weiter beeinträchtigen. „Schulden wurden eingesetzt, um die ungenügenden Absatzmärkte zu kompensieren, doch dies führt zu keinem Wachstum, wie die ab 2007 einsetzende Finanzkrise verdeutlicht. Wie auch immer, all die Maßnahmen, die zur erneuten Beschränkung der Schulden ergriffen werden, konfrontieren den Kapitalismus mit seiner Überproduktionskrise, und das in einem internationalen Kontext der permanenten Zuspitzung und Begrenzung des Spielraums für finanzielle Manöver.“ (Resolution zur internationalen Lage, 20. Kongress der IKS, 2013).
20) Die aktuelle Entwicklung der Krise durch die zunehmenden Störungen, die sie in der Organisation der Produktion zu einer riesigen multilateralen Konstruktion auf internationaler Ebene erleidet, die durch gemeinsame Regeln vereinheitlicht sein sollten, zeigt die Grenzen der „Globalisierung“. Das ständig wachsende Bedürfnis nach Einheit (was nie etwas anderes bedeutet hat als die Auferlegung des Gesetzes des Stärkeren auf die Schwächsten) einer aufgrund der „transnationalen“ Verflechtung stark nach Ländern segmentierten Produktion (in Einheiten, die grundsätzlich durch Wettbewerb getrennt sind und in denen jedes Produkt an einem Ort entworfen und mit Hilfe von Elementen, die anderswo hergestellt werden, an einem dritten Ort zusammengebaut wird) stößt sich am nationalen Wesen jedes Kapitals, an die Grenzen des Kapitalismus, der unwiderruflich in sich gegenseitig konkurrierende Nationen aufgeteilt ist. Dies ist der maximale Grad der Einheit, den die bürgerliche Welt nicht aufheben kann. Die sich vertiefende Krise (sowie die Forderungen der imperialistischen Rivalität) stellen multilaterale Institutionen und Mechanismen auf eine harte Probe.
Diese Tatsache wird durch die derzeitige Haltung der beiden Hauptmächte im Wettbewerb um die Weltherrschaft veranschaulicht:
21) Der Einfluss des Zerfalls ist ein zusätzlicher destabilisierender Faktor. Insbesondere die Entwicklung des Populismus verschärft die sich verschlechternde Wirtschaftslage weiter, indem er einen Faktor der Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit angesichts der Turbulenzen der Krise einführt. Die Machtergreifung populistischer Regierungen mit unrealistischen Programmen für das nationale Kapital, die das Funktionieren der Weltwirtschaft und des Handels schwächen, schafft ein Durcheinander und erhöht die Gefahr einer Schwächung der vom Kapitalismus seit 1945 auferlegten Maßnahmen, die darauf abzielten, einen autarken Rückzug auf den nationalen Rahmen zu vermeiden, der die unkontrollierte Ausbreitung der Wirtschaftskrise fördert. Das Durcheinander des Brexit und der schwierige Austritt aus der EU sind ein weiteres Beispiel: Die Unfähigkeit der britischen Regierungsparteien, über die Bedingungen für die Trennung und die Art der künftigen Beziehungen zur Europäischen Union zu entscheiden, die Unsicherheiten bei der „Wiederherstellung“ der Grenzen, insbesondere zwischen Nordirland und Irland, die ungewisse Zukunft eines proeuropäischen Schottlands, das sich vom Vereinigten Königreich zu trennen droht, beeinträchtigen die englische Wirtschaft (durch die Entwertung des Pfunds) sowie die seiner ehemaligen EU-Partner, die um die langfristige Stabilität gebracht werden, die sie zur Regulierung der Wirtschaft benötigen.
Die Meinungsverschiedenheiten über die Wirtschaftspolitik in Großbritannien, den USA und anderswo zeigen, dass es nicht nur zwischen rivalisierenden Nationen, sondern auch im eigenen Land wachsende Spaltungen gibt – Spaltungen zwischen „Multilateralisten“ und „Unilateralisten“, aber auch innerhalb dieser beiden Ansätze (z.B. zwischen „harten“ und „weichen“ Brexitern im Vereinigten Königreich). Nicht nur gibt es keinen Minimalkonsens mehr über die Wirtschaftspolitik unter den Ländern des ehemaligen Westblocks – diese Frage wird auch innerhalb der nationalen Bourgeoisien selbst immer kontroverser.
22) Die gegenwärtige Anhäufung all dieser Widersprüche im aktuellen Kontext der fortschreitenden Wirtschaftskrise sowie die Fragilität des Währungs- und Finanzsystems und die massive weltweite Verschuldung der Staaten nach 2008 eröffnen eine Zeit schwerer Verwerfungen und stellen das kapitalistische System wieder vor die Aussicht auf einen Abwärtstrend. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass der Kapitalismus sicherlich nicht alle Mittel endgültig ausgeschöpft hat, die sein Versinken in der Krise verlangsamen und unkontrollierte Situationen, insbesondere in den Kernländern, vermeiden sollen. Die Überschuldung der Staaten, bei denen ein wachsender Teil des Sozialprodukts für den Schuldendienst aufgewendet werden muss, wirkt sich stark auf die nationalen Haushalte aus und verringert ihren Handlungsspielraum angesichts der Krise erheblich. Deshalb ist es gewiss, dass diese Situation:
23) Was das Proletariat betrifft, so können diese neuen Verwerfungen nur zu noch schwerwiegenderen Angriffen auf seine Lebens- und Arbeitsbedingungen auf allen Ebenen und insbesondere in der ganzen Welt führen:
Obwohl die Bourgeoisie in allen Ländern immer mehr gezwungen ist, ihre Angriffe auf die Arbeiterklasse zu verstärken, ist ihr Handlungsspielraum auf der politischen Ebene keineswegs erschöpft. Wir können sicher sein, dass sie alle Mittel einsetzen wird, um zu verhindern, dass das Proletariat auf seinem eigenen Klassenterrain auf die zunehmende Verschlechterung seiner Lebensbedingungen durch die Verwerfungen in der Weltwirtschaft reagiert.
Mai 2019
1) Ende der 1960er Jahre, mit der Erschöpfung des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit, war die Arbeiterklasse angesichts der sich verschlechternden Lebensbedingungen wieder auf der gesellschaftlichen Bühne aufgetaucht. Die international explodierenden Arbeiterkämpfe beendeten die längste Zeit der Konterrevolution in der Geschichte, öffneten einen neuen historischen Kurs in Richtung Klassenkonfrontationen und hinderten die herrschende Klasse daran, ihre eigene Antwort auf die akute Krise des Kapitalismus zu geben: einen dritten Weltkrieg. Dieser neue historische Kurs war durch das Aufkommen massiver Kämpfe gekennzeichnet, insbesondere in den zentralen Ländern Westeuropas mit der Bewegung vom Mai 1968 in Frankreich, gefolgt vom „Heißen Herbst“ in Italien 1969 und vielen anderen Kämpfen wie in Argentinien im Frühjahr 1969 und in Polen im Winter 1970-71. In diesen massiven Bewegungen erhoben große Teile der neuen Generation, die keinen Krieg erlebt hatten, erneut die Perspektive des Kommunismus zur realen Möglichkeit.
Im Zusammenhang mit dieser allgemeinen Bewegung der Arbeiterklasse in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren müssen wir auch die internationale Wiederbelebung der organisierten Kommunistischen Linken in einem sehr kleinen, aber nicht minder bedeutenden Ausmaß hervorheben, der Tradition, die der Flagge der proletarischen Weltrevolution in der langen Nacht der Konterrevolution treu geblieben war. In diesem Prozess stellte die Gründung der IKS einen wichtigen Impuls für die Kommunistische Linke als Ganzes dar.
Angesichts einer Dynamik, die zu einer Politisierung der Arbeiterkämpfe führte, entwickelte die Bourgeoisie (die von der Bewegung vom Mai 1968 überrascht worden war) sofort eine groß angelegte und langfristige Gegenoffensive, um zu verhindern, dass die Arbeiterklasse ihre eigene Antwort auf die historische Krise der kapitalistischen Wirtschaft gibt: die proletarische Revolution.
2) Aufgrund des Bruchs in der politischen Kontinuität mit der Arbeiterbewegung der Vergangenheit manifestierte sich die Tendenz zur Politisierung der 1960er Jahre in der Entstehung dessen, was Lenin einen „politischen Sumpf“ nannte: ein Milieu von verwirrten Gruppen und Elementen und gleichzeitig eine Übergangszone, die zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat liegt. Im Moment seiner größten Ausdehnung umfasste dieser Bereich der Politisierung vor allem junge und unerfahrene Menschen, viele von ihnen Student*innen. Bereits in der ersten Hälfte der 1970er Jahre war das Ergebnis einer Kristallisierung innerhalb dieser Zone, dass:
- es der Linken des Kapitals gelang, einen großen Teil dieser jungen Elemente, die am Prozess der Politisierung beteiligt waren, für sich zu gewinnen;
- Frustration und Enttäuschung viele von ihnen, die stark von der Ungeduld und dem „Radikalismus“ des Kleinbürgertums geprägt waren, zu Teilkämpfen führten oder in gewaltsame, von kleinen Minderheiten getragene Aktionen des Terrorismus (Baader-Meinhof-Gruppe in Deutschland, Rote Brigaden in Italien, dann Action Directe in Frankreich);
- die Schichten des Sumpfes, die nach proletarischen Positionen strebten, dazu tendierten, sich in Richtung autonomer und/oder operaistischer (arbeitertümelnder) Politik oder der Verteidigung des Mythos der „Selbstverwaltung“ zu bewegen.
Darüber hinaus haben die „kritische“ Anlehnung der wichtigsten linken Gruppen (Trotzkisten und Maoisten) an die Konterrevolution und ihre organisatorische Praxis und Intervention als kryptostalinistische Sekten, aber auch der sinnlose Aktivismus des autonomen Milieus und der Gewaltkult der terroristischen Mikrogruppen einen großen Teil dieser neuen Generation auf dem Weg zu einer Politisierung zerstört. Dieses destruktive Unterfangen trug dazu bei, die wirkliche revolutionäre Bewegung des Proletariats zu entstellen und zu diskreditieren. Parallel zu dieser äußerst negativen Rolle, die der pseudoradikale Teil des Sumpfes und die Gruppen der extremen Linken spielten, entwickelte die Bourgeoisie eine breit angelegte und langfristige politische Gegenoffensive gegen die historische Wiederbelebung des Klassenkampfes. Diese politische Gegenoffensive der Bourgeoisie bestand zunächst Anfang der 1970 er Jahre darin, die „Alternative“ zu schaffen, die Linke in den wichtigsten westlichen Ländern an die Regierung zu bringen. Das Ziel, die Arbeiterklasse wieder in die Wahlurne zu treiben, indem man die Illusion sät, dass das Programm der linken Parteien es ermöglichen würde, die Lebensbedingungen der ausgebeuteten Massen zu verbessern. Diese erste Welle von Kämpfen, die sich seit Ende der 1960 er Jahre entwickelt hatte, erschöpfte sich daher in diesen „Jahren der Illusionen“.
3) Aber mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war eine neue Welle von Arbeiterkämpfen entstanden, an denen auch das Proletariat in einigen osteuropäischen Ländern (insbesondere in Polen im Sommer 1980) beteiligt war.
Angesichts dieser Wiederaufnahme des Klassenkampfes nach einer kurzen Zeit des Rückflusses musste die Bourgeoisie ihre Strategie ändern, die darauf abzielte, jede Politisierung des Proletariats durch ihre wirtschaftlichen Kämpfe zu verhindern. Im Sinne einer vernünftigen Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen bürgerlichen Fraktionen wurde es den rechten Regierungsparteien überlassen, wirtschaftliche Angriffe gegen die Lebensbedingungen des Proletariats zu führen, während die linken Oppositionsparteien (unterstützt von den Gewerkschaften und Linken) die Verantwortung dafür trugen, die Kämpfe der Arbeiter*innen von innen zu sabotieren und sie auf das Terrain der parlamentarischen Mystifikationen zu lenken.
Der Massenstreik in Polen im August 1980 zeigte, dass das Proletariat trotz des bleiernen Gewichts der stalinistischen Regime in der Lage war, seinen Kopf zu heben und spontan seine Kampfmethoden wiederzuerlangen, einschließlich souveräner Vollversammlungen, der Wahl von diesen Versammlungen gegenüber rechenschaftspflichtigen Streikkomitees, der notwendigen geografischen Ausdehnung der Kämpfe und ihrer Vereinigung über korporatistische Spaltungen hinaus.
Dieser gigantische Kampf der Arbeiterklasse in Polen hat gezeigt, dass das Proletariat sich gerade im Kampf der Massen gegen wirtschaftliche Angriffe seiner eigenen Stärke bewusst werden, seine Klassenidentität gegen das Kapital bekräftigen und sein Selbstvertrauen entwickeln kann.
Aber die Niederlage der polnischen Arbeiter*innen mit der Gründung der „freien“ Gewerkschaft Solidarnosc (die von den Gewerkschaften der westlichen Länder unterstützt wurde) zeigte auch das sehr starke Gewicht demokratischer Illusionen in einem Land, in dem das Proletariat keine Erfahrung mit der bürgerlichen Demokratie hatte. Die Niederlage und Unterdrückung polnischer Arbeiter*innen eröffnete Anfang der 1980er Jahre eine neue Zeit des Rückzugs für den internationalen Klassenkampf.
4) Trotz seiner Tiefe war dieser Rückzug jedoch nur von kurzer Dauer. In der ersten Hälfte der 80er Jahre kam es angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise, der Explosion der Arbeitslosigkeit und der neuen Angriffe auf die Lebensbedingungen des Proletariats in den zentralen Ländern zu einer dritten Welle von Kämpfen. Trotz der Niederlage des langen Bergarbeiterstreiks in Großbritannien 1985 war diese Kampfwelle durch die Erosion der Linken in der Opposition gekennzeichnet, eine zunehmende Diskreditierung der Gewerkschaften (so geschehen in mehreren Ländern, darunter auch in Skandinavien, mit sporadischen spontanen Streiks, die außerhalb und gegen wiederholte Gewerkschaftsmanöver ausbrachen). Diese dritte Welle von Arbeiterkämpfen ging einher mit einer Zunahme der Stimmenthaltung bei den Wahlen.
Um nicht überrascht zu sein wie im Mai 68 und die ganze Dynamik der Konfrontation mit dem Gewerkschaftswesen an sich zu brechen, entwickelte die Bourgeoisie eine dritte Strategie: die Stärkung ihres Apparats zur Kontrolle der Arbeiterklasse durch den Einsatz von Basisgewerkschaften, angeführt von den Gruppen der extremen Linken des Kapitals. Angesichts des Anstiegs der Kampfbereitschaft, insbesondere im öffentlichen Sektor, stärkte die Bourgeoisie ihre gewerkschaftlichen und gewerkschaftsähnlichen Kräfte. Ziel dieser Politik war es, eine Ausweitung der Kämpfe über Unternehmen oder Sektoren hinaus zu verhindern, die Klassenidentität des Proletariats zu sabotieren, indem man zwischen „Kopf- und Handarbeiter*innen“ spaltete, und jede Tendenz zur Selbstorganisation des Proletariats zu stoppen.
5) Es war die britische Bourgeoisie (die intelligenteste der Welt), mit der Politik der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher, die den Ton für die Strategie der herrschenden Klasse in anderen zentralen Ländern angab, um die Dynamik des Klassenkampfes zu brechen.
Dank der sabotierenden Rolle der Bergarbeitergewerkschaft hatte die herrschende Klasse die Arbeiter*innen in einem langen, anstrengenden Teilstreik gefangen genommen, der völlig getrennt von anderen Produktionsbereichen war. Die vernichtende Niederlage des Bergarbeiterstreiks hat der gesamten Arbeiterklasse in diesem Land einen schweren Schlag versetzt. Dieser Erfolg der herrschenden Klasse in Großbritannien diente als Vorbild für die Bourgeoisie in anderen Ländern, insbesondere in Frankreich, dem Land in Europa, in dem das Proletariat traditionell sehr kämpferisch war. Die französische Bourgeoisie, inspiriert vom Beispiel der Eisernen Lady, die die Dynamik des Klassenkampfes blockierte, machte sich daran, die Arbeiter*innen im Korporatismus einzusperren, indem sie die Tendenz des „Jeder-gegen-jeden“ (eines der ersten Phänomene der Auflösung des Kapitalismus) voll ausnutzte.
Da die traditionell kämpferischsten und erfahrensten Sektoren des französischen Proletariats seit Mai 68 mehrfach mit Gewerkschaftssabotage konfrontiert waren (in den Bereichen Bergbau, Stahl, Verkehr, Automobilindustrie ...), konnte die Bourgeoisie eine solche Strategie nur nutzen, indem sie „Koordinationen“ einrichtete, welche die diskreditierten großen Gewerkschaftsbünden bei ihrer Sabotagearbeit ablösten.
In Italien, wo das Proletariat sehr wichtige und massenhafte Kämpfe geführt hatte (der Heiße Herbst 1969), benutzte die Bourgeoisie auch die gleiche Politik der korporatistischen Eindämmung, indem sie die Koordinationen der Bildungsarbeiter von 1987 wiederbelebte.
In Frankreich explodierte die Kampfbereitschaft trotz der Niederlage des Eisenbahnarbeiterstreiks 1986 (die der sabotierenden Arbeit der „Koordinationen“ bei der SNCF zu verdanken war) zwei Jahre später, 1988, wieder in einem anderen Teil des öffentlichen Sektors, in den Krankenhäusern. Angesichts einer tiefen und allgemeinen Unzufriedenheit gegenüber den Gewerkschaften und der potenziellen Gefahr, dass sich dieser massenhafte Kampf auf den gesamten öffentlichen Sektor ausbreitete, bekräftigte die herrschende Klasse erneut ihre Strategie der sektoriellen Einsperrung und Spaltung der Arbeiterklasse. Die französische Bourgeoisie konnte einen noch unerfahrenen und politisch „rückständiger“ gebliebenen Krankenhaussektor, die Krankenschwestern und -pfleger, nutzen, um jedes Streben nach Vereinigung in den Krankenhäusern zu kontrollieren und jede Möglichkeit einer Ausbreitung der Bewegung auf andere Teile des öffentlichen Sektors zu sabotieren.
Um die Bewegung im Krankenhaussektor zu brechen, bestand das Manöver der Bourgeoisie darin, den Krankenschwestern und -pflegern allein eine Art Bestechung anzubieten (eine Lohnerhöhung von 350 französischer Franken pro Monat, die eine Milliarde Franken verflüssigte, die bereits zu diesem Zweck in Reserve gehalten worden waren), während andere Kategorien in den Krankenhäusern, die sich für die Bewegung mobilisiert hatten, nichts erhielten! Diese Niederlage der Arbeiterklasse angesichts der historischen Tendenz des „Jeder-gegen-jeden“ konnte dem Proletariat nur dank der Drecksarbeit der selbsternannten „Krankenpflege-Koordination“ zugefügt werden, die mit Hilfe der CFDT sofort in Angriff genommen worden war. Diesem halbgewerkschaftlichen Organ gelang es, den Zorn des Pflegepersonals auf den sandigen Grund der Verteidigung eines bestimmten „Status“ zu führen, des „Bac plus 3“, der Grundlage für die Berechnung ihrer Löhne sein sollte, während ihre Bewegung mit dem Kampf gegen den Personalmangel und die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen begonnen hatte, von denen alle in den Krankenhäusern, „Kopf- und Handarbeiter*innen“ betroffen waren (siehe unsere Broschüre Bilan des luttes des infirmières: les coordinations, la nouvelle arme de la bourgeoisie). In den anderen Ländern Europas, auch in Deutschland (insbesondere in der Automobilindustrie), bestand dieses Manöver der Bourgeoisie darin, einer Gruppe von Arbeiter*innen desselben Unternehmens Lohnerhöhungen zu gewähren, um die Arbeiter*innen zu spalten, die Konkurrenz zwischen ihnen zu verschärfen, die Klassensolidarität zu schwächen und sie gegeneinander auszuspielen.
Aber noch schlimmer ist, dass die Bourgeoisie und ihre dressierten Gewerkschaften mit dieser Strategie, die Arbeiter*innen zu spalten und das „Jeder-gegen-jeden“ zu fördern, in der Lage waren, die Niederlagen des Proletariats als Siege darzustellen.
Die Revolutionäre dürfen den Machiavellismus der Bourgeoisie bei der Entwicklung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen nicht unterschätzen. Dieser Machiavellismus kann nur mit der Verschärfung der Angriffe auf die ausgebeutete Klasse fortgesetzt werden. Die Stagnation des Klassenkampfes, dann sein Rückzug Ende der 80er Jahre, resultierte aus der Fähigkeit der herrschenden Klasse, bestimmte Erscheinungsformen des Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere die Tendenz des „Jeder-gegen-jeden“, gegen die Arbeiterklasse zu wenden.
6) Seit dem Abebben der ersten Welle von Kämpfen waren es im Wesentlichen demokratische Illusionen (die durch die Gegenoffensive der Bourgeoisie und die gewerkschaftliche Sabotage angetrieben wurden), die das Haupthindernis für die Politisierung der Kämpfe der Arbeiterklasse darstellten.
Wie im Artikel in der Internationalen Revue Nr. 23 Der Kampf des Proletariats im aufsteigenden und im dekadenten Kapitalismus hervorgehoben, ist die Arbeiterklasse mit mehreren Faktoren konfrontiert, die die Politisierung ihrer Kämpfe erschweren:
- Die eigentliche Wesen des Proletariats sowohl als ausgebeutete Klasse, die von allem Eigentum enteignet wurde, wie auch als revolutionäre Klasse hat immer dazu geführt, dass das Klassenbewusstsein nicht von Sieg zu Sieg vorwärtsdrängen, sondern sich nur durch eine Reihe von Niederlagen ungleichmäßig zum Sieg entwickeln kann, wie Rosa Luxemburg argumentierte.
In der Zeit der Dekadenz:
- kann die Arbeiterklasse zur Verteidigung ihrer Interessen keine ständigen Massenorganisationen, politischen Parteien und Gewerkschaften, die ihr gehören würden, mehr unterhalten;
- gibt es kein politisches „Minimal“-Programm mehr wie in der vorherigen Epoche, sondern nur noch ein „Maximal“-Programm. Die bürgerliche Demokratie und ihr nationaler Rahmen sind keine Bühne mehr für das politische Handeln des Proletariats;
- hat der bürgerliche Staat gelernt, die ehemaligen politischen Parteien der Arbeiter*innen, die das Proletariat verraten hatten, intelligent gegen die Politisierung der Klasse einzusetzen.
Darüber hinaus hat in der aktuellen Epoche:
- der bürgerliche Staat gelernt, das Tempo der Wirtschaftskrise zu verlangsamen, und seine Angriffe in Abstimmung mit den Gewerkschaften zu planen, indem er alle möglichen Mittel einsetzte, um eine einheitliche Reaktion der Arbeiterklasse und eine Wiederaneignung der schließlich politischen Ziele seines Kampfes gegen den Kapitalismus zu verhindern;
- und haben alle Kräfte des Kapitalismus daran gearbeitet, die Politisierung der Arbeiterklasse zu blockieren, indem sie sie daran gehindert haben, die Verbindung zwischen ihren wirtschaftlichen Kämpfen gegen die Ausbeutung und der Weigerung der Arbeiter*innen in den zentralen Ländern herzustellen, sich für die Kriegspolitik der Bourgeoisie mobilisieren zu lassen. Ein besonders wichtiges Manöver in den frühen 1980er Jahren war die pazifistische Kampagne gegen Reagans „Star Wars“-Programm. Als sich die dritte Welle von Kämpfen in den späten 1980er Jahren zu erschöpfen begann, erfuhr die Dynamik des Klassenkampfes durch den spektakulären Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regime im Jahr 1989 einen brutalen Schlag und veränderte damit das Kräfteverhältnis zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie zugunsten der letzteren erheblich. Dieses Ereignis kündigte lautstark den Eintritt des Kapitalismus in die letzte Phase seiner Dekadenz an: die des Zerfalls. Als der Stalinismus zusammenbrach, tat er der Bourgeoisie einen letzten Gefallen. Er erlaubte es der herrschenden Klasse, der Dynamik des Klassenkampfes ein Ende zu setzen, die sich mit Fortschritten und Rückschlägen in zwei Jahrzehnten entwickelt hatte.
Da nicht der Kampf des Proletariats, sondern die Verrottung der kapitalistischen Gesellschaft auf innen heraus dem Stalinismus ein Ende setzte, konnte die Bourgeoisie dieses Ereignis ausnutzen, um eine gigantische ideologische Kampagne zu entfesseln, die darauf abzielte, die größte Lüge der Geschichte fortzusetzen: die Identifikation des Kommunismus mit dem Stalinismus. Damit hat die herrschende Klasse dem Bewusstsein des Proletariats einen äußerst heftigen Schlag versetzt. Die ohrenbetäubenden Kampagnen der Bourgeoisie über den so genannten „Bankrott des Kommunismus“ haben zu einem Rückschritt des Proletariats auf seinem Weg zu seiner historischen Perspektive des Sturzes des Kapitalismus geführt. Sie waren ein großer Schlag gegen seine Klassenidentität.
Dieses tiefe Zurückweichen des Bewusstseins und des Klassenkampfes hat sich in einem Rückgang des Kampfgeistes der Arbeiter*innen in allen Ländern, einer Stärkung der demokratischen Illusionen, einer sehr starken Wiederbelebung der gewerkschaftlichen Kontrolle und einer sehr großen Schwierigkeit für das Proletariat ausgedrückt, auf den Weg massiver Kämpfe zurückzukehren, trotz der Verschärfung der Wirtschaftskrise, des Anstiegs der Arbeitslosigkeit, der Prekarität und der allgemeinen Verschlechterung seiner Lebensbedingungen in allen Sektoren und allen Ländern.
Darüber hinaus musste sich das Proletariat mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Endphase seiner Dekadenz nun der widerlichen Atmosphäre der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft stellen, die seine Fähigkeit beeinträchtigt, den Weg zurück zu seiner revolutionären Perspektive zu finden. Auf der ideologischen Ebene „Die verschiedenen Elemente, die die Stärke des Proletariats ausmachen, stoßen direkt mit den verschiedenen Facetten dieses ideologischen Zerfalls zusammen:
- Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem "Jeder für sich", dem "Frechheit zahlt sich aus" zusammen.
- Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen.
- Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des "No future" immer mehr überhand nimmt.
- Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren.“ (Thesen über den Zerfall, Internationale Revue Nr. 13)
Mit dem Rückzug von seiner revolutionären Perspektive und der Klassenidentität hat auch das Proletariat das Vertrauen in sich selbst und in seine Fähigkeit, den Kapitalismus bei der Verteidigung seiner Lebensbedingungen effektiv zu bekämpfen, weitgehend verloren.
7) Einer der objektiven Faktoren, die den Verlust der Klassenidentität des Proletariats verschärften, war die Politik der Verlagerung und Umstrukturierung des Produktionsapparats in den wichtigsten Ländern Westeuropas und der Vereinigten Staaten. Viele große Konzentrationen von Arbeiter*innen wurden mit der Schließung von Minen, Stahlwerken, Automobilwerken usw. aufgelöst, Sektoren, in denen die Arbeiterklasse traditionell massive und sehr kämpferische Kämpfe geführt hatte. Diese industrielle Verwüstung wurde von der Stärkung der ideologischen Kampagnen über das Ende des Klassenkampfes und damit jeder revolutionären Perspektive begleitet. Diese bürgerlichen Kampagnen konnten sich dank der stalinistischen oder sozialdemokratischen Parteien entwickeln, die die Arbeiterklasse seit Jahrzehnten nur mit den Arbeitern im „Blaumann“ identifizieren und so die Tatsache verschleiern, dass Lohnarbeit und die Ausbeutung der Arbeitskraft die Arbeiterklasse definieren. Darüber hinaus ist das „Kopfarbeit“-Proletariat mit der Entwicklung neuer Technologien viel stärker auf kleine Produktionseinheiten verteilt, was das Entstehen massiver Kämpfe erschwert.
In einer solchen Situation des Rückzugs des Klassenbewusstseins des Proletariats und der Abkehr von jeder revolutionären Perspektive dominieren die Tendenz des Jeder-für-sich und die Konkurrenz im Kampf darum, inmitten des wachsenden wirtschaftlichen Abschwungs zu überleben.
Die Zunahme von Arbeitslosigkeit und Unsicherheit hat auch das Phänomen der „Uberisierung“ der Arbeit hervorgebracht. Indem die Uberisierung eine Internetplattform zur Arbeitssuche nutzt, verschleiert sie den Verkauf der Arbeitskraft an einen Chef hinter der Form von „selbständig Erwerbenden“ und verstärkt gleichzeitig die Verarmung und Unsicherheit dieser „Unternehmer“. Die „Uberisierung“ der individuellen Arbeit ist ein Schlüsselfaktor für die Atomisierung und die Schwierigkeiten, in den Streik zu treten, denn die Selbstausbeutung dieser Arbeiter*innen fesselt ihre Fähigkeit, kollektiv zu kämpfen und untereinander Solidarität gegen die kapitalistische Ausbeutung zu entwickeln.
8) Mit dem Bankrott der Bank Lehman Brothers und der Finanzkrise von 2008 konnte die Bourgeoisie einen weiteren Keil in das Bewusstsein des Proletariats treiben, indem sie eine neue ideologische Kampagne auf globaler Ebene entwickelte, die darauf abzielte, die (von den linken Parteien vorgetragene) Idee zu vermitteln, dass es die „betrügerischen Bankiers“ seien, die für diese Krise verantwortlich sind, während sie gleichzeitig den Anschein erweckte, dass der Kapitalismus durch Börsianer und die Macht des Geldes personifiziert werde.
Die herrschende Klasse war somit in der Lage, die Wurzeln des Versagens ihres Systems zu verbergen. Einerseits versuchte sie, die Arbeiterklasse zur Verteidigung des „schützenden“ Staates aufzufordern, da die Bankenrettungsmaßnahmen angeblich zum Schutz der Kleinsparer gedacht waren. Andererseits wurde diese Bankenrettungspolitik auch, insbesondere von der Linken, genutzt, um mit dem Finger auf Regierungen zu zeigen, die versuchten, die Bankiers und die Finanzwelt zu schützen.
Aber abgesehen von diesen Verschleierungen bestand die Wirkung dieser Kampagne auf die Arbeiterklasse darin, ihre Machtlosigkeit gegenüber einem unpersönlichen Wirtschaftssystem zu verstärken, dessen allgemeine Gesetze wie Naturgesetze erscheinen, die nicht kontrolliert oder verändert werden können.
9) Die Entfesselung imperialistischer Konflikte im Nahen Osten sowie das absolute Elend der verarmten Massen der Länder des afrikanischen Kontinents haben zu einem zunehmenden Flüchtlingsstrom in die Länder Westeuropas geführt. Auf der anderen Seite des Atlantiks wurde das Versinken des Kapitalismus im Zerfall durch den Exodus von Wellen von Migranten aus lateinamerikanischen Ländern in die Vereinigten Staaten veranschaulicht.
Angesichts dieser Zeichen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft ist eine neue Gefahr für das Proletariat entstanden: die populistische Ideologie, die auf einer „identitären“ Entsolidarisierungspolitik gründet und angesichts der sich verschärfenden Krise, der „Verknappung der Ressourcen“, dafür eintritt, dass die „einheimischen“ Bevölkerungsgruppen das Schlimmste nur auf Kosten anderer nicht ausbeutender Teile der Bevölkerung vermeiden könnten. Diese Politik drückt sich aus im Protektionismus, in der Stigmatisierung von Einwanderern als „Profiteure des Sozialstaates“ und in der Schließung der Grenzen gegen Migrantenwellen.
Die zunehmend offene Ablehnung traditioneller bürgerlicher Parteien und „Eliten“ hat nicht zu einer Politisierung des Proletariats auf seinem Klassenterrain geführt, sondern zu einer Tendenz, auf dem parlamentarischen Terrain der bürgerlichen Demokratie „neue“ Leute zu suchen. Diese „neuen Leute“ sind größtenteils populistische Demagogen und Abenteurer (wie Donald Trump). Der Aufstieg rechtsextremer Parteien in mehreren europäischen Ländern ebenso wie der Aufstieg von Trump in den Vereinigten Staaten, der mit vielen Stimmen von Arbeiter*innen im „Rostgürtel“ gewählt wurde, zeigen, dass gewisse Teile des Proletariats (die von der Arbeitslosigkeit besonders betroffenen sind) durch Populismus, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und all die reaktionären und wissenschaftsfeindlichen Ideologien, die der Kapitalismus in seiner Fäulnis ausdünstet, vergiftet werden können.
Die Tendenz des Jeder-für-sich und die Auflösung Gesellschaft haben sich auch in der Gefahr manifestiert, dass bestimmte Bereiche des Proletariats sich unter nationalen oder regionalen Flaggen rekrutieren lassen (wie dies während der Krise um die Unabhängigkeit in Katalonien im Jahr 2018 der Fall war).
10) Aufgrund der gegenwärtigen großen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse bei der Entwicklung ihrer Kämpfe, aufgrund ihrer Unfähigkeit, im Moment ihre Klassenidentität wiederzuerlangen und eine Perspektive für die gesamte Gesellschaft zu eröffnen, neigt das soziale Terrain dazu, von klassenübergreifenden Kämpfen besetzt zu sein, denen insbesondere das Kleinbürgertum den Stempel aufdrückt. Diese soziale Schicht, ohne historische Zukunft, kann nur ein Vehikel für Illusionen in die Möglichkeit der Reform des Kapitalismus sein, indem sie behauptet, dass der Kapitalismus ein „menschlicheres Gesicht“ haben sowie demokratischer, gerechter, sauberer, besorgter um die Armen und die Erhaltung des Planeten sein könne.
Diese klassenübergreifenden Bewegungen sind das Ergebnis einer Perspektivlosigkeit, die die Gesellschaft als ganze betrifft, einschließlich eines wichtigen Teils der herrschenden Klasse selbst.
Der Volksaufstand der „Gelbwesten“ in Frankreich gegen die „hohen Lebenshaltungskosten“ sowie die internationale Bewegung der „Jugend für das Klima“ sind Beispiele für die Gefahr des Interklassismus (der klassenübergreifenden Ideologie) für das Proletariat. Die Bürgerrevolte der „Gelbwesten“ (die von Anfang an von allen Parteien der Rechten und der extremen Rechten unterstützt und ermutigt wurde) zeigte die Fähigkeit der Bourgeoisie, klassenübergreifende soziale Bewegungen gegen das Bewusstsein des Proletariats einzusetzen.
Durch die Freigabe eines Pakets von 10 Milliarden Euro zur Bewältigung des Chaos im Zusammenhang mit den Demonstrationen der Gelbwesten konnten die französische Bourgeoisie und ihre Medien heimtückisch die Idee vermitteln, dass nur interkulturelle Bürgerbewegungen und kleinbürgerliche Kampfmethoden die Regierung zurückdrängen können.
Angesichts der Beschleunigung der wirtschaftlichen Angriffe auf die ausgebeutete Klasse und der Gefahr des Wiederauflebens von Arbeiterkämpfen versucht die Bourgeoisie nun, Klassenfeinde zu beseitigen. Indem sie versucht, das Proletariat in der „Gesellschaft der Bürger“ zu ertränken und seine Positionen zu verwässern, will die herrschende Klasse verhindern, dass es seine Klassenidentität wiedererlangt. Die internationale Medienberichterstattung über die Gelbwesten-Bewegung zeigt, dass die Vermittlung dieser Botschaften ein Anliegen der Bourgeoisie aller Länder ist.
Die Bewegung der Jugend für das Klima, die zwar eine weltweite Sorge über die Gefahr der Vernichtung der Menschheit zum Ausdruck bringt, wurde vollkommen auf das Gebiet der Teilbereichskämpfe abgelenkt, die von der Bourgeoisie leicht zu beantworten und stark kleinbürgerlich geprägt sind.
- „Nur das Proletariat trägt eine Perspektive für die Menschheit in sich, und deshalb gibt es in seinen Reihen den größten Widerstand gegen diesen Zerfall. Doch das Proletariat ist nicht immun gegen den Zerfall, insbesondere weil die Kleinbourgeoisie, mit der es sich auseinanderzusetzen hat, der Hauptträger dieses Zerfalls ist. (...) In dieser Periode muß es sein Ziel sein, den schädlichen Auswirkungen des Zerfalls in seinen eigenen Reihen zu trotzen, indem es nur auf seine eigenen Kräfte zählt, auf seine Fähigkeit baut, sich kollektiv und solidarisch für die Verteidigung seiner Interessen als ausgebeutete Klasse einzusetzen (...)“ (Thesen über den Zerfall).
Der Kampf um die Klassenautonomie des Proletariats ist in dieser Situation, die durch die Verschärfung des Zerfalls des Kapitalismus diktiert wird, von entscheidender Bedeutung:
- gegen klassenübergreifende Kämpfe;
- gegen Teilbereichskämpfe aller Arten von sozialen Kategorien, die eine falsche Illusion einer „Schutzgemeinschaft“ vermitteln;
- gegen die Mobilisierungen auf dem faulen Terrain von Nationalismus, Pazifismus, „ökologischer“ Reform usw.
Im Kräftegleichverhältnis zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat ist immer die herrschende Klasse in der Offensive, außer in einer revolutionären Situation. Trotz ihrer Schwierigkeiten in den eigenen Reihen und der zunehmenden Tendenz, die Kontrolle über ihren politischen Apparat zu verlieren, ist es der Bourgeoisie gelungen, die Ausdrücke der Auflösung ihres Systems abzulenken – und zwar gegen das Bewusstsein und die Klassenidentität des Proletariats. Die Arbeiterklasse hat daher den tiefen Rückschlag, den sie seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regime erlitten hat, noch nicht überwunden. Dies umso weniger, als demokratische und antikommunistische Kampagnen, die langfristig aufrechterhalten werden, regelmäßig aktualisiert worden sind (z.B. anlässlich des hundertsten Jahrestages der Oktoberrevolution 1917).
11) Dennoch hat die Bourgeoisie es trotz dreißig Jahren Rückzug des Klassenkampfes bisher versäumt, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage zuzufügen, wie sie es in den 1920er und 1930er Jahren tat. Trotz der Ernsthaftigkeit der anstehenden Fragen in der aktuellen historischen Epoche ist die Situation nicht identisch mit der der konterrevolutionären Periode. Das Proletariat der zentralen Länder hat keine physische Niederlage erlitten (wie dies bei der blutigen Niederschlagung der Revolution in Deutschland während der ersten revolutionären Welle von 1917-23 der Fall war). Es wurde nicht massiv unter nationalen Fahnen rekrutiert. Die überwiegende Mehrheit der Proletarier ist nicht bereit, ihr Leben auf dem Altar der Verteidigung des nationalen Kapitals zu opfern. In den großen Industrieländern, in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa, schlossen sich die proletarischen Massen nicht den imperialistischen (und so genannten „humanitären“) Kreuzzügen ihrer „nationalen“ Bourgeoisie an.
Der proletarische Klassenkampf besteht aus Fortschritten und Rückschlägen, bei denen die Arbeiterklasse danach strebt, ihre Niederlagen zu überwinden, aus ihnen zu lernen und wieder in den Kampf zurückzukehren. Wie Marx es im 18. Brumaire festhielt: „Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, (…) Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta!“
Diese „Verhältnisse“, die eine „Situation schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht“, werden in erster Linie von der Erschöpfung der Linderungsmittel bestimmt, die es der Bourgeoisie bisher ermöglicht haben, den Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verlangsamen. Damit die Voraussetzungen für die Entstehung einer Periode des revolutionären Kampfes geschaffen werden können, ist es notwendig, dass „die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die ‚Unterschichten‘ das Alte nicht mehr wollen und die ‚Oberschichten‘ in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen.“ (Lenin, Kinderkrankheit…)
Die unaufhaltsame Verschärfung von Armut, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, die Angriffe auf die Würde der Ausgebeuteten in den kommenden Jahren bilden die materielle Grundlage, die die neuen Generationen von Proletariern dazu bringen kann, den Weg zurück auf den Weg der Kämpfe zu finden, die von früheren Generationen zur Verteidigung all ihrer Lebensbedingungen geführt wurden. Trotz aller Gefahren, die das Proletariat bedrohen, hat die Zeit der Auflösung des Kapitalismus die objektiven „Verhältnisse“, die seit Beginn der Arbeiterbewegung den Anstoß für die revolutionären Kämpfe des Proletariats bildeten, nicht beseitigt.
12) Die sich verschärfende Wirtschaftskrise hat bereits eine neue Generation auf der gesellschaftlichen Bühne auftreten lassen, auch wenn dieser Auftritt noch sehr begrenzt und embryonal ist: 2006 die Studentenbewegung in Frankreich gegen den CPE, fünf Jahre später folgte die Bewegung der „Indignados“ in Spanien. Diese beiden massenhaften Bewegungen der proletarischen Jugend haben spontan die Kampfmethoden der Arbeiterklasse wiederentdeckt, einschließlich der Debattenkultur in für alle offenen Massenversammlungen.
Diese Bewegungen waren auch durch Solidarität zwischen den Generationen gekennzeichnet (während sich die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre, die sehr stark durch das Gewicht des Kleinbürgertums geprägt war, oft im Gegensatz zu den für den Krieg mobilisierten Generationen gesehen hatte).
Während sich in der Bewegung gegen den CPE die überwiegende Mehrheit der Student*innen, die gegen die Aussicht auf Arbeitslosigkeit und Unsicherheit kämpften, als Teil der Arbeiterklasse verstanden, hatten die Indignados in Spanien (obwohl sich ihre Bewegung international über soziale Netzwerke verbreitet hatte) kein klares Bewusstsein über die Zugehörigkeit zur ausgebeuteten Klasse.
Während die massenhafte Bewegung gegen den CPE eine proletarische Reaktion auf einen wirtschaftlichen Angriff war (welche die Bourgeoisie zum Rückzug des CPE zwang), war die Indignados-Bewegung im Wesentlichen von einer globalen Reflexion über den Bankrott des Kapitalismus und die Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft geprägt.
Innerhalb dieser neuen Generation ist die Klassenidentität des Proletariats aufgrund der mangelnden Erfahrung dieser jungen Generation, ihrer Anfälligkeit für die Mystifikationen der „Antiglobalisierungs“-Ideologie und ihrer Schwierigkeit, die Geschichte und Erfahrung der Arbeiterbewegung zurückzugewinnen, noch nicht wiederhergestellt worden.
Dennoch hatten diese Bewegungen begonnen, die Grundlage für eine langsame Reifung des Bewusstseins innerhalb der Arbeiterklasse (und insbesondere der jungen hochqualifizierten Generationen) über die Herausforderungen der aktuellen historischen Situation zu legen.
13 Ein wesentliches Merkmal der Entwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins war immer seine Fähigkeit zur unterirdischen Reifung, d.h. die Fähigkeit, sich auch außerhalb von Perioden des offenen Kampfes und sogar in Zeiten großer Niederlagen zu entwickeln. Das Klassenbewusstsein kann sich in kleinen Minderheiten vertiefen, ohne dass es sich im gesamten Proletariat weit ausbreitet. Die Entwicklung des Klassenbewusstseins sollte daher nicht nur an seiner unmittelbaren Ausbreitung in der Klasse zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessen werden, sondern auch an seiner historischen Kontinuität. Wie wir im Artikel der International Review Nr. 42, Interne Debatte: Zentristisches Abgleiten in Richtung Rätismus, geschrieben haben: „Es ist nötig zu unterscheiden zwischen dem, was Teil einer Kontinuität in der historischen Bewegung des Proletariats ist – die fortschreitende Ausarbeitung seiner politischen Positionen und seines Programms –, und dem, was mit den von den Umständen abhängigen Faktoren zusammenhängt – dem Grad der Aufnahme dieser Positionen und ihrer Wirkung in der ganzen Klasse."
Die Existenz und entschlossene Aufrechterhaltung der Organisationen der Kommunistischen Linken unter den schwierigen Bedingungen des Zerfalls des Kapitalismus drückt diese unterirdische Fähigkeit des Klassenbewusstseins aus, seine historische Bewegung auch in einer Zeit der tiefen Orientierungslosigkeit des Proletariats wie heute zu entwickeln.
Diese unterirdische Reifung des Klassenbewusstseins des Proletariats drückt sich heute auch im Auftauchen kleiner Minderheiten und junger Leute aus, die auf der Suche nach einer Klassenperspektive und den Positionen der Kommunistischen Linken sind.
Die Organisationen der Kommunistischen Linken dürfen diese kleinen Minderheiten nicht ignorieren, auch wenn sie unbedeutend erscheinen. Der Kristallisierungsprozess ist in der Zeit des kapitalistischen Zerfalls viel langsamer und ungleichmäßiger als Ende der 1960 er und Anfang der 1970er Jahre.
Trotz der schädlichen Auswirkungen des Zerfalls und der Gefahren für das Proletariat „bleiben die historischen Möglichkeiten völlig offen. Trotz des Schlags, der der Bewußtwerdung des Proletariats durch den Zusammenbruch des Ostblocks verabreicht wurde, hat das Proletariat auf seinem Klassenterrain keine große Niederlage erlitten. (...) Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das in letzter Instanz die Entwicklung der Weltlage bestimmt, bildet derselbe Faktor, der sich am Anfang der Entwicklung des Zerfalls befindet, den wesentlichen Ansporn für den Kampf und die Bewußtwerdung der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der gesellschaftlichen Fäulnis zu widerstehen. Denn auch wenn das Proletariat kein Terrain findet, um die Teilkämpfe gegen die Auswirkungen des Zerfalls zu vereinen, bildet sein Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise die Grundlage für die Weiterentwicklung seiner Klassenstärke und Einheit.“ (Thesen über den Zerfall).
14) In den wirtschaftlichen und defensiven Kämpfen des Proletariats siegen „von Zeit zu Zeit (...) die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf aber bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren. Jeder Klassenkampf ist aber ein politischer Kampf. Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande. Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger.“ (Kommunistisches Manifest)
Die „wachsenden Kommunikationsmittel“, die es den Arbeiter*innen ermöglicht, sich „miteinander in Verbindung zu setzen“, um die „Lokalkämpfe zu zentralisieren“, sind nicht mehr die Eisenbahnen, wie zu Marx' Zeiten, sondern die neuen digitalen Telekommunikationstechnologien.
Wenn nämlich die Auswirkungen der „Globalisierung“, der Standortverlagerungen, des Verschwindens ganzer Industriesektoren, der Aufsplitterung der Produktion in eine Vielzahl kleiner Produktionseinheiten, der Vervielfachung kleiner Dienstleistungsarbeitsplätze, der Prekarisierung und der Uberisierung der Arbeit zu den Schlägen auf die Klassenidentität des Proletariats der alten Industriemetropolen beigetragen haben, so enthalten doch die neuen wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Bedingungen, unter denen sich das Proletariat heute befindet, Elemente, die die Wiedereroberung dieser Klassenidentität in einem viel größeren Umfang als in der Vergangenheit begünstigen. Die „Globalisierung“ und insbesondere die Entwicklung des Internets, die Errichtung einer Art „globalen Netzwerks“ von Wissen, Fähigkeiten, Zusammenarbeit bei der Arbeit zur gleichen Zeit wie des Massenverkehrs, schaffen die objektiven Grundlagen für die Entwicklung einer Klassenidentität auf globaler Ebene, insbesondere für die neuen proletarischen Generationen.
15) Einer der Hauptgründe, warum das Proletariat nicht in der Lage war, seine Kämpfe und sein Bewusstsein so weit zu entwickeln, wie es der Ernst der geschichtlichen Lage erfordert, ist der Bruch der politischen Kontinuität mit der Arbeiterbewegung der Vergangenheit (und insbesondere mit der ersten revolutionären Welle von 1917-23). Dieser Bruch wurde durch die Schwäche der revolutionären Organisationen der linkskommunistischen Strömung veranschaulicht, die den Stalinismus in den 1920er und 1930er Jahren bekämpft hatten.
Das bedeutet, dass eine enorme Verantwortung auf der Kommunistischen Linken als Brücke zwischen der ehemaligen verschwundenen Partei (der Dritten Internationale) und der zukünftigen Partei des Proletariats liegt. Ohne Gründung dieser zukünftigen Weltpartei wird eine proletarische Revolution unmöglich sein, und die Menschheit wird am Ende von der Barbarei des Krieges und/oder der langsamen Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft verschluckt werden.
Die Kommunisten haben „theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ (Kommunistisches Manifest).
Mai 2019
Das Proletariat kann die Menschheit nur dann von den immer schwereren Ketten des Weltkapitalismus befreien, wenn sein Kampf beseelt und befruchtet ist von der kritischen historischen Kontinuität seiner kommunistischen Organisationen, von diesem geschichtlichen Faden, der den Bund der Kommunisten von 1848 mit den gegenwärtigen Organisationen verbindet, die sich auf die Kommunistische Linke berufen. Ohne diesen Kompass sind seine Reaktionen gegen die Barbarei und das Elend des Kapitalismus zu blinden, verzweifelten Aktionen verurteilt, die es zu einer endgültigen Kette von Niederlagen führen können.
Der Blog von Nuevo Curso versucht, die Arbeit von Munis als „kommunistische Linke“ auszugeben, der es aber nie wirklich geschafft hat, mit der falschen Herangehensweise und den falschen Orientierungen der Linksopposition zu brechen, die im Trotzkismus versumpfte, einer Strömung, die sich seit den 1940er Jahren eindeutig als Verteidigerin des Kapitalismus positionierte, zusammen mit ihren großen Brüdern, dem Stalinismus und der Sozialdemokratie.
Wir haben auf diesen Bluff mit dem Artikel Nuevo Curso und eine „Kommunistische Linke Spaniens“: Was sind die Ursprünge der Kommunistischen Linken[1] reagiert, in welchem wir mit Argumenten nachweisen, dass sich „die zukünftige Weltpartei, wenn sie einen echten Beitrag zur kommunistischen Revolution leisten will, (...) nicht auf das Erbe der Linken Opposition stützen (kann). Sie muss ihr Programm und ihre Aktionsmethoden auf die Erfahrungen der Kommunistischen Linken stützen. Es gibt (...) ein gemeinsames Erbe der Kommunistischen Linken, das sie von anderen linken Strömungen unterscheidet, die aus der Kommunistischen Internationale hervorgegangen sind. Aus diesem Grund ist jeder, der behauptet, zur Kommunistischen Linken zu gehören, dafür verantwortlich, die Geschichte dieses Teils der Arbeiterbewegung, ihre Ursprünge als Reaktion auf die Degeneration der Parteien der Kommunistischen Internationale und der verschiedenen Zweige, aus denen sie besteht (Italienische Linke, Deutsch-Holländische Linke usw.), zu kennen und bekannt zu machen. Es ist vor allem wichtig, die historischen Konturen der Kommunistischen Linken und die Unterschiede, die sie von anderen linken Strömungen der Vergangenheit, insbesondere der trotzkistischen Strömung, trennen, sehr genau herauszuarbeiten.“
Diesen im August 2019 geschriebenen Artikel hat Nuevo Curso völlig ignoriert. Das Dröhnen dieses Schweigens hallt laut in den Ohren von uns allen, die wir das Erbe und die kritische Kontinuität der Kommunistischen Linken verteidigen. Dieses Schweigen ist umso schockierender, wenn Nuevo Curso jeden Tag neue Artikel veröffentlicht, in denen er sich mit jedem erdenklichen Thema von Netflix, über die Weihnachtsbotschaft des spanischen Königs, bis hin zum Ursprung der Weihnachtsfeier beschäftigt. Er hielt es jedoch nicht für notwendig, sich etwas so Wesentlichem wie der argumentierten Rechtfertigung seines Anspruchs, die mehr oder weniger kritische Kontinuität von Munis mit der Linksopposition, die den Trotzkismus hervorbrachte, als Kommunistische Linke auszugeben, zu widmen.
Unser Artikel schloss mit den Fragen „Vielleicht handelt es sich um einen sentimentalen Kult um einen ehemaligen proletarischen Kämpfer [Munis]. Wenn das der Fall ist, müssen wir sagen, dass es sich um ein Unterfangen handelt, das dazu bestimmt ist, mehr Verwirrung zu stiften, denn seine in Dogmen verwandelten Thesen werden vor allem die schlimmsten seiner Fehler neu auflegen. (...) Eine weitere mögliche Erklärung ist, dass die authentische kommunistische Linke mit einer Spam-Doktrin angegriffen wird, die über Nacht mit den Materialien dieses großen Revolutionärs erstellt wurde. Wenn dies der Fall ist, ist es die Pflicht der Revolutionäre, einen solchen Betrug mit der maximalen Energie zu bekämpfen.“
Das Schlimmste an der Niederlage der weltrevolutionären Welle von 1917-23 ist, dass die gigantischen Verfälschungen des Stalinismus als „Kommunismus“, „Marxismus“ und „proletarische Prinzipien“ ausgegeben wurden. Die heutigen revolutionären Organisationen können nicht zulassen, dass das gesamte hart erkämpfte Erbe, das die Kommunistische Linke über fast ein Jahrhundert erschaffen hat, durch eine Spam-Doktrin ersetzt wird, die auf der Grundlage der Verwirrung und der opportunistischen Ruinen, die die Linke Opposition darstellte, produziert worden ist. Dies wäre ein brutaler Schlag gegen die Perspektive der proletarischen Weltrevolution.
Die Ursprünge von Nuevo Curso
Im September 2017 entdeckten wir zum ersten Mal eine Website einer Gruppe namens Nuevo Curso[2], die sich zunächst als eine Gruppe darstellte, die an den Positionen der Kommunistischen Linken interessiert und offen für Diskussionen sei. Das haben sie zumindest in ihrer Antwort auf die erste Korrespondenz, die wir ihnen geschickt haben, geschrieben: „(…) wir sehen uns nicht als politische Gruppe, als Proto-Partei oder so etwas (…) Im Gegenteil, da wir sehen, dass unsere Arbeit so etwas wie einen „Schulungscharakter“ besitzt, die Diskussionen am Arbeitsplatz, unter Jugendlichen usw. unterstützt und, sobald einige wenige Punkte geklärt sind, als Brücke zu den neu dazugestoßenen Menschen dient, die den Marxismus mit den internationalistischen Organisationen (im Wesentlichen die IKT und ihr die IKS) entdecken, die aus unserer Sicht die natürlichen Triebkräfte der zukünftigen Partei sein sollten, selbst wenn ihr jetzt noch sehr schwach seid (wie die ganze Klasse natürlich).“ [3]
Diese Position verschwand einige Monate später, ohne dass es dafür eine detaillierte und überzeugende Erklärung gegeben hätte. Stattdessen beriefen sie sich kurze Zeit später auf eine Kontinuität mit einer angeblichen „Spanischen Kommunistischen Linken“, deren Ursprung im Wirken von Munis und seiner Gruppe FOR liege.[4] Wir haben bereits gezeigt, dass diese vermeintliche Abstammung eine Verwechslung zwischen der Kommunistischen Linken und dem Trotzkismus bedeutet, und dass die Positionen von Nuevo Curso aus Sicht der Kontinuität der politischen Prinzipien nicht denen der Kommunistischen Linken folgen, sondern denen des Trotzkismus, oder im besten Fall den Versuchen, damit zu brechen.[5] Es gibt daher keine programmatische Kontinuität von Nuevo Curso mit der Kommunistischen Linken.
Aber wie steht es um die organische Kontinuität? Dazu sagten sie ursprünglich selbst: „Wir sind tätig unter dem Blog und der „Schule des Marxismus“; wir sind eine kleine Gruppe von fünf Menschen, die seit fünfzehn Jahren in einer Arbeitsgemeinschaft, die als Gütergemeinschaft fungiert, zusammen arbeiten und leben. Es war unsere Art, der Prekarisierung zu widerstehen und Geld zu verdienen. Auch um eine Lebensweise zu erhalten, in der wir in einer schwierigen Zeit diskutieren, lernen und unseren Familien und Freunden nützlich sein können“ (idem).
Und wie sie auch eingestehen, war ihre Haupttätigkeit weit davon entfernt, marxistische Kritik zu sein; vielmehr bestand sie in Ermangelung einer größeren Konkretisierung darin, ihre Bemühungen „der Möglichkeit zu widmen, eine produktivere Arbeitsorganisation zu entfalten (eine neue kooperative oder kommunitäre Bewegung, die die technologische Möglichkeit einer entmerkantilisierten (warenfreien) Gesellschaft, d.h. des Kommunismus, sichtbar machen würde)“[6] (idem).
Andererseits, zusätzlich zu diesem zentralen Kern, und anscheinend aus verschiedenen Dynamiken kommend, die stärker mit Reflexion und Diskussion verbunden sind, haben sich verschiedene Gruppen von jungen Menschen in mehreren Städten getroffen.[7]
In Anbetracht dieses Geflechtes überrascht der Bezug auf die Positionen der Kommunistischen Linken, die die Website von Nuevo Curso von Anfang an gemacht hatte. Und die Rolle eines Mitglieds, das dazu beiträgt, wird auch in dem Brief erläutert: „Einer von uns (sie beziehen sich auf den Kern der Kooperative, Nachtrag von uns), Gaizka[8], war ein alter Kontakt von euch in den 90er Jahren, und wie er sagt, fing er langsam an klarer zu sehen, und er lernte den Marxismus bei euch kennen. Auf ihn und die von ihm mitgebrachte Bibliothek bauen zu können, war ein wichtiger Teil unseres Prozesses.“
Tatsächlich tauchte dieses „Mitglied der Kooperative“ im Dezember 2017 bei unserem öffentlichen Treffen in Madrid zum hundertsten Jahrestag der Russischen Revolution auf und entpuppte sich als alter Bekannter, genannt Gaizka, der in den 90er Jahren eine Diskussion mit der IKS über unser Programm geführt hatte. Am Ende des öffentlichen Treffens teilte er uns mit, dass er mit einer Gruppe junger Menschen in Kontakt stehe, „ihnen eine marxistische Schulung gebe“, und er ermutigte uns, den Kontakt mit ihm wieder aufzunehmen.
Unsere Antwort auf seinen Vorschlag, den Kontakt wieder aufzunehmen, war, dass er zunächst bestimmte politische Verhaltensweisen klären sollte, die er in den 90er Jahren nicht erklären konnte, wo er Karrierebestrebungen zeigte und eine Bindung mit der PSOE[9] eingegangen war – während er sich gleichzeitig auf die Positionen der Kommunistischen Linken berief.[10]
Er hat weder im Dezember 2017 noch danach auf die vier Briefe geantwortet, die wir ihm im gleichen Sinne geschickt haben. Aus diesem Grund fordern wir heute von ihm weiterhin eine Erklärung – und setzen damit die proletarische Tradition fort, die darin besteht, Klarheit über diese Art von unsicheren und unklaren Episoden zu schaffen. Dies auf dem Hintergrund der Tatsache, dass die Verfolgung seiner politischen Tätigkeit[11], seit wir ihn kennen, ohne eine solche Erklärung eine aufrecht erhaltene Beziehung hauptsächlich zur PSOE aufzeigt.
Der „Knick“ in Gaizkas Werdegang – 1992-1994, Kontakt mit der IKS und sein Rückzieher
1992 kontaktierte Gaizka die IKS und präsentierte sich als Mitglied einer Gruppe namens „Union Espartaquista“, die die Positionen der Kommunistischen Linken Deutschlands verteidigen wolle (die sie heute als nicht mehr so wertvoll zu erachten scheinen). In Wirklichkeit geht es im Grunde genommen um ihn und seine Partnerin[12]; und sein Wissen über die Positionen und Traditionen der Kommunistischen Linken ist eher ein Wunsch als Wirklichkeit.
Von Anfang an wollte er schnell in unsere Organisation eintreten, und es war ihm unangenehm, als sich die Diskussionen aufgrund mangelnder Klarheit in die Länge zogen oder als ein Teil seines Verhaltens in Frage gestellt wurde. Dies insbesondere in Bezug auf eine andere Person, die sich einem Diskussionskreis in Madrid anschloss, an dem sich auch eine Delegation der Gruppe Battaglia Comunista teilweise beteiligte.
Die Diskussion über seine politische Karriere warf auch Probleme auf. Obwohl er uns mitgeteilt hatte, dass er mit der Jugendorganisation der PSOE in Kontakt stand, zeigte er eine Art Faszination für Kibbuze[13] und einen Diskurs, der ihn manchmal mit Borrell[14] und der pro-israelischen sozialistischen Lobby[15] zu verbinden schien. Genau so wenig hat er jemals seine organisatorischen Verbindungen mit der PSOE oder den Bruch mit ihr geklärt [16].
1994 gab es in der IKS Debatten über das Problem des Gewichts des Zirkelgeistes in der Arbeiterbewegung seit 1968 und den Einfluss affinitärer Beziehungen unter dem Deckmantel von Projekten „kommunitären Zusammenlebens“. Bei diesen Diskussionen über unsere Organisationsprinzipien haben wir Gaizka unsere Positionen dazu erläutert. Es ist möglich, dass er deshalb, als wir ihn direkt um Aufklärung über unklare Aspekte seines Werdeganges[17] baten, sich überhaupt nicht überrascht fühlte, obwohl wir ihn zur Rede stellten und dabei das Gespräch aufzeichnen wollten (wir hatten noch nie ein Gespräch mit ihm aufgenommen). Aber er lieferte einfach keine Erklärung dazu ab und verschwand aus der Welt der Kommunistischen Linken – bis jetzt!
Aufrechterhaltene Verbindungen zur PSOE ...
Was Fragen zu Gaizkas politischer Laufbahn aufwirft, ist nicht, dass er zu irgendeinem Zeitpunkt ein Sympathisant oder Mitglied der sozialistischen Jugend war und dass er es nicht klar mitgeteilt hätte. Dagegen ist eine Erklärung erforderlich, weshalb sein Lebenslauf trotz seiner vermeintlichen Überzeugung von den Positionen der Kommunistischen Linken voller Hinweise darauf ist, dass er politische Verbindungen zu Personen unterhielt, die hohe Funktionäre in der PSOE sind oder waren.
In den Jahren 1998-99 nahm er als „Berater“, ohne jemals zu erklären, was das bedeutet, an Borrells Kampagne für die PSOE-Vorwahlen teil, wie es in einigen seiner eigenen Rezensionen im Internet heißt. Einer unserer Militanten sah ihn zufällig im Fernsehen in den Büros des PSOE-Kandidaten.[18] Gaizka hat versucht, sich aus der Affäre zu ziehen, indem er sich selbst als bloßen „Laufburschen“ der Kampagne darstellte, den Borrell nicht einmal bemerkt hätte. Aber die Wahrheit ist, dass einige PSOE-Führer, wie zum Beispiel Miquel Iceta[19],öffentlich sagten, dass sie Gaizka in dieser Kampagne kennen lernten. Es ist nicht sehr plausibel anzunehmen, dass die PSOE-Eliten Borrell gebeten hätten, ihnen seinen „Laufburschen“ vorzustellen.
Darüber hinaus nahm Gaizka im selben Jahr zusammen mit David Balsa, dem derzeitigen Präsidenten der Europa-Mittelamerika-Konferenz und damaligen Präsidenten des Europäischen Rates für humanitäre Maßnahmen und Zusammenarbeit[20], dem ehemaligen Führer der Sozialistischen Jugend und ehemaligen Mitglied der Exekutive der Sozialistischen Partei Galiziens, an einer „Humanitären Mission“ des Europäischen Rates für humanitäre Maßnahmen und Zusammenarbeit im Kosovo teil. In einem Brief an die Italienische Radikale Partei bezeichnet Gaizka ihn als „den Kerl, der anstelle von mir nach Albanien gegangen ist“.
Abgesehen davon, was dies über den Verdacht einer engeren Beziehung Gaizkas mit der PSOE hinaus suggerieren mag, als er es jemals zugegeben hat, bedeutete dies eine aktive Teilnahme an einem imperialistischen Krieg unter dem Deckmantel „humanitärer Aktionen“ und der Verteidigung von „Menschenrechten“.[21]
Im Jahr 2003 unterstützte er auch beratend den Wahlkampf des PSOE-Kandidaten Belloch[22] um das Bürgermeisteramt von Zaragoza, und diesmal gab er zu: „Ich war sehr engagiert bei der Kampagne des Bürgermeisters Juan Alberto Belloch, die Stadt als urbanen Raum mit einem wirtschaftlichen Umfeld neu zu definieren, in der die Art von Unternehmen, die mit wirklichen Gemeinschaften verbunden und international stark vernetzt sind, sich entwickeln können“.
Im Jahr 2004, nach den Attentaten vom 11. März und dem Wahlsieg der PSOE, schrieb Rafael Estrella ein Vorwort für das Buch von Gaizka, voll des Lobes und Anerkennung für seine Qualitäten. Jener Herr war Mitglied der PSOE, Sprecher des Auswärtigen Ausschusses des Abgeordnetenhauses und Präsident der Parlamentarischen Versammlung der NATO[23]. Das Buch unterstreicht die Unfähigkeit der rechten Volkspartei, der Partido Popular, die Angriffe von Atocha zu verstehen, aber gegenüber der PSOE findet sich im Buch kein Wort der Kritik. Felipe Gonzalez selbst zitierte gelegentlich daraus.
Derselbe PSOE-Abgeordnete war später von 2007 (bis 2012) Spaniens Botschafter in Argentinien und lud Gaizka ein, sein Buch in der Botschaft vorzustellen und ihn mit ausgewählten politischen und wirtschaftlichen Kreisen dieses Landes in Kontakt zu bringen.
Ein weiterer „Pate“, der eine wichtige Rolle in Gaizkas südamerikanischem Abenteuer spielte, war Quico Mañero, von dem er in einer Widmung eines anderen seiner Bücher sagte: „An Federico Quico Mañero, Freund, Verbinder der Welten und so oft Lehrer, der uns seit Jahren ermunterte, im Tanz der Kontinente und Gespräche zu „leben“; er empfing uns und versorgte uns an jedem Ort, an dem wir aufschlugen. Ohne ihn hätten wir nie als Neo-Venezianer leben können“.
Izquierda Socialista (eine linke Strömung der PSOE) schrieb über diesen Mann: „Der Teil von REPSOL[24], der Argentinien abdeckt, ist in den Händen von Don Quico Mañero, Ex-Ehemann von Elena Valenciano[25], historischer Leiter der PSOE (Generalsekretärin der Sozialistischen Jugend), Berater und Geschäftsmann mit engen Beziehungen zu Felipe González, der 2005 in den argentinischen Vorstand von REPSOL-YPF berufen wurde. Gegen ihn wird derzeit wegen des Invercaria-Skandals und der andalusischen Reptilienfonds ermittelt, von denen er 1,1 Millionen Euro erhielt.“[26]
Im gleichen Zeitraum, 2005, arbeitete Gaizka für die Jaime Vera Stiftung der PSOE, die traditionell eine Ausbildungseinrichtung für politische Kader der Partei ist und die 2005 anscheinend ein internationales Ausbildungsprogramm für Führungskräfte begann, die über die Grenzen Spaniens hinaus Einfluss gewinnen sollten. In diesem Zusammenhang beteiligte sich Gaizka an der Bildung der sogenannten K-Cyberaktivisten in Argentinien, die Cristina Kirchners Kampagne 2007 unterstützten, als sie Staatspräsidentin wurde: „Die Idee wurde vor zwei Jahren geboren, durch eine politische Einigung der Regierung. Es war im Jahr 2005, eine Reihe von jungen Menschen wurde von der Casa Rosada ausgewählt, um in der Jaime Vera Foundation, der staatlichen Schule der Führer der PSOE, der spanischen sozialistischen Partei, ausgebildet zu werden. Es gab die Gründer des K-Cyberaktivismus: den Aktivisten Sebastián Lorenzo (www.sebalorenzo.com.ar [29]) und Javier Noguera (nogueradetucuman.blogspot.com), Regierungssekretär von José Alperovich, Gouverneur von Tucumán. (…) Wir waren erstaunt, als sie über Blogs und soziale Netzwerke sprachen“, sagte Noguera gegenüber LA NACION. Es handelte sich um niemand geringeren als den spanischen „Professor“, die weltweite Referenz für Cyberaktivitäten ... derselbe, der vor einem Monat, begleitet von Botschafter Rafael Estrella, in Buenos Aires sein neues Buch vorstellte“[27].
Während der 2010er Jahre und insbesondere nach der Wahlniederlage der PSOE gibt es weniger Spuren der Verbindung mit dieser Partei.
... und manchmal zum Rechtsliberalismus
Tatsächlich versuchte Gaizka vor dem Sieg der PSOE im Jahr 2004, seine Schäfchen vor dem Aufstieg der PP ins Trockene zu bringen, und diesmal arbeitete er mit der Jugend der PP bei der Gründung von Los Liberales.org zusammen, die nach den Worten seiner Organisatoren dazu dienen sollten, „ein Gerüst zu schaffen, in dem man dem im Internet tätigen hispanischen Liberalismus ein wenig Ordnung schafft. An diesem Wochenende haben wir uns an die Arbeit gemacht und nach vielen Stunden vor dem Computer das, was im Internet existiert, als Produkt der verschiedenen (und manchmal antagonistischen) liberalen und libertären Familien (nicht zu verwechseln mit Anarchisten) abgebildet. So entstand Los Liberales.org, ein überparteiliches Projekt für Liberale und solche, die sich für diese Art des Denkens interessieren ...“[28].
Zu diesem Arrangement gehörten Leute wie Jiménez Losantos[29], für dessen Zeitung Libertad digital Gaizka mehrere Artikel schrieb, oder die christlichen Liberalkonservativen, bei denen die anderen nicht wussten, ob sie als liberal oder rechtsextrem zu gelten haben.
Gemäß den Worten des Journalisten Ignacio Escolar[30] im Buch La blogosfera hispana, hat dieser Club „nicht lange gehalten. Ideologische und persönliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Gründern beendeten das Projekt.“
Was treibt ein Kerl wie Gaizka in den Reihen der Kommunistischen Linken? [31]
Die Untersuchung von Gaizkas politischem Lebenslauf zeigt seine enge Verbindung mit der PSOE. Seit diese an ihrem außerordentlichen Kongress im April 1921[32] das proletarische Lager definitiv verlassen hat, weist sie eine lange Geschichte im Dienste des kapitalistischen Staates auf: Unter der Diktatur von Primo de Rivera (1923-30) arbeitete ihre Gewerkschaft UGT als Informantin der Polizei und verriet zahlreiche CNT-Mitglieder; und Largo Caballero, der eine Brückenfunktion zwischen PSOE und UGT wahrnahm, war Berater des Diktators. 1930 schlug die PSOE einen neuen Ton an und stellte sich an die Spitze der Kräfte, die 1931 die Zweite Republik errichteten, in welcher sie einer Regierung vorstand, die von 1931 bis 1933 mit den Republikanern zusammen arbeitete. Man muss dabei festhalten, dass diese Regierung in diesen zwei Jahren mittels ihrer Repression gegen Streiks und Aufstände 1500 Arbeiter*innen tötete. Später war die PSOE im Zentrum der Volksfrontregierung, welche die Anstrengungen zum Krieg und die Militarisierung vorantrieb und im Mai 1937 den stalinistischen Schlägern grünes Licht gab zur Unterdrückung des Arbeiteraufstands in Barcelona. Mit der Rückkehr zur Demokratie 1975 wurde die PSOE das Rückgrat des Staats, die Partei, die am längsten die Regierungsgewalt ausübte (1982-1996, 2004-2011 und seit 2018). Die PSOE-Regierungen setzten die brutalsten Maßnahmen gegen die Bedingungen der Arbeiterklasse durch, indem sie die Pläne der 80er Jahre zum Strukturwandel umsetzten, die den Verlust EINER MILLION JOBS bedeuteten, oder das Programm des Sozialabbaus, das von der PSOE-Regierung unter Zapatero eingeleitet und später von der PP-Regierung von Rajoy fortgesetzt wurde.
Gaizka hat mit diesem Bollwerk des bürgerlichen Staates kollaboriert, und es geht nicht um die Beziehungen zu „Mitgliedern von der Basis“, die mehr oder weniger ahnungslos sein könnten, sondern zu hohen Parteifunktionären, nicht mehr und nicht weniger als zu Borrell, der gerade für die Außenpolitik der Europäischen Kommission zuständig ist, zu Belloch, der Innenminister war, zu Estrella, der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der NATO war.
In Gaizkas Lebenslauf findet man nicht die geringste Spur von fester Überzeugung hinsichtlich der Positionen der Kommunistischen Linken, und um offen zu sein, nicht einmal, dass er überhaupt politische Überzeugungen hat, da er nicht gezögert hat, eine Zeit lang mit dem rechten Lager zu flirten. Gaizkas „Marxismus“ würde eher in den Bereich des „Marxismus-Grouchismus“ gehören – unter Hinweis darauf, was der berühmte Komiker Groucho Marx sagte: „Das sind meine Prinzipien, wenn sie dir nicht gefallen, habe ich noch andere in der Tasche.“
Deshalb stellt sich die Frage: Was bewegt Gaizka dazu, heute mit Nuevo Curso eine „historische“ Verbindung zu einer angeblichen „Spanischen Kommunistischen Linken“ herstellen zu wollen? Was hat dieser Herr mit diesen Positionen zu tun, mit dem historischen Kampf der Arbeiterklasse? Und weiter im gleichen Sinn: Wie kommt es, dass eine Parasitengruppe wie die GIGC, von der einige Mitglieder 1992-94 den Zentralorganen der IKS angehörten und über das Verhalten von Gaizka im Bilde waren, und die jetzt wissen, dass er die Haupttriebkraft von Nuevo Curso ist, nun wegschauen, die Klappe halten und versuchen, seinen Werdegang zu verschleiern, und stattdessen erklären, dass diese Gruppe die Zukunft der Kommunistischen Linken und ähnliches darstellt?
„Nuevo Curso ist ein Blog von Genossen, die seit letztem September regelmäßig Positionen zur Situation und zu breiteren, auch theoretischen Fragen veröffentlichen. Leider sind sie nur auf Spanisch verfügbar. Alle von ihnen vertretenen Positionen sind eindeutig Klassenpositionen und spiegeln den programmatischen Rahmen der Kommunistischen Linken wider (…) Wir sind sehr beeindruckt nicht nur von der Art und Weise, wie sie kompromisslos an die Klassenpositionen erinnern, sondern vor allem von der „marxistischen Qualität“ der Texte der Genossen“.[33]
„Die Gründung der Gruppe Emancipación als eigenständige politische Gruppe bringt die Tatsache zum Ausdruck, dass das internationale Proletariat, auch wenn es unterworfen ist und weit davon entfernt ist all die Angriffe des Kapitals wenigstens zurückzudrängen, es tendenziell schafft, kämpfend Widerstand zu leisten. Damit gelingt es ihm, sich aus der ideologischen Umklammerung des Kapitals zu lösen; seine revolutionäre Zukunft bleibt weiterhin bestehen. Die Gründung der Gruppe spiegelt die gegenwärtige (relative) „Vitalität“ des Proletariats wider“.[34]
In der Tradition der Arbeiterbewegung, deren historische Kontinuität heute durch die Kommunistische Linke verkörpert wird, sind die Organisationsprinzipien, die Prinzipien der Funktionsweise, sowie das Verhalten und die Ehrlichkeit der Militanten ebenso wichtig wie die programmatischen Prinzipien. Einige der wichtigsten Kongresse in der Geschichte der Arbeiterbewegung, wie der Haager Kongress der I. Internationale 1872, widmeten sich diesem Kampf für die Verteidigung des proletarischen Verhaltens (und das, obwohl der Kongress ein Jahr nach der Pariser Kommune stattfand und vor der Notwendigkeit stand, eine Bilanz zu erstellen und Lehren zu ziehen)[35]. Marx selbst verfasste eine umfangreiche Schrift, die ihn mehr als ein Jahr in Anspruch nahm. Er unterbrach dabei seine Arbeit an „Das Kapital“. In dieser Schrift verteidigte er proletarisches Verhalten gegen die Intrigen von Herrn Vogt, einem bonapartistischen Agenten, der eine Verleumdungskampagne gegen ihn und seine Genossen organisierte. Vor kurzem haben wir einen Artikel über Bebels und Liebknechts Anprangerung des unehrlichen Verhaltens von Lassalle und Schweitzer veröffentlicht[36]. Und bereits zu Anfang des 20. Jahrhundert verfasste Lenin ein Buch – Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück –, um die Lehren aus dem 2. Kongress der SDAPR aus dem Gewicht von Verhaltensweisen zu ziehen, die dem Proletariat fremd sind. Man könnte auch Trotzki erwähnen, der in einem Ehrengericht seine Integrität gegen Stalins Verleumdungen verteidigt hat.
Dass eine Person mit engen Verbindungen zu führenden Persönlichkeiten der PSOE plötzlich im Lager der Kommunistischen Linken landet, sollte alle Gruppen und Militanten alarmieren, die für die historischen Interessen unserer Klasse kämpfen, einschließlich der Teilnehmer des Blogs Nuevo Curso, die dies in gutem Glauben tun, im Glauben, dass sie für die Prinzipien der Kommunistischen Linken kämpfen.
1994 baten wir Gaizka um Aufklärung über seinen Hintergrund und seine Beziehungen, die damals schon zweifelhaft waren. Er verschwand von der Bildfläche. Im Jahr 2018, angesichts seines vollen Rucksacks mit Kontakten in die hohen Sphären der PSOE, fragten wir ihn wieder und er schwieg. Zur Verteidigung der Kommunistischen Linken, ihrer Integrität und ihrer zukünftigen Beiträge müssen wir von ihm Rechenschaft fordern.
IKS, 20.01.2020
[1] Nuevo Curso und eine "Kommunistische Linke Spaniens": Was sind die Ursprünge der Kommunistischen Linken? [30]
[2] Seit Juni 2019 hat sich Nuevo Curso tatsächlich in eine politische Gruppe umgewandelt mit dem Namen Emancipación, obwohl ihre Website unter dem gleichen Titel Nuevo Curso weiter betrieben wird. Diese Entwicklung hat keinen Einfluss auf den Sachverhalt, den unser Artikel behandelt.
[3] 7.11.2017 von Nuevo Curso <[email protected] [31]> an [email protected] [32]
[4] Siehe auf unserer Webseite unter anderem:
1) En memoria de Munis, militante de la clase obrera [33];
2) Polémica: ¿Adónde va el F.O.R.? [34];
3) El comunismo está al orden del día en la historia: Castoriadis, Munis y el problema de la ruptura con el trotskismo [35] (I) und Castoriadis, Munis y el problema de la ruptura con el trotskismo.(II) [36];
4) 1.Crítica del libro JALONES DE DERROTA PROMESAS DE VICTORIA [37];
5) Las confusiones del FOR sobre Octubre 1917 y España 1936 [38];
[5] Nuevo Curso und eine "Kommunistische Linke Spaniens": Was sind die Ursprünge der Kommunistischen Linken? [39]
[6] Wer kann das verstehen? Wir werden hier nicht versuchen herauszufinden, was diese Art von Aktivität konkret bedeutet. Es genügt, vorerst zu sagen, dass es trotz der leichtsinnigen Behauptung, es ging hier um Kommunismus, dies nichts mit einer revolutionären oder wirklich kommunistischen Aktivität zu tun hat, wie im gleichen Brief anerkannt wird. Dort steht nämlich, dass man, um in Richtung Marxismus voranzuschreiten, mit der Kritik an dieser Aktivität anfangen müsste.
[7] „Aber in den letzten anderthalb oder zwei Jahren, überall um uns herum, fingen wir an, eine Veränderung zu bemerken. Anders ausgedrückt. Dutzende von Jugendlichen tauchten auf, die eine Geisteshaltung hatten, die uns gefiel, die aber dem Stalinismus oder dem folkloristischsten Trotzkismus folgten“ (aus dem Brief von Nuevo Curso, idem).
[8] Im Brief wird der echte Name verwendet; hier verwenden wir den Namen, unter dem wir ihn in den 90er Jahren kannten.
[9] Partido Socialista Obrero Espagnol (spanische Sozialdemokratie)
[10] Wir hatten jedoch kein Problem, ein Treffen mit diesen Gruppen von Jugendlichen zu arrangieren – im Gegenteil. Im November 2018 trafen wir eine von diesen.
[11] Unter seinem richtigen Vor- und Nachnamen ist Gaizka eine öffentliche Figur im Internet, und das erlaubt uns, seine Anwesenheit und Teilnahme an verschiedenen politischen Initiativen zu verfolgen. Und gleichzeitig erklärt dies, dass wir hier nicht alle Unterlagen zur Verfügung stellen können, ohne seine Identität zu enthüllen.
[12] Anfänglich gab es auch andere Leute, die später aber aus der Gruppe austraten.
[13] Diese Faszination merkt man auch heute noch in Gaizkas gegenwärtigen Beiträgen; sie wird aber verpackt als Verteidigung der Erfahrungen in der Gemeinschaft des Kibbuz, insbesondere in seiner ersten Phase zu Beginn des Jahrhunderts, ohne Bezugnahme auf die politische Rolle, die die Kibbuze bei den imperialistischen Interessen des Staates Israel gespielt haben. „Die Indianos (d.h. die Gemeinschaft um Gaizka, NdR) sind Gemeinschaften, die den Kibbuzen ähnlich sind (es gibt keine individuellen Ersparnisse, die Genossenschaften selbst stehen unter kollektiver und demokratischer Kontrolle, usw.), aber es gibt wichtige Unterschiede, wie das Fehlen einer gemeinsamen nationalen oder religiösen Ideologie, da sie über mehrere Städte zerstreut verteilt sind, anstatt sich auf wenige Einrichtungen zu konzentrieren, und das Verständnis, dass es Kriterien gibt, die über die wirtschaftliche Vernunft hinausgehen.“ (aus einem Interview mit Gaizka)
[14] Borrell, ein ausgebildeter Luftfahrtingenieur und Ökonom, betätigte sich in den 1970er Jahren politisch und trat der PSOE während des spanischen Übergangs (vgl. Wikipedia Spanisch: Transición española [40]) bei und hatte während der Regierungen von Felipe González verschiedene leitende Positionen inne, zunächst im Ministerium für Wirtschaft und Finanzen als Generalsekretär für Haushalt und öffentliche Ausgaben (1982-1984) und als Staatssekretär im Finanzministerium (1984-1991); später wurde er Mitglied des Ministerrates als Leiter des Ministeriums für Entwicklung und Verkehr. In der Opposition nach den Parlamentswahlen 1996 wurde Borrell 1998 unerwartet von den Mitgliedern der PSOE zum Kandidaten für den Regierungsvorsitz gewählt, eine Rolle, die er bis zu seinem Rücktritt 1999 innehatte. Von da an, mit Schwerpunkt auf der Europapolitik, wurde er für den Zeitraum 2004-2009 Mitglied des Europäischen Parlaments und wurde in der ersten Hälfte der Legislaturperiode Präsident der Kammer. Nach einer Zeit des Rückzugs von der vordersten Front kehrte er im Juni 2018 mit seiner Ernennung zum Außenminister, der Europäischen Union und der Zusammenarbeit in der Regierung unter dem Vorsitz von Pedro Sánchez in den Ministerrat zurück (Wikipedia).
[15] Borrell war 1969 in einem Kibbuz, und seine erste Frau und Mutter seiner beiden Kinder ist jüdischer Herkunft. Er ist bekannt als Verfechter pro-israelischer Interessen in der Sozialistischen Partei.
[16] Es ist nicht die einzige Beziehung, die unklar bleibt. Wir haben jetzt erfahren, dass er in der gleichen Zeit, in der er eine Diskussion mit der IKS zwecks Integration führen wollte, sich als Cyberpunk betätigte und in Spanien die Haupttriebkraft des Trends namens Cyberpunk und Förderer des Cyberaktivismus war.
[17] Der Wunsch nach einem „kommunitären“ Lebensstil, der seine Faszination für den Kibbuz erklärt – und auch in der „Union Espartaquista“ präsent war, bei der es gängig war zusammenzuleben –, war nur ein Beispiel.
[18] In den 80er Jahren wurde jemand namens „Chenier“ in unseren Reihen als Abenteurer entlarvt und in unserer Presse als solcher angeprangert. Kurz darauf wurde er beobachtet, wie er im Dienste Sozialistischen Partei Frankreichs tätig war. Dies drängte uns die Frage auf nach einer möglichen Beziehung zwischen Gaizka und der PSOE, die enger sein mochte, als er es je zugegeben hatte.
[19] Derzeitiger Generalsekretär der PSC (Sozialistische Partei Kataloniens); seit 1978 Mitglied der sozialistischen Jugend und der PSOE; 1998-99 Abgeordneter des Parlaments für Barcelona im Abgeordnetenkongress.
[20] Da diese Institution nicht sehr bekannt ist, geben wir hier eine Notiz zu ihrer Gründung an, welche in der Zeitung UH de Navarra erschienen ist, basierend auf einer Meldung der Agentur Efe: Un español preside el nuevo Consejo Europeo de Acción Humanitaria y Cooperación [41].
[21] Gerade der Krieg im ehemaligen Jugoslawien (mit den ersten Bombardierungen und Massakern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg), wurde im Namen des „Humanitarismus“ geführt, und die Luftangriffe der NATO wurden als „eine Hilfe für die Bevölkerung“ gegen die paramilitärischen Einheiten dargestellt. Unser Position zur imperialistischen Krieg 1999 im Kosovo findet ihr hier (auf Englisch: Editorial: ‘Peace’ in Kosovo, a moment of imperialist war [42])
[22] Juan Alberto Belloch war Justiz- und Innenminister unter Felipe González (1993-1996), bevor er Bürgermeister von Zaragoza wurde.
[23] Vgl. Wikipedia.
[24] REPSOL ist der marktführende Erdölkonzern in Spanien und international präsent, insbesondere in Südamerika.
[25] Anführerin der PSOE und die rechte Hand von Alfredo Pérez Rubalcaba, verstorbener Innenminister und authentischer „Richelieu“ sozialistischer Regierungen, der Fluglotsen zwang, mit Maschinengewehren im Rücken zu arbeiten.
[27] Tageszeitung La Nación, Argentinien
[28] Dieser Blog existiert nicht mehr, so dass wir keinen aktiven Link angeben können; aber wir verfügen über die maßgeblichen Screenshots.
[29] Ein Journalist, der ursprünglich ein maoistischer Militanter der Roten Fahne und der Stalinistischen Partei in Katalonien (PSUC) war, der heute Vox und den rechten Flügel der PP unterstützt. Er hat für ABC und El Mundo geschrieben und war Sprecher beim COPE. Derzeit arbeitet er mit bei der Zeitung Libertad digital und deren Radio is.radio.
[30] Gründer der Zeitung Público, die er später verließ, um Diario.es zu promoten, für die er in erster Linie verantwortlich ist. Analyst in den TV-Talkshows des Senders La Sexta.
[31] „¿Qué hace una chica como tú en un sitio como éste?“ (Was treibt ein Mädchen wie du an einem solchen Ort?) ist ein Song der Madrider Band Burning, die in den 1980er Jahren ein Vermögen verdiente, so dass ein Film von Fernando Colomo mit Carmen Maura in der Hauptrolle entstand.
[32] Auf diesem Kongress vollzog sich die Trennung der letzten proletarischen Tendenzen, die noch in der PSOE Widerstand geleistet hatten, von der Partei, wenn man auch festhalten muss, dass sie ziemlich konfus (zentristisch) waren. Das Thema dieses Kongresses war die Frage, ob man sich der Dritten Internationale anschließe, was mit 8269 Stimmen gegen deren 5016 verworfen wurde. Die Anhänger einer Aufnahme in die Komintern verließen den Kongress und gründeten darauf die Spanische Kommunistische Arbeiterpartei (Partido Comunista Obrero Español).
[33] Révolution ou Guerre Nr. 9 (GIGC)
[34] Révolution ou Guerre Nr. 12 (GIGC)
Die Serie, die wir über die grundlegenden Unterschiede (Klassenunterschiede)[1] zwischen der Linken und der extremen Linken des Kapitals auf der einen Seite und den kleinen Organisationen, die das Erbe der Kommunistischen Linken beanspruchen, auf der anderen Seite veröffentlichen, hat bisher drei Teile: - eine falsche Auffassung von der Arbeiterklasse; - eine Methode und Denkweise im Dienste des Kapitalismus und - eine Funktionsweise, die gegen kommunistische Prinzipien verstößt[2]. Dieser vierte Teil widmet sich der moralischen Frage, um den Abgrund aufzuzeigen, der die Moral der Parteien, die vorgeben, die Ausgebeuteten zu verteidigen, von der proletarischen Moral trennt, die jede echte kommunistische Organisation zu praktizieren hat.
Das Proletariat hat eine Moral. Daraus ergibt sich, dass seine Organisationen eine Moral haben müssen, die mit seinem historischen Kampf und der kommunistischen Perspektive, die es vertritt, im Einklang steht. Während in bürgerlichen Organisationen Amoralität, Skrupellosigkeit, Pragmatismus und erbärmlichster Utilitarismus weit verbreitet sind, muss innerhalb einer proletarischen Organisation notwendigerweise eine Kohärenz zwischen Programm, Arbeitsweise und Moral bestehen.
Welche Art von Moral herrscht in einer bürgerlichen Partei? Ganz einfach – "alles ist erlaubt": Manöver, Staatsstreiche, sozusagen Messerstiche in den Rücken, Intrigen, Lügen und die schlimmste Heuchelei. Der Stalinismus gibt uns ein eindrucksvolles Beispiel mit seinen Forderungen an seine Militanten, die abscheulichsten Taten im Namen der "Diktatur des Proletariats", der "Verteidigung des Sozialismus" usw. zu begehen. Genau wie der Stalinismus rühmen die trotzkistischen Gruppen den gleichen moralischen Pragmatismus und eine blinde und skrupellose Unterstützung für die theoretischen Fehler, die Trotzki in seinem Buch Ihre Moral und unsere gemacht hat, das ansonsten gültige Überlegungen und Elemente enthält.
Die "sozialistischen" Parteien ihrerseits werden als Verfechter positiver Gefühle dargestellt: "Solidarität", "Einbeziehung", "historisches Gedächtnis", "politische Korrektheit" und "gesunder Menschenverstand".
All dieses Geschwätz steht in radikalem Widerspruch zu ihren Aktionen, wenn an der Regierung, wo sie die Arbeiterklasse erbarmungslos angreifen, Streiks mit einer Heftigkeit unterdrücken, die nicht von derjenigen der Rechten zu unterscheiden ist, und zum Beispiel gegen Immigranten Maßnahmen ergreifen, die reinsten Rassismus zum Ausdruck bringen[3]. Was ihr inneres Funktionieren betrifft, so zeigen sie ein Muster der raffiniertesten Intrigen, subtilsten Bündnisänderungen und Kriegen zwischen Clans. Die sozialistischen Parteien sind Experten für die schlimmsten Taktiken der Infiltration, der Zerstörung von innen heraus, Schöpfer trojanischer Pferde usw. Ebenso ihr sprichwörtliches Know-how in dem Führen von "Dossiers", das sowohl ihre "Freunde" als auch ihre Feinde betrifft, die sie mit falschen Allianzen zu fesseln oder von Schlüsselstellungen zu vertreiben versuchen.
Welcher moralische Ballast wurde Militanten auferlegt, die in bürgerlichen Parteien im Allgemeinen und speziell in der Linken und der extremen Linken waren?
1. Blinder Gehorsam gegenüber den Führern.
2. Pragmatismus und erbärmlicher Utilitarismus.
3. Eine Skrupellosigkeit im Namen der "Sache".
4. Bedingungslose Unterwerfung unter die Gebote des nationalen Kapitals.
5. Akzeptieren der Durchführung von Handlungen, die die grundlegendste Moral verleugnen.
6. Spezialisierung auf Manöver und getarnte Intrigen durch 'brillante Taktik'[4].
All dies wird mit einer Heuchelei gerechtfertigt, die typisch ist für eine Bourgeoisie, die im Namen der 'höchsten Moral' die schlimmste Barbarei und die unglaublichsten Ungerechtigkeiten verteidigt: Solidarität, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit... Es ist die berühmte Doppelmoral: Die Politiker und die Führer haben ihre Moral, die darin besteht, sich durch alle Arten von schmutzigem Handel zu bereichern, Rivalen (einschließlich Parteigenossen) loszuwerden und sich um jeden Preis an der Macht zu halten, ohne zu zögern, die verwerflichsten Taten zu begehen. Gleichzeitig verteidigen sie eine "andere Moral" für ihre Untergebenen, für die Mitglieder, für die Schocktruppen der Partei, die, wie wir bereits sagten, Rechtschaffenheit, Opfer, Gehorsam usw. üben müssen.
Um den proletarischen Instinkt der Moral bei den Kämpfern zu zerstören, bestehen sie mit Nachdruck darauf, dass alle Moral "bürgerlich oder religiös" ist und dass sich die Mitglieder daher nur auf "politische Erwägungen" stützen können, um ihr Verhalten zu orientieren. Dieses Argument beruht auf der Tatsache, "dass in der gesamten Geschichte der Klassengesellschaften die herrschende Moral stets die Moral der herrschenden Klasse gewesen war. Dies ist insoweit richtig, als die Moral und der Staat, aber auch Moral und Religion stets synonym in der öffentlichen Meinung waren. Die moralischen Gefühle der Gesellschaft im Ganzen sind stets von den Ausbeutern, durch Staat und Religion, benutzt worden, um den herrschenden Zustand heilig zu sprechen und für ewig zu erklären. Und in der Realität bestand die Hauptrolle, die die Moral in dieser Geschichtsepoche gespielt hat, faktisch darin, den Status quo zu erhalten, die ausgebeuteten Klassen dazu zu bringen, sich in ihrer Unterdrückung zu ergeben. Die Attitüde des Moralisierens, mit der die herrschende Klasse stets danach getrachtet hat, den Widerstand der arbeitenden Klassen durch die Einflößung eines Schuldbewusstseins zu brechen, ist eine der großen Geißeln der Menschheit. Sie ist auch eine der subtilsten und effektivsten Waffen zur Absicherung der Klassenherrschaft."[5]
Moralisieren erzeugt in uns Schuldgefühle. Dies bringt uns dazu, uns schuldig zu fühlen, weil wir essen, für unsere Bedürfnisse kämpfen und uns gut fühlen wollen. Dem Moralismus zufolge drückt dies ein ‚ausschließendes‘ und egoistisches Gefühl aus. Wie kann man es wagen zu essen, wenn Menschen in der Welt hungern? Wie kann man trinken und im Wasser baden, während sich die Umwelt jeden Tag noch mehr verschlechtert? Wie kann man auf einer bequemen Matratze schlafen, wenn Einwanderer auf einem harten Boden schlafen?
Die Moral der Bourgeoisie ist eher die der dekadenten Bourgeoisie des 20. und 21. Jahrhunderts, die darin besteht, die Arbeiter glauben zu machen, dass die minimalen Mittel zum Lebensunterhalt, die ihnen zur Verfügung stehen (Wohnung, Nahrung, Kleidung) oder die Annehmlichkeiten, die sie haben (Elektrohaushaltgeräte, Fernsehen und Internet, bezahlter Urlaub), unverschämter Luxus seien, der auf dem Rücken der Armen der Welt erworben werde, ein "Privileg" in einem Wort, das verschleiert, dass dies die Mittel zur Ausübung ihrer Ausbeutung sind.
Der Moralismus und seine Verfechter innerhalb der Linken und der extremen Linken wollen, dass wir uns für alle durch den Kapitalismus verursachten Leiden in der Welt schuldig fühlen und ein soziales Problem zu einem Problem des Einzelnen machen. So wird die Geißel der Arbeitslosigkeit individuell von den 212 Millionen Arbeitslosen in der Welt verursacht.
Im Allgemeinen zerstört Schuldgefühl die Überzeugung und die Kampfbereitschaft. Diese Gesellschaft propagiert das Schuldgefühl als ihre Lebensweise und macht Schuldzuweisungen gegen andere zu einem Mittel des individualistischen Kampfes, indem sie einige zu einem bestimmten Zeitpunkt sich als schuldig fühlen lässt, die dann ihrerseits versuchen, andere zu einem anderen Zeitpunkt für schuldig zu erklären. Es ist kein Widerspruch, sich in einem Moment schuldig zu fühlen und im nächsten Moment Anschuldigungen gegen andere zu erheben; das ist Teil einer unmenschlichen und individualistischen Moral, die immer um die "Schuldfrage" kreist. Der Kampf gegen die Schuld, ob sie nun von der kapitalistischen Propaganda und ihren spezialisierten Parteien ausgeht oder ob sie als eine Form des Individualismus aus den Beziehungen zwischen Militanten entspringt, ist ein zentraler Kampf der proletarischen Moral.
Der Kampf gegen das bürgerliche Moralisieren darf nicht dazu führen, dass wir die Moral ablehnen. Wir müssen unterscheiden zwischen Moralisieren und Moral: "Ungeachtet all dessen ist seine Pervertierung durch die Hände des Stalinismus kein Grund, das Konzept der proletarischen Moral beiseitezulegen, so wie sie denn auch keine Rechtfertigung dafür ist, dem Konzept des Kommunismus den Rücken zuzukehren. Der Marxismus hat gezeigt, dass die moralische Geschichte der Menschheit nicht nur die Geschichte der Moral der herrschenden Klasse ist. Er hat vorgeführt, dass ausgebeutete Klassen eigene ethische Werte besitzen und dass diese Werte eine revolutionäre Rolle im Fortschreiten der Menschheit spielten. Er hat bewiesen, dass Moral weder mit der Funktion der Ausbeutung noch mit dem Staat oder mit der Religion identisch ist und dass die Zukunft – wenn es denn eine Zukunft geben sollte – einer Moral jenseits von Ausbeutung, Staat und Religion gehört." [6]
"Der Begriff der Moral in der Arbeiterbewegung, obwohl er, sagen wir, nie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der Debatten oder theoretischen Auseinandersetzungen stand, hat nichts mit dem zu tun, was uns die Linke erzählt. Die Moral ist keine 'idealistische' oder scholastische Frage, die nur die Nachahmer/Fortsetzer der Philosophien des Byzantinischen Reiches interessiert, die über das Geschlecht der Engel debattierten, während die Osmanen die Verteidigungsanlagen von Konstantinopel angriffen. Die Moral, wie jedes soziale Produkt des Menschen, ist per Definition eines der Hauptmerkmale der sozialen Beziehungen, mit denen wir uns ausgestattet haben. Eine Realität, die man als kollektiv kalibrierten Sinn für die Angemessenheit oder Nicht-Angemessenheit der Form und Ausrichtung, die wir den Beziehungen, in die wir eingebunden sind, geben, zusammenfassen könnte. Sollte dies dem Proletariat fremd sein, der Klasse, die sowohl das Kind bestimmter sozialer Beziehungen als auch der Träger anderer Beziehungen ist, einer anderen, viel höheren Form der Organisation unserer sozialen Existenz? Wenn in der Vergangenheit, trotz der hier kopierten wichtigen Zitate, die Frage nicht zu sehr entwickelt wurde, dann deshalb, weil die proletarische Bewegung eine lange und reiche Tradition des Organisationslebens hatte, in der die Mehrheit ihrer Kämpfer Regeln für die Diskussion, für den Umgang mit den Genoss*innen, für das Zusammenleben mit ihnen, für die gegenseitige Hilfe und ihr ganzes Vertrauen und ihre Solidarität, wenn es nötig war, einhielt; das heißt, sie lebten eine Moral, die dem Wesen der proletarischen Klasse entsprach: der Klasse der Solidarität, des Vertrauens, der Trägerin der wahren schöpferischen Fähigkeiten der Menschheit und einer wahren menschlichen Kultur.“[7]
In Wirklichkeit will der einzelne Bourgeois eine Moral für die ausgebeutete Mehrheit (die Moral der Sklaven, wie Nietzsche sagte) und "eine andere Moral", viel "geschmeidiger" und frei von jeglichen Skrupeln, für die herrschende Klasse. Für das Kapital sind alle Mittel (einschließlich des Mordes) in Ordnung, wenn sie eine Steigerung der Profite oder den Fortschritt der Macht ermöglichen. Wie Marx sagte, ist das Kapital "blut- und schmutztriefend" zur Welt gekommen, und alle Mittel wurden für seine Expansion eingesetzt: Massaker, Sklaverei, schmutzige Allianzen mit den feudalen Klassen, staatliche Attentate, Verschwörungen... Vergessen wir nicht, dass einer der ersten Ideologen der Bourgeoisie Machiavelli war, und das Wort Machiavellismus wird benutzt, um die moralische Entartung und die skandalöse Skrupellosigkeit zu definieren.[8]
Doppelmoral entspricht am besten der Ideologie und den Methoden des Kapitals. Sie ist der Spiegel des erbitterten Wettbewerbs eines ‚jeden für sich‘, der in den Beziehungen der kapitalistischen Produktion herrscht: "In jeder Aktienschwindelei weiß jeder, daß das Unwetter einmal einschlagen muß, aber jeder hofft, daß es das Haupt seines Nächsten trifft, nachdem er selbst den Goldregen aufgefangen und in Sicherheit gebracht hat. Après moi le déluge! ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation.“[9]
Das Proletariat lehnt die Doppelmoral entschieden ab. In seinem Kampf müssen seine Mittel im Einklang mit seinen Zielen stehen; man kann nicht für den Kommunismus kämpfen, indem man Lügen, Gerüchte, Manöver, Doppelzüngigkeit, Schuldgefühle, den Durst nach Berühmtheit usw. einsetzt. Solche Haltungen müssen energisch bekämpft und als radikal unvereinbar mit kommunistischen Prinzipien abgelehnt werden. Mit diesen "moralischen Abkürzungen" kommt man auf dem schwierigen Weg zum Kommunismus keinen Millimeter voran; das Gegenteil ist der Fall, und man findet sich an Händen und Füßen gefesselt von einem Verhalten, das zum kapitalistischen System gehört; die Gefahr ist, sich von den Gesetzen seines Funktionierens vergiften zu lassen und sich somit von der revolutionären Perspektive zu trennen.
Für die IKS spielt die proletarische Moral eine zentrale Rolle: "Unsere Auffassung zu dieser Frage findet ihren lebendigen Ausdruck in unseren Statuten (1982 verabschiedet). Wir haben stets darauf bestanden, dass die Statuten nicht eine Kollektion von Regeln sind, die festlegen, was erlaubt ist und was nicht, sondern eine Orientierung für unser Verhalten und unsere Haltung, die ein in sich zusammenhängendes Ganzes von moralischen Werten (besonders bezüglich des Verhältnisses unter den Mitgliedern und gegenüber der Organisation) zusammenfasst. Daher verlangen wir von jedem, der Mitglied der Organisation werden will, eine tiefgehende Übereinstimmung mit diesen Werten. Doch die Statuten als integraler Bestandteil unserer Plattform regeln nicht allein, wer unter welchen Umständen Mitglied der IKS werden kann. Sie bedingen auch den Rahmen und den Geist des militanten Lebens der Organisation und jedes ihrer Mitglieder."
Aber die Entwicklung einer organisatorischen Funktionsweise und von Beziehungen zwischen den Genossen auf der Grundlage der moralischen Kriterien des Proletariats ist keine leichte Aufgabe; sie erfordert einen beharrlichen Kampf. Heute leidet das Proletariat unter einem ernsten Problem der Identität und des Vertrauens in sich selbst, und dies verschärft im allgemeinen historischen Kontext dessen, was wir den Zerfall des Kapitalismus[10], nennen, die Schwierigkeiten des Lebens und der täglichen Praxis einer proletarischen Moral nicht nur innerhalb der Arbeiterklasse als Ganzes, sondern auch innerhalb ihrer revolutionären Organisationen. Was die gegenwärtige Gesellschaft in einer weit verbreiteten und tödlichen Weise aus all ihren Poren ausstößt, ist Skrupellosigkeit, Unehrlichkeit, Skepsis, Zynismus... ein endloser Angriff auf die proletarische Moral.
Im Gegensatz zu der Vorstellung, die der Stalinismus von den Kommunisten als Fanatikern, die zu allem fähig seien, um den 'Kommunismus' durchzusetzen, verbreitet hat, haben sie immer eine feste moralische Haltung gezeigt[11] und damit die Bedeutung der Frage der Moral für die Arbeiterbewegung zum Ausdruck gebracht[12].
Gegenüber dem Marxismus besteht ein Vorurteil, das es schwierig macht, seine feste Verankerung in moralischen Kriterien zu verstehen. Gegenüber dem utopischen Sozialismus verteidigte der Marxismus die Notwendigkeit, die kommunistischen Positionen nicht in moralischen Positionen, sondern in einer wissenschaftlichen Analyse der Situation des Kapitalismus, des Kräftegleichgewichts zwischen den Klassen, der historischen Perspektive usw. zu verorten. Daraus darf man jedoch nicht ableiten, dass der Marxismus ausschließlich auf wissenschaftlichen Prinzipien beruhen müsse, während er moralische Prinzipien ablehne: "Der Marxismus hat nie die Notwendigkeit oder die Bedeutung des Beitrags nicht-theoretischer und nicht-wissenschaftlicher Faktoren beim Aufstieg der Menschheit geleugnet. Im Gegenteil, er hat immer ihre Notwendigkeit und gar ihre relative Unabhängigkeit begriffen. Daher war er in der Lage, ihre gegenseitigen Verbindungen in der Geschichte zu untersuchen und ihre gegenseitige Ergänzung zu erkennen."
Der Marxismus ist keine kalte Ideologie (wie der griechische Schriftsteller Kostas Papaioannon in den 1960er Jahren sagte), die Militante als Bauern des "Zentralkomitees" betrachtet, die nach Belieben in einer Schachpartie gegen die herrschende Klasse manipuliert werden. In ihren Beziehungen untereinander und gegenüber der Organisation sowie gegenüber dem Proletariat verhalten sich die Militanten mit der strengsten moralischen Rechtschaffenheit.
Dieser letzte Punkt ist entscheidend für das Verständnis, dass in unserer Epoche der gesellschaftliche Zerfall die Moral innerhalb des revolutionären Kampfes umso wichtiger macht. "Heute, angesichts des „Jeder-für-sich“ des kapitalistischen Zerfalls und der Aushöhlung aller moralischen Werte, wird es für revolutionäre Organisationen – und, allgemeiner noch, für die aufkommende neue Generation von Militanten – unmöglich sein, sich zu behaupten, ohne sich Klarheit über moralische und ethische Themen verschafft zu haben. Nicht nur die bewusste Entwicklung der Arbeiterkämpfe, sondern auch eine spezifische theoretische Auseinandersetzung mit diesen Fragen und die Wiederaneignung des Werkes der marxistischen Bewegung sind zu einer Überlebensfrage geworden. Dieser Kampf ist unverzichtbar nicht nur für den proletarischen Widerstand gegen den Zerfall und die aus diesem resultierende amoralische Haltung, sondern auch, um das proletarische Vertrauen in eine Zukunft der Menschheit mithilfe des eigenen historischen Projekts wiederzugewinnen."
Die Schwierigkeit, auf die revolutionäre Generationen heute stoßen, besteht darin, dass auf der einen Seite eine proletarische Moral, die auf Solidarität, Vertrauen, Loyalität, bewusster Zusammenarbeit und Wahrheitssuche beruht, notwendiger denn je ist, aber die historischen Bedingungen der Dekadenz und des Zerfalls des Kapitalismus sowie die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse lassen dies utopischer, unpraktischer und sinnloser erscheinen.
Wie es in unserem Text zur Ethik heißt: "Doch die Barbarei und Unmenschlichkeit der kapitalistischen Dekadenz ist einmalig. Es ist nicht leicht, nach Auschwitz und Hiroshima und angesichts permanenter, allgemeiner Zerstörung das Vertrauen in die Möglichkeit eines moralischen Fortschritts aufrecht zu halten. (...) Die öffentliche Meinung glaubt das Urteil des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) bestätigen zu können, dass der Mensch unter seinesgleichen wie ein Wolf unter Wölfen ist. Der Mensch wird im Grunde als destruktiv, räuberisch, egoistisch, heillos irrational und in seinem Sozialverhalten als unter vielen Tierarten stehend betrachtet."
Es gibt jedoch ein weiteres Element, das der Entwicklung der Moral eine zusätzliche Schwierigkeit hinzufügt: die Kluft zwischen Naturwissenschaften und Technik und das noch stärker ausgeprägte Hinterherhinken der Sozialwissenschaften, wie Pannekoek in seinem Buch Anthropogenesis: a study in the origins of man schrieb: "Die Naturwissenschaften gelten als das Feld, auf dem sich das menschliche Denken in einer kontinuierlichen Reihe von Triumphen mit der größten Kraft entwickelt hat, die konzeptionellen Formen der Logik... Im Gegenteil, am anderen Ende der Skala bleiben menschliche Handlungen und Beziehungen, in denen das Handeln und Denken hauptsächlich von Leidenschaft und Impulsen, von Willkür und Unberechenbarkeit, von Tradition und Glauben bestimmt wird (...). Der Kontrast, der sich hier zeigt, mit der Perfektion auf der einen Seite und der Unvollkommenheit auf der anderen, bedeutet, dass der Mensch die Kräfte der Natur beherrscht, aber nicht die ihm innewohnenden Willens- und Leidenschaftskräfte. Wo er stillsteht und vielleicht manchmal rückwärts geht, ist der offensichtliche Mangel an Kontrolle über seine eigene "Natur". Offensichtlich ist dies der Grund, warum die Gesellschaft so weit hinter der Wissenschaft steht. Möglicherweise besitzt der Mensch die Herrschaft über die Natur. Aber er hat noch immer keine Herrschaft über seine eigene Natur".
Diese Situation der Ignoranz und des Unverständnisses für diese tiefgreifenden Aspekte der menschlichen Existenz macht es sehr schwierig, diesem Phänomen zu begegnen, das durch den sozialen und ideologischen Zerfall ständig verschlimmert wird: "die Ausbreitung des Nihilismus, der Selbstmorde unter Jugendlichen, der Hoffnungslosigkeit (wie er durch das "No Future" der Riots in den westlichen Großstädten zum Ausdruck kommt), des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit unter den "Skinheads" und "Hooligans", ... die Flutwelle der Drogen, die heute zu einem Massenphänomen werden und stark zur Korruption im Staat und den Finanzorganismen beitragen, die kein Teil der Welt verschonen und besonders die Jugend erfassen, ein Phänomen, das immer weniger die Flucht in Trugbilder zum Ausdruck bringt und immer mehr den Wahnsinn und den Selbstmord widerspiegelt... die Fülle an Sekten, das Wiederaufleben religiöser Geisteshaltungen auch in fortgeschrittenen Ländern, die Ablehnung eines vernunftgesteuerten, zusammenhängenden, konstruktiven Denkens auch in Teilen einiger "wissenschaftlicher" Milieus... das "Jeder für sich", die Atomisierung des Einzelnen, die Zerstörung der Familienbeziehungen, die Ausgrenzung der alten Menschen, die Zerstörung der Gefühle und ihre Ersetzung durch die Pornographie"[13].
Während alle bürgerlichen Parteien (ob rechts oder links) das Ziel haben, die heutigen Verhältnisse so zu verwalten, dass der Kapitalismus erhalten bleibt, befindet sich die revolutionäre Organisation an einem Punkt zwischen der Gegenwart und der kommunistischen Zukunft des Proletariats. Dazu pflegt sie die bereits erwähnten moralischen Qualitäten, die die Säulen einer zukünftigen kommunistischen Weltgesellschaft sein werden. Diese Qualitäten sind durch das Gewicht der herrschenden Ideologie und des kapitalistischen Zerfalls ständig bedroht. Sie zu verteidigen erfordert neben einer ständigen theoretischen Ausarbeitung eine ständige Anstrengung, einen unermüdlichen kritischen Geist und Wachsamkeit.
Für revolutionäre Organisationen hat diese Kultur sowohl innerhalb der Organisation (interne Funktionsweise) als auch nach außen (in Interventionen) einen Stellenwert. Es geht nicht darum, die Organisation von der Welt zu isolieren und sich in kleine, selbstverwaltete Gemeinschaften einzuschließen (was der reformistische Fehler des Anarchismus ist), sondern in ihr selbst existiert ein ständiger Kampf um die Entwicklung dieser Prinzipien. Wie Lessing, der deutsche Dichter des achtzehnten Jahrhunderts, sagte: "Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen". In einer revolutionären Organisation sind Prinzipien genauso wichtig wie der Kampf um sie.
Der Kampf für den Kommunismus lässt sich nicht auf eine einfache Frage der Propaganda reduzieren: zu erklären, was eine zukünftige Gesellschaft ist; die historische Rolle des Proletariats bei der Überwindung der Widersprüche des Kapitalismus aufzuzeigen usw. Das wäre ein einseitiger und verkürzter Begriff. Im Gegensatz zu den Produktionsweisen, die ihm vorausgingen, kann der Kommunismus nicht von selbst aus entfremdenden und entfremdeten Prozessen entstehen, sondern nur mit dem vollen Bewusstsein und dem massiven subjektiven Engagement des Proletariats. In der revolutionären Organisation ist der Kampf für ein kohärentes Leben nach kommunistischen Prinzipien noch entscheidender. Der Kampf für den Kommunismus ist unmöglich ohne ständige Wachsamkeit und eine Antwort gegen Verhaltensweisen wie Neid, Eifersucht, Lügen, Intrigen, Manipulation, Diebstahl und Gewalt gegenüber anderen.
In einem seiner polemischen Exzesse behauptete Bordiga, dass man auch durch eine Monarchie zum Kommunismus gelangen könne. Damit wollte er zeigen, dass es darauf ankomme, "zum Kommunismus zu gelangen", während "der Weg dorthin" wenig zähle, jede Methode wäre recht. Wir lehnen eine solche Denkweise kategorisch ab: Um zum Kommunismus zu gelangen, muss man wissen, wie man ihn erreichen kann, die Mittel müssen mit dem kommunistischen Ziel übereinstimmen. Gegen den Pragmatismus von Stalinismus und Trotzkismus, die blind der Maxime "der Zweck heiligt die Mittel" folgen, müssen das Proletariat und seine revolutionären Organisationen eine klare Kohärenz zwischen Zweck und Mitteln, zwischen Praxis und Theorie, zwischen Aktion und Prinzipien aufrechterhalten.
Die vorherrschende Moral schwankt zwischen zwei scheinbar gegensätzlichen Alternativen, die aber um den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft kreisen, was eine Lösung der Frage nicht nur nicht zulässt, sondern das Dilemma eher noch verschärft.
Auf der einen Seite haben wir den Individualismus, bei dem das Individuum "das tut, was gut für es ist", auf Kosten der anderen. Auf der anderen Seite haben wir die Unterwerfung des Individuums unter die "Interessen der Gesellschaft" (eine Formel, hinter der sich die totalitäre Herrschaft des Staates verbirgt), die sich im Wesentlichen in zwei Formen darstellt: die einer Ansammlung anonymer und unpersönlicher Individuen (die von den Stalinisten und Trotzkisten bevorzugte Form) und die des kantischen moralischen Imperativs, der zum individuellen Verzicht und zur Aufopferung für andere führt (in dieser Tendenz findet sich auch die christliche Moral).
In Wirklichkeit sind diese beiden moralischen Pole nicht gegensätzlich. Im Gegenteil, sie sind komplementär, da sie zwei Aspekte der Dynamik des Kapitalismus widerspiegeln. Auf der einen Seite ist der Utilitarismus von Bentham eine idealistische Vision des erbitterten Wettbewerbs, der die treibende Kraft des Kapitalismus ist. Hier kämpft jeder Einzelne für sein eigenes Wohlergehen, ohne Rücksicht auf die anderen, und dies soll "zum Wohle aller" sein, d.h. zum "Wohle" des guten Funktionierens des kapitalistischen Systems (gegen den Feudalismus), wobei Privilegien oder erworbene Positionen nicht respektiert werden, außer wenn es darum geht, sich dem Funktionieren einer mörderischen Wettbewerbsgesellschaft zu unterwerfen.
Eine zweite Komponente des utilitaristischen und amoralischen Pols ist die Entstellung der Darwin’schen Theorie, die zum "Sozialdarwinismus" wird. Nach dieser Sichtweise ist die natürliche Auslese das Ergebnis eines grausamen und erbarmungslosen Krieges, in dem der "Stärkere" triumphiert und der „Schwächere" eliminiert wird, wodurch "die Höherentwicklung der menschlichen Spezies" ermöglicht wird. Wir können hier keine Verteidigung von Darwins materialistischem Evolutionskonzept[14] entwickeln, aber es ist klar, dass diese moralische Vision des "Sozialdarwinismus" eine Idealisierung der kapitalistischen Wirklichkeit darstellt, in ein pseudowissenschaftliches Gewand gehüllt, während der Kapitalismus tatsächliche der Krieg eines Jeden gegen alle ist. Diese Idealisierung drückt den herrschenden Verhältnissen den Stempel der Zustimmung auf, einer Realität, die durch den Zerfall des Systems noch verschärft wird.
Auf der anderen Seite trat Kant für einen anderen moralischen Pol ein, der allem Anschein nach entgegengesetzt war: für den berühmten moralischen Imperativ. Dieser stellte eine Art "Zurückhaltung des entfesselten Egoismus" dar, um den sozialen Zusammenhalt nicht zu zerstören. Es handelt sich um eine "kritische" Akzeptanz der Barbarei des Wettbewerbs, während man versucht, ihm Grenzen und Regeln aufzuerlegen, um seine destruktiven Auswüchse zu vermeiden. Der Kapitalismus führt zur Zerstörung der Menschheit, weil er in seiner DNA die Vernichtung des gesellschaftlichen Wesens der Menschheit trägt, das sie in den vielen Jahrtausenden ihrer Existenz erworben hat. Der kantische moralische Imperativ, der dieser Tendenz Einhalt gebieten will, ist nichts anderes als eine idealistische Version der Rolle eines "Regulators" und Garanten des minimalen gesellschaftlichen Zusammenhalts, den der Staat übernimmt, eine Rolle, die im dekadenten Kapitalismus durch das Chaos und die Selbstzerstörung, die seine Widersprüche auslösen, noch verstärkt wird.
Der kantische Moralismus und der Utilitarismus sind die beiden Seiten der gleichen Münze. Die Tendenz, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb der Sozialdemokratie unter der Losung "Rückkehr zu Kant" entwickelte, begnügte sich nicht nur damit, den marxistischen Materialismus anzugreifen und zu zerstören, sondern griff auch eine proletarische Moral an, die nichts mit dem moralischen Imperativ zu tun hat.
Stalinismus und trotzkistische Gruppen haben die Idee propagiert, dass die kommunistische Militanz das blinde Opfer des Individuums für den moralischen Imperativ sei, der durch die übergeordneten Interessen der 'Partei' oder des 'sozialistischen Vaterlandes' verkörpert werde.
Die Ablehnung dieser barbarischen Moral, die zur blinden Unterwerfung und Selbstzerstörung der Militanten führt, hat in zahlreichen Fällen zum anderen Extrem der bürgerlichen Moral geführt: zu den Auswüchsen des Kults des Individualismus, der für das Kleinbürgertum charakteristisch ist und zu dessen schärfstem Ausdruck der Anarchismus gehört.
Das Proletariat trägt die Lösung des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft in sich. Wie es im Kommunistischen Manifest heißt, gilt im Kommunismus: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassen-Gegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines Jeden, die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist.“[15]
Im Kapitalismus hat die assoziierte Arbeit im Weltmaßstab des Proletariats die Perspektive, darüber hinauszugehen: Wenn die gemeinsame Arbeit viel weiter geht als die Summe der individuellen Arbeiten, ist der Beitrag jedes Einzelnen einzigartig und unverzichtbar für das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit.
Revolutionäre Organisationen sind durch den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft unter der Form des Individualismus einem ständigen Angriff ausgesetzt. Wir haben uns bereits in zahlreichen Texten mit dem Problem befasst, das wir hier kurz angesprochen haben[16]. Dieser Individualismus, der sich als 'frei', 'rebellisch' und 'kritisch' ausgibt, ist in Wirklichkeit ein Gefangener all der zerstörerischen Impulse, die der Kapitalismus ausbrütet (Konkurrenz, Egoismus, Manipulation, Schuld, Rivalität und Rachegeist), und übt einen großen Druck im Leben der revolutionären Organisation aus. Seine "Revolte" geht nicht weiter als die blinde und dumme Polarisierung "gegen jede Autorität", die sie zu einem direkten Faktor der Desorganisation und der Spannungen zwischen den Genoss*innen macht. Schließlich gründet seine "Kritik" auf Misstrauen und Ablehnung jeglichen kohärenten Denkens und ersetzt es durch Spekulationen, Vorurteile und die extravagantesten Interpretationen.
Dieser Individualismus steht im diametralen Gegensatz zur Solidarität, die nicht nur eine der senkrechten Säulen des Proletariats, sondern auch des Funktionierens der revolutionären Organisationen ist. Wir haben dieses Thema in unserem Orientierungstext über Vertrauen und Solidarität im proletarischen Kampf[17] ausführlich behandelt.
C. Mir, 1. März 2018
[1] Für eine globalere Analyse dieser Unterschiede siehe unseren Artikel in Spanisch: "Was sind die Unterschiede zwischen der Kommunistischen Linken und der IV. Internationale? [48]“
Siehe auch in Französisch: "Revolutionäre Prinzipien und revolutionäre Praxis" und in Englisch: "Die Kommunistische Linke und die Kontinuität des Marxismus [49]", und "The International Conferences of the Communist Left (1976-1980). Lessons of an experience for the proletarian milieu" (International Review Nr. 122, 3. Quartal 2005).
[2] Siehe unsere vorangegangenen Artikel 1-3 in dieser Reihe:
[3] Die deutsche Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) gibt ein perfektes Beispiel für dieses Verhalten, von dem sie sagt, es habe nichts damit zu tun – eine reine Lüge. Es war die SPD, die in den Jahren 1918-1923 die revolutionären Versuche des Proletariats in Deutschland unterdrückte und damit hunderttausend Tote zu verantworten hatte, und sie befahl auch die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (1919). Jüngeren Datums sind die Aktionen der sozialdemokratischen Regierung Schröder in den 2000er Jahren, die brutal gegen die Lebensbedingungen der Arbeiter vorging und beispielsweise die Mini-Jobs von 400 Euro im Monat umsetzte.
[4] Trotzki selbst verteidigte eine zweideutige Position zu diesen Manövern.
Einerseits anerkannte er, dass "die herrschenden Klassen, besitzergreifend, ausbeuterisch, gebildet, ihre Erfahrung mit der Welt so groß, ihr Klasseninstinkt so ausgeprägt, ihre Spionagemittel so vielfältig, dass man, wenn man versucht, sie zu täuschen, indem man sich als etwas ausgibt, das man nicht ist, nicht von Feinden, sondern von Freunden in eine Falle gelockt wird". Andererseits aber, so sagt er, "muss der nützliche Wert dieser Manöver strikt als Mittel in Bezug auf die grundlegenden Methoden des revolutionären Kampfes eingesetzt werden" (Die Dritte Internationale nach Lenin).
Diese Theoretisierung des Manövers im Allgemeinen, ohne die Tatsache zu klären, dass es nur gegen den Klassenfeind, aber niemals gegen die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Organisationen eingesetzt werden kann, hat trotzkistischen Organisationen geholfen, alle möglichen Manöver gegen die Arbeiterklasse und gegen ihre eigenen Militanten zu rechtfertigen.
[5] Marxismus und Ethik, Internationale Revue Nr. 39 (sofern nicht anders erwähnt, stammen Zitate aus diesem Text).
[6] Marxismus und Ethik
[7] La importancia del debate moral y organizativo [53] (Von der Wichtigkeit der moralischen und organisatorischen Debatte), Acción Proletaria, April 2017
[8] Machiavellismus, das Bewusstsein und die Einheit der Bourgeoisie, International Review Nr. 31 (engl./frz./span. Ausgabe), viertes Quartal 1982.
[9] Karl Marx, Das Kapital, Band 1, III. Abschnitt, 8. Kapitel.
[10] Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 13, 1991.
[11] Das bedeutet nicht, dass es keine Unterschiede in der Auffassung von Moral gegeben hätte, einige mehr utilitaristisch wie im Fall von Lenin und andere mehr kohärent wie im Fall von Rosa Luxemburg. Das ist eine Frage, die vertieft werden sollte.
[12] Wir können hier zwei Beispiele anführen: 1839-42 waren die wahrscheinlich wichtigsten Mobilisierungen in der Geschichte des Proletariats in Großbritannien, und ihr Hauptmotiv war die Empörung und das Entsetzen, das in Teilen des Proletariats über die schreckliche Ausbeutung ihrer Klasse, Männer, Frauen und Kinder, insbesondere in der Textilindustrie, ausgelöst wurde. Das zweite Motiv ist der spontane Streik, der 1941 in Holland gegen die Deportation von Juden durch die Nazis ausbrach.
[13] Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 13.
[14] Siehe zum Beispiel den Text von Anton Pannekoek Marxismus und Darwinismus (Teile eins und zwei, veröffentlicht in der International Review Nr. 137 und 138 (engl./frz./span. Ausgabe).
[16] Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre [2] (Januar 1982), auf Deutsch publiziert in Internationale Revue Nr. 22; Dokumente aus dem Organisationsleben: Die Frage der Funktionsweise in der IKS [55] (Oktober 1993), Internationale Revue Nr. 30
[17] Das Vertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats [21], 1. und 2. Teil [56], viertes Quartal 2002.
Dieser Artikel ist Teil der Serie „Das verborgene Erbe der Linken des Kapitals“, in der wir uns damit befassen wollen, wie mit etwas umzugehen sei, was für zahlreiche Gruppen und Militante der Kommunistischen Linken schwierig ist: Es geht nicht nur darum, mit allen politischen Positionen der Parteien des Kapitals (populistisch, faschistisch, rechts, links, extrem links) zu brechen, sondern es ist auch notwendig, mit ihren Organisationsmethoden, ihrer Moral und ihrer Denkweise zu brechen. Dieser Bruch ist absolut notwendig, aber er ist schwierig, weil wir täglich mit den ideologischen Feinden der Befreiung der Menschheit leben: der Bourgeoisie, der Kleinbourgeoisie und dem Lumpenproletariat. In diesem fünften Artikel der Reihe befassen wir uns mit der entscheidenden Frage der Debatte[1].
Die Debatte ist die Quelle des Lebens des Proletariats, einer Klasse, die keine unbewusste Kraft ist, die blind kämpft und vom Determinismus der objektiven Bedingungen angetrieben wird. Sie ist im Gegenteil eine bewusste Klasse, deren Kampf von einem Verständnis der Notwendigkeiten und Möglichkeiten auf dem Weg zum Kommunismus geleitet wird. Dieses Verständnis ergibt sich nicht aus absoluten Wahrheiten, die ein für alle Mal im Manifest der Kommunistischen Partei formuliert wurden oder dem privilegierten Geist brillanter Führer entstammen, sondern es ist ein Produkt "der intellektuellen Entwicklung der Arbeiterklasse (die aus gemeinsamer Aktion und Diskussion hervorgehen muss)". Die Ereignisse und das Auf und Ab des Kampfes gegen das Kapital, Niederlagen mehr als seine Erfolge, können die Kämpfer nur die Unzulänglichkeiten all ihrer Mittel spüren lassen und sie zu einem grundlegenden Verständnis der wirklichen Bedingungen der Emanzipation der Arbeiter führen"[2].
Die revolutionären Proletarier und Proletarierinnen stützen sich auf die gigantischen Debatten der Massen. Die autonome und selbstorganisierte Aktion der Arbeiterklasse beruht auf Debatten, an denen Hunderttausende von Arbeitern, Jugendliche, Frauen, Rentnerinnen und Rentner aktiv teilnehmen. Die Russische Revolution von 1917 basierte auf einer permanenten Debatte mit Tausenden von Diskussionen vor Ort, auf den Straßen, in den Straßenbahnen... Die Tage des Jahres 1917 haben uns zwei Bilder hinterlassen, die die Bedeutung der Debatte für die Arbeiterklasse gut veranschaulichen: die blockierte Straßenbahn, weil ihre Insassen, einschließlich des Fahrers, beschlossen, anzuhalten und über ein Thema zu diskutieren; oder ein Fenster zur Straße, aus dem ein Redner eine Rede hält, vor dem sich eine Menge von Hunderten von Menschen versammelt, die zusammenkommen, um zuzuhören und zu diskutieren.
Auch der Mai 68 war eine ständige Debatte der Massen. Es besteht ein eklatanter Kontrast zwischen den Diskussionen der Arbeiter bei den Streiks im Mai, bei denen über die Zerstörung des Staates, die Schaffung einer neuen Gesellschaft, um Gewerkschaftssabotage usw. diskutiert wurde, und von "radikalen" Maoisten kontrollierte "Studentenversammlungen" in Deutschland im Jahr 1967, bei der es drei Stunden dauerte, um zu entscheiden, wie eine Demonstration organisiert werden sollte. "Wir reden miteinander und wir hören einander zu" war einer der beliebtesten Slogans vom Mai 68.
Die Bewegungen von 2006 und 2011 (Kampf gegen den CPE in Frankreich und die Bewegung der Indignados in Spanien[3]) basierten auf der lebendigen Debatte von Tausenden von Arbeitern, Jugendlichen usw. und auf uneingeschränkter Diskussion. An besetzten Orten wurden "fliegende Bibliotheken" organisiert, die an eine Aktion erinnerten, die während der Russischen Revolution von 1917 mit großer Wucht auftrat, wie John Reed 10 Tage, die die Welt erschütterten unterstrich: "Ganz Russland lernte lesen. Und es las – Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte wissen. In jeder Großstadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere. Hunderttausende von Flugblättern wurden von Tausenden Organisationen verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfer, die Fabriken, die Straßen. Der Drang nach Wissen, so lange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten sechs Monaten Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Russland saugte den Stoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder der billige Roman, der demoralisiert – es waren soziale und ökonomische Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis“ [4].
Während die Debatte der Lebensnerv der Arbeiterklasse ist, so gilt dies umso mehr für ihre revolutionären Organisationen: "Im Gegensatz zu der bordigistischen Auffassung darf die Organisation der Revolutionäre nicht "monolithisch" sein. Wenn es Divergenzen in ihren Reihen gibt, spiegelt das die Tatsache wider, daß es sich um eine lebendige Organisation handelt, die nicht immer eine unmittelbare, fest geformte Antwort auf die Probleme hat, vor denen die Klasse steht. Der Marxismus ist weder ein Dogma, noch ein Katechismus. Er ist ein theoretisches Instrument einer Klasse, die mittels ihrer Geschichte und im Hinblick auf ihre historische Zukunft schrittweise – Höhen und Tiefen durchlaufend – zu einer Bewußtwerdung hin voranschreitet, die die unabdingbare Vorbedingung ihrer Befreiung ist. Wie jedes menschliche Nachdenken und Überlegen, das auch bei der Entwicklung des proletarischen Bewußtseins vorhanden ist, handelt es sich nicht um einen linearen und mechanischen Prozeß, sondern um einen widersprüchlichen und mit Kritiken behafteten Prozeß. Er setzt notwendigerweise die Auseinandersetzung mit kontroversen Argumenten voraus. Tatsächlich ist der berühmte "Monolithismus" oder die viel gepriesene "Invarianz" der Bordigisten eine Illusion, ein Schein (was sich oft in den Stellungnahmen dieser Organisation und ihrer verschiedenen Sektionen widerspiegelt). Entweder ist die Organisation vollständig verkalkt und hat den Bezug zum Leben der Klasse verloren, oder sie ist nicht monolithisch und ihre Positionen sind nicht invariant, unveränderlich."[5]
Die Leute, die in bürgerlichen politischen Parteien waren, haben jedoch selbst erfahren, dass diese "Debatte" eine Farce und eine offensichtliche Quelle des Leidens ist. In allen bürgerlichen Parteien, egal welcher Couleur, nimmt die "Debatte" die Form eines "Duells mit Knüppeln" an wie im berühmten Gemälde von Goya im Prado-Museum in Madrid. Die Wahldebatten sind nur Müll, voll von Beleidigungen, Anschuldigungen, schmutziger Wäsche, Fallen und hinterhältigen Hieben. Es sind Schauspiele der Verunglimpfung und Abrechnung, die als Boxkämpfe konzipiert sind, bei denen Realität und Wahrheit nichts zählen. Es geht nur darum zu sehen, wer gewinnt und wer verliert, wer am besten betrügen und lügen kann, wer mit dem größten Zynismus Gefühle manipulieren kann.[6]
In bürgerlichen Parteien ist die "freie Meinungsäußerung" reiner Humbug. Die Dinge können bis zu einem gewissen Punkt gesagt werden, aber nicht darüber hinaus, wenn die Dominanz der "Führung" in Frage gestellt wird. Wenn diese Schwelle überschritten wird, wird eine Lügenkampagne gegen diejenigen organisiert, die es gewagt haben, selbst zu denken, wenn sie nicht direkt aus der Partei ausgestoßen werden. Diese Praktiken haben in allen Parteien stattgefunden, in denen sowohl die Peiniger als auch ihre Opfer davon Gebrauch machen. Rosa Diez, eine Führerin der baskischen PSOE, ist so zur Zielscheibe einer heftigen Verleumdungskampagne von Spitzeln aus den Reihen der "Genossen" ihrer Partei geworden. Sie wollte sich nicht der damals geltenden Orientierung für eine Zusammenarbeit mit dem baskischen Nationalismus anschließen, und die Parteifreunde machten ihr das Leben bis zu ihrem Austritt aus der Partei unmöglich. Dann gründete sie die UYPD (die versuchte, eine zentristische Position zu halten, die dann von Ciudadanos übernommen wurde), und wenn Rivalen und Gegner in ihrer eigenen Gruppe auftauchten, ereilte sie dasselbe Schicksal, und die Machenschaften erreichten sogar neue Tiefen des Sadismus und Zynismus, die Stalin zum Schaudern gebracht hätten.
Im Allgemeinen werden Debatten in bürgerlichen Parteien, unabhängig von ihrer Komplexität, vermieden. Stalin verbot Debatten und profitierte dabei von einem schwerwiegenden Fehler der Bolschewistischen Partei im Jahr 1921: dem Verbot der Fraktionen, einer Maßnahme, die Lenin als falsche Antwort auf Kronstadt vorschlug.[7] Der Trotzkismus blockiert gleichermaßen die Debatte in seinen eigenen Reihen und praktiziert dieselbe Art von Ausschluss und Repression. Ein Beispiel dafür ist ein versuchter Ausschluss aus der Linken Opposition, der in einem stalinistischen Gefängnis geschah(!)[8], wie das Buch von Anton Ciliga[9] bezeugt, das in früheren Artikeln dieser Serie schon zitiert wurde: "Zum ideologischen Kampf im trotzkistischen 'Kollektiv' kam ein organisatorischer Konflikt hinzu, der für einige Monate ideologische Fragen auf eine zweite Ebene verlagerte. Diese Konflikte prägen die Psychologie und die Gewohnheiten der russischen Opposition. Sowohl die Rechte als auch die Mitte stellen den 'bolschewistischen Militanten' das folgende Ultimatum: entweder sie lösen sich auf und stellen ihre Veröffentlichung ein oder sie werden aus der trotzkistischen Organisation ausgeschlossen.
Tatsächlich war die Mehrheit der Meinung, dass es keine Notwendigkeit für eine Untergruppe innerhalb der trotzkistischen Fraktion gäbe. Dieses Prinzip der 'monolithischen Fraktion' war im Grunde dasselbe, das Stalin für die gesamte Partei inspirierte."
Auf den Kongressen solcher Organisationen hört niemand den Vorträgen zu, die aus langweiligen Ausführungen bestehen, in denen gleichzeitig das eine und das andere bekräftigt wird. Es werden Gebietskonferenzen, Seminare und viele andere Veranstaltungen organisiert, die nichts anderes als „public relations“-Veranstaltungen sind.
Die "Debatte" in diesen Organisationen entsteht, wenn es darum geht, die herrschende Clique zu vertreiben und sie durch eine neue zu ersetzen. Dies kann verschiedene Gründe haben: fraktionelle Interessen, Abweichungen hinsichtlich der Verteidigung des nationalen Interesses, schlechte Wahlergebnisse... Von hier aus bricht die "Debatte" aus, die sich als ein Kampf um die Macht erweist. Bei manchen Gelegenheiten besteht die "Debatte" darin, dass eine Fraktion eine verworrene und widersprüchliche "These" erfindet und sich gewaltsam gegen die der Rivalen stellt, wobei sie mit Worten, aufhetzenden Adjektiven ("opportunistisch", "Aufgabe des Marxismus" usw.) und anderen raffinierten Vorwänden zu heftiger Kritik greift. Die "Debatte" wird zu einer bloßen Abfolge von Beleidigungen, Drohungen, dem Streuen von schmutziger Wäsche in der Öffentlichkeit, Anschuldigungen..., die hin und wieder durch diplomatische Zustimmungsakte unterbrochen werden, um den Wunsch nach Einheit "zu zeigen" und zu zeigen, dass man seinen Rivalen schätzt, die letztendlich doch "Genossen" sind[10]. Schließlich kommt ein Moment, in dem sich ein Gleichgewicht zwischen den streitenden Kräften einstellt und die "Debatte" zu einer Summe von "Meinungen" wird, die jeder als sein Eigentum verteidigt, was zu keiner Klärung führt, sondern eher zu einer chaotischen Summe von Ideen oder "versöhnlichen" Texten, in denen gegensätzliche Ideen nebeneinander gestellt werden.[11]
Daraus lässt sich schließen, dass die "Debatte" in den bürgerlichen Organisationen (unabhängig von ihrem Platz auf dem politischen Schachbrett, der von der extremen Rechten bis zur extremen Linken reicht) eine Farce und ein Mittel zur Einleitung persönlicher Angriffe ist, die schwerwiegende psychologische Folgen für die Opfer haben kann und die die auffallende Grausamkeit und das völlige Fehlen moralischer Skrupel der Täter zeigt. Schließlich ist es ein Spiel, bei dem die Täter manchmal zu Opfern werden und umgekehrt. Die schreckliche Behandlung, die sie erlitten haben, kann vielen anderen zugefügt werden, sobald sie die Macht erlangt haben.
Die proletarische Debatte ist grundlegend anders. Die Debatte innerhalb proletarischer Organisationen reagiert nach radikal anderen Prinzipien als denjenigen, die wir soeben in bürgerlichen Parteien gesehen haben.
Allein das Klassenbewusstsein des Proletariats (d.h. das selbst entwickelte Wissen um die Ziele und Mittel seines historischen Kampfes) bringt eine unbegrenzte und ungehinderte Debatte hervor: Dieses Bewusstsein kann „nicht ohne solidarische, öffentliche, internationale Debatte entwickelt werden“, wie wir in unserem Text Die Debattenkultur: Eine Waffe des Klassenkampfes[12] bekräftigt haben. Kommunistische Organisationen, die die fortschrittlichste und dauerhafteste Anstrengung für die Entwicklung des Bewusstseins in der Klasse ausdrücken, brauchen die Debatte als eine lebenswichtigen Waffe: "Eine der ersten Forderungen, die sie erhoben, war, dass die Debatte nicht als ein Luxus betrachtet werden dürfe, sondern als eine dringende Notwendigkeit; dass jene, die sich an ihr beteiligen, den Anderen ernstnehmen und lernen sollten, sich einander zuzuhören; dass Argumente die Waffen dieser Auseinandersetzung sind, und nicht die brutale Gewalt oder der Appell an moralische bzw. theoretische ‘Autoritäten’", fährt der genannte Text fort.
In einer proletarisch-politischen Organisation muss die Diskussion das Gegenteil der verwerflichen Methoden sein, die wir oben angeprangert haben. Es geht darum, eine gemeinsame Basis einer geteilten Wahrheit zu finden, wo es keine Gewinner oder Verlierer gibt und wo der einzige Triumph der der gemeinsamen Klarheit ist. Die Diskussion basiert auf Argumenten, Hypothesen, Analysen, Zweifeln – Irrtümer sind Teil des Weges, der zu tauglichen Schlussfolgerungen führt. Anschuldigungen, Beleidigungen, die Personalisierung von Genoss*innen oder Organisationsstrukturen müssen kategorisch untersagt werden, denn es geht nicht darum, wer etwas sagt, sondern was gesagt wird.
Meinungsverschiedenheiten sind notwendige Momente, um zu einer Position zu kommen. Nicht weil es ein "demokratisches Recht" gibt, sondern eine Pflicht, sie zu äußern, wenn man von einer Position nicht überzeugt ist oder sie als unzureichend oder verworren empfindet. Im Laufe einer Debatte werden Positionen gegeneinander gestellt, und manchmal gibt es Minderheitenpositionen, die mit der Zeit zu denen der Mehrheit werden. Das war der Fall bei Lenin mit seinen Aprilthesen, die, als er sie 1917 bei seiner Ankunft in Russland vorstellte, eine Minderheitsposition innerhalb einer bolschewistischen Partei waren, die von opportunistischen, vom Zentralkomitee aufgezwungenen Abweichungen beherrscht wurde. Durch eine intensive Diskussion, an der sich alle Mitglieder beteiligten, wurde die Partei von der Gültigkeit der Positionen Lenins überzeugt und nahm sie an.[13]
Die unterschiedlichen Positionen, die innerhalb einer revolutionären Organisation zum Ausdruck kommen, sind keine festen Haltungen, die Eigentum derer sind, die sie verteidigen. In einer revolutionären Organisation widerspiegeln "die Divergenzen keinesfalls die verschiedenen materiellen, persönlichen oder die Interessen von "Pressure groups" […], sondern [sie sind] der Ausdruck eines lebendigen und dynamischen Prozesses der Klärung der Probleme […], vor denen die Klasse steht und die als solche mit der Vertiefung der Diskussion und im Lichte der Erfahrungen überwunden werden müssen" (Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre, bereits oben zitiert).
In proletarischen Organisationen kann es keine "aufgeklärten Köpfe" geben, denen man, ohne etwas zu hinterfragen, folgen muss. Es ist klar, dass es Genoss*innen geben kann, die über größere Fähigkeiten verfügen oder die sich in bestimmten Themenbereichen besser auskennen. Es gibt sicherlich Militante, deren Hingabe, Überzeugung und Begeisterung eine gewisse moralische Autorität beinhaltet. Aber nichts von alledem verleiht ihnen einen besonderen privilegierten Status, der diese oder jene Militante zu einer "brillanten Führerin", zu einer Fachperson in dieser oder jener Frage oder zu einer "großen Theoretikerin" macht. „Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun, Uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun!“, sind Worte aus der Kampfhymne der Zweiten Internationale.
Genauer gesagt, wie es im Text über Struktur und Funktionsweise heißt: "In der Organisation gibt es keine 'erhabenen' und dann 'zweitrangige', 'weniger würdevolle' Aufgaben. Die Aufgabe der theoretischen Herausarbeitung wie die Verwirklichung der praktischen Aufgaben, die Arbeit innerhalb der Zentralorgane wie auch die spezifische Arbeit in den örtlichen Sektionen sind ebenso wichtig für die Organisation. Sie dürfen deshalb nicht hierarchisch geordnet werden (nur der Kapitalismus errichtet solche Hierarchien)."
In einer kommunistischen Organisation ist es notwendig, gegen jede Tendenz zur blinden Gefolgschaft zu kämpfen, ein Fehler, der darin besteht, sich ohne nachzudenken an der Position eines "klaren Militanten" oder an einem Zentralorgan auszurichten. In einer kommunistischen Organisation muss jeder Militante einen kritischen Geist bewahren, darf nicht alles blind übernehmen, sondern soll analysieren, worum es geht, einschließlich dessen, was von der "Führung", den Zentralorganen oder den "fortgeschrittensten Militanten" kommt. Das ist das Gegenteil von dem, was in den bürgerlichen Parteien und vor allem bei ihren Vertretern in der Linken der Fall ist. In diesen letzteren Organisationen sind blinde Gefolgschaft und der extremste Respekt vor den Führern die Norm; und in der Tat existierten diese Tendenzen bereits in der trotzkistischen Opposition: „Die Briefe, in denen Trotzki und Rakowski zu aktuellen Problemen Stellung nahmen, wurden im Gefängnis lebhaft kommentiert. Man war nicht wenig betroffen über den Geist der Hierarchie und des unbedingten Gehorsams gegen den Führer, von dem die russische Opposition durchdrungen war. Jedes Wort Trotzkis galt als Evangelium. Übrigens, die Rechts- ebenso wie die Links-Trotzkisten legten diese Worte offensichtlich tendenziös aus. Der völligen Unterwerfung der Partei unter Lenin und Stalin entsprach bei der Opposition die Unterwerfung unter Lenin und Trotzki: alles übrige war eine ‚Einflüsterung des Teufels’.“ (Anton Ciliga, a.a.O. – zu finden unter www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Ante_Ciliga_-_Im_Land_der_verwirrenden_Luege.pdf [57], S. 59)
Es gibt eine sehr gefährliche Idee, die man strikte verwerfen muss: Es gebe "fachkundige" Militante, die, wenn sie einmal gesprochen hätten, "alles gesagt haben", man "könnte es nicht besser sagen", und andere beschränken sich darauf, Notizen zu machen und zu schweigen.
Diese Sichtweise lehnt eine proletarische Debatte radikal ab, die ein dynamischer Prozess ist, in dessen Verlauf viele, auch irrtümliche Anstrengungen unternommen werden, um Probleme zu bewältigen. Die oberflächliche Sichtweise, die in der kapitalistischen Logik verwurzelt ist, nur das "Produkt" oder das Endergebnis zu sehen, ohne es von allem zu unterscheiden, was zu seiner Ausarbeitung geführt hat, sich nur auf den abstrakten und zeitlosen Wert des Austauschs zu konzentrieren, führt dazu, dass man denkt, dass alles von "brillanten" Führern kommt. Marx teilte diese Sichtweise nicht. In einem Brief an Wilhem Blos schrieb er 1877: „Ich »grolle nicht« (wie Heine sagt) und Engels ebensowenig. Wir beide geben keinen Pfifferling für Popularität. Beweis z.B., im Widerwillen gegen allen Personenkultus, habe ich während der Zeit der Internationalen die zahlreichen Anerkennungsmanöver, womit ich von verschiedenen Ländern aus molestiert ward, nie in den Bereich der Publizität dringen lassen, und habe auch nie darauf geantwortet, außer hie und da durch Rüffel. Der erste Eintritt von Engels und mir in die geheime Kommunistengesellschaft geschah nur unter der Bedingung, daß alles aus den Statuten entfernt würde, was dem Autoritätsaberglauben förderlich. (Lassalle wirkte später grade in der entgegengesetzten Richtung.)“[14]
Im Verlauf einer Debatte werden Hypothesen und Gegenpositionen formuliert. Es werden einige Annäherungen gemacht, einige Fehler begangen und es gibt einige klarere Interventionen; aber das globale Ergebnis kommt nicht von dem "weitsichtigsten Militanten", sondern ist eine dynamische und lebendige Synthese aller in die Diskussion integrierten Positionen. Die schließlich angenommene Position ist nicht die derjenigen, die "recht" hatten, und sie impliziert keinen Antagonismus zu denen, die "falsch" lagen; sie ist eine neue und weiter fortgeschrittene Position, die kollektiv zur Klärung der Dinge beiträgt.
Offensichtlich ist die Debatte innerhalb einer proletarischen Organisation nicht einfach. Sie entwickelt sich nicht in einer Welt für sich, sondern sie muss das ganze Gewicht der herrschenden Ideologie und der von ihr mitgetragenen Auffassung von Debatte tragen. Es ist unvermeidlich, dass "Formen der Debatte", die der bürgerlichen Gesellschaft angehören und die uns jeden Tag durch die Spektakel ihrer Parteien, ihr Fernsehen und ihre Müllsendungen, soziale Netzwerke, Wahlkämpfe usw. überfallen, in das Leben proletarischer Organisationen eindringen. Gegen diese zerstörerische Infiltration muss ein ständiger Kampf geführt werden. Wie unser zuvor zitierter Text über die Debattenkultur zeigt:
"Da die spontane Tendenz innerhalb des Kapitalismus nicht die Klärung von Ideen, sondern Gewalt, Manipulation und das Erringen von Mehrheiten ist (am beispielhaftesten im Wahlzirkus der bürgerlichen Demokratie), enthält die Infiltration dieses Einflusses in proletarischen Organisationen die Keime der Krise und Degeneration. Die Geschichte der bolschewistischen Partei veranschaulicht dies perfekt. So lange wie die Partei die Speerspitze der Revolution war, war die lebendigste, oft kontroverse Debatte eines ihrer Hauptmerkmale. Im Gegensatz dazu war die Verbannung realer Fraktionen (nach dem Massaker von Kronstadt 1921) ein unübersehbares Anzeichen und aktiver Faktor ihrer Degenerierung".
Dieser Text wies auf das giftige Erbe hin, das der Stalinismus in den Reihen der Arbeiter hinterlassen hat und das auf den Kommunisten lastet, von denen nicht wenige ihr politisches Leben in stalinistischen, maoistischen oder trotzkistischen Organisationen begannen und denken, "dass der Austausch von Argumenten mit dem 'bürgerlichem Liberalismus' identisch sei, dass ein 'guter Kommunist' jemand sei, der seinen Mund hält sowie seinen Kopf und seine Gefühle ausschaltet. Die Genossen, die heute entschlossen sind, die Auswirkungen dieses todgeweihten Produkts der Konterrevolution abzuschütteln, verstehen in wachsendem Masse, dass dies die Ablehnung nicht nur ihrer Positionen, sondern auch ihrer Mentalität erfordert."
In der Tat müssen wir die Mentalität bekämpfen, die die Debatte verfälscht und die aus jeder Pore der bürgerlichen Welt und insbesondere des vulgären Stalinismus und all seiner Anhängsel hervorquillt, vor allem von denen, die eine größere "Offenheit" vortäuschen, wie den Trotzkisten. Es ist notwendig, bei der Verteidigung einer Position klar und entschieden zu sein, aber das bedeutet nicht Arroganz und Brutalität. Eine Diskussion kann kämpferisch sein, aber das bedeutet nicht streitsüchtig und aggressiv. Man kann die Dinge beim Namen nennen, aber daraus kann man nicht ableiten, dass man beleidigend und zynisch sein sollte. Man muss nicht nach Aussöhnung von Argumenten oder nach Kompromissen suchen, aber das darf nicht mit Sektierertum und der Weigerung, sich die Argumente anderer anzuhören, verwechselt werden. Wir müssen ein für alle Mal einen Weg finden, der dem Morast der Verwirrung und Entstellung entgeht, den der Stalinismus und seine Avatare geschaffen haben.
Obwohl der bürokratische Kollektivismus der bürgerlichen Parteien mit seinem Monolithismus und seinen brutalen Zwängen ein Hindernis für die Debatte darstellt, ist es notwendig, sich vor dem zu schützen, was als sein Gegensatz erscheint, während es in Wirklichkeit sein Ergänzungsstück ist. Wir beziehen uns hier auf die individualistische Vision der Debatte.
Diese besteht darin, dass jeder "seine eigene Meinung" hat und diese "Meinung" ist Privateigentum. Folglich wird die Kritik an der Position eines Genossen zu einem Angriff: sein "Privateigentum" ist verletzt worden, weil es ihm gehört. Diese oder jene Position dieses oder jenes Genossen zu kritisieren, wäre gleichbedeutend damit, ihn zu bestehlen oder ihm sein Essen wegzunehmen.
Diese Sichtweise ist ziemlich falsch. Wissen entspringt nicht der "persönlichen Vernunft" oder der " inneren Überzeugung" eines jeden Einzelnen. Was wir denken, ist Teil einer historischen und sozialen Anstrengung, die mit der Arbeit und der Entwicklung der Produktivkräfte verbunden ist. Was jeder Einzelne sagt, ist nur dann "originell", wenn es auf kritische Weise in eine kollektive Denkanstrengung eingebunden ist. Das Denken des Proletariats ist das Produkt seines historischen Kampfes auf Weltebene, eines Kampfes, der sich nicht auf seine ökonomischen Kämpfe beschränkt, sondern der, wie Engels sagte, drei miteinander verbundene Dimensionen enthält: den ökonomischen, den politischen und den ideologischen Kampf.
Jede proletarisch-politische Organisation ist in der kritischen historischen Kontinuität einer langen Kette verbunden, die vom Bund der Kommunisten (1848) bis zu den kleinen existierenden Organisationen der kommunistischen Linken reicht. In dieser historischen Linie sind Positionen, Ideen, Auffassungen und die Beiträge eines jeden Militanten eingebunden. Während jeder Militante darauf abzielt, das Wissen noch weiter zu erweitern, betrachten sie dies nicht als individuelle Anstrengung, sondern mit dem Ziel, die Klärung von Positionen und Orientierungen für die Gesamtheit der Organisation des Proletariats so weit wie möglich zu bringen.
Die Vorstellung, dass "jeder seine Meinung hat", ist ein ernsthaftes Hindernis für die Debatte und ist komplementär zum bürokratischen Monolithismus der bürgerlichen Parteien. In einer Debatte, in der jeder seine Meinung hat, kann das Ergebnis entweder ein Konflikt zwischen Siegern und Besiegten sein, oder es kann eine Summe von verschiedenen, nutzlosen, widersprüchlichen Meinungen sein. Individualismus ist ein Hindernis für Klarheit, und wie in einer monolithischen Partei bedeutet die Frage "hier ist meine Meinung, nimm sie oder lass es", dass es keine Debatte gibt, wenn jeder seine "eigene Meinung" vertritt.
Die proletarische Debatte hat einen historischen Charakter; sie nimmt das Beste der wissenschaftlichen und kulturellen Diskussion auf, die es in der Geschichte der Menschheit gegeben hat: "Grundsätzlich ist die Debattenkultur ein Ausdruck des eminent sozialen Charakters der Menschheit. Sie ist insbesondere eine Auswirkung des spezifisch menschlichen Gebrauchs der Sprache. Der Gebrauch der Sprache als ein Mittel zum Informationsaustausch ist etwas, was die Menschheit mit vielen Tieren teilt. Was die Menschheit jedoch vom Rest der Natur unterscheidet, ist die Fähigkeit, Argumentationen (die mit der Entwicklung der Logik und der Wissenschaften verknüpft sind) zu pflegen, auszutauschen und die anderen kennenzulernen (die Kultivierung des Mitgefühls, das unter anderem. mit der Entwicklung der Kunst verknüpft ist)".
Die Kultur der Debatte hat ihre Wurzeln im Urkommunismus, machte aber im antiken Griechenland einige entscheidende Fortschritte: "Engels verweist beispielsweise auf die Rolle der allgemeinen Versammlungen der Griechen der homerischen Phase, der frühen germanischen Stämme oder der Irokesen Nordamerikas und lobt ausdrücklich die Debattenkultur der letzteren."
"Die Debatte entstand aus einer praktischen Notwendigkeit heraus. In Griechenland entwickelt sie sich durch den Vergleich verschiedener Wissensquellen. Verschiedene Denkweisen, Untersuchungsmethoden und deren Ergebnisse, Produktionsmethoden, Sitten und Gebräuche werden miteinander verglichen. Sie erweisen sich als widersprüchlich, bestätigen oder ergänzen sich gegenseitig. Sie treten miteinander in Kampf oder unterstützen sich gegenseitig, oder beides. Absolute Wahrheiten werden durch den Vergleich relativiert".
Unser Text über die Struktur und Funktionsweise der Organisation fasst die Grundprinzipien der proletarischen Debatte zusammen:
- "Verwerfung jeglicher disziplinarischer oder ‚administrativer’ Maßnahmen seitens der Organisation gegenüber Mitgliedern, die mit bestimmten Punkten nicht einverstanden sind. Genauso wie die Minderheit lernen muss, wie man sich als Minderheit innerhalb der Organisation verhält, muss die Mehrheit wissen, was sie als Mehrheit zu tun hat, und vor allem darf sie nicht die Tatsache ausnutzen, dass ihre Position zu der Position der Organisation geworden ist, um die Debatte irgendwie zu ersticken, indem z.B. Mitglieder der Minderheit gezwungen werden, als Sprecher für Positionen aufzutreten, die sie nicht unterstützen.
- Die gesamte Organisation muss danach streben, dass die Diskussionen (selbst wenn es sich um Divergenzen zu Prinzipen handelt, die nur zu einer organisatorischen Spaltung führen können) auf die deutlichste Art geführt werden (ohne dass dadurch natürlich die Organisation gelähmt oder sie bei der Verwirklichung ihrer Aufgaben geschwächt würde), um sich dadurch gegenseitig von der Gültigkeit der jeweiligen Analysen zu überzeugen. Oder dass zumindest dadurch die grösste Klarheit über das Wesen und die Tragweite der Unstimmigkeiten und Divergenzen geschaffen wird.
Weil die Debatten, die in der Organisation stattfinden, im allgemein die gesamte Arbeiterklasse betreffen, so müssen diese auch nach außen getragen werden..."
Das Proletariat ist eine internationale Klasse und deshalb muss seine Debatte einen internationalen und zentralisierten Charakter haben. Wenn die Debatte nicht eine Addition von Einzelmeinungen ist, kann sie auch nicht die Summe einer Reihe von lokalen Meinungen sein. Die Stärke des Proletariats ist seine Einheit und sein Bewusstsein, das darauf abzielt, sich auf der Weltebene auszudrücken.
Die internationale Debatte, die die Beiträge und Erfahrungen des Proletariats aller Länder integriert, ist das, was Klarheit und eine globale Vision schafft, die den proletarischen Kampf stärker machen.
C. Mir, 11. Juli 2018
[1] Die Teile eins bis vier der Serie sind auf unserer Internetseite veröffentlicht.
[2] Vorwort zur deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifests von 1890, Engels.
[3] Siehe unsere Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006 [59] und unser 2011 verbreitetes internationales Flugblatt Von der Empörung zur Hoffnung [60].
[4] John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten; zitiert nach http://www.derfunke.at/html/pdf/geschichte/klassiker/Reed-10_Tage.pdf [61], S. 18
[5] Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre [2], Internationale Revue Nr. 22 (ein Text vom Januar 1982).
[6] Siehe unseren Artikel auf Spanisch "Die Wahldebatte ist das Gegenteil einer echten Debatte". https://es.internationalism.org/cci-online/200802/2185/debates-electorales-lo-contrario-de-un-verdadero-debate [62]
[7] In der Garnison von Kronstadt, in der Nähe von Petrograd, erhoben sich Matrosen und Arbeiter. Die Sowjetmacht schlug diese Bewegung brutal nieder, was einen sehr wichtigen Schritt zur Degeneration der proletarischen Bastion Russland bedeutete (siehe https://en.internationalism.org/specialtexts/IR003_kron.htm [63]). In einer falschen Schlussfolgerung aus diesen Ereignissen beschloss die bolschewistische Partei, die sich nun in voller opportunistischer Degeneration befand, auf ihrem Zehnten Kongress, vorübergehend Fraktionen innerhalb der Partei zu verbieten.
[8] Ein "Isolations"-Gefängnis in Werchneuralsk am Ural.
[9] Das russische Enigma
[10] Im Krieg um die Nachfolge in der spanischen konservativen Volkspartei (PP) verkündeten die sechs Kandidaten täglich, dass sie "Freunde" seien.
[11] Ein aktuelles Beispiel dafür war die Feier des letzten Parteitags der ERC (Esquerra Republicana de Catalunya – Linke Republik Katalonien, einer unabhängig agierenden Partei), bei der die Führung eine "versöhnliche" Linie mit der spanischen Zentralregierung vertrat. Allerdings erlaubte sie ihrer Basis, ihre Intervention mit einem Sammelsurium von "unabhängigen" und "ungehorsamen" Änderungsanträgen zu radikalisieren, die sich sowohl auf die "Autonomie" innerhalb Spaniens als auch auf die Unabhängigkeit von Spanien bezogen.
[12] Die Debattenkultur: eine Waffe des Klassenkampfes [64], Internationale Revue 41.
[13] Vgl. Lenins Aprilthesen, Wegweiser zur proletarischen Revolution, International Review (engl./frz./span. Ausgabe) Nr. 89
[14] Marx an Wilhelm Blos, 10. Nov. 1877, in: MEW, Bd. 34, S. 308f.
Seit mehr als einem Jahr kämpft die herrschende Klasse weltweit mit der Covid-19 Pandemie, ohne dass wirklich ein Licht am Ende des Tunnels in Sicht wäre. Bis jetzt waren es die ärmsten und unterentwickelten Länder, die den höchsten Preis für die Krankheiten, ob epidemisch oder endemisch, zahlten. Es sind nun die entwickelten Länder, die durch die Covid-19 Pandemie in ihren Grundfesten erschüttert werden.
Vor mehr als einem Jahrhundert bedeutete der Ausbruch des Ersten Weltkriegs den Eintritt des Kapitalismus in seine Periode der Dekadenz. Der Zusammenbruch des Ostblocks und die Auflösung des westlichen Blocks im Jahr 1990 und die darauffolgende globale Schockwelle mit tiefgreifenden Umwälzungen waren Symptome der globalen Zerbröckelung der Gesellschaft und signalisierten den Eintritt des Kapitalismus in die letzte Phase seiner Dekadenz, die des Zerfalls.
Und nach dem Kapitalismus? Wenn es dem Weltproletariat gelingt, den Kapitalismus zu stürzen, bevor er die Menschheit vernichtet, dann wird es die in der kommunistischen Gesellschaft vereinigte Menschheit sein, die angesichts der Probleme von Krankheiten und anderen Katastrophen eine Antwort geben kann, die nicht durch kapitalistische Ausbeutung, Konkurrenz und Anarchie untergraben wird.
In den Vereinigten Staaten sind heute mindestens 25 Millionen Menschen infiziert und mehr als 410.000 sind gestorben. Es sind mehr Covid-Tote zu beklagen als amerikanische Soldaten im Zweiten Weltkrieg gefallen sind! Im vergangenen April hatte die Zahl bereits die Anzahl der Toten während des Vietnamkriegs übertroffen. In der großen Metropole Los Angeles ist einer von zehn Einwohnern kontaminiert. In Kalifornien sind die Krankenhäuser zum Bersten voll. Zu Beginn der Gesundheitskrise wurde die gesamte amerikanische Bevölkerung durch die riesigen Gräben aufgeschreckt, in denen im Bundesstaat New York, auf Hart Island, "nicht abgeholte" Tote aufbewahrt wurden. In Europa hatte Schweden, das einst für die "soziale Fürsorge" seiner Bürger bekannt war, zu Beginn der Pandemie daraufgesetzt, schnell Herdenimmunität zu erlangen. Schweden hat gerade einen nationalen Rekord gebrochen, den der Zahl der Todesfälle, der seit der großen Hungersnot von 1869 gehalten wurde.
Die Covid-19 Pandemie ist keine unvorhersehbare Katastrophe, die auf die undurchsichtigen Gesetze des Zufalls und der Natur basiert. Der Kapitalismus selbst ist für diese weltweite Katastrophe verantwortlich, für mehr als zwei Millionen Tote. Im Gegensatz zu den von Tieren ausgehenden Seuchen der Vergangenheit (z.B. die im Mittelalter durch Ratten eingeschleppte Pest) ist diese Pandemie heute im Wesentlichen auf den maroden Zustand des Planeten zurückzuführen. Die globale Erwärmung, die Abholzung der Wälder, die Zerstörung der natürlichen Territorien von Wildtieren sowie die Ausbreitung von Slums in unterentwickelten Ländern haben die Entwicklung aller Arten von neuen Viren und ansteckenden Krankheiten begünstigt.
Die Bourgeoisie wurde durch das Virus deshalb überrascht und gelähmt, weil die wissenschaftlichen Studien über Coronaviren vor etwa fünfzehn Jahren überall eingestellt wurden, weil die Entwicklung des Impfstoffs als "unrentabel" beurteilt wurde! Außerdem zielten die meisten wissenschaftlichen und technologischen Spitzenforschungen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, auf Produkte ab, für die ein lukrativer Markt garantiert war, oder sie waren im Wesentlichen dem militärischen Sektor gewidmet, einschließlich der Forschung für bakteriologischen Waffen.
Zudem ist die Welt noch weit davon entfernt, die aktuelle Pandemie in den Griff zu bekommen, während andere, noch schrecklichere Bedrohungen[1] - wie z. B. Nympha, dass die gleiche Ursache hat, - bereits identifiziert wurden, ohne dass eine dieser Krankheiten bisher Anlass zu Forschungsprojekten von Pharma-Unternehmen gegeben hätte.[2]
Mehrere Impfstoffe wurden bereits in Rekordzeit entwickelt; sie zeigen die technologischen Möglichkeiten, die zum Wohle der Menschheit eingesetzt werden könnten. Dennoch stehen auch heute noch, wie zu Beginn der Pandemie, eine Reihe von Problemen der wirklichen Bewältigung der Krankheit im Wege, und sie sind die direkte Folge der Tatsache, dass dieses System eindeutig in den Diensten einer Ausbeuterklasse steht, der es nur insoweit um die Gesundheit der Bevölkerung geht, um die Arbeitskraft derer zu erhalten, die sie ausbeutet.
In der Tat ist das Gesundheitssystem damit völlig überfordert, da angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise in allen Ländern die Regierungen sowohl der Rechten als auch der Linken seit Jahrzehnten ständig die Budgets für Soziales, Gesundheit und Forschung kürzen. Da das Gesundheitssystem nicht profitabel ist, wurde die Zahl der Betten reduziert, Krankenhausabteilungen geschlossen, Arztstellen gestrichen, die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals verschlechtert, Bestände an Masken vernichtet da sie als zu teuer im Unterhalt gelten, Beatmungsgeräte waren in vielen Krankenhäusern Mangelware.
Um die unkontrollierte Ausbreitung der Pandemie zu begrenzen, konnte die Bourgeoisie nicht mehr tun, als auf mittelalterliche Methoden wie Abschottungen (Kontaktreduzierungen usw.) zurückzugreifen. Überall musste sie Ausgangssperren, soziale Distanzierung und Maskenpflicht verhängen. Viele Grenzen sind verriegelt, öffentliche und kulturelle Einrichtungen sind in den meisten europäischen Ländern geschlossen. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg hatte die Menschheit eine solche Tortur erlebt.
Darüber hinaus ist die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie - sowohl international als auch in den einzelnen Ländern - welche durch die zugespitzte Wirtschaftskrise verschärft wurde, von Beginn der Pandemie an eindeutig ein Faktor für die Beschleunigung der Gesundheitskrise gewesen. Sie hat zum offenen Ausdruck von Rivalitäten geführt, die zeitweise so scharf sind, dass sie von den Medien als "Krieg" bezeichnet werden.
Der "Krieg der Masken" ist ein lehrreiches Beispiel für den zynischen und ungezügelten Wettbewerb, in den alle Staaten verwickelt sind, wobei jeder versucht, diese überlebenswichtige Ausrüstung durch das Bieten von noch höheren Beträgen bis hin zum unverhohlenen Diebstahl an sich zu reißen!
Ebenfalls "Krieg, um unter den Ersten zu sein, die einen wirksamen Impfstoff produzieren", in dem jedes Land im Wettbewerb mit allen anderen misstrauisch die Ergebnisse seiner Arbeit bewacht, um zu versuchen, in die Spitzengruppe derer zu kommen, die den lukrativen Markt teilen werden. Eine solche Situation des "Jeder für sich" verhindert jede internationale Koordination und Kooperation zur Ausrottung dieser Pandemie und verzögert die Herstellung eines Impfstoffs viel länger, als wenn er das Produkt einer internationalen Kooperation gewesen wäre.
Beim "Krieg um die Beschaffung von Impfstoffen in großen Mengen" steht viel auf dem Spiel. Die Länder, die Dank der Impfung zu den ersten gehören werden, die eine Herdenimmunität erreichen, werden auch die ersten sein, die mit dem Wiederankurbeln ihres Produktionsapparates und ihrer Wirtschaft beginnen können. Das Problem ist, dass der Impfstoff zwar in einer Reihe von Ländern in großen Mengen produziert wird, aber nicht in ausreichender Menge, um den Bedarf zu decken. Diese Situation hat zu erheblichen Spannungen z. B. zwischen der Europäischen Union und Großbritannien geführt, da letzteres nicht in der Lage war, die von der EU erteilten Aufträge für den Impfstoff von AstraZeneca (britisch-schwedischer Konzern) gemäß dem vertraglich festgelegten Mengen und Fristen zu erfüllen. Um dies zu tun, wäre es gezwungen gewesen, seine eigenen Impfstofflieferungen aus dieser Herstellung zu reduzieren. Daraufhin erhob die EU ihre Stimme und Deutschland ging so weit, Vergeltungsmaßnahmen anzudrohen und BioNTech-Pfizer Impfstoffe, die in der Europäischen Union hergestellt werden und für den Verkauf in Großbritannien bestimmt sind, „zurückzuhalten“. Infolge dieser Verschärfung sind neue Spannungen zwischen London und Brüssel über das "Nordirland-Protokoll" entstanden, einem entscheidenden Teil des Brexit-Vertrags[3].
Die europäischen Medien hatten die gute Leistung Europas angesichts des wirtschaftlichen Erdbebens, das durch den Ausbruch der Pandemie ausgelöst wurde, begrüßt, insbesondere dank bestimmter Vereinbarungen: z.B. die Vergemeinschaftung neuer Schulden innerhalb der EU, oder die, welche den Kauf von für die Mitgliedstaaten bestimmten Impfstoffen an die Europäische Kommission delegiert. Hinter den Kulissen unterzeichneten jedoch einige Mitgliedstaaten, nicht zuletzt Deutschland, separate Verträge mit BioNTech-Pfizer, Moderna und Curevac, die "ein Erdbeben in Brüssel auslösten "[4].
Unerwartet begann Deutschland, das bis dahin mit einer Sterblichkeitsrate die weit unter der aller Industrieländer lag, sehr gut abgeschnitten hatte, ebenso furchterregende Opferzahlen zu registrieren wie andere sogenannt entwickelte Länder wie Frankreich, Großbritannien oder die Vereinigten Staaten. "Mit fast 2,1 Millionen Infektionen in einem Jahr hat Deutschland eine Sterblichkeitsrate von 2,4 %, die der von Frankreich entspricht..."[5], und die Hälfte der Übersterblichkeit während der beiden Pandemiewellen in Deutschland ist auf die Infektion älterer Menschen zurückzuführen.
Als die ersten Impfstoffe auf den Markt kamen, gab es nur wenige Industrieländer, in denen kapitalistische Anarchie und administrativer Kleingeist bei der katastrophalen Verwaltung ihrer Verteilung an die verschiedenen Impfzentren nicht vorherrschten. Dasselbe galt für Spritzen und medizinische Geräte. Als Zeichen dafür, dass in der Gesellschaft etwas nicht stimmt, mussten die Regierungen in einer Reihe von Ländern auf das Militär zurückgreifen, um die medizinischen Dienste zu unterstützen, sich um die Logistik der Verteilung zu kümmern, die Bestellungen zu verfolgen, aber auch die Impfstoffe vor Diebstahl zu schützen.
Während in den stärker industrialisierten Ländern ein Mangel an Impfstoffen besteht, fehlen diese in den ärmeren Ländern. Dort stehen hauptsächlich chinesische Impfstoffe[6] zur Verfügung, deren Wirksamkeit nicht eindeutig belegt ist. Wenn umgekehrt der Staat Israel in der Lage war, die für die Impfung seiner gesamten Bevölkerung erforderlichen Dosen zu beschaffen, dann deshalb, weil er den Impfstoff von Pfizer 43 % teurer gekauft hat als den von der Europäischen Union ausgehandelten Preis.
Millionen von Arbeitern haben weltweit ihren Job verloren, die Armut hat sich dramatisch ausgebreitet und vertieft. Umzingelt von der Gefahr der Ansteckung, der Realität der Arbeitslosigkeit und dem Absturz in die Armut versinken große Teile der Weltbevölkerung, große Massen von Menschen in prekären Situationen, in Verzweiflung. In den industrialisierten Metropolen wirkt sich die erzwungene Isolation infolge der verschiedenen Kontaktbeschränkungen auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung aus, was sich im Ansturm auf die psychiatrischen Dienste und in der Zunahme von Selbstmorden zeigt.
Während für große Teile der Arbeiterklasse die sich aus der Pandemie ergebende Situation eine unwiderrufliche Anklage gegen die Bourgeoisie darstellt, wird andererseits bei vielen Teilen der Bevölkerung jedes Nachdenken durch alle möglichen Verschwörungstheorien behindert. Dies ist insbesondere in den Vereinigten Staaten der Fall, dem am weitesten entwickelten Land der Welt, das an der Spitze der Wissenschaft steht. Während die Pandemie bereits begonnen hatte über den amerikanischen Kontinent zu fegen, bildete sich ein großer Teil der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten ein, dass Covid-19 nicht existiert und dass es sich um ein Komplott handelt, um Trumps Wiederwahl zu torpedieren! Andere, weniger extreme Sichtweisen, die aber ebenso skurrile Theorien darstellen, haben ihre Blüten getrieben und sehen hinter den Maßnahmen, die die Bewegungsfreiheit einschränken, die Hand derer, die uns manipulieren und nach einem Vorwand suchen, um uns "einzusperren" oder den Pharmakonzernen zu erlauben, Profite einzustreichen. In einigen Ländern haben Demonstrationen zu diesem Thema stattgefunden. In Spanien skandierten die Teilnehmer "Krankenhäuser sind leer", und in Israel demonstrierten ultraorthodoxe Juden. Auch die extreme Rechte beteiligte sich an einigen dieser Demonstrationen, vor allem in den Niederlanden. In diesem Land gab es regelrechte Unruhen mit vereinzelten gewaltsamen Aktionen, die sich gegen medizinische Einrichtungen richteten.
Diese Krise ist das Produkt der gegenwärtigen Zerfallsphase innerhalb der Dekadenz des Kapitalismus und eine Illustration seiner Erscheinungsformen. Der Verlust der Kontrolle der herrschenden Klasse über ihr eigenes System, die beispiellose Verschärfung des "Jeder für sich", das Aufkommen der irrationalsten Thesen und Ideologien, das sind die Hauptmerkmale der Situation, die durch den Ausbruch dieser Pandemie entstanden ist. Seit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 sind sie in die Gesellschaft eingedrungen. Sie sind geprägt durch das Aufkommen der irrationalsten, reaktionärsten und meist obskurantistischen Ideologien, den Aufstieg des religiösen Fanatismus und des Islamischen Staates und seiner jungen Selbstmordattentäter, die im Namen Allahs zum "Heiligen Krieg" angeworben werden.
All diese reaktionären Ideologien waren auch der Nährboden, der die Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit und Populismus in den zentralen Ländern, insbesondere in den Vereinigten Staaten, ermöglicht hat. Dies gipfelte in der Erstürmung des Capitols am 6. Januar durch Trumps Stoßtruppen. Dieser verwirrende Angriff auf den Tempel der amerikanischen Demokratie vermittelte der ganzen Welt ein desaströses Bild von der führenden Weltmacht. Das Land der Demokratie und Freiheit erschien als eine vulgäre Bananenrepublik (wie der ehemalige Präsident George Bush selbst einräumte) mit dem Risiko bewaffneter Zusammenstöße unter der Zivilbevölkerung.[7]
Die Anhäufung all dieser Zerfallserscheinungen im globalen Maßstab und auf allen Ebenen der Gesellschaft zeigt, dass der Kapitalismus in den letzten dreißig Jahren tatsächlich in eine neue historische Periode eingetreten ist: die letzte Phase seiner Dekadenz, die des Zerfalls.
Mehr denn je hängt das Überleben der Menschheit von der Fähigkeit des Proletariats ab, den Kapitalismus zu stürzen, bevor er jede Form des sozialen Lebens auf dem Planeten unmöglich macht. Darüber hinaus werden die Eigenschaften einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft es unmöglich machen, dass die Gesellschaft für Krankheiten so anfällig ist wie heute angesichts der Covid-19 Pandemie.
Es ist nicht möglich, im Rahmen dieses kurzen Artikels auf Überlegungen einzugehen wie “Warum wäre heute eine solche Gesellschaft möglich, wenn sie in der Vergangenheit nicht verwirklicht wurde?", oder "Wie das revolutionäre Proletariat den Sturz des Kapitalismus im Weltmaßstab und die Umgestaltung der Produktionsverhältnisse in die Hand nehmen kann?". Die IKS hat dieser Frage bereits viele Artikel gewidmet. Wir können nicht sagen, wie das Leben der von der Entfremdung der Klassengesellschaften befreiten Gesellschaftsmitglieder aussehen würde, aber wir können unzweifelhaft feststellen, dass die Entfremdung und das „Jeder für sich“ selbst immer brutalere und unmenschlichere Formen im dahinsiechenden Kapitalismus annehmen. Wir beschränken uns hier auf den wirtschaftlichen Aspekt und seine direkten sozialen Folgen.
- Der Kommunismus ist nicht nur ein alter Menschheitstraum oder das einfache Produkt des menschlichen Willens, sondern er stellt die einzige Gesellschaft dar, die in der Lage ist, die Widersprüche zu überwinden, die die kapitalistische Gesellschaft ersticken. Jedoch müssen seine wirtschaftlichen Merkmale wie folgt aussehen:
- das einzige Motiv der Produktion ist die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse;
- die produzierten Güter werden nicht mehr Waren, Tauschwerte sein, sondern nur noch Gebrauchswerte; mit anderen Worten, sie werden für die Bedürfnisse der Menschen und nicht für den Markt produziert;
- Das Privateigentum an den Produktionsmitteln, ob individuell wie im ursprünglichen Kapitalismus oder als Staatseigentum wie im dekadenten Kapitalismus (in seiner stalinistischen, faschistischen oder demokratischen Version), wird vergesellschaftet. Das heißt, das Ende allen Eigentums, und damit aller Existenz von sozialen Klassen und damit aller Ausbeutung.
Wenn man die Faktoren betrachtet, die den sehr großen Schwierigkeiten der Gesellschaft bei der Abwehr der Covid-19 Pandemie und auch bei der Bewältigung ihrer tragischen sozialen Folgen zugrunde liegen, kann man nicht umhin, sich zu fragen, welches Gewicht die gleichen Faktoren in einer kommunistischen Gesellschaft gehabt hätten. In der Tat wären sie nicht vorhanden gewesen:
- Wir wissen, dass am Ursprung der Pandemie der Zustand der schrittweisen Zerstörung des Planeten steht, der sich mit der Dekadenz des Kapitalismus verschlimmerte, insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg: "Jedoch war es im wesentlichen der gegenwärtigen Epoche des Kapitalismus, der Epoche, die seit 1914 von den Marxisten als Dekadenz dieser Produktionsweise definiert wurde, überlassen, daß die rücksichtslose Zerstörung der Umwelt durch das Kapital eine andere Stufe und Qualität erreichte, während sie gleichzeitig jede historische Legitimation verlor. Dies ist die Epoche, die alle kapitalistischen Nationen dazu zwingt, miteinander auf einem gesättigten Weltmarkt zu konkurrieren; eine Epoche der ständigen Kriegswirtschaft also (…) eine Epoche, die charakterisiert ist durch eine irrationale, verschwenderische Vervielfältigung von Industriekomplexen in jeder nationalen Einheit, durch das verzweifelte Ausplündern der natürlichen Rohstoffe durch eine jede Nation in ihrem Versuch, in der gnadenlosen Hetzjagd auf dem Weltmarkt zu überleben.“[8] Sobald die Bourgeoisie auf globaler Ebene politisch besiegt ist, wird eine vorrangige Aufgabe darin bestehen, die Schäden zu reparieren, die der Kapitalismus dem Planeten zugefügt hat, und damit das Gedeihen des Lebens auf der Erde möglich zu machen. Damit wird auch die Möglichkeit des Auftretens von Pandemien vom Typ Covid-19 ausgeschlossen.
- Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass in Zukunft nicht andere Pandemien mit einem anderen Ursprung als Covid-19 auftreten werden. Aus Sorge um das Überleben und das Wohlergehen ihrer Mitglieder wird die neue Gesellschaft daher ihre wissenschaftlichen Kenntnisse weiterentwickeln, um das Auftreten möglicher unbekannter Krankheiten bestmöglich vorhersehen zu können. Eine solche Anstrengung der Gesellschaft kann im Vergleich zu dem, wozu der Kapitalismus fähig ist, beträchtlich sein, da dies nicht mehr der Gewinnerzielung unterworfen, sondern auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ausgerichtet sein wird. Dazu bedarf es der Verbreitung und Zentralisierung allen Wissens auf der ganzen Welt und nicht dem "Hüten" und Zurückhalten von Wissen infolge der Realisierung von Profit und Wettbewerb. Krankheiten und die damit verbundenen Risiken werden nicht mehr versteckt, damit "die Wirtschaft weiterlaufen kann", sondern es wird kollektiv und verantwortlich reagiert, ohne Unterwerfung unter wirtschaftliche Gesetze, die die Menschen beherrschen.
- Dieser letzte Faktor bedeutet, dass medizinische Einrichtungen, die im Gegensatz zur jetzigen Situation ständig nicht dem Gesetz des Gewinns unterliegen, verbessert werden können und nicht dem Verfall preisgegeben werden.
- Aber auch in einer kommunistischen Gesellschaft ist nicht auszuschließen, dass die Menschheit trotz der Bedeutung, die dann der Vorbeugung beigemessen wird, mit Unerwartetem fertig werden muss, z. B. durch die Notwendigkeit, so schnell wie möglich einen Impfstoff oder Medikamente zur Behandlung von Krankheiten herzustellen. Aus den Merkmalen der kommunistischen Gesellschaft, die nicht von Konkurrenz geplagt wird, geht hervor, dass sie dann die assoziierten Kräfte der gesamten Menschheit für dieses Ziel mobilisieren könnte, ganz im Gegensatz zu dem, was heute bei der Herstellung eines Impfstoffs gegen Covid-19 geschah. Es ist in der Tat keine Spekulation zu behaupten, dass die Menschheit sehr realen Gefahren ausgesetzt sein wird, die sich aus den (möglicherweise irreversiblen) Schäden ergeben, die der dekadente und verfallende Kapitalismus den zukünftigen Generationen hinterlässt. Angesichts dieser Gefahren wird das Proletariat alle notwendigen Maßnahmen zur Sanierung der Gesundheit und der Umwelt durchführen müssen, damit die Menschheit frei von den blinden Gesetzen des Kapitalismus leben kann.
- Und wenn die Menschheit trotz immer größerer Anstrengungen zur Vorbeugung gegen alles, was die menschliche Spezies bedrohen könnte, vor großen Herausforderungen stehen wird, wird sie sich ihnen solidarisch, in gemeinsamer Anstrengung stellen und nicht, indem sie einen Teil der Menschheit ihrem brutalen Schicksal überlässt lässt, wie heute Millionen von Menschen, die von den "Vorteilen" des Kapitalismus ausgeschlossen werden.
Zwischen dem Moment, in dem das Proletariat beginnt, die politische Macht der Bourgeoisie in einer Reihe von Ländern, dann im Weltmaßstab (eine Welt ohne Grenzen) zu stürzen, und dem Moment, in dem eine Gesellschaft ohne soziale Klassen, ohne Ausbeutung, ohne Geld entsteht, muss das Proletariat die Übergangsgesellschaft in diese Richtung führen. Und das wird lange Zeit dauern. Dennoch, auch wenn es nicht möglich ist, mit der Umwälzung der Gesellschaft vor der Ergreifung der politischen Macht im Weltmaßstab zu beginnen, wird das Proletariat an der Macht eine komplett andere Einstellung zur Krankheit haben als die Bourgeoisie. Dies wird durch den von uns veröffentlichten Artikel "Gesundheitsversorgung in Sowjetrussland" veranschaulicht, der sich auf die Maßnahmen der Sowjetregierung zwischen Juli 1918 und Juli 1919 bezieht
Wir haben bisher die Gefahren betont, die der Zerfall des Kapitalismus für die Gesellschaft und für die Möglichkeit einer proletarischen Revolution selbst darstellt. Das ist unsere Verantwortung, denn es ist die Aufgabe der Revolutionäre, sich klar und deutlich gegenüber Arbeiterklasse auszudrücken, ohne ihr die Schwierigkeiten zu verheimlichen denen sie gegenüberstehen wird. Aber es ist ebenso unsere Aufgabe, besonders angesichts der vorherrschenden Skepsis, aufzuzeigen, dass es die Möglichkeit eines revolutionären Auswegs aus der gegenwärtigen Situation gibt. Dies ergibt sich einerseits aus der Tatsache, dass die Arbeiterklasse, obwohl sie große Schwierigkeiten erlebt, keine große Niederlage erlitten hat, die sie daran hindert, wie in den 1930er Jahren auf die Angriffe der Bourgeoisie zu reagieren. Und diese Angriffe hageln bereits auf die Arbeiterklasse nieder, und das ist erst der Anfang.
In der Tat kann die Pandemie die Wirtschaftskrise nur noch weiter verschärfen. Und wir sehen es schon an den Pleiten von Unternehmen und den Massenentlassungen seit Beginn dieser Pandemie. Angesichts des sich verschlimmernden Elends, der Verschlechterung all ihrer Lebensbedingungen in allen Ländern, wird die Arbeiterklasse keine andere Wahl haben, als gegen die Angriffe der Bourgeoisie zu kämpfen. Selbst wenn sie heute den Schock dieser Pandemie erleidet, und selbst wenn der soziale Zerfall es ihr sehr viel schwerer macht ihre Kämpfe zu entwickeln, wird sie keine andere Wahl haben als ums Überleben zu kämpfen. In Anbetracht der Explosion der Arbeitslosigkeit in den meisten entwickelten Ländern heißt es: kämpfen oder sterben. Das ist die einzige Alternative für die wachsenden Massen der Proletarier und die jungen Generationen!
In seinen zukünftigen Kämpfen, auf seinem eigenen Klassenterrain und inmitten des Dunstkreises des sozialen Zerfalls, muss das Proletariat erneut seinen Weg einschlagen, um seine revolutionäre Perspektive zu finden und zu stärken.
Trotz all des Leids, das sie hervorruft, bleibt die Wirtschaftskrise auch heute noch der beste Verbündete des Proletariats. Wir müssen also nicht nur das Elend sehen, sondern auch die Bedingungen für die Überwindung dieses Elends.
Sylver 17.02.2021
[1]Nipah trat in den Jahren 1995/1999 in Malaysia und Singapur unter Schweinezüchtern auf. 2011 tauchte es episodisch in Bangladesch und Ostindien auf, 2012 in Kambodscha (vor allem um die touristischen Tempel von Angkor Wat) und 2020 in China und Thailand, also in Gebieten der asiatischen Tropenwälder. Es wird durch den Urin oder Speichel von Flughunden übertragen, die aus ihrer natürlichen Umgebung (aufgrund von Bränden, Dürre, Abholzung, landwirtschaftlichen Praktiken) in die nahe menschliche Umgebung vertrieben werden, und es wird über Schweinefarmen auf den Menschen übertragen. Neben ähnlichen Symptomen wie Covid-19 verursacht es eine Blitz-Enzephalitis (die Sterblichkeitsrate schwankt tatsächlich zwischen 40 und 75 %). Seine Inkubations- und Infektionszeit, die sehr breit ist, kann von 5 bis 45 Tagen variieren. Quelle WHO, Nipah-Virus
[2]Quelle: La fondation néerlandaise. Pharmariesen nicht bereit für die nächste Pandemie
[3]Zeitschrift Le Monde: Neue Spannungen zwischen London und Brüssel wegen des 'Nordirland-Protokolls', einem entscheidenden Teil des Brexit-Vertrags.
[4]Zeitschrift Le Monde vom 3. Februar 2021: "Es wird festgelegt, dass sich die Teilnehmer verpflichten, keine Einzelverträge mit denselben Laboratorien abzuschließen. Deutschland hat jedoch eingeräumt, Verträge mit BioNTech-Pfizer, Moderna und Curevac abgeschlossen zu haben.", Artikel Covid-19: Nach Ungarn könnte der russische Impfstoff Sputnik weitere europäische Länder verführen...
[5]Zeitschrift Les Echos vom 12. Februar 2021. Coronavirus: Die 50.000 Todesfälle, die Deutschland erzittern lassen
[6]"Bereits im September schätzte die Nichtregierungsorganisation Oxfam, dass die reichen Länder, die nur 13% der Weltbevölkerung repräsentieren, mehr als die Hälfte (51%) der Dosen der wichtigsten untersuchten Impfstoffe in die Hände bekommen haben.“ Zeitung Le Monde: Klinische Studien, Produktion, Auslieferung... Die sechs Herausforderungen im Rennen um den Covid-19-Impfstoff
[7]Zur Situation in den Vereinigten Staaten siehe unseren Artikel Die Vereinigten Staaten und der globale Kapitalismus in der Sackgasse
[8] Ökologie: Der Kapitalismus vergiftet die Erde. Internationale Revue Nr. 13 https://de.internationalism.org/Umwelt_13 [65]
Der Artikel ist eine Wiederveröffentlichung aus Révolution Internationale, Nr. 5, 1973. Er wurde als Ergänzung zu unserer Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus" verfasst.
Wenn man den Verteidigern und Fürsprechern der kapitalistischen Gesellschaft glaubt, dann müsste man meinen, der Kapitalismus würde ewig dauern. Keine andere Gesellschaft sei vorstellbar. Die Herrschenden wollen damit auf unserer Unkenntnis der Geschichte bauen. In Wirklichkeit aber ist der Kapitalismus - wie alle anderen, ihm vorausgegangenen Produktionsformen - eine vorübergehende Gesellschaft.
Alle früheren Gesellschaften durchliefen eine aufsteigende und niedergehende Phase, bis sie schließlich von einer neuen Produktionsform abgelöst wurden. So geschah es mit der römischen Sklavengesellschaft und auch mit dem Feudalismus. Der Kapitalismus selber dehnte sich bis zur Jahrhundertwende 19. zum 20. Jahrhundert über den ganzen Erdball aus, bis er nach seiner aufsteigenden Phase in sein Niedergangs Stadium, seine Dekadenz, eingetreten ist.
Im nachfolgenden Artikel stellen wir das Konzept der Dekadenz in der Geschichte dar und gehen auf die Merkmale der kapitalistischen Dekadenz ein, indem wir an die Dekadenzerscheinungen der früheren Gesellschaften anknüpfen.
Dieser Artikel dient als Ergänzung und als Beilage zu unserer Broschüre "DIE DEKADENZ DES KAPITALISMUS", auf die wir unsere Leser hiermit aufmerksam machen möchten.
Heute ist der Sozialismus keine historische Notwendigkeit, weil die große Mehrheit der Menschen ausgebeutet und somit entfremdet ist. Ausbeutung und Entfremdung gab es schon in der Zeit der Sklavengesellschaft, unter dem Feudalismus und im Kapitalismus im 19. Jahrhundert, ohne dass aber der Sozialismus die geringste Chance zu seiner Verwirklichung gehabt hätte.
Damit der Sozialismus zu einer Wirklichkeit wird, müssen nicht nur die Mittel zu seinem Aufbau (die Arbeiterklasse - die Produktionsmittel) ausreichend entwickelt sein, sondern auch das System selber, das er überwinden soll - der Kapitalismus - muss aufgehört haben, ein für die Entwicklung der Produktivkräfte unabdingbares System zu sein, um gar zu einer wachsenden Fessel zu werden, d.h. das System selber muss in sein Niedergangs Stadium eingetreten sein.
"Als das Schicksal einer Gesellschaftsordnung, die auf Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen beruht, als das Ideal einer kommunistischen Gemeinschaft war der Sozialismus Jahrtausende alt. Bei den ersten Aposteln des Christentums, bei verschiedenen religiösen Sekten des Mittelalters, im Bauernkrieg blitzte die sozialistische Idee immer als radikalste Äußerung der Empörung gegen die bestehende Gesellschaft auf. Allein gerade als ein Ideal, das zu jeder Zeit, in jedem geschichtlichen Milieu empfohlen werden konnte, war der Sozialismus nichts als ein schöner Traum vereinzelter Schwärmer, eine goldene Phantasie, unerreichbar wie der luftige Schein des Regenbogens an der Wolkenwand.
Am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts tritt die sozialistische Idee zuerst mit Kraft und Nachdruck auf, losgelöst von religiös-sektiererischer Schwärmerei, vielmehr als ein Widerschein der Schrecken und Verheerungen, die der aufkommende Kapitalismus in der Gesellschaft anrichtete. Doch auch jetzt ist der Sozialismus im Grunde genommen nichts anderes als ein Traum, eine Erfindung einzelner kühner Köpfe. Hören wir den ersten Vorkämpfer der revolutionären Erhebungen des Proletariats, Gracchus Babeuf, der während der großen Französischen Revolution einen Handstreich zur gewaltsamen Einführung der sozialen Gleichheit unternahm, so ist die einzige Tatsache, auf die er sich in seinen kommunistischen Bestrebungen zu stützen weiß, die schreiende Ungerechtigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung. Dies in den düstertesten Farben auszumalen, wird er nicht müde in seinen leidenschaftlichen Artikeln, Pamphleten wie in seiner Verteidigungsrede vor dem Tribunal, das ihm das Todesurteil gesprochen hat. Sein Evangelium des Sozialismus ist eine eintönige Wiederholung von Anklagen gegen die Ungerechtigkeit des Bestehenden, gegen die Leiden und Qualen, das Elend und die Erniedrigung der arbeitenden Massen, auf deren Kosten sich eine Handvoll Müßiggänger bereichert und herrscht. Es genügte nach Babeuf, dass die bestehende Gesellschaftsordnung wert ist, zugrunde zu gehen, damit sie auch schon vor hundert Jahren wirklich gestürzt werden konnte, sobald sich nur eine Gruppe entschlossener Männer fände, die sich der Staatsgewalt bemächtigte und das Regime der Gleichheit einführte, so wie die Jakobiner 1793 die politische Macht ergriffen und die Republik eingeführt hatten.
Auf ganz anderen Methoden und doch im wesentlichen auf derselben Grundlage beruhen die sozialistischen Ideen, die von den drei großen Denkern: Saint-Simon und Fourier in Frankreich, Owen in England in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit viel mehr Genie und Glanz vertreten wurden. Freilich, an eine revolutionäre Machtergreifung zur Verwirklichung des Sozialismus dachte auch nicht entfernt einer von den genannten Männern mehr; im Gegenteil waren sie, wie die ganze Generation, die der großen Revolution nachfolgte, enttäuscht von allem sozialen Umsturz und aller Politik, ausgesprochene Anhänger rein friedlicher Propagandamittel. Allein die Basis der sozialistischen Idee war bei allen ihnen dieselbe: Sie war in ihrem Wesen nur Projekt, Erfindung eines genialen Kopfes, der ihn der geplagten Menschheit zur Verwirklichung empfahl, um sie aus der Hölle der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu erlösen.
So blieben denn jene sozialistischen Theorien trotz aller Kraft ihrer Kritiken und des Zaubers ihrer Zukunftsideale ohne namhaften Einfluß auf die wirklichen Bewegungen und Kämpfe der Zeitgeschichte. Babeuf ging mit einem Häuflein Freunde in der konterrevolutionären Sturzwelle unter wie ein schwankendes Schiffchen, ohne zunächst eine andere Spur als eine kurze leuchtende Zeile auf den Blättern der Revolutionsgeschichte zu hinterlassen. Saint-Simon und Fourier haben es nur zu Sekten begeisterter und begabter Anhänger gebracht, die sich nach einiger Zeit zerstreuten oder neue Richtungen einschlugen, nachdem sie reiche und fruchtbare Anregungen an sozialen Ideen, Kritiken und Versuchen ausgestreut hatten. Am meisten hat Owen auf die Massen des Proletariats gewirkt, doch gehen auch seine Einflüsse, nachdem sie eine Elitetruppe der englischen Arbeiter in den 30er und 40er Jahren begeistert hatten, nachmals spurlos verloren.
Eine neue Generation sozialistischer Führer trat in den 40er Jahren auf: Weitling in Deutschland, Proudhon, Louis Blanc, Blanqui in Frankreich. Die Arbeiterklasse hatte bereits ihrerseits den Kampf gegen die Kapitalherrschaft aufgenommen, sie hat in den elementaren Aufständen der Lyoner Seidenweber in Frankreich, in der Chartistenbewegung in England das Signal zum Klassenkampf gegeben. Aber zwischen diesen spontanen Regungen der ausgebeuteten Massen und den verschiedenen sozialistischen Theorien bestand kein unmittelbarer Zusammenhang. Weder hatten die revolutionierten Proletariermassen ein bestimmtes sozialistisches Ziel im Auge, noch suchten die sozialistischen Theoretiker ihre Ideen auf einen politischen Kampf der Arbeiterklasse zu stützen. Ihr Sozialismus sollte durch gewisse schlau ersonnene Einrichtungen, wie die Proudhonsche Volksbank für gerechten Warenaustausch oder die Produktionsassoziationen Louis Blancs, realisiert werden. Der einzige Sozialist, der auf den politischen Kampf als Mittel zur Verwirklichung der sozialen Revolution rechnete, war Blanqui, dadurch der einzige wirkliche Vertreter des Proletariats und seiner revolutionären Klasseninteressen in jener Periode. Allein auch sein Sozialismus war im Grunde genommen ein Projekt, das, jederzeit realisierbar, als eine Frucht des entschlossenen Willens einer revolutionären Minderheit und eines von ihr durchgeführten plötzlichen Umsturzes ins Werk gesetzt werden konnte". ("Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, Ges. Werke, Bd. 5, S. 588).
Der unvermeidbare Fehler der Utopisten lag in ihrer Auffassung vom Verlauf der Geschichte. Für alle hing dieser von dem Willen bestimmter Gruppen von Individuen ab: aus Babeufs oder Blanquis Sicht würden einige entschlossene Arbeiter die Entscheidung herbeiführen, Saint Simon, Fourier oder Owen wandten sich gar an den guten Willen der Bourgeoisie für die Verwirklichung ihrer Projekte.
Das Auftauchen des Proletariats als selbständige Klasse während der Revolution von 1848 sollte aufzeigen, dass es eine eigenständige Klasse ist, die den Sozialismus verwirklichen könnte. Dies bestätigte die Auffassung Marens, derzufolge - wie schon im Kommunistischen Manifest verkündet - die Welt in eine Klassengesellschaft gespalten ist, und dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte von Klassenkämpfen ist.
Die Entwicklung der Gesellschaften kann deshalb nur verstanden werden, wenn man den Rahmen begreift, der diese Kämpfe bestimmt, d.h. innerhalb der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse, die die Menschen miteinander verbinden und sie in Klassen untereinander aufspalten: die Produktionsverhältnisse.
Zu wissen, ob der Sozialismus möglich ist, erfordert zu bestimmen, ob die Entwicklung der Produktivkräfte - welche die Produktionsverhältnisse bestimmt - die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus durch den Sozialismus unumgänglich macht. Dies wiederum erfordert eine genaue Auffassung von den geschichtlichen Bedingungen, die eine gesellschaftliche Umwälzung verlangt.
"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.
Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.
In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, eben sowenig kann man eine solche Epoche von Umwälzungen aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.... In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden" (Marx, "Zur Kritik der politischen Ökonomie", Vorwort, MEW Bd. 13, S. 7).
Die Phase des Niedergangs eines Systems, die Zeit vor ihrem Niedergang, die auch ihre Überwindung auf die Tagesordnung stellt, entspricht dem Zeitraum, wenn alle Produktionsverhältnisse ihre geschichtlich erforderliche Rolle nicht mehr spielen: die der Entwicklung der Produktivkräfte der notwendigen Güter für das überleben der Gesellschaft. Dies ist der Zeitraum der "gesellschaftlichen Revolutionen".
Um insbesondere die Dekadenz des Kapitalismus festzulegen, müssen wir folgendermaßen vorgehen:
- wir wollen die These von Marx bei den Hauptumwälzungen der Geschichte überprüfen, um daraus das Konzept der Dekadenz eines Systems herauszuarbeiten. Dann werden wir dieses allgemeine Konzept der Dekadenz auf den besonderen Fall des Kapitalismus überprüfen, um daraus dessen spezifische Merkmale und die politischen Konsequenzen abzuleiten.
Wie Marx sagte, muss man "in der Betrachtung solcher Umwälzungen (...) stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewusst werden und ihn ausfechten“.
Zu Beginn der Menschheit herrschte der Urkommunismus als gesellschaftliche Organisationsform vor. Ungeachtet wichtiger örtlicher Unterschiede, die auf rassen-, klima- oder geschichtlich bedingte Ursachen zurückzuführen waren, bestanden die Wesenszüge der primitiven Gesellschaften im Gemeineigentum der Produktionsmittel (hauptsächlich der Boden) und der gemeinsamen Bearbeitung der Erde und der gemeinsamen Jagd, deren Ernte und Beute gleichmäßig unter der Bevölkerung aufgeteilt wurden. Die Auffassung, derzufolge das Privateigentum eine dem "menschlichen Wesen" innewohnende Eigenschaft sei, ist ein Mythos, der von den bürgerlichen Ökonomen seit dem 18. Jahrhundert verbreitet wird, um das kapitalistische System als das "natürlichste", "selbstverständlichste" darzustellen, das am "besten den tiefsten menschlichen Instinkten" entspricht. Diese Verhältnisse untereinander waren kein Ausdruck einer Ideologie der Brüderlichkeit, auch nicht einer göttlichen Gestaltung, die auf Gleichheit zwischen den Menschen geachtet hätte.
Es war die Hilflosigkeit der Menschen gegenüber einer Natur, die umso feindlicher war, als das Niveau ihrer Technik schwach entwickelt war, und die Notwendigkeit eines Zusammenhaltes, den diese Hilflosigkeit hervorbrachte, welche die Menschen zwang, in festgefügten Gemeinschaften zu leben, in denen die wenigen Produktionsmittel gleichmäßig verteilt benutzt wurden. Die Gleichheitsideologie, die damals bestand, war zunächst eine Folge dieser Verhältnisse und nicht ihre Ursache.
Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. (ebenda).
Ebenso waren es nicht ideologische Motive, die ursächlich waren für das Verschwinden des primitiven Kommunismus, sondern das Verschwinden der materiellen Bedingungen selbst hat dies bewirkt. Wenn man untersucht, wie diese ‚Gleichheitsgesellschaften‘ sich in Ausbeutungsgesellschaften verwandelt haben, wie damit die Klassenspaltungen und auch das Privateigentum entstanden sind, stellt man fest, dass sie das Ergebnis des Fortschritts der Produktionstechniken sind.
Wir wollen hier den Fall außer Acht lassen, wo sie das Ergebnis der "zivilisatorischen Wirkung" der Kolonialmassaker durch die Europäer vom 15. Jahrhundert an waren.
Man geht heute davon aus, dass je nach Region auf der Erde und je nach örtlichen historischen Bedingungen die Gesellschaften des primitiven Kommunismus sich aufgelöst haben und entweder von der asiatischen Produktionsweise oder von den Sklavengesellschaften ersetzt wurden.
Als eine Gemeinschaft feststellte, dass ihre bearbeiteten Felder nicht mehr fruchtbar waren, oder dass es keine Beute mehr zu jagen gab, oder als ihre Bevölkerung zu stark anwuchs, war sie gezwungen, ihren Einzugsbereich auszudehnen oder ihren Herrschaftsbereich auf neue Territorien auszuweiten. In Gebieten, in denen es eine relativ starke Bevölkerungskonzentration gab - z.B. im Mittelmeergebiet - konnte solch eine Erweiterung nur auf Kosten anderer Gemeinschaften geschehen.
Anfangs konnten die so hervorgerufenen Kriege nur die Form von Morden annehmen, oder es gab auch Kannibalismus, um sich die Böden der besiegten Völker anzueignen. Solange das gesellschaftliche Produktivitätsniveau es den Menschen erlaubte, nur gerade soviel zu produzieren wie nötig für ihr eigenes Überleben, hatte der Sieger kein Interesse daran, "neue Münder" in seine hungrige Gemeinschaft einzugliedern. Dazu musste erst die Arbeitsproduktivität ausreichend ansteigen, um die besiegten Menschen zu zwingen, kostenlos und durch Zwang Arbeit dem Sieger abzuliefern, wobei gleichzeitig das Überleben selbst der Besiegten sichergestellt werden musste. Dies war die Grundlage des Sklaventums.
Die kommunistischen Verhältnisse mussten schließlich ersetzt werden, um auf einem Hintergrund von Kriegen und Eroberungen ein höheres Produktivitätsniveau zu nutzen.
Dieses bislang noch wenig ergründete Wirtschaftssystem war im Allgemeinen das Ergebnis des Bedürfnisses bestimmter Gemeinschaften, auf die von der Natur in bestimmten Gegenden aufgeworfenen Probleme zu reagieren (Trockenheit, Überschwemmungen, Monsunregen usw.). In solchen Gegenden wurden die Gemeinschaften sehr schnell gezwungen, die Zyklen der Natur zu untersuchen, Projekte in Angriff zu nehmen, um mit dem Wasser hauszuhalten usw., um ihr Leben zu schützen. Die Komplexität ihrer Arbeiten, die technischen Kenntnisse, die zu diesem Zweck erforderlich waren, sowie die Notwendigkeit einer Autorität, die all diese Arbeiten koordinierte, haben Schichten von Spezialisten (Priester, die sich mehr mit Untersuchungen und der Beobachtung der Natur beschäftigten, standen oft am Anfang der Kastenbildung) hervorgebracht. Mit einer besonderen Aufgabe in den Diensten der Gemeinschaft befasst, neigten diese Spezialisten - die oft als die Schöpfer dieser neuen Reichtümer erschienen - dazu, als herrschende Kaste aufzutreten. Sie eigneten sich schrittweise die erarbeiteten Mehrwerte auf Kosten der Gemeinschaft an. Die Entwicklung der Produktivkräfte wandelte diese Diener der Gesellschaft in deren Ausbeuter um.
Die "asiatische Produktionsweise" ließ jedoch diese "gemeinschaftlichen Produktionsverhältnisse" innerhalb der Bereiche der Produktion selbst fortbestehen. Die herrschende Klasse eignete sich nur den von der Arbeit dieser Gemeinschaften produzierten Mehrwert an. Aber eine erste Überwindung des primitiven Kommunismus fand damit statt. Die Notwendigkeit, neue Produktionstechniken anzuwenden, bewirkte den Übergang zu neuen Produktionsverhältnissen und die Aufgabe der alten. Die Einführung neuer Produktionstechniken löschte schließlich die letzten Reste von "Gleichheit" innerhalb dieser Gesellschaften aus. Das Düngen des Bodens und noch allgemeiner die Notwendigkeit, eine engere Verbindung zwischen den Bewohnern und dem Boden zu schaffen, führten in den meisten Fällen dazu, dass die systematische Neuaufteilung des Lands, die zuvor willkürlich oder den Bedürfnissen der Familien gemäß erfolgte, abgeschafft wurde. Die Notwendigkeit, eine größere Kontinuität bei der Bearbeitung des Bodens zu ermöglichen, manchmal aber auch die Exzesse bei den Steuerbelastungen, brachte ebenso den Übergang vom Gemeineigentum zum Privateigentum mit sich. Und damit entfaltete sich auch langsam die wachsende Ungleichheit, wodurch mit der Zeit ein Teil der Bevölkerung gezwungen wurde, die Böden der Reichen zu bearbeiten, um dafür im Gegenzug einen Teil der Ernte zu erhalten. Es wuchs eine Hierarchie in der Gesellschaft heran, die die Gestalt der Leibeigenschaft oder des Feudalismus annahm.
Die kommunistischen Produktionsverhältnisse brachen unter dem Druck des Fortschritts der Produktivkräfte zusammen, um von der Sklavengesellschaft oder dem östlichen Despotismus (und dieser wiederum von der Leibeigenschaft) abgelöst zu werden, denn die Produktivkräfte kollidierten mit dem alten Rahmen.
"Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten" (ebenda).
Als Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte in den Gegenden, wo ein Volk ein anderes unterworfen hat, ermöglichte die Sklavengesellschaft die Aneignung der Mehrarbeit durch einen Teil der Bevölkerung, der von dem Rest der Gesellschaft erarbeitet worden war. Als herrschende Klasse, die nach Profiten und Privilegien strebten, wurden die Sklavenherren zu Antreibern der Entwicklung der Produktivkräfte. Aber diese eng mit den Eroberungskriegen verbundene Entwicklung nahm überall die Form der Zunahme der Zahl der Sklaven und der großen Arbeiten an, die die Ausplünderung der eroberten Länder erleichterten. Auf diesem Hintergrund entfalteten sich die Zivilisation in Griechenland und im alten Rom.
Die römische Sklavenwirtschaft - deren Niedergang die Tür öffnete zum Feudalismus - stützte sich auf die Plünderung und die Ausbeutung der unterworfenen Völker. Diese lieferten Rom den Hauptteil der Subsistenzmittel (Lebensmittel, Tributleistungen und Sklaven). Es trat gar häufig auf, dass viele so "importierte" Güter das Ergebnis verschiedener Produktionsformen waren, wie z.B. der "asiatischen Produktionsform". Aber das Zentrum lebte weiter in der Sklavengesellschaft, und sie befasste sich hauptsächlich mit der extensiven Ausbeutung (Olivenbäume und Viehzucht) und den großen Arbeiten. Diese dienten oft militärischen Zielen, die wiederum eine bessere Ausnutzung der Kolonien (Straßen usw.) ermöglichten und dem herrschenden Volk viele Vorteile verschafften.
Die politische Macht floss oft zusammen mit der herrschenden militärischen Macht. Und der wirtschaftliche Wohlstand hing meist von den kriegerischen Fähigkeiten der Metropole ab.
Die große Entfaltung der römischen Zivilisation entsprach dem Zeitraum der großen Siege und Eroberungen Roms. Ihr Höhepunkt war die Phase, als Rom die Gegend des Mittelmeers beherrschte und sie ausbeutete. Gleichzeitig entsprach der Niedergang des Römischen Reiches im 2. Jahrhundert dem Ende der Ausdehnungsphase, und im 3. Jahrhundert gab es dann die ersten Niederlagen des Imperiums (251 wurde der Kaiser Decius besiegt und von den Goten getötet, 260 wurde der Kaiser Valerian gefangengenommen, schließlich vom König der Perser gedemütigt. Und im 3. Jahrhundert brachen überall nahezu gleichzeitig Revolten in den Kolonien des Reiches aus).
Die Schwierigkeit, die Herrschaft in so einem großen Reich mit den damals vorhandenen Mitteln aufrechtzuerhalten, liefert uns zum Teil die Gründe für die Erklärung des Endes der Ausdehnung des Römischen Reiches. Aber vor allem der Abstand zwischen der schwachen wirtschaftlichen Produktivität der Sklavengesellschaft Roms und seiner Kolonien (die sich ohne eine höhere Produktivität mit ihren asiatischen Produktionsweisen entwickelt hatten), musste den Aufstand der letzten erfolgreich enden lassen.
Die Produktionsverhältnisse der Sklavengesellschaft ermöglichten nur eine schwache Arbeitsproduktivität. Unter den damaligen Bedingungen musste ein Ansteigen der Arbeitsproduktivität einhergehen mit der Perfektionierung der Bearbeitung des Bodens, dem Einsatz von Pflügen und Dünger, und der systematischen Bewässerung, d.h. der Schaffung einer engen Verbindung zwischen demjenigen, der den Boden bearbeitete und dem Boden und damit eine gewisse Sorgfalt bei der Arbeit. Dies war für die Einführung der neuen Produktionstechniken erforderlich. Solch ein Fortschritt verlangte die Abschaffung der Sklaverei, in der die Sklavenherren ihre Sklaven unabhängig von ihrer Produktivität unterhielten, und in der nur die Angst vor der Strafe zur Arbeit und Produktion zwang, und damit natürlich mit der geringsten Sorgfalt gearbeitet wurde.
Die Sklaverei war nur lohnend als ein Mittel zur Ausbeutung der eroberten, unterworfenen Völker. Unabhängig davon, ob diese Eroberungen eingestellt wurden oder abnahmen, die Beute damit ausblieb, d.h. die Quelle des Reichtums aus den Tributzahlungen und der Sklavenarbeit versiegte, wodurch der Wert der Sklaven nur noch anstieg, all das änderte nichts daran, dass die Sklaverei zu einem unrentablen System wurde, einer Fessel für die Entwicklung der Produktion.
Die Notwendigkeit, zu einer neuen Form der Produktionsverhältnisse überzugehen, führte im Zentrum des alten römischen Reiches zum Auftauchen von feudalen Ausbeutungsformen (Leibeigenschaft), wo die großen Grundbesitzer Landstücke an "freie" Familien im Austausch für einen Teil ihrer Produktion überließen. Aber die Überwindung der Sklaverei führte auch zur Verwerfung der Privilegien der herrschenden Klasse. Der "Zusammenprall" zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft und den vorhandenen, bis dahin bestehenden Produktionsverhältnissen bewirkte den Niedergang des Römischen Reiches.
"Die Entfaltung der Produktion verlangsamte sich oder kam ganz zum Stillstand. Die reichen Römer strichen die Ausbeute der Minen und die jeweiligen Ernten ein, Weideland und Wälder in halb-trockenen Gebieten verschwanden. Die Arbeitskräfte wurden zügellos ausgebeutet, wodurch Unzufriedenheit und Lustlosigkeit gegenüber der Arbeit hervorgerufen wurde. Neue Arbeitstechniken wurden gar verboten, neue Bewässerungs- und Abwassersysteme vernachlässigt, obgleich diese lebenswichtig waren... Kriege, Epidemien und der Mangel an Lebensmitteln sowie eine wachsende Ablehnung gegenüber kinderreichen Familien sollten die Bevölkerung des Reiches auf über ein Drittel der vorherigen Größe schrumpfen lassen, vielleicht gar noch mehr. Und in Italien sank sie im Laufe des 3 Jahrhunderts noch mehr ab"
(Shepard B. Clough, "The Rise and Fall of Civilisation", S. 140-142, Editions Payot).
Nach dem Sklaventum oder der asiatischen Produktionsform ermöglichte der Feudalismus jahrhundertelang einen neuen Aufstieg der Produktivkräfte der Gesellschaft.
In den feudalen autarken Beziehungen erreichte die Landarbeit einen bis dahin nicht erreichten Höchststand (Verbesserung der Pflüge, die Hufe der Zugtiere wurden beschlagen, Verbesserung der Gespanne - sie wurden entweder am Kopf oder am Hals anstatt um den Bauchbereich angebracht - Entfaltung der Bewässerungssysteme und des Düngens usw.). Auch gab es neben der Fortentwicklung der Landarbeit eine umfangreiche Weiterentwicklung der Arbeit der Handwerker. Sie hatte sich als einfaches Anhängsel der Landwirtschaft entfaltet, denn sie lieferte Arbeitswerkzeuge und bestimmte Konsumgüter, die für die herrschende Klasse bestimmt waren (hauptsächlich Kleidung und Kriegswerkzeug). Das Handwerk profitierte von dem Bedürfnis für neue Werkzeuge sowie von dem Anwachsen der Reichtümer der Bodenbesitzer infolge des Ansteigens der Produktivität in der Landwirtschaft. Dieser letzte Faktor spielte eine umso größere Rolle, da die Klasse der Gutsherren, bei der die Akkumulation zum Zwecke der Erweiterung der Produktion noch nicht bekannt war. Dies war ein Wesenszug der bürgerlichen Klasse, denn die Feudalherren verwendeten ihren ganzen Reichtum nur für den persönlichen Konsum.
Aber der Feudalismus traf schon vom 12. Jahrhundert an auf die Grenzen der Ausdehnungsfähigkeit seiner anbaufähigen Landstücke. "Es gibt ausreichend Hinweise auf den Mangel an Böden gegen Ende des 13. Jahrhunderts, um zu der Meinung zu kommen, dass die Ausdehnung der anbaufähigen Landstücke schwächer war als das natürliche Anwachsen der Bevölkerung und dass mit Ausnahme von einigen Orten sie wahrscheinlich unzureichend war, um die Tendenz des Absinkens der Arbeitsproduktivität auszugleichen. Der Druck, der so auf die Böden ca. seit dem Jahre 1.200 in Holland, Sachsen, Rheinland, Bayern und Tirol ausgeübt wurde, war ein Faktor, der zu einer massiven Völkerwanderung nach Osten führte. Und ab dem Ende des 14. Jahrhunderts waren die Grenzen der Waldrodung zum Zweck der Gewinnung von Acker- und Weideland im Nord-Osten Deutschlands und in Böhmen schon erreicht" (Maurice Dobb "Untersuchungen über die Entwicklung des Kapitalismus, S. 59).
"Die Zeitgenossen des Heiligen Ludwig und in einigen Gegenden von Philipp dem Schönen konnten tatsächlich ein Anwachsen des Wertes der Böden feststellen, deren Ertrag bis an ihre Grenzen gelangt waren. Die gewagtesten Rodungen und Urbarmachungen wurden unternommen, weil man immer mehr Menschen ernähren musste, und da man nicht wusste, wie die Bodenerträge gesteigert werden könnten, stützte man sich auf die Erweiterung der Größe des landwirtschaftlich genutzten Bodens. Heide und brachliegende Landstriche wurden für den Ackerbau genutzt. Sumpfgegenden an englischen Küstenstrichen, die Sümpfe um den Poitou wurden trockengelegt und der landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt - je nach den technisch vorhandenen Möglichkeiten. Manchmal ging man aber auch zu weit" (J. Favier, "Von Marco Polo zu Christopher Kolumbus", S. 125).
Von da an konnte die Gesellschaft aus dieser Sackgasse nur durch eine neue Entwicklung der Produktivität der Arbeit ausbrechen. Aber diese war innerhalb des Rahmens der Familienmäßigen handwerklichen Ausbeutung auf ihre äußersten Grenzen gestoßen. Nur der Übergang von der individuellen zur assoziierten Arbeit, in der viele Menschen mittels Arbeitsteilung und dem Einsatz von komplexeren Produktionsmitteln zusammenwirkten, konnte unter jenen Bedingungen die notwendige Steigerung der Produktivität ermöglichen.
Die Entfaltung der Handwerksarbeit, die vom Feudalismus bewirkt wurde, schuf damit in den wiedererstarkenden Städten den notwendigen Rahmen für solch eine Arbeitsform.
Aber der feudale Rahmen selber blockierte die Bedingungen, die eine wirkliche Entwicklung dieser Wirtschaftsform ermöglichten:
- einerseits stützte sich der Feudalismus auf die lebenslange Fesselung des Menschen an seine Produktionsmittel sowie an den Gutsbesitzer, wogegen die Manufaktur eine große Mobilität der Arbeitskraft forderte, damit eine Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln,
- andererseits war der Feudalismus das System der lokalen Macht, der Autarkie, des abgeschlossenen Bereiches und der Wegegelder, die für alle Güter erhoben wurden, welche durch die Gutsherrenbesitztümer befördert wurden. Aber die Manufaktur erforderte auch hier die Mobilität der Rohstoffe und der Waren im Allgemeinen, wodurch eine Entwicklung einsetzte, in der sich die Produktion an einem Ort konzentrierte, mit Produkten, die aus allen Himmelsrichtungen kamen, sowie der Absatz dieser Produkte,
- schließlich stützte sich die Manufaktur auf die Akkumulation und die Konzentration der Profite, um die Werkzeuge und die Maschinen besser auszunutzen, zu erneuern und zu erweitern, was nur durch eine arbeitsteilige Produktion möglich ist. Sie erfordert also eine Geisteshaltung der Erfolgssuche, des Gewinnstrebens bei der Arbeit und dies wurde verkörpert durch das Recht, die dadurch erzielten Gewinne selber einzukassieren. Aber die Privilegien der Feudalherren stützten sich wiederum auf die militärische und nicht die wirtschaftliche Stärke und dann ausschließlich auf die Gesetze der Übertragung von Gütern gemäß Erbschaften.
Hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit war der Gutsherr dem Leibeigenen gleichgestellt oder stand sogar unter ihm. Deshalb verachtete die Feudalgesellschaft die Arbeit, die als etwas Erniedrigendes dargestellt wurde.
Für den Feudalherren war es ein Vergnügen, seine Macht zu zeigen, indem er seine ganzen Einnahmen selber verbrauchte. Die Feudalwirtschaft kannte nicht und verwarf die Akkumulation mit Ziel des Anwachsens der Produktion, wodurch wiederum eine Hürde für die Manufaktur aufgestellt wurde.
Nachdem der Feudalismus anfänglich eine neue Entwicklung der Produktivkräfte ermöglicht hatte, wurde er so selber später ca. vom 14. Jahrhundert an zu einem Hindernis für die weitere Entwicklung, denn er war auf die Grenzen der Expansion gestoßen, weil er die bestellbaren, landwirtschaftlich nutzbaren Flächen nicht mehr vergrößern konnte und gleichzeitig eine produktivere Wirtschaftsform behinderte.
"Anfang des 14. Jahrhunderts war das Ende der Ausdehnungsphase der mittelalterlichen Wirtschaft. Bis dahin gab es beständige Fortschritte in der mittelalterlichen Wirtschaft. (...). Aber Anfang des 14. Jahrhunderts war es zum Stillstand dieser Entwicklung, zum Niedergang, zur Dekadenz gekommen. Wenn man sich nicht zurückentwickelt, geht man nicht mehr nach vorne. Europa lebte sozusagen auf der Grundlage der bis dahin erreichte Positionen. Die wirtschaftliche Front stabilisierte sich... Das wirtschaftliche Vorandrängen kam zum Erliegen, weil der Außenhandel auch nicht mehr zunahm... In Flandern und in Brabant hielt die Tuchherstellung noch ihre Blütephase aufrecht, aber ihr Wohlstand nahm nicht mehr zu; gegen Mitte des Jahrhunderts sackte er plötzlich in sich zusammen. In Italien machten die meisten der großen Banken, die so lange den Geldhandel kontrolliert hatten, pleite.... Die Dekadenz der großen Jahrmärkte in der Champagne setzte auch damals zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein. Damals wuchs auch die Bevölkerung nicht mehr, und dies war das klarste Symptom des Zustands einer Gesellschaft, die sich "stabilisiert" hatte und einer Entwicklung, die ihren Höhepunkt erreicht hatte" (H. Pirenne "Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters", S. 158 PUF).
Ebenso wie zur Zeit der Sklavengesellschaft rief der Niedergang des Feudalismus Hungersnöte hervor, und das Anwachsen der Produktivkräfte hinkte stark hinter dem Anwachsen der Bevölkerung hinterher. Neben den Hungersnöten gab es meist Epidemien, die sich umso schneller ausbreiten konnten, da die Bevölkerung zumeist unterernährt war. So grassierte zwischen 1315-1317 in ganz Europa eine schreckliche Hungersnot, gefolgt von mehr als 30 Jahren schwarzer Pest, die zwischen 1347-1350 wahrscheinlich mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte.
"Es trifft zwar zu, dass bis dahin Länder, die relativ am Rand gestanden hatten, wie Polen und Böhmen, sich langsam zu aktivieren begannen. Aber ihr spätes Erwachen hat nicht zur Folge gehabt, dass die gesamte westliche Welt dadurch nochmal nach vorne gedrängt worden wäre. Wenn man nur dies berücksichtigt, wird ziemlich deutlich, dass man damals in einen Zeitraum eingetreten war, wo man "mehr aufrechterhielt als man Neues schuf". Die soziale Unzufriedenheit brachte sowohl den Willen und die Unfähigkeit, eine Lage zu verbessern zum Ausdruck, die überhaupt nicht mehr den Bedürfnissen der Menschen entsprach" (Henri Pirenne, ebenda, S. 158).
Die im 14. Jahrhundert eingesetzte Dekadenz des Feudalismus setzte sich fort bis zu den letzten juristischen Umwälzungen durch die bürgerlichen Revolutionen zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert in England und Frankreich. Aber vom 14. Jahrhundert an fing ein neuer Produktionstyp an, die ganze Gesellschaft zu beherrschen: der Kapitalismus. Indem er einen Kampf gegen die feudalen Fesseln entfaltete, war er der große Nutznießer des Auseinanderbrechens im 14. Jahrhunderts, denn er ermöglichte eine Aktivierung des Wirtschaftslebens.
Die Entwicklung der Produktivkräfte kann unter zwei Aspekten gesehen werden:
- Ansteigen der Zahl der Arbeiter, die in die Produktion mit einem gegebenen Produktivitätsniveau integriert werden;
- Entwicklung der Produktivität der Arbeit mit einer gegebenen Zahl von Arbeitern.
In Wirklichkeit gibt es in einem sich ausdehnenden System beide Aspekte. Ein in der Krise steckendes System dagegen ist ein System, das auf die Grenzen bei beiden Ebenen gleichzeitig stößt.
Man könnte von einer "äußeren Grenze" für die Ausdehnung des Systems sprechen (der Unfähigkeit, das Einflussgebiet des Systems auszudehnen) und einer "inneren" Grenze (Unfähigkeit, eine bestimmte Stufe der Produktivität zu überwinden). Wenn man das Ende der Sklavengesellschaft betrachtet, das Römische Reich, sieht man, dass die "äußere Grenze" durch die materielle Unmöglichkeit bestimmt wird, den Einzugsbereich des Reiches auszudehnen. Die "innere Grenze" ist die Unmöglichkeit, die Produktivität der Sklaven zu erhöhen, ohne dass das gesellschaftliche System selber umgewälzt wird, ja ohne, dass der Sklavenstatus selber abgeschafft wird. Im Falle des Feudalismus sind dies das Ende der Neulandgewinnung, die Unmöglichkeit, neues bestellbares Land zu gewinnen, was als "äußere Grenze" wirkt. Die "innere" Grenze besteht in der Unfähigkeit, die Produktivität des Leibeigenen oder des einzelnen Handwerkers zu erhöhen, ohne dass sie zu Proletariern würden, ohne für sie die assoziierte Arbeit durch das Kapital einzuführen, d.h. ohne eine grundlegende Umwälzung der feudalen Wirtschaftsstrukturen.
Die Untersuchung dieser beiden Art Grenzen zeigt eine dialektische Verbindung zwischen beiden: Rom konnte sein Reich aufgrund der technischen Grenzen (Produktivität) nicht unbeschränkt ausdehnen; umgekehrt je mehr die Schwierigkeiten der Ausdehnung zunahmen, desto mehr war es gezwungen, seine eigene Produktivität zu erhöhen, wodurch diese wiederum bis an ihre äußersten Grenzen getrieben wurde. Auch die feudalen Neulandgewinnungen, die Rodungen und Urbarmachungen von neuen Feldern waren durch das Niveau der Techniken im Feudalismus begrenzt, und je knapper die Felder wurden, desto mehr versuchte man in den Städten und auf dem Lande, die Produktivität in der Feudalgesellschaft bis an den Rand des Kapitalismus zu treiben.
Letzten Endes wird diese Lage durch die Grenzen hervorgerufen, auf die die Entwicklung der Produktivität innerhalb der alten Gesellschaft stößt. Diese Produktivität ist gerade der Maßstab für die Entwicklungsstufe der Produktivkräfte. Sie ist der quantitative Ausdruck einer gewissen Kombination der menschlichen Arbeit und der Produktionsmittel, der lebendigen und toten Arbeit.
Jeder Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte, d.h. jedem globalen Niveau der Produktivität entspricht ein gewisser Typ der Produktionsverhältnisse. Wenn diese Produktivität auf ihre äußersten möglichen Grenzen innerhalb des ihr entsprechenden Systems stößt, tritt diese Gesellschaft - wenn sie nicht umgewälzt wird - in die Phase ihres wirtschaftlichen Niedergangs. Dann gibt es so etwas wie einen "Schneeballeffekt": die ersten Auswirkungen der Krise wirken als beschleunigende Faktoren. Z.B. sowohl am Ende des Römischen Reiches als auch beim Niedergang des Feudalismus trieb der Rückgang der Einkommen der herrschenden Klassen diese zur Verschärfung der Ausbeutung der Arbeitskräfte bis zu deren Erschöpfung. In beiden Fällen hat dies zur Folge, dass die Arbeiter sich abwenden, kein Interesse zeigen und die Unzufriedenheit zunimmt, was die Profite nur noch weiter fallen lassen wird. Auch die Unmöglichkeit, neue Arbeiter in die Produktion zu integrieren, zwingt die Gesellschaft dazu, für den Lebensunterhalt einer ganzen Schicht von inaktiven Menschen zu sorgen, und die wiederum als eine Last für den Profit wirken.
Hier muss man auch die galoppierende Entwertung der Währungen feststellen, die es gegen Ende des Mittelalters gab: "Rom hatte darauf gehofft, die Regierungsausgaben durch erhöhte Steuern zu decken, aber als sich diese als unzureichend herausstellten, musste man auf die Inflation zurückgreifen (gegen Ende des 2. Jahrhunderts). Dieses erste Mittel wurde hin und wieder während des 3. Jahrhunderts eingesetzt, und bestimmte Währungen verloren mehr als 200 % ihres Wertes. Aus diesem Grund zerfiel die Währung des Reiches, jede Stadt und jede Provinz gab ihre eigene Währung aus" (Shepard und B. Clough, ebenda, S. 141).
Und gegen Ende des Mittelalters:
"In einer Welt, in der die Geldmasse nicht mehr ausreichend war, ließen die Zahlungen (an die Soldaten, welche für den Schutz gegen Banden oder in Kriegen eingesetzt wurden) noch das Bedürfnis nach dem kostbaren Metall ansteigen, damit der Versuch, den Wert der im Kreislauf befindlichen Münzen zu hoch anzusetzen. Der Nennwert und das Gewicht der Münzen nahmen ab, aber die Herrscher traten für eine Erhöhung ihres Zahlungswertes ein. Die Geldmünze, die zwei Sou wert war, enthielt nunmehr weniger reines Silber und mehr Blei und wurde mit 3 Sou gehandelt. Das war die Inflation" (J. Favier, ebenda, S. 127).
Neben diesen ökonomischen Konsequenzen rief die Krise eine Reihe von gesellschaftlichen Erschütterungen hervor, die ihrerseits wiederum die schwache Subsistenzwirtschaft behinderte. Die weitere Entfaltung der Produktivität stieß systematisch mit den vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen zusammen, wodurch in immer stärkerem Maße jede neue Entwicklung der Produktivkräfte unmöglich wurde. Die Überwindung der alten Gesellschaft rückte auf die Tagesordnung.
"Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist..." (ebenda). Tatsächlich hat es nie ein System geschafft, wirklich alle Produktivkräfte zu entwickeln, die es theoretisch entfalten könnte.
Einerseits sind die wirtschaftlichen Konsequenzen und die gesellschaftlichen Katastrophen, welche aus den ersten großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten hervorgehen, die wir oben erwähnt haben, Fesseln, die das System daran hindern, bis an seine äußersten Grenzen zu stoßen. Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass ein Wirtschaftssystem eine Gesamtheit von Produktionsverhältnissen ist, die sich zwischen den Menschen entwickelt haben, unabhängig von ihrem Willen und entsprechend dem Niveau der Produktivkräfte, mit dem Ziel, ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Lange bevor das letzte Produktionsinstrument entfaltet wurde, und während der Produktion schon angefangen hat, langsamer als die Bedürfnisse der Bevölkerung zu wachsen, verliert das System seine historische Daseinsberechtigung, und alles in der Gesellschaft drängt auf seine Überwindung.
Andererseits fangen die Grundlagen der neuen Gesellschaft unter dem Druck der Produktivkräfte an, sich innerhalb der alten zu entfalten. Aber dies trifft nur auf die früheren Gesellschaften zu, in denen die Klasse, die die Überwindung eines Systems ermöglicht hat, nie eine ausgebeutete Klasse war. Der Feudalismus entfaltete sich innerhalb der alten Sklavengesellschaft des Römischen Reiches. An der Spitze der ersten feudalen Güter in Rom standen oft alte Mitglieder des Stadtrates, die vor dem Staat flüchteten, welcher sie für das Eintreiben der Steuern verantwortlich gemacht hatte.
Ebenso gegen Ende des Feudalismus wurden Mitglieder des Adels zu Geschäftsleuten, und in den Städten entfalteten sich oft gegen den Widerstand der örtlichen Gutsherren die ersten Manufakturen, die dem Kapitalismus seinen Einzug ermöglichten.
Diese "ersten Zentren des zukünftigen Systems" (große römische Gutshöfe, bürgerliche Städte) entstanden meist als Ergebnis des Zerfalls des alten Systems. Es gab dort jeweils eine Vielzahl von Elementen, die vor dem alten System flüchteten. Als Ergebnisse, Sprösslinge der Dekadenz des Systems, verwandelten sie sich meist schnell zu beschleunigenden Faktoren dieses Niedergangs.
Die materiellen Bedingungen ermöglichten den Übergang zu einer neuen Gesellschaftsform, die schon in der alten Gesellschaft herangereift war, und der Druck, der von ihnen ausgeübt wurde, reichte meist aus, um die ersten Keime einer neuen Gesellschaft in ihr empor sprießen zu lassen.
"... und neue Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind" (ebenda).
Es reicht nicht aus, dass die Produktion auf die äußersten Grenzen der alten Gesellschaft stößt. Auch müssen die Mittel zu ihrer Überwindung vorhanden sein, oder dabei sein zu entstehen. Wenn diese beiden Bedingungen geschichtlich vorhanden sind, steht die Einführung neuer Produktionsverhältnisse auf der Tagesordnung. Aber der Widerstand der alten Gesellschaft (Widerstand der alten privilegierten Klassen, Trägheit der Sitten und Gewohnheiten, Ideologie und Religion usw.) und der Spalt zwischen der Verwirklichung dieser beiden Bedingungen bewirken, dass der Übergang zur neuen Gesellschaft nicht in einer kontinuierlichen, schrittweisen Art erfolgt.
Die Niedergangs Stufe eines Systems ist der Zeitraum, in der dieser zu verwirklichende geschichtliche Sprung noch nicht gemacht wurde. Sie ist der Ausdruck eines wachsenden Widerspruches zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Es ist, als ob ein Körper in einer Kleidung, einem Korsett steckt, das zu eng geworden ist.
Solange die Gesellschaft in diesen Bedingungen gefangen bleibt, brechen eine Reihe von typischen Phänomenen auf, die alle diesen Widerspruch zum Ausdruck bringen. Wir wollen nun auf diese Merkmale zu sprechen kommen.
Wenn die Wirtschaft erschüttert wird, gerät der ganze, sie unterstützende Überbau ebenfalls in eine Krise und in Verfall. Die Anzeichen dieses Zerfalls sind alles charakteristische Erscheinungsweisen des Niedergangs eines Systems. Auch sie werden später zu Faktoren, die den Prozess der Dekadenz beschleunigen. Viele bürgerliche Politiker haben darin die Hauptursache, die Hauptantriebskraft des "Endes der Zivilisation" gesehen.
Wir werden uns hier mit vier Phänomenen des "Überbaus" befassen, die sowohl beim Niedergang der Sklavengesellschaft wie bei dem des Feudalismus auftraten. Es handelte sich dabei nicht um einen Zufall der Geschichte, sondern um typische Phänomene für die Dekadenz eines Systems.
Es geht dabei um:
- den Zerfall der herrschenden ideologischen Formen innerhalb der alten Gesellschaft,
- die Entfaltung von Kriegen zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse,
- die Intensivierung und Entwicklung der Klassenkämpfe,
- die Verstärkung des Staatsapparates.
Die herrschende Ideologie in einer in Klassen gespalteten Gesellschaft ist notwendigerweise die Ideologie der herrschenden Klasse. Ob diese sich "erweitern", "bereichern", "entfalten" kann, hängt von der wirklichen Fähigkeit dieser Klasse ab, dass ihre Herrschaft von der gesamten Gesellschaft akzeptiert wird. Eine Gesellschaft akzeptiert nur eine vorhandene Ideologie, wenn ihr Wirtschaftssystem ihren Bedürfnissen entspricht. Je mehr ein Wirtschaftssystem den Wohlstand und die Sicherheit der Menschen garantieren kann, desto mehr akzeptieren die Menschen, die unter diesem System leben, dessen Auffassungen zur Rechtfertigung des Systems. Unter den Bedingungen der Ausdehnung, der aufsteigenden Phase können die Ungerechtigkeiten der wirtschaftlichen Verhältnisse als "ein notwendiges Übel" erscheinen. Die Überzeugung, dass "schließlich jeder auf seine Kosten kommt" ist der Nährboden für das Sprießen von demokratischen Ideologien - vor allem bei dem Teil, der den größten Nutzen daraus zieht, die herrschende Klasse.
Das Regime der Republik entspricht der Blütezeit der römischen Wirtschaft; in dem sich ausdehnenden Feudalismus übte der König nur die oberste Herrschaft aus, er war der Auserwählte unter Gleichen. Die Gesetzgebung selber war relativ wenig entwickelt, denn das System entsprach den objektiven Bedürfnissen der Gesellschaft, so dass die Mehrzahl der Probleme von "selbst geregelt" werden konnte.
Die Wissenschaften entfalteten sich, die Philosophie neigte zum Rationalismus, zum Optimismus und zur Zuversicht in den Menschen. Das schamhafte Gesicht einer jeden Ausbeutungsgesellschaft war durch die wirtschaftliche Blütephase relativ verwischt worden; die Ideologien standen nicht so sehr vor der Notwendigkeit, die Wirklichkeit zu vertuschen und Unmögliches zu rechtfertigen. Die Kunst selber spiegelte diesen Optimismus wider und es gab "Höhepunkte" der Kunst in den Blütephasen der Wirtschaft (was man seinerzeit "das Goldene Zeitalter" der lateinischen Kunst nannte, ging einher mit der Phase der vollen Ausdehnung des Reiches; in den Blütephasen des 11. und 12. Jahrhunderts z.B. gab es auch im Feudalismus eine künstlerische und geistige Erneuerung).
Aber die Produktionsverhältnisse schlugen um in eine Fessel für die Gesellschaft, und alle, der Vergangenheit zugehörigen Ideologieformen waren entwurzelt, ihres Inhaltes entleert, von der Wirklichkeit selber widerlegt. Im niedergehenden römischen Reich konnte die Ideologie der politischen Macht nur eine immer stärkere "übernatürliche" und diktatorische Form annehmen. Auch in der Niedergangsphase des Feudalismus gab es eine Tendenz, dass der Wesenszug des "Erhabenen" der Monarchie und der adligen Privilegierten mehr an Gewicht annahm, dem jedoch in Wirklichkeit der Boden entzogen wurde durch die Warenbeziehungen, die die Bourgeoisie einführte.
Die Philosophie und die Religionen spiegelten einen wachsenden Pessimismus wider, das Vertrauen in die Menschen wich der Flucht in den Fatalismus und einen wachsenden Obskurantismus (Aufblühen des Stoizismus, schließlich des Neoplatonismus im niedergehenden Römischen Reich. Im Stoizismus sprach man von den Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen durch die Schmerzen, die zweitgenannte Ideologie verwarf die Fähigkeit des Menschen, die Probleme der Welt mit Hilfe des Verstandes zu begreifen).
Am Ende des Mittelalters gab es das gleiche Phänomen:
"In diesem Niedergang gab es ein Aufblühen des Mystizismus in all seinen Formen. Die Darstellung der Kunst des Sterbens und die Imitation Jesus Christus standen im Vordergrund. Aber auf emotionaler Ebene rückten die großen öffentlichen Sympathie- und Mitleidsbekundungen in den Vordergrund, die so betont wurden von den predigenden Mitgliedern der Bettelmönche. Auf dem Lande gab es überall Geißelbrüder, die sich mit Riemenschlägen auf die Brust auf den Dorfplätzen zur Schau stellten, um das menschliche Mitgefühl zu erwecken und die Christen zur Buße aufzurufen. Diese Erscheinungen riefen seltsame Phänomene hervor, wie diese Blutbefleckungen, die den Erlöser darstellen sollen. Sehr schnell brach eine Hysterie aus, und die Kirchenoberen traten auf den Plan, um sich gegen diese "Unruhestifter" zu stellen und zu verhindern, dass ihr Wirken noch die Zahl der Vagabunden anschwellen lässt... Die Kunst des Makaberen blühte auf. Heilige Texte genossen selbst bei den "hellsten und aufgewecktesten Köpfen" große Anerkennung: die Apokalypse" (Favier, ebenda, S. 152).
All dies spiegelt den wachsenden Graben zwischen den Verhältnissen wider, die die Gesellschaft beherrschen und den bis dahin herrschende Ideen.
Die einzigen Ideologien, die in solchen Zeiten einen Aufstieg erleben, sind einerseits das Recht und andererseits die Ideologien, die eine neue Gesellschaft ankündigen.
Das Recht in einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft kann nur der Ausdruck der Interessen und des Willens der herrschenden Klasse, eingepackt in Gesetze, sein. Es sind die Regeln, die das "gute Funktionieren" des Ausbeutungssystems ermöglichen. Am Anfang eines neuen Gesellschaftssystems erfährt der ganze Bereich des Juristischen deshalb einen besonderen Aufschwung, wenn nämlich "neue Spielregeln" eingeführt werden, aber auch am Ende der Gesellschaft, wenn das System immer unpopulärer und immer weniger den Bedürfnissen der Menschen angepasst ist, wird die Entschlossenheit der herrschenden Klasse, ihren "Willen" und ihre Macht gesetzmäßig durchzusetzen, immer stärker. Die Gesetze spiegeln dann die Notwendigkeit wider, den Unterdrückungsapparat zu verschärfen, der für ein überholtes System unerlässlich ist. Deshalb die Weiterentwicklung des juristischen Bereiches während der Niedergangsphase des Römischen Reiches wie auch während des Feudalismus (Diokletius, der größte Herrscher des niedergehenden Reiches, verkündete auch die meisten Erlasse und Verordnungen. Auch vom 18. Jahrhundert an erschienen die ersten Sammlungen des Gewohnheitsrechtes).
Gleichzeitig neben dem Recht der alten Gesellschaft tauchen in der Niedergangsphase derselben Ideen auf, die einen neuen Typ gesellschaftlicher Verhältnisse befürworten. Sie äußern sich in Kritiken, die zunächst noch gemäßigt und beschränkt bleiben, dann aber revolutionär werden. Sie liefern die Rechtfertigung der neuen Gesellschaft. Dieses Phänomen war besonders in Westeuropa vom 15. Jahrhundert an festzustellen. Der Protestantismus, insbesondere der Calvins, mit seiner Religion - der sich dem Katholizismus entgegenstellte - räumte die Möglichkeit eines mit Zinsen behafteten Kredites ein (eine Lebensbedingung des Kapitals). Er bejahte die geistige Bereicherung, die die Arbeit ermöglichte, und er bewunderte den "Menschen, der Erfolg hat" (wodurch man indirekt Stellung bezog gegen die Privilegien des Adels, und man rechtfertigte damit die neue Lage des arrivierten, nichtadligen Bürgerlichen), der die übernatürliche Rolle der katholischen Kirche infrage stellte (die der größte Grundbesitzer war), um die Auslegung der Bibel durch den Menschen selbst ohne Notwendigkeit eines Vermittlers zu betonen. Diese neue Religion stellte ein ideologisches Element dar, das den Kapitalismus ankündigte und als einen Motor für diesen wirkte.
Auch spiegelte die Entfaltung des bürgerlichen Rationalismus, der auch zum Erscheinen der Philosophen und Ökonomen des 17. und 18. Jahrhunderts führte, das revolutionäre Element des Konfliktes wider, in dem sich die Gesellschaft befand.
Der Zerfall der alten herrschenden Ideologie, Entfaltung der Ideologie der neuen Gesellschaft, Obskurantismus gegen Rationalismus, Pessimismus gegen Optimismus. Man fand, wie Marx sagte, all die juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen, philosophischen, kurzum die ideologischen Formen, welche dem Menschen eine Bewusstwerdung des Konfliktes ermöglichten und ihn bis an sein Ende trieben.
Die Blütezeit eines Ausbeutungssystems ermöglicht eine relative Harmonie unter den Ausbeutern und damit "demokratische Verhältnisse" unter ihnen. Aber wenn dieses System nicht mehr "rentabel" ist, wenn die Profite fallen, tritt an die Stelle der Harmonie die kriegerische Auseinandersetzung. Neben den Banden, die am Ende des Römischen Reiches und am Ende des Mittelalters tätig waren, gab es mehr Kriege zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse.
Vom 2. Jahrhundert an gab es in Rom Kriege zwischen Rittern, Bürokraten, Armeeführern gegen Senatoren und Patrizier. "Zwischen 235 und 285 starben nur 2 von 26 Kaisern eines natürlichen Todes, und manchmal gab es bis zu 30 Thronbewerber" (S.B. Clough, ebenda, S. 142).
Gegen Ende des Mittelalters hatten die Kriege zwischen den Gutsherren solch ein Ausmaß angenommen, dass die westlichen Könige gezwungen waren, sie zu verbieten, und Ludwig IX. ging gar soweit, das Tragen von Waffen zu untersagen. Der Hundertjährige Krieg war ein Teil dieser Erscheinung.
Wenn die herrschende Klasse nicht mehr die Widersprüche des Systems unter Kontrolle halten kann, die zu einem Fall der Profite führen, besteht ihre unmittelbare Lösung darin, dass jede Fraktion versucht, der anderen etwas zu entreißen, oder zumindest Produktionsbedingungen zu ihren Gunsten einzusetzen, die ihr eine Profitsteigerung ermöglichen.
In der Dekadenz eines Systems gibt es drei Phänomene, die die Intensivierung des Klassenkampfes zu einer der Haupteigenschaften dieser Niedergangs Periode machen:
- die Entfaltung der Misere. Wir haben schon gezeigt, dass gegen Ende des römischen Reiches und am Ende des Feudalismus jeweils Hungersnöte auftraten, Epidemien und eine sich ausbreitende Verarmung. Wir haben auch die Konsequenzen desselben für die privilegierte Klasse untersucht, aber natürlich leiden die ausgebeuteten Klassen am stärksten darunter. Dadurch kam es immer häufiger zu Revolten und Aufständen.
- die Verstärkung der Ausbeutung. Wir haben auch aufgezeigt, wie in einem niedergehenden System die Produktivität immer weniger durch technische Mittel erhöht werden kann. Dadurch wurden die herrschenden Klassen gezwungen, dies durch eine verschärfte Ausbeutung der Arbeitskraft auszugleichen. Diese wurde bis zur Erschöpfung eingesetzt. Bestrafungsregelungen für "fehlerhafte Arbeit" wurden verschärft usw...
Neben der Armut konnte dieser verschärfte Druck nur den Kampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter verstärken. Die Reaktionen der Arbeiter waren so gewalttätig, und schließlich auch so stark gegen das eigentliche Ziel der Ausbeuter gerichtet, dass die Produktivität weiter untergraben wurde, dass sowohl gegen Ende des Römischen Reiches wie auch gegen Ende des Mittelalters die Strafen durch andere Mittel ersetzt wurden (Befreiung der Sklaven und Leibeigenen).
- der Kampf der Klasse, die Träger der neuen Gesellschaft war. Gleichzeitig neben den Revolten der Ausgebeuteten entfaltete sich der Kampf einer neuen Klasse (große feudale Grundbesitzer gegen Ende des römischen Reiches, Bourgeoisie am Ende des Feudalismus), die anfingen, ihre "eigenen" Ausbeutungssysteme aufzubauen, wodurch die Grundlagen des alten zerstört wurden. Diese Klassen mussten so einen ständigen Kampf gegen die alte privilegierte Klasse führen.
Während dieses Kampfes fanden sie in den Revolten der Arbeiter immer die notwendige Stärke, die ihnen fehlte, um die alten, reaktionär gewordenen Strukturen, niederzuwerfen (nur in der proletarischen Revolution ist die Klasse, welche Trägerin der neuen Gesellschaft ist, gleichzeitig eine ausgebeutete Klasse).
Alle diese Elemente liefern die Erklärung für die Tatsache, dass die Dekadenz einer Gesellschaft notwendigerweise eine Verstärkung des Klassenkampfes mit sich bringt. So führte im niedergehenden Römischen Reich "die Situation, welche durch die Schwächen der Produktion geschaffen worden war, zu einer immer stärkeren Besteuerung, zur Abwertung des Geldes und zu einer immer größeren Unabhängigkeit der Großgrundbesitzer. Dadurch wurde die politische und gesellschaftliche Desorganisation nur noch verstärkt, und die Prinzipien, welche die Beziehungen zwischen den Menschen regelten, verschwanden... Verarmte Eigentümer, ruinierte Geschäftsleute, Arbeiter in den Städten, Sklaven, Siedler, desertierende Aufständische aus der Armee plünderten in Gallien, in Sizilien, Italien, Nordafrika und in Kleinasien. 235 erfasste eine Welle von Plünderungen ganz Norditalien. 238 gab es in Nordafrika Bürgerkrieg. 268 griffen die Siedler Galliens zahlreiche Städte an, und 269 brach in Sizilien eine Sklavenrevolte aus" (Clough, ebenda, S. 142).
"Das Ausmaß der sozialen Bewegungen, die den westlichen Teil des römischen Reiches des 5. Jahrhunderts erfassten, war beeindruckend. Alle Regionen und besonders die Bretagne, der Westen Galliens, der Norden Spaniens und Afrika wurden erschüttert..."(Lucien Musset, Les Invasions, S. 226).
Gegen Ende des Mittelalters das gleiche Bild: "Vom Ende des 13. Jahrhunderts erschütterten Arbeiteraufstände die flämischen Städte. Während des Hundertjährigen Krieges und der italienischen Spaltungen gab es viele städtische Erhebungen infolge der Misere, und vagabundierende Truppen plünderten auf dem Lande. Oft waren es die Gleichen, die Landlosen, die auch erwerbslos geworden waren: Bauernaufstände auf dem französischen Land, Tuchain aus Languedoc, Lollarden aus dem südlichen England, Maillotins aus Paris, Coquillards aus der Bourgogne. Von bestimmten Volkstribunen wurde ihre Lage ausgenutzt; auch wurde manche Revolte für eine Machtpolitik einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder von Individuen eingesetzt. Etienne Marcel wollte Dauphin (Gattin des französischen Thronfolgers) die Vorherrschaft einer Fraktion der reichen Bourgeoisie aufzwingen... van Artevelde hatte die Misere der flämischen Arbeiter ausgenutzt, Cola di Renzo als "Volkstribun“ das des "niedrigen Volkes", das der Exzesse der römischen Aristokratie überdrüssig geworden war. In Florenz dienten die Revolten der Ciompi, die Hungerrevolten waren, schließlich den Interessen der Medici... So führten die Kriege und das allgemeine Chaos zu Plünderungen, zu Aufständen und zu Massakern" (Favier, ebenda, S. 137, siehe auch Pirenne, S. 160 ff.).
Die Revolutionen Cromwells 1649 in England und die Französische Revolution von 1789 waren die spektakulären Ergebnisse der Kämpfe, die durch den Niedergang der Feudalgesellschaft und den Aufstieg des Kapitalismus hervorgerufen wurden.
Die Entwicklung, die Aufrechterhaltung und die Überwindung einer gegebenen Gesellschaft sind das Werk einer Gruppe von Menschen, die entschlossen sind, gemäß ihrer eigenen wirtschaftlichen Position innerhalb einer Gesellschaft zu handeln. Die Kraft zur Aufrechterhaltung eines Systems ist zunächst die der Klasse, die daraus am größten Nutzen schlägt. Die Kraft der neuen Gesellschaft ist auch die der Klasse, die davon am meisten profitiert.
So werden in den Handlungen der gesellschaftlichen Klassen alle objektiven Kräfte konkretisiert, die die Gesellschaft in Widersprüche gestürzt haben. Die Klassenkonflikte sind nichts anderes als die, die in der Wirklichkeit die Entwicklung der Produktivkräfte mit den bestehenden Produktionsverhältnissen aufeinanderprallen lassen.
Während das Recht in Gestalt von Gesetzen dem Interesse und dem Willen der herrschenden Klasse entspricht, ist der Staat die bewaffnete Macht, um diese Gesetze durchzusetzen. Er ist der "Hüter" der für die Ausbeutung einer Klasse durch eine andere notwendige Ordnung. Gegenüber den wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen, die typisch sind für die Phase der Dekadenz eines Systems, muss der Staat mit seiner Verstärkung reagieren. "Die Entwicklung der Funktion ruft die Entwicklung des Organs hervor".
GEGEN DIE GESELLSCHAFTLICHE "UNORDNUNG"
Als eine bewaffnete Kraft der herrschenden Klasse entstanden, ist der Staat hauptsächlich ein Diener dieser Klasse. Aber in diesem "Diener" bündeln sich alle Interessen der herrschenden Klasse wieder: seine Aufgabe besteht darin, eine allgemeine, globale Ordnung aufrecht zuhalten. Deshalb muss er eine umfassendere Auffassung von der Funktionsweise des Systems haben - und dessen Bedürfnissen - als die Individuen, die der herrschenden Klasse angehören. Von der Gesamtheit der Gesellschaft getrennt, weil er ein Unterdrückungsorgan in den Diensten einer Minderheit ist, unterscheidet er sich auch von dieser Minderheit durch seinen Charakter als Einheitsorgan gegenüber den verschiedenen Fraktionsinteressen oder individuellen Ausbeuterinteressen. Auch sind die Privilegien der staatlichen Bürokratie eng mit der guten Funktionsweise des Systems als Ganzes verbunden. Deshalb ist der Staat nicht nur als einziger dazu in der Lage, eine ausreichend globale Auffassung von der Wirtschaft zu entwickeln, sondern er ist auch der einzige, für den sich hinter diesen globalen Interessen auch unmittelbare und vitale verbergen.
In den Dekadenzperioden verstärkt sich auch der Staat, nicht nur weil er einer wachsenden Zahl von Revolten der unterdrückten Klasse entgegentreten muss, sondern auch weil er als einziger in der Lage ist, den Zusammenhalt der herrschenden Klasse zu gewährleisten, die sich selbst zerfleischt und bei der jeder gegen jeden kämpft.
Die Entwicklung der Macht der römischen Kaiser vor allem vom 2. Jahrhundert an sowie der Feudalmonarchien konnte sich auf eine wirkliche Rechtfertigung sowohl in ihrem Kampf gegen die Revolten der Aufständischen als auch in ihren Handlungen zum Schutz der "herrschenden Ordnung" stützen, um die Kämpfe zwischen den Teilen der herrschenden Klasse zu bremsen. Der Kaiser Septime der Strenge (193-211) enteignete gar "die Besitztümer der Senatoren und Geschäftsleute der Stadt, um sich die notwendigen Mittel für die Bezahlung der Soldaten zu verschaffen, die für seine Sicherheit und seine Macht sorgten" (Clough). Die Monarchie der Kapetinger musste sich auf Kosten der großen feudalen Grundherren entwickeln.
In den meisten Fällen stellten die Kriege einen mächtigen Faktor beim Prozess der Verstärkung des Staatsapparates dar. Nur die staatliche Autorität kann die Zusammenfassung der dafür erforderlichen Kräfte gewährleisten. Der Staat geht somit immer verstärkt aus einem Krieg hervor. Dieser Faktor hat eine wichtige Rolle bei der Stärkung der Macht der Monarchie, insbesondere in Frankreich gespielt.
GEGEN DIE WIRTSCHAFTLICHE UNORDNUNG
Es gab ein sehr starkes wirtschaftliches Eingreifen des Staates sowohl beim Zerfall des Römischen Reiches wie auch beim Niedergang des Feudalismus.
"Was die Produktion angeht, meinte er (Kaiser Dioticius, 284-305), dass zur Anregung der Produktion eine Art "staatlich gelenkte Wirtschaft" die Aktivität der "Kollegien" regeln würde, die Ausbeutung der großen Güter und eine Preiskontrolle gewährleisten könnte. Schließlich wurden die Steuerbeträge überprüft und Maßnahmen zur Stabilisierung der Währung ergriffen" (Clough, S. 143).
Die feudalen Königreiche verstärkten sich, indem sie eine starke interventionistische Verwaltung schufen. Die Entwicklung der Bürokratie verlief so, dass die Höfe der Feudalherren aufhörten, zu "wandern" und sich in einer Stadt niederließen: Paris, Westminster, Pamplona, Moskau. Der König bediente sich seiner eigenen Beamten (Landvögte und Seneschalle in Frankreich), deren wirtschaftlichen Aufgaben im ganzen Herrschaftsbereich des Königs zunahmen.
Als die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Gesellschaft zu einer Fessel für diejenigen wurden, die in ihnen lebten, vermochte nur noch eine bewaffnete Macht für deren Weiterbestand sorgen. Als bewaffnete Macht und letzte Bündelung der Gesetze des Systems neigte der Staat dazu, die Wirtschaft in seine Hände zu nehmen.
Alles in einer niedergehenden Gesellschaft treibt zum Entstehen dieses Phänomens: die parasitären Kosten der Aufrechterhaltung einer Wirtschaft, die nicht mehr rentabel ist, führt zur Erhebung von Steuergeldern. Nur ein starker Staat kann es schaffen, diese Steuergelder aus einer ausgehungerten und zur Revolte bereiten Bevölkerung herauszupressen. Für die Kaiser des niedergehenden römischen Reiches und Feudalkönige war dies eine der Grundlagen zur Verstärkung ihrer Macht. Die Wirtschaft entsprach nicht mehr den Notwendigkeiten, die durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entstanden waren. Die Wirtschaftsinitiativen fanden nicht mehr diesen "natürlichen Kompass" bei der Suche nach Wohlstand und Harmonie mit dem Rest der Welt. Die Intervention des Staates und seiner Kräfte wurde somit zum einzigen Mittel, um die Lähmung der Wirtschaft in einem totalen Chaos zu verhindern. Eine Tendenz zur Bürokratisierung der Gesellschaft und zur systematischen Kontrolle der Individuen entfaltete sich sowohl am Ende der Sklavengesellschaft wie auch in der Endphase des Feudalismus.
Diese Tendenz erreichte erschreckende Ausmaße zur Zeit des niedergehenden Römischen Reiches: "Jeder litt unter dieser Lage und versuchte ihr zu entweichen. Die Bauern flüchteten vom Land, die Arbeiter gaben ihren Beruf auf, die Dekurien zogen sich aus den Stadträten zurück. Die herrschende Macht wusste darauf keine Antwort: jeden an seine Lage binden, die Löcher stopfen, durch die man flüchten konnte. Die Parole hieß damals "Jeder auf seinen Posten", sonst wird die römische Kultur untergehen. Es war der Ausnahmezustand, lebenslang. Die gesellschaftlichen Bedingungen, der Beruf wurden vererbbar. Es entstanden wahre Kastensysteme, hier handelte es sich um kein primitives, spontanes Phänomen, sondern um ein neues, politisches, das von Oben aufgezwungenen war". (F. Lot, "Das Ende der Antike und der Beginn des Mittelalters", S. 109).
Einigen Arbeitern wurden Brandwunden mit Schmiedeeisen beigebracht, um sie daran zu hindern, dass sie ihren Beruf wechselten. überall gab es Verfolgungen.
Auch gegen Ende des Feudalismus gab es dieses staatliche Eingreifen. Aber es gab einen bedeutenden Unterschied zwischen den wirtschaftlichen Aktionen im ausgehenden Mittelalter und im zerfallenden Römischen Reich.
Als die Sklavengesellschaft auseinanderbrach, trat an ihre Stelle ein System, das sich auf die Autarkie stützte, mit einer stark zerstückelten, zersplitterten wirtschaftlichen Tätigkeit. Es gab also einerseits Versuche der Verstärkung des Staates und mehr Zentralisierung durch denselben, andererseits aufkommender Feudalismus. Zwei gleichzeitige, aber dennoch vollkommen entgegengesetzte Phänomene. Der Feudalismus wiederum wurde durch den Kapitalismus überwunden, d.h. durch ein System, das immer mehr Bündelung und Eingliederung, Zusammenfassung der wirtschaftlichen Aktivität erforderte. Die Zentralisierung und das Eingreifen durch den Feudalstaat, die auf die Notwendigkeit des Überlebenskampfes des zerfallenden Feudalismus zurückgehen, waren somit objektiv Mittel für die Entwicklung der Grundlagen des Kapitalismus.
Mehrere grundlegende Faktoren zwangen die Monarchie, diese doppelte geschichtliche Rolle zu spielen:
1) die Monarchie musste oft Unterstützung in den bürgerlichen Städten zur Verstärkung ihrer Macht suchen,
2) die Klasseninteressen der Adligen als Ausbeuter konnten relativ einfach mit den Interessen der aufsteigenden Bourgeoisie in Einklang gebracht werden,
3) die aufsteigende Stärke der Bourgeoisie, die vom 15. Jahrhundert an die Grundlagen des Kapitalismus schuf, ermöglichte ihr, dem Adel eine Teilung der Macht abzuverlangen.
Die von Edward II. und III. ergriffenen Wirtschaftsmaßnahmen, die merkantilistische Politik Henry VII. in England, die wirtschaftliche Wiederaufrichtung unter Ludwig XV. in Frankreich, die von den französischen und englischen Königen vom 15 Jahrhundert ergriffenen protektionistischen Maßnahmen, die sich alle als günstig für die wirtschaftliche Entwicklung der Industrie erwiesen, sowie das Akzeptieren der bürgerlichen Parlamente durch die beiden Monarchien zeigen, dass die Feudalmonarchie beim Prozess der ursprünglichen Akkumulation des Kapitalismus eine wichtige Rolle gespielt haben.
Aber es wäre absurd, die Feudalmonarchie nur unter diesem Aspekt zu betrachten. Die Monarchie blieb hauptsächlich feudal, sie war das letzte Bollwerk des Feudalismus. So bewiesen es jedenfalls die Tatsachen wie z.B.: der ständige Kampf zwischen dem König und dem bürgerlichen Parlament; die Verteidigung der Privilegien der Adligen (nur die Nichtadligen zahlten in Frankreich Steuern) durch den König; der Kampf gegen den Protestantismus in Frankreich, der als Religion der Bourgeoisie dargestellt wurde, schließlich die Tatsache selber, dass die Bourgeoisie in England und in Frankreich es nötig hatte, Revolutionen zu machen, um eine wirkliche Entfaltung des Kapitalismus zu ermöglichen.
Trotz dieser doppelten Rolle der feudalen Monarchie bei der Sicherstellung des Überlebens des Systems kam es unaufhaltsam zu einer Verstärkung des Staates, die typisch ist für die Dekadenz einer Gesellschaft.
Wenn man für den Niedergang einer Gesellschaft das Bild von einem Körper nimmt, dem ein für ihn zu klein gewordenes Kleid angelegt werden soll, ist die Entwicklung des Staatsapparates nur ein Versuch desselben, um sich zu verstärken, damit dem Druck, der ihn zum Zerplatzen bringt, besser standgehalten werden kann. Zerfall der herrschenden Ideologie, Entfaltung von Kriegen und Revolutionen, Verstärkung des Staates, dies waren die herausragendsten Merkmale einer niedergehenden Gesellschaft, in der die Produktivkräfte auf immer mehr Schwierigkeiten bei ihrer Entfaltung stoßen. Das Wirtschaftssystem war keine historische Notwendigkeit mehr und wurde zu einer Fessel, die die ganze Gesellschaft in eine wachsende Barbarei versinken ließ.
(aus Révolution Internationale, Nr. 5, 1973).
Trotz der durch die Pandemie verursachten Schwierigkeiten hat die IKS ihren 24. internationalen Kongress abgehalten, und wir ziehen eine positive Bilanz. Wie wir es immer getan haben und wie es der Praxis der Arbeiterbewegung entspricht, berichten wir über seine Arbeit mit dieser umfassenden Stellungnahme und durch eine Reihe von Dokumenten, die unsere Aktivitäten und Interventionen in den nächsten zwei Jahren leiten werden, Berichte und Resolutionen, die bereits seit einigen Monaten auf unserer Website veröffentlicht sind.[1] Der Kongress fand im vollen Bewusstsein der daran Teilnehmenden statt, dass die Weltlage ernst ist, insbesondere aufgrund des Fortbestehens einer der gefährlichsten Pandemien der Geschichte, die bei weitem noch nicht überwunden ist.
Das Schlimmste wäre, diese Lage zu unterschätzen, wie es zum einen die Regierungen tun, die verkünden, dass "alles unter Kontrolle ist" und "wir wieder zur Normalität zurückgekehrt sind", während auf der anderen Seite eine Schar von Negationisten und Impfgegnerinnen (mit ihren Lügen als Ergänzung zu denjenigen der Regierungen) die Wirklichkeit der Pandemie bestreiten, indem sie von "Verschwörungen" und "dunklen Machenschaften" sprechen und eine reale Tatsache – die Stärkung der totalitären Kontrolle des Staates – dazu benutzen, sie im Namen der "Verteidigung der demokratischen Freiheiten" hochzuspielen und damit die Bedeutung der Gefahren, die die Pandemie für das menschliche Leben darstellt, zu verschleiern.
Das Ärgste an der Pandemie ist die Art und Weise, wie alle Staaten darauf reagiert haben: völlig unverantwortlich, mit widersprüchlichen und chaotischen Maßnahmen, ohne den geringsten Plan, ohne jegliche Koordination, zynischer denn je mit dem Leben von Millionen von Menschen spielend.[2] Und das nicht in den Staaten, die gewöhnlich als "Schurkenstaaten" bezeichnet werden, sondern in den Vereinigten Staaten, Deutschland, China, den "fortschrittlichsten" Ländern, in denen es angeblich "Zivilisation und Fortschritt" gibt. Die Pandemie hat die Dekadenz und den Zerfall des Kapitalismus, die Fäulnis seiner sozialen und ideologischen Strukturen, die Unordnung und das Chaos, das von seinen Produktionsverhältnissen ausgeht, die Zukunftslosigkeit einer Produktionsweise, die von immer heftigeren Widersprüchen beherrscht wird, die sie nicht überwinden kann, deutlich gemacht.
Schlimmer noch: Was die Pandemie ankündigt, sind neue und tiefere Erschütterungen in allen Ländern, noch mehr imperialistische Spannungen, ökologische Zerstörung, Wirtschaftskrise... Das Weltproletariat darf sich nicht durch vage Versprechen einer "Rückkehr zur Normalität" täuschen lassen. Es muss der Realität ins Auge sehen, um zu verstehen, dass die Pandemie das Gesicht der Barbarei deutlich gezeichnet hat und diese in Zukunft noch stärker ausgeprägt sein wird.
Der 24. Kongress der IKS fand, wie die Kongresse der revolutionären Organisationen im Laufe der Geschichte, in einem Rahmen der Brüderlichkeit und tiefgreifender Debatten statt und hatte die Aufgabe, den Analyserahmen des Zerfalls des Kapitalismus zu bestätigen und mögliche Fehler oder nicht ausreichend ausgearbeitete Einschätzungen zu korrigieren. Der Kongress beantwortete eine Reihe von notwendigen Fragen:
- Entspricht der Begriff des Zerfalls und seiner fortschreitenden Ausbreitung völlig der Methode des Marxismus?
- Wie äußern sich die Auswirkungen des Zerfalls, ihrer Beschleunigung, Vervielfältigung und Verkettung mit den anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, vor allem mit der Wirtschaft?
- Wie wirkt sich der Zerfall auf den Klassenkampf aus, und welche Perspektive hat er?
- Und schließlich: Welche Rolle spielt die Organisation in dieser Situation? Und wie bereitet sie sich angesichts dieser Herausforderungen auf die Zukunft vor?
Dieser Kongress bestätigte, dass die Analyse des Zerfalls in der Kontinuität des Marxismus steht. 1914, mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, stellten die Marxisten fest, dass der Kapitalismus in seine Epoche der Dekadenz eingetreten war, eine Analyse, die 1919 von den Richtlinien der Kommunistischen Internationale bestätigt wurde, die von der "Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung" sprach. Getreu diesem Ansatz hat die IKS vor mehr als drei Jahrzehnten eine spezifische und letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus identifiziert: seinen Zerfall. Diese Zerfallsphase ist die Anhäufung einer Reihe von Widersprüchen, die die kapitalistische Gesellschaft nicht zu lösen vermochte, wie wir in Punkt 3 der Thesen zum Zerfall[3] sagten: "In dem Maße, wie die Widersprüche und Erscheinungsweisen der Dekadenz des Kapitalismus, die nacheinander die verschiedenen Momente dieser Dekadenz markieren, nicht mit der Zeit verschwinden, sondern sich aufrechterhalten und gar noch zuspitzen, erscheint die Zerfallsphase als das Ergebnis einer Anhäufung all dieser Charakteristiken eines im Sterben liegenden Systems, das ein dreiviertel Jahrhundert lang einer in Agonie befindlichen Produktionsweise vorstand, die von der Geschichte abgeurteilt worden war. Konkret: nicht nur, daß der imperialistische Charakter aller Staaten, die Drohung eines neuen Weltkriegs, die Absorption der Gesellschaft durch den staatlichen Moloch, die permanente kapitalistische Wirtschaftskrise in der Zerfallsphase fortbestehen, sie erreichen in Letzterer eine Synthese und einen ultimativen Abschluß.“
Diese Analyse, die erstmals vor 30 Jahren entwickelt wurde, hat sich in ihrer ganzen Tragweite bestätigt, so dass wir in der Resolution zur internationalen Lage des 24. Kongresses feststellen, „dass die wichtigsten Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte in der Tat die Gültigkeit dieses Rahmens bestätigt haben, wie die Verschärfung des "Jeder für sich" auf internationaler Ebene, das "Zurückschlagen" der Zerfallsphänomene in die Kernländer des Weltkapitalismus durch die Zunahme des Terrorismus und der Flüchtlingskrise, wie der Aufstieg des Populismus und der Verlust der politischen Kontrolle durch die herrschende Klasse, die fortschreitende Fäulnis der Ideologie durch die Verbreitung von Sündenbockdenken, religiösem Fundamentalismus und Verschwörungstheorien zeigen. Und so, wie die Zerfallsphase der konzentrierte Ausdruck aller Widersprüche des Kapitals ist, vor allem in seiner Epoche des Niedergangs, so ist die gegenwärtige Covid-19-Pandemie ein Destillat aller wichtigsten Erscheinungen des Zerfalls – und ein aktiver Faktor bei seiner Beschleunigung.“ [4]
Seitdem unser Kongress seine Arbeit abgeschlossen hat, haben sich die Ereignisse mit einer noch nie dagewesenen Heftigkeit überschlagen, was unsere Analyse eindeutig bestätigt: imperialistische Kriege in Äthiopien, der Ukraine, im Jemen und in Syrien; die Verschärfung der Konfrontation zwischen den USA und China; die enorme Auswirkung der ökologischen Krise auf der ganzen Welt, insbesondere durch die Vervielfachung von katastrophalen Überschwemmungen und Waldbränden. Heute erlebt die Pandemie eine neue Welle von Infektionen und die sehr gefährliche Bedrohung durch die Omikron-Variante; gleichzeitig verschärft sich die Wirtschaftskrise. – Die Verteidigung des marxistischen Rahmens des Zerfalls ist heute notwendiger denn je angesichts der Blindheit anderer Gruppen der Kommunistischen Linken und des Eindringens aller Arten von modernistischen, skeptischen, nihilistischen Positionen in das revolutionäre Milieu, das seine Augen vor der Realität der Situation verschließt. In diesem Moment erleben wir in einer Reihe von Ländern die Entfaltung entschlossener Arbeiterkämpfe, die mehr denn je die Kraft und Klarheit dieses Analyserahmens brauchen.
Der 24. Kongress konnte die Beschleunigung des kapitalistischen Zerfalls feststellen, indem er die Ursachen und Folgen der Pandemie eingehend untersuchte: „Die Covid-19-Pandemie, die erste von solchem Ausmaß seit dem Ausbruch der Spanischen Grippe 1918, ist der wichtigste Moment in der Entwicklung der kapitalistischen Zerfallsperiode seit der endgültigen Eröffnung der Periode im Jahr 1989. Die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die daraus resultierenden sieben bis zwölf Millionen und mehr Todesfälle zu verhindern, bestätigt, dass das kapitalistische Weltsystem, sich selbst überlassen, die Menschheit in den Abgrund der Barbarei und in ihre Zerstörung zieht und dass nur die proletarische Weltrevolution dieses Abgleiten aufhalten und die Menschheit in eine andere Zukunft führen kann.“ (ebenda) – Die Pandemie hat die folgenden Tatsachen bestätigt:
- Der Kapitalismus ist zwar das erste System in der Geschichte, dessen Produktionsverhältnisse sich weltweit ausgebreitet haben und herrschend sind, doch diese Herrschaft ist eminent chaotisch, da sie auf einem Todeskampf um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt zwischen den kapitalistischen Staaten beruht. Der globale Charakter des Kapitalismus erlaubt ihm kein organisiertes und koordiniertes Handeln auf globaler Ebene – was die einzige rationale und wirksame Antwort auf Phänomene wie die COVID-Pandemie wäre – , da er nicht global eine Einheit und zentralisiert ist. Im Gegenteil, der Todeskampf um die Märkte und die imperialistische Kontrolle der Welt hat zu immer abwegigeren und gefährlicheren Verhaltensweisen der Staaten geführt, die die Menschen der Pandemie schutzlos ausgeliefert haben und sie sogar dramatisch verschlimmert haben. China verbarg den ursprünglichen Pandemieherd in Wuhan absichtlich zwei Monate lang. Anschließend reagierten große Länder wie die USA aus Angst, ihre Wirtschaft zu lähmen, nur sehr langsam, was die Gefährlichkeit der Pandemie massiv verschärfte und zu übereilten und unorganisierten extremen Maßnahmen wie Lockdowns usw. zwang.
- Die kapitalistischen Staaten sind ausnahmslos auf die gleiche Weise gegen die Arbeiterklasse vorgegangen: Restriktionen ohne jegliche Planung mit Hilfe von Repression; Schließung von Versorgungszentren ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Bedingungen der Arbeiter; Aufrechterhaltung von Produktions- und Dienstleistungsarbeiten ohne Rücksicht auf das Leben der Arbeiter*innen, wie es bei den Beschäftigten des Gesundheitswesens in allen Ländern der Fall war (es wird geschätzt, dass 17.000 Beschäftigte des Gesundheitswesens an COVID gestorben sind und allein in Amerika 570.000 infiziert wurden.[5]
- Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die WHO (Weltgesundheitsorganisation) gegründet, die eine gewisse Koordinierung zwischen den Staaten bei der Bekämpfung von Epidemien ermöglichte; angesichts der Pandemie wurde die WHO jedoch ignoriert, und jeder Staat ging seinen eigenen Weg, was zu mehr Ansteckungen und Todesfällen führte und ein organisiertes Vorgehen verhinderte. Dies ist ein deutlicher Ausdruck des Fortschreitens des kapitalistischen Zerfalls.[6]
- Der Streit um die Herstellung und Verteilung des Impfstoffs ist Ausdruck des Chaos und der Fäulnis der Bourgeoisie. Angesichts der Wirtschaftskrise werden solche Konflikte um unmittelbare Interessen zwischen den bürgerlichen Fraktionen noch schärfer zu Tage treten.
Der 24. Kongress kam zum Schluss, dass die Pandemie nicht lediglich eine "Katastrophe" ist oder nur als Gesundheitskrise betrachtet werden kann (wie sie in vorkapitalistischen Produktionsweisen und selbst noch im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts periodisch auftraten). Es handelt sich um eine globale Krise – gesundheitlich, wirtschaftlich, sozial und politisch, aber auch moralisch und ideologisch, bei allem, was sie offenbart hat. Es handelt sich um eine Krise des kapitalistischen Zerfalls als Produkt der Akkumulation von Widersprüchen des Systems in den letzten 30 Jahren, wie es in unserem Bericht über Pandemie und Zerfall für den 24. Kongress[7] heißt. Konkret ist die Pandemie das Ergebnis:
- des Abbaus des Gesundheitssystems in allen Ländern der Welt. Zudem wussten die Staaten seit Beginn des 21. Jahrhunderts um die Ausbreitung von Epidemien wie EBOLA, SARS usw., dennoch wurden die Budgets für Gesundheitsdienste und wissenschaftliche Forschung gekürzt. Dies steht im Gegensatz zu der exorbitanten Erhöhung der Rüstungsetats und der Aufstockung der Repressionskräfte.
- Viruserkrankungen wie COVID-19 sind auch die Folge der Lebensbedingungen großer Teile der Arbeiterklasse in allen Ländern, da diese Proletarisierten gezwungen sind, in überfüllten und unhygienischen Räumen zu leben.
- Die Irrationalität der kapitalistischen Produktion, bei der ausschließlich der Profit im Vordergrund steht, verwüstet Wälder, Flüsse und Meere. Insbesondere die Zerstörung der Wälder verändert auf gefährliche Weise die "biologische Kette" zwischen Tieren, Pflanzen und Menschen mit unvorhersehbaren Folgen. – Die meisten Wissenschaftler führen die Entstehung von COVID 19 auf diese Ursache zurück.
„Die IKS steht mehr oder weniger allein mit der Verteidigung der Theorie des Zerfalls. Andere Gruppen der kommunistischen Linken lehnen sie völlig ab, entweder, wie im Fall der Bordigisten, weil sie nicht akzeptieren, dass der Kapitalismus ein System im Niedergang ist (oder bestenfalls in diesem Punkt inkonsequent und zweideutig sind); oder, wie im Fall der Internationalistischen Kommunistischen Tendenz, weil das Reden über eine "letzte" Phase des Kapitalismus viel zu apokalyptisch klinge, oder weil die Definition des Zerfalls als Abstieg ins Chaos eine Abweichung vom Materialismus sei, der nach Ansicht der IKT die Wurzeln jedes Phänomens in der Wirtschaft und vor allem in der Tendenz zum Fall der Profitrate zu finden versucht.“ (Resolution zur internationalen Lage, 24. Kongress der IKS, Punkt 2).
Die Resolution zu den Aktivitäten des 24. Kongresses unterstreicht, dass "die Covid-19-Pandemie, die Anfang 2020 begann, die Beschleunigung der Auswirkungen des gesellschaftlichen Zerfalls des Kapitalismus auf eindrucksvolle Weise bestätigt".
Im Zusammenhang mit der Pandemiekrise zeigt sich, dass der Zerfall weiter fortgeschritten ist: 1) er hat die zentralen Länder, insbesondere die USA, erfasst; 2) es gibt eine Kombination und Gleichzeitigkeit zwischen den Auswirkungen des Zerfalls, im Gegensatz zu früheren Perioden, als sie lokal begrenzt waren und sich nicht gegenseitig beeinflussten. Das Jahrzehnt der 2020er Jahre ist voller großer Ungewissheiten, häufigerer und zusammenhängender Katastrophen, das Abgleiten des Kapitalismus in die Barbarei wird ein immer erschreckenderes Gesicht bekommen.
Die Perspektiven für das Proletariat müssen im Rahmen des kapitalistischen Zerfalls analysiert werden. In der von unserem letzten Kongress angenommenen Resolution zum Kräfteverhältnis zwischen den Klassen[8] wurden die Schwierigkeiten und Schwächen der Arbeiterklasse in den letzten 30 Jahren aufgezeigt. Die IKS hat erkannt, dass seit den 1990er Jahren, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und mit dem Beginn des Zerfalls, die Zunahme der Schwierigkeiten des Proletariats, die Kampagnen über den "Tod des Kommunismus", das "Verschwinden der Arbeiterklasse" und die Auswirkungen des Zerfalls Auswirkungen auf die Identität der Klasse hatten. Aber die IKS hat auf ihrem 24. Kongress wie schon auf früheren Kongressen bekräftigt, dass die Arbeiterklasse nicht geschlagen ist:
„Trotz der enormen Probleme, vor denen das Proletariat steht, lehnen wir die Vorstellung ab, dass die Klasse bereits im Weltmaßstab besiegt sei oder kurz vor einer solchen Niederlage stehe, die mit der der Konterrevolution vergleichbar wäre, einer Niederlage, von der sich das Proletariat möglicherweise nicht mehr erholen könne. Das Proletariat als ausgebeutete Klasse kann nicht umhin, durch die Schule der Niederlagen zu gehen, aber die zentrale Frage ist, ob das Proletariat bereits so sehr vom unerbittlichen Vormarsch der Zerfallsphase überwältigt worden ist, dass sein revolutionäres Potenzial effektiv untergraben worden ist. Die Einschätzung einer solchen Niederlage in der Zerfallsphase ist eine weitaus komplexere Aufgabe als in der Periode vor dem Zweiten Weltkrieg, als sich das Proletariat offen gegen den Kapitalismus erhoben hatte und durch eine Reihe von schweren Niederlagen zerschlagen wurde (...)“ (Resolution zur internationalen Lage, 24. Kongress, Punkt 28).
Es liegt auf der Hand, dass wir unsere analytischen Fähigkeiten schärfen müssen, um diese Situation des "no return" zu erkennen, denn „Wie wir bereits in Erinnerung gerufen haben, birgt die Zerfallsphase in der Tat die Gefahr, dass das Proletariat einfach nicht reagiert (...)“ (ebenda).
Demgegenüber behaupten wir, „dass es immer noch genügend Beweise gibt, die zeigen, dass trotz des unzweifelhaften "Voranschreitens" der Zerfallsphase, trotz der Tatsache, dass die Zeit nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse läuft, das Potential für eine tiefgreifende proletarische Wiederbelebung – die zu einer Wiedervereinigung zwischen der ökonomischen und der politischen Dimension des Klassenkampfes führt – nicht verschwunden ist“.
Der Kongress analysierte die "kleinen, aber bedeutsamen Anzeichen einer unterirdischen Reifung des Bewusstseins, die sich in einem Versuch des globalen Nachdenkens über das Scheitern des Kapitalismus und der Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft in einigen Bewegungen zeigte (insbesondere in derjenigen der Indignados 2011), aber auch durch das Auftauchen von jungen Leuten, die nach Klassenpositionen suchen und sich dem Erbe der Kommunistischen Linken zuwenden“.
Wir müssen auch bedenken, dass die Lage der Arbeiterklasse nicht dieselbe ist wie nach dem Zusammenbruch des russischen Blocks und der Bestätigung des Zerfalls durch die Ereignisse im Jahr 1989. Damals konnte die Bourgeoisie diese Ereignisse als Beweis für den Tod des Kommunismus, für den Sieg des Kapitalismus und den Beginn einer strahlenden Zukunft für die Menschheit darstellen. Dreißig Jahre Zerfall haben diese ideologische Täuschung ernsthaft untergraben, und insbesondere die Pandemie hat die Verantwortungslosigkeit und Fahrlässigkeit aller kapitalistischen Regierungen und die Realität einer Gesellschaft offenbart, die von tiefen wirtschaftlichen Spaltungen geplagt ist und in der wir keineswegs "alle in einem Boot sitzen". Im Gegenteil, die Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen haben die Bedingungen der Arbeiterklasse offengelegt, sowohl als Hauptopfer der Gesundheitskrise als auch als Quelle aller Arbeit und aller materiellen Produktion und insbesondere als Erfüllerin der Grundbedürfnisse der Menschheit. Dies kann die Grundlage für eine zukünftige Wiederherstellung der Klassenidentität sein. Zusammen mit der zunehmenden Einsicht, dass der Kapitalismus eine völlig überholte Produktionsweise ist, hat dies bereits zur Entstehung von politisierten Minderheiten beigetragen, deren Anliegen vor allem darin besteht, die dramatische Situation der Menschheit zu verstehen.
Trotz der sozialen Atomisierung aufgrund des Zerfalls, trotz der bewussten Versuche, die Arbeitskräfte durch Strategeme wie die grüne Wirtschaft oder ideologische Kampagnen aufzuspalten, die darauf abzielen, die besser ausgebildeten Teile des Proletariats als "Mittelschicht" und in Richtung Individualismus Neigende darzustellen, bleiben die Arbeiter und Arbeiterinnen eine Klasse, die in den letzten Jahren zahlenmäßig zugenommen hat und global vernetzt ist, doch mit dem Voranschreiten des Zerfalls ist es auch wahr, dass die Atomisierung und soziale Isolation zunimmt. Dies ist ein Faktor, der es der Arbeiterklasse vorerst erschwert, ihre eigene Klassenidentität zu erleben. Nur durch die Kämpfe der Arbeiterklasse auf ihrem eigenen Klassenterrain wird sie in der Lage sein, ihre kollektive Aktion zu entfalten, welche die kollektive Kraft ankündigt, die das Proletariat im Weltmaßstab haben muss, um den Kapitalismus zu stürzen.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden vom Kapital im Produktionsprozess zusammengebracht, die assoziierte Arbeit findet dort zwar unter Zwang statt, aber der revolutionäre Charakter des Proletariats beinhaltet, diese Bedingungen in einem kollektiven Kampf dialektisch aufzuheben. Der kollektive Kampf gegen die Ausbeutung, der von dem aus dem Proletariat hervorgehenden kommunistischen Bewusstsein geleitet wird, enthält das Potenzial für die Befreiung des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit, denn eine Gesellschaft, die das gesamte Potenzial der assoziierten Tätigkeit bewusst nutzen kann und für die das Weltproletariat kämpfen muss, ist die kommunistische Gesellschaft.
„Im Gegensatz zur bordigistischen Auffassung darf die Organisation der Revolutionäre nicht "monolithisch" sein. Wenn es Divergenzen in ihren Reihen gibt, spiegelt das die Tatsache wider, daß es sich um eine lebendige Organisation handelt, die nicht immer eine unmittelbare, fest geformte Antwort auf die Probleme hat, vor denen die Klasse steht. Der Marxismus ist weder ein Dogma, noch ein Katechismus. Er ist ein theoretisches Instrument einer Klasse, die mittels ihrer Geschichte und im Hinblick auf ihre historische Zukunft schrittweise - Höhen und Tiefen durchlaufend - zu einer Bewußtwerdung hin voranschreitet, die die unabdingbare Vorbedingung ihrer Befreiung ist.“[9]
Seit dem 23. Internationalen Kongress der IKS wurden Meinungsverschiedenheiten zu verschiedenen Fragen diskutiert: führen die imperialistischen Spannungen zu einem neuen Weltkrieg, ist das Proletariat bereits besiegt? Was ist die Aufgabe der Organisation im Moment? Dies führt zu der Frage, was die Aktivität ähnlich einer Fraktion[10] in der gegenwärtigen Zerfallsphase bedeutet.
Die Divergenzen bei der Analyse der internationalen Lage fanden ihren ersten öffentlichen Ausdruck in dem Dokument „Divergenzen mit der Resolution zur internationalen Lage auf dem 23. Kongress der IKS“[11]. Die Resolution zu den Aktivitäten unseres jüngsten Kongresses unterstreicht: "Die Organisation hat sich auf allen Ebenen – auf dem Kongress, auf Sitzungen der Zentralorgane, auf Sektionstreffen und in etwa 45 Einzelbeiträgen in internationalen Bulletins in den letzten vier Jahren – bemüht, auf die Divergenzen der Genossinnen und Genossen einzugehen, und hat auch begonnen, die Debatte nach außen zu veröffentlichen. Das Bemühen der Organisation, den Divergenzen in dieser Zeit zu begegnen, ist Ausdruck eines positiven Willens, die Verteidigung ihrer Positionen und Analysen in Polemiken zu verstärken".
Die Divergenzen wurden auf dem 24. Kongress weiter erläutert:
- Bereitet die Polarisierung der imperialistischen Spannungen, vor allem zwischen den USA und China, nicht den Weg zu einem Dritten Weltkrieg?
- Sind die brutalen Maßnahmen, die von den Staaten ergriffen werden, nicht ein verdecktes Mittel, um die Bevölkerung auf einen imperialistischen Weltkrieg vorzubereiten?
- Ist die Pandemie ein "gesellschaftlich-natürliches" Phänomen, das die Staaten zur Kontrolle der Bevölkerung ausnutzen können, oder drückt sie vor allem den allgemeinen Zerfall des Kapitalismus aus und beschleunigt ihn?
- Wie kann das Proletariat diese schwierige historische Lage bewältigen? Braucht es zunächst ein klares Bewusstsein darüber, was der Kommunismus ist? Oder ist die Entwicklung seiner Kämpfe auf seinem Klassenterrain nötig, wodurch die Reifung seines Bewusstseins und die Stärkung der Interventionsfähigkeit seiner kommunistischen Organisationen ermöglicht werden?
Diese und andere Fragen wurden auf dem Kongress erörtert und werden im Bemühen um größtmögliche Klarheit in Diskussionspapieren öffentlich dargelegt. Dies ist eine Praxis der Arbeiterbewegung, die die IKS sehr ernst genommen hat, wie der oben zitierte Text zeigt:
„Weil die Debatten, die in der Organisation stattfinden, im allgemeinen die ganze Arbeiterklasse betreffen, müssen diese auch nach Außen getragen werden, wobei aber die folgenden Bedingungen eingehalten werden müssen:
- Diese Debatten betreffen allgemeine politische Fragen und sie müssen einen ausreichenden Reifegrad erreicht haben, damit ihre Veröffentlichung einen wirklichen Beitrag zur Bewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse liefert.
- Die Bedeutung und der Raum für diese Debatten darf das allgemeine Gleichgewicht der Publikationen nicht stören.
- Die Organisation als Ganzes entscheidet und übernimmt die Veröffentlichung dieser Publikationen entsprechend den gültigen Kriterien, die auch für das Schreiben irgendeines anderen Artikels in der Presse angewandt werden: der Grad der Klarheit und der Redaktionsform, das Interesse, das er für die Arbeiterklasse darstellt.“ (Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre)
Der Kongress zog eine positive Bilanz der Tätigkeit der Organisation in den letzten zwei Jahren und hob insbesondere die Solidarität mit allen Genossen hervor, die von der Pandemie oder von den schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen der Zwangsmaßnahmen betroffen waren (eine ganze Reihe von Genossinnen und Genossen verlor ihre Existenzgrundlage).
Diese positive Bilanz sollte uns nicht dazu veranlassen, unsere Wachsamkeit zu verringern. Die kommunistische Organisation steht unter mehrfachem Druck, Errungenschaften – die teuer erkauft wurden – können schnell verloren gehen. In der vom Kongress verabschiedeten Aktivitätenresolution heißt es: "Die Beschleunigung des Zerfalls wirft wichtige Probleme auf der Ebene der Militanz, der Theorie und der Organisationsstruktur auf".
Diese Probleme sind nicht neu, sie sind Ausdruck der Auswirkungen des Zerfalls auf das Funktionieren und die Militanz der kommunistischen Organisationen, denn: „Die verschiedenen Elemente, die die Stärke des Proletariats ausmachen, stoßen direkt mit den verschiedenen Facetten dieses ideologischen Zerfalls zusammen:
- Das kollektive Handeln und die Solidarität stoßen mit der Atomisierung, dem "Jeder für sich", dem "Frechheit zahlt sich aus" zusammen.
- Das Bedürfnis nach Organisierung steht dem gesellschaftlichen Zerfall entgegen, der Zerstörung von Beziehungen, die erst ein gesellschaftliches Leben ermöglichen.
- Die Zuversicht in die Zukunft und in die eigenen Kräfte wird ständig untergraben durch die allgemeine Hoffnungslosigkeit, die in der Gesellschaft durch den Nihilismus, durch die Ideologie des "No future" immer mehr überhand nimmt.
- Das Bewußtsein, die Klarheit, die Kohärenz und Einheit im Denken, der Sinn für Theorie müssen sich mühsam ein Weg bahnen inmitten der Flucht in Trugbilder, der Drogen, Sekten, des Mystizismus, der Verweigerung des Nachdenkens und der Zerstörung des Denkens, die unsere Epoche charakterisieren.“ (Der Zerfall: die letzten Phase der Dekadenz des Kapitalismus, These 13)
Angesichts dieser Gefahren besteht unsere Aufgabe vor allem darin, uns auf die Zukunft vorzubereiten. Das grundlegende Ziel der IKS, eine Brücke zur künftigen kommunistischen Weltpartei des Proletariats zu schlagen, wurde auf ihrem Gründungskongress 1975 festgelegt und auf dem 23. Kongress bekräftigt. Aber der Charakter dieses Ziels hat sich in den letzten Jahren durch mehrere Faktoren verschärft: die Beschleunigung des Zerfalls und die Schwierigkeiten des Klassenkampfes des Proletariats verschärfen zunehmend die Herausforderungen für die Organisation der Revolutionäre; die Überalterung und gleichzeitig das Auftauchen neuer Mitglieder, die sich der Organisation im Rahmen des Zerfalls anschließen; die zunehmenden Angriffe des politischen Parasitentums gegen die Organisation; das Gewicht des Opportunismus und Sektierertums in den Gruppen, die der Kommunistischen Linken entstammen.
Der 24. Kongress der IKS war in der Lage, die Perspektive, die Schwierigkeiten und die Gefahren zu erkennen, mit denen sie konfrontiert ist, und hat eine Reihe von Pfeilern für ihre Rolle bei der Transmission definiert, die die Orientierung für den nächsten Zeitraum sein werden. Angesichts dieser Situation kann die Vorbereitung der Zukunft jedoch nur so verstanden werden, dass wir gegen den Strom schwimmen müssen.
Historisch gesehen, konnte sich die marxistische Bewegung nur entwickeln, indem sie sich erfolgreich mit bedeutsamen Ereignissen auseinandersetzte. Und sie war daher auf einen Kampfgeist angewiesen, auf den Willen, alle Hindernisse zu überwinden, die die bürgerliche Gesellschaft ihr in den Weg stellt. Die Erfahrung der IKS ist in dieser Hinsicht nicht anders. Die Organisationen, die in der Geschichte eine überragende Rolle spielen sollen, mussten sich in echten Feuerproben bewähren: Die marxistische Strömung in der Mitte des 19. Jahrhunderts war trotz der Inhaftierung, des Exils und der großen Armut ihrer Mitglieder nach der Niederlage von 1848 das Sprungbrett für die Gründung der Ersten Internationale in den 1860er Jahren. Bilan und die GCF (Gauche Communiste de France) haben die Prüfungen der Konterrevolution des Stalinismus der 1930er, 40er und 50er Jahre, Faschismus und Antifaschismus und den imperialistischen Zweiten Weltkrieg durchgestanden, um die revolutionäre Flamme für künftige Generationen am Leben zu erhalten. Es ist klar, dass die Zerfallsphase der Lackmustest für die IKS ist.
Die Fähigkeit, die Welt und die historische Situation zu analysieren, ist eine der Säulen unserer unmittelbaren Perspektive; die marxistische Methode des historischen Materialismus und die ständige Bezugnahme auf das Erbe früherer Errungenschaften sowie die Auseinandersetzung mit den Divergenzen sind Teil der Vorbereitung auf die Zukunft. Kurz gesagt, die Säulen der Intervention, der theoretischen Vertiefung, der Stärkung und der Verteidigung der Organisation stehen im Zusammenhang mit der Rolle der Transmission bei der Vorbereitung der zukünftigen kommunistischen Weltpartei des Proletariats.
Zur Vorbereitung auf die Zukunft gehört auch der kompromisslose Kampf gegen den politischen Parasitismus. Die Anstrengungen der letzten Jahre zeigen die Notwendigkeit, den Kampf gegen den politischen Parasitismus fortzusetzen und ihn bloßzustellen, so wie es die IKS vor der Arbeiterklasse, unseren Kontakten und dem Milieu der Kommunistischen Linken getan hat.
Der Kampf gegen den Opportunismus in den Organisationen der Kommunistischen Linken, verknüpft mit dem Kampf gegen den politischen Parasitismus[12], wird in der nächsten Zeit wichtig sein. Es besteht die große Gefahr, dass das Potenzial der zukünftigen Einheit der Revolutionäre verloren geht und verkümmert. Die Erfahrung der Verteidigung der Organisation gegen Angriffe und zum Durchbrechen des Sperrrings um die IKS während der letzten zwei Jahre zeigt, dass der Kampf gegen Opportunismus und Sektierertum gleichbedeutend ist mit der Verteidigung unserer Geschichte und der Kenntnis dieser Geschichte.
In der kommenden Zeit will die IKS die Presse verbessern. In den letzten Jahrzehnten hat das Bemühen um Polemiken mit dem proletarischen politischen Milieu in unseren Reihen nachgelassen. In der nächsten Zeit beabsichtigt die Organisation, diese Situation wenden, und unsere fraktionsähnliche Arbeit beinhaltet auch die Vorbereitung auf die Zukunft, indem wir die Polemik ausweiten und uns von der ersten Phase von Iskra oder den ersten Ausgaben von Internationalisme inspirieren lassen, die der Polemik gegen Vercesi und seiner opportunistischen Strömungen gewidmet waren. Als Antwort auf die Fäulnis der bürgerlichen Ideologie, auf den Obskurantismus ihrer Mystifikationen, muss unsere Presse als Orientierung der wissenschaftlichen Theorie und Rationalität fungieren, um der Arbeiterklasse eine konkrete Perspektive für den Sturz des Kapitalismus zu bieten. Wir müssen unseren Vertrieb sowohl der Papierpresse wie der digitalen Publikationen verstärken.
Durch das Ziehen von Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit, durch den unerbittlichen Kampf gegen das politische Parasitentum und den Opportunismus, durch das frühzeitige Erkennen der ständigen Entwicklungen der historischen Entwicklung, durch die Verteidigung der Organisation und ihrer einheitlichen, vereinigten und zentralisierten Arbeitsweise, hat der 24. Kongress sich die Vorbereitung auf die Zukunft zur Aufgabe gesetzt. Dies setzt aber voraus, dass man sich kritisch auf die historische Kontinuität der kommunistischen Organisationen beruft, wie es in der Aktivitätsresolution des Kongresses heißt:
„Im stürmischen Übergang in die Zukunft der "Kriege und Revolutionen" erklärte Rosa Luxemburg auf dem Gründungskongress der Kommunistischen Partei Deutschlands 1919, dass die Partei ‚unter das Banner des Marxismus‘ zurückkehre. Als sich die Arbeiterklasse in Russland zum ersten Mal in der Geschichte darauf vorbereitete, den bürgerlichen Staat zu stürzen, erinnerte Lenin an die Errungenschaften von Marx und Engels in Staat und Revolution zur Frage des Staates. (...) Die IKS muss, während sie sich auf die beispiellose Instabilität und Unvorhersehbarkeit der Fäulnis des Weltkapitalismus vorbereitet, das Erbe, das kämpferische Beispiel und die organisatorische Erfahrung von Marc Chirik[13], dreißig Jahre nach seinem Tod, zurückgewinnen. Das heißt, zur Tradition und Methode der Kommunistischen Linken zurückkehren (...) Diese Tradition lebt weiter und muss kritisch wieder aufgegriffen werden, sie ist in der Tat die einzige, die die IKS und die Arbeiterklasse durch die bevorstehende Feuerprobe führen kann.“
IKS, Dezember 2021
[1] Wir hielten es für sinnvoll, den Kongressunterlagen einen Bericht über die imperialistischen Konflikte beizufügen, der kürzlich auf einer Sitzung des internationalen Zentralorgans der IKS angenommen wurde.
[2] Alle Ausbeutungsformen, die dem Kapitalismus vorausgingen (Sklaverei, Feudalismus, asiatische Despotie), haben auf verbrecherische Weise mit dem Leben Tausender von Menschen gespielt, aber der Kapitalismus hat diese Barbarei zu ihren extremsten Ausprägungen gebracht. Was ist ein imperialistischer Krieg? Millionen von Menschen werden als Kanonenfutter für die schmutzigen wirtschaftlichen und imperialistischen Interessen von Nationen, Staaten, Kapitalisten benutzt, d.h. sie sind Spielzeug in den Händen des Kapitalismus. Es ist daher nichts Neues, wenn die Regierungen die Handhabung der Pandemie als ein Spiel betrachten, bei dem sie verantwortungslos mit dem Leben von Millionen von Menschen umgehen.
[3] Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [9], Internationale Revue 13
[5] COVID-19: Las muertes de personal sanitario ascienden al menos a 17.000, mientras las organizaciones piden una rápida distribución de las vacunas, Amnistía Internacional (amnesty.org) [69].
[6] Der Kapitalismus basiert, wie wir oben festgestellt haben, auf dem Wettbewerb bis zum Tod zwischen Staaten und zwischen Kapitalisten, daher ist das "Jeder für sich" in seine DNA eingeschrieben, aber dieses Merkmal hat sich mit der kapitalistischen Zerfallsphase in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verschärft.
[7] 24. Internationaler Kongress der IKS: Bericht über die Pandemie und die Entwicklung des Zerfalls [70]
[8] Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen (2019) [11], Internationale Revue 56
[9] Bericht zur Struktur und Funktionsweise der Organisation der Revolutionäre [2], Internationale Revue 22
[10] Bericht über die Rolle der IKS als „Fraktion“ [7], Internationale Revue 53
[11] Interne Debatte in der IKS über die internationale Lage [71], zu finden auf unserer Webseite unter IKSonline 2021
[12] Aufbau der revolutionären Organisation -Thesen über den Parasitismus [72], Internationale Revue 22
[13] Marc Chirik: Wichtigster Mitgründer der IKS, der sich vor allem durch seine Fähigkeit auszeichnete, die theoretischen Errungenschaften der revolutionären Bewegung am Leben zu erhalten, insbesondere die von der Linksfraktion der Kommunistischen Partei Italiens ausgearbeiteten. So konnte er sich bei der Analyse der Entwicklung der Weltlage kritisch und klar orientieren. Dieses politische "Gespür", das auf der umfassenden Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen beruhte, ermöglichte es ihm, bestimmte "Dogmen" der Arbeiterbewegung in Frage zu stellen, ohne dabei vom marxistischen Ansatz und der Methode des historischen Materialismus abzurücken, sondern sie vielmehr in der Dynamik der Entwicklung der konkreten historischen Realität zu verankern. Vgl. dazu unsere Artikel: MARC: Von der Oktoberrevolution 1917 bis zum 2. Weltkrieg [73] (IKSonline Dezember 2006) und MARC: Vom 2. Weltkrieg bis zur Gegenwart [74], International Review 66 (engl./frz./span. Ausgabe).
Diese Resolution steht in Kontinuität mit dem Bericht über den Zerfall des 22. IKS-Kongresses, der Resolution über die internationale Lage des 23. Kongress und dem Bericht über Pandemie und Zerfall des 24. Kongresses. Sie basiert auf der These, dass die Dekadenz des Kapitalismus nicht nur verschiedene Stadien oder Phasen durchläuft, sondern dass wir seit den späten 1980er Jahren ihre letzte Phase, die Phase des Zerfalls, erreicht haben; ferner, dass der Zerfall selbst eine Geschichte hat, und ein zentrales Ziel dieser Texte ist es, den theoretischen Rahmen des Zerfalls anhand der Entwicklung der Weltlage zu "überprüfen". Sie haben gezeigt, dass die wichtigsten Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte in der Tat die Gültigkeit dieses Rahmens bestätigt haben, wie die Verschärfung des "Jeder für sich" auf internationaler Ebene, das "Zurückschlagen" der Zerfallsphänomene in die Kernländer des Weltkapitalismus durch die Zunahme des Terrorismus und der Flüchtlingskrise, wie der Aufstieg des Populismus und der Verlust der politischen Kontrolle durch die herrschende Klasse, die fortschreitende Fäulnis der Ideologie durch die Verbreitung von Sündenbockdenken, religiösem Fundamentalismus und Verschwörungstheorien zeigen. Und so wie die Zerfallsphase der konzentrierte Ausdruck aller Widersprüche des Kapitals ist, vor allem in seiner Epoche des Niedergangs, so ist die gegenwärtige Covid-19-Pandemie ein Destillat aller wichtigsten Erscheinungen des Zerfalls – und ein aktiver Faktor bei seiner Beschleunigung.
1. Die Covid-19-Pandemie, die erste von solchem Ausmaß seit dem Ausbruch der Spanischen Grippe 1918, ist der wichtigste Moment in der Entwicklung der kapitalistischen Zerfallsperiode seit der endgültigen Eröffnung der Periode im Jahr 1989. Die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die daraus resultierenden sieben bis zwölf Millionen und mehr Todesfälle zu verhindern, bestätigt, dass das kapitalistische Weltsystem, sich selbst überlassen, die Menschheit in den Abgrund der Barbarei und in ihre Zerstörung zieht und dass nur die proletarische Weltrevolution dieses Abgleiten aufhalten und die Menschheit in eine andere Zukunft führen kann.
2. Die IKS steht mehr oder weniger allein mit der Verteidigung der Theorie des Zerfalls. Andere Gruppen der kommunistischen Linken lehnen sie völlig ab, entweder, wie im Fall der Bordigisten, weil sie nicht akzeptieren, dass der Kapitalismus ein System im Niedergang ist (oder bestenfalls in diesem Punkt inkonsequent und zweideutig sind); oder, wie im Fall der Internationalistischen Kommunistischen Tendenz, weil das Reden über eine "letzte" Phase des Kapitalismus viel zu apokalyptisch klinge, oder weil die Definition des Zerfalls als Abstieg ins Chaos eine Abweichung vom Materialismus sei, der nach Ansicht der IKT die Wurzeln jedes Phänomens in der Wirtschaft und vor allem in der Tendenz zum Fall der Profitrate zu finden versucht. All diese Strömungen scheinen die Tatsache zu ignorieren, dass unsere Analyse in Kontinuität mit den Richtlinien der Kommunistischen Internationale von 1919 steht, die nicht nur darauf bestand, dass der imperialistische Weltkrieg von 1914-18 den Eintritt des Kapitalismus in die „Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung“, die „Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats" ankündigte, sondern auch betonte, dass „die alte kapitalistische »Ordnung« nicht mehr“ existiere, „sie kann nicht mehr bestehen. Das Endresultat der kapitalistischen Produktionsweise ist das Chaos. Und dieses Chaos kann nur die größte, produktive Klasse überwinden: die Arbeiterklasse. Sie muss eine wirkliche Ordnung schaffen, die kommunistische Ordnung.“ So wurde das Drama, vor dem die Menschheit stand, in der Tat in den Begriffen Ordnung gegen Chaos dargestellt. Und die Gefahr eines chaotischen Zusammenbruchs wurde mit der „Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise“ in Verbindung gebracht, mit anderen Worten: mit einem grundlegenden Element des Systems selbst – eines Systems, das dem Marxismus zufolge auf einem qualitativ höheren Niveau als in jeder früheren Produktionsweise beinhaltet, dass die Produkte menschlicher Arbeit zu einer fremden Macht werden, die über und gegen ihre Schöpfer steht. Die Dekadenz des Systems stellt somit aufgrund seiner unlösbaren Widersprüche eine neue Spirale in diesem Kontrollverlust dar. Und wie die Plattform der Komintern erklärt, treibt die Notwendigkeit, zu versuchen, die kapitalistische Anarchie innerhalb jedes Nationalstaates zu überwinden – durch Monopole und vor allem durch staatliche Interventionen – sie nur auf neue Höhen im globalen Maßstab, was im imperialistischen Weltkrieg gipfelt. Während also der Kapitalismus auf bestimmten Ebenen und für bestimmte Phasen seine angeborene Tendenz zum Chaos zurückhalten kann (z.B. durch die Mobilisierung für den Krieg in den 1930er Jahren oder die Periode des Wirtschaftsbooms, die auf den Krieg folgte), geht die am tiefsten greifende Tendenz in Richtung der "inneren Zersetzung", die für die Komintern die neue Epoche charakterisiert.
3. Während die Richtlinien der Komintern vom Beginn einer „neuen Epoche“ sprachen, gab es innerhalb der Komintern Tendenzen, die katastrophale Lage der Nachkriegswelt als eine endgültige Krise im unmittelbaren Sinne zu sehen und nicht als ein ganzes Zeitalter von Katastrophen, das viele Jahrzehnte dauern könnte. Und das ist ein Irrtum, in den Revolutionäre schon oft verfallen sind (aufgrund einer fehlerhaften Analyse, aber auch weil es nicht möglich ist, den genauen Moment mit Sicherheit vorherzusagen, wann ein Umschlag auf historischer Ebene erfolgt): 1848, als das Kommunistische Manifest bereits verkündete, dass die Hülle des Kapitals zu eng geworden war, um die Produktivkräfte, die es in Bewegung gesetzt hatte, zu fassen; 1919-20 mit der Theorie des brutalen Zusammenbruchs des Kapitals, die insbesondere von der deutschen kommunistischen Linken entwickelt wurde; 1938 mit Trotzkis Auffassung, dass die Produktivkräfte aufgehört hatten zu wachsen. Die IKS selbst hat auch die Fähigkeit des Kapitalismus unterschätzt, auf seine eigene Weise zu expandieren und sich zu entwickeln, sogar in einem allgemeinen Kontext des fortschreitenden Niedergangs, vor allem im Fall des stalinistischen China nach dem Zusammenbruch des russischen Blocks. Jedoch sind diese Fehler Produkte einer unmittelbaren Interpretation der kapitalistischen Krise, nicht ein inhärenter Fehler in der Dekadenztheorie selbst, die den Kapitalismus in dieser Periode eher als eine wachsende Fessel für die Produktivkräfte denn als ein absolutes Hindernis sieht. Aber der Kapitalismus befindet sich seit mehr als einem Jahrhundert im Niedergang, und die Erkenntnis, dass wir an die Grenzen des Systems stoßen, ist völlig konsistent mit dem Verständnis, dass die Wirtschaftskrise trotz aller Höhen und Tiefen im Wesentlichen permanent geworden ist; dass die Mittel der Zerstörung nicht nur ein solches Niveau erreicht haben, dass sie alles Leben auf dem Planeten vernichten könnten, sondern sich in den Händen einer zunehmend instabilen Welt-"Ordnung" befinden; dass der Kapitalismus eine planetarische ökologische Katastrophe heraufbeschworen hat, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Zusammengefasst basiert die Erkenntnis, dass wir uns tatsächlich im Endstadium der kapitalistischen Dekadenz befinden, auf einer nüchternen Einschätzung der Realität. Noch einmal: Dies sollte auf einer historischen, nicht auf einer tageszeitlichen Zeitskala gesehen werden. Aber es bedeutet, dass diese letzte Phase unumkehrbar ist und es keine andere historische Alternative als den Kommunismus oder die Zerstörung der Menschheit geben kann; vor dieser Alternative stehen wir heute.
4. Im Gegensatz zu den von der herrschenden Klasse propagierten Ansichten ist die Covid-19-Pandemie kein rein "natürliches" Ereignis, sondern resultiert aus einer Kombination natürlicher, sozialer und politischer Faktoren, die alle mit dem Funktionieren des kapitalistischen Systems im Zerfall verbunden sind. Das "wirtschaftliche" Element ist hier in der Tat entscheidend, und zwar wiederum auf mehr als einer Ebene. Es ist die Wirtschaftskrise, die verzweifelte Jagd nach Profit, die das Kapital dazu getrieben hat, in jeden Teil der Weltoberfläche einzudringen, um sich das zu schnappen, was Adam Smith das "freie Geschenk" der Natur nannte, und dabei die verbleibenden Schutzgebiete für wildes Leben zu zerstören und das Risiko von Zoonose-Krankheiten enorm zu erhöhen. Der Finanzcrash von 2008 wiederum führte zu einer brutalen Kürzung der Investitionen in die Erforschung neuer Krankheiten, in medizinische Ausrüstung und Behandlung, was die tödlichen Auswirkungen des Coronavirus exponentiell erhöhte. Dies wurde wiederum verschärft durch die massiven Angriffe auf das Gesundheitswesen (Kürzung der Bettenzahlen und des Personals usw.), das durch die Pandemie völlig überfordert wurde. Und die Verschärfung des Wettbewerbs "Jeder für sich" zwischen Unternehmen sowohl wie zwischen Nationen weltweit hat die Bereitstellung von Sicherheitsmaterial und Impfungen stark verzögert. Und auch entgegen den utopischen Hoffnungen gewisser Teile der herrschenden Klasse wird die Pandemie nicht zu einer harmonischeren Weltordnung führen, wenn sie erst einmal in Schach gehalten ist. Nicht nur, weil diese Pandemie wahrscheinlich nur ein Warnzeichen für noch schlimmere Pandemien ist, die noch kommen werden, da die grundlegenden Bedingungen, die sie hervorgebracht haben, von der Bourgeoisie nicht angegangen werden können, sondern auch, weil die Pandemie eine weltwirtschaftliche Rezession, die sich schon vor der Pandemie abzeichnete, erheblich verschlimmert hat. Das Ergebnis wird das Gegenteil von Harmonie sein, da die nationalen Wirtschaften versuchen werden, sich im Kampf um schwindende Märkte und Ressourcen gegenseitig die Kehle durchzuschneiden. Dieser verschärfte Wettbewerb wird sich sicherlich auch auf militärischer Ebene äußern. Und die "Rückkehr zur Normalität" des kapitalistischen Wettbewerbs wird neue Lasten auf die Schultern der Ausgebeuteten der Welt legen, die die Hauptlast der Bemühungen des Kapitalismus tragen müssen, einen Teil der gigantischen Schulden wieder einzutreiben, die er durch seine Versuche, die Krise zu bewältigen, ausgegeben hat.
5. Kein Staat kann vorgeben, ein Modell für den Umgang mit der Pandemie zu sein. Wenn es einigen Staaten in Asien anfangs gelungen ist, effizienter mit ihr umzugehen (wobei Länder wie China die Zahlen und die Wirklichkeit des wahren Ausmaßes der Pandemie frisiert haben), so liegt das an ihrer Erfahrung im Umgang mit Pandemien auf sozialer und kultureller Ebene, da dieser Kontinent historisch gesehen den Boden für die Entstehung neuer Krankheiten bot, und vor allem daran, dass diese Staaten die während der SARS-Epidemie im Jahr 2003 geschaffenen Mittel, Institutionen und Koordinationsverfahren beibehalten haben. Die Ausbreitung des Virus auf Weltebene, die internationale Bildung neuer Varianten, stellen gerade das Problem auf der Ebene dar, auf der die Ohnmacht der Bourgeoisie am deutlichsten zutage tritt, vor allem ihre Unfähigkeit, einheitlich und koordiniert vorzugehen (wie das jüngste Scheitern des Vorschlags, einen Vertrag zum Kampf gegen Pandemien zu unterzeichnen, zeigt) und dafür zu sorgen, dass die gesamte Menschheit den Schutz von Impfstoffen erhält.
6. Die Pandemie, ein Produkt der Zersetzung des Systems, offenbart sich somit als eine gewaltige Kraft zur weiteren Beschleunigung dieser Zerfallsphase. Darüber hinaus bestätigt ihre Auswirkung auf die mächtigste Nation der Erde, die USA, was bereits im Bericht zum 22. Kongress festgestellt wurde: die Tendenz, dass die Auswirkungen des Zerfalls mit verstärkter Kraft in das Herz des kapitalistischen Weltsystems zurückkehren. In der Tat befinden sich die USA jetzt im "Zentrum" des globalen Zerfallsprozesses. Die katastrophale Fehlbehandlung der Covid-Krise durch die populistische Trump-Administration hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dass die USA die höchsten Todesraten der Welt durch diese Krankheit aufweisen. Gleichzeitig wurde das Ausmaß der Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse in den USA durch die umstrittenen Wahlen im November 2020 und vor allem durch die Erstürmung des Kapitols durch Trump-Anhänger am 6. Januar 2021, angestachelt durch Trump und seine Entourage, offengelegt. Dieses Ereignis zeigt, dass die innere Zerrissenheit der USA die gesamte Gesellschaft durchzieht. Obwohl Trump aus der Regierung verdrängt wurde, bleibt der Trumpismus eine starke, schwer bewaffnete Kraft, die sich sowohl auf der Straße als auch an den Wahlurnen äußert. Und da der gesamte linke Flügel des Kapitals sich hinter dem Banner des Antifaschismus versammelt, besteht die reale Gefahr, dass die Arbeiterklasse in den USA in gewaltsame Konflikte zwischen rivalisierenden Fraktionen der Bourgeoisie verwickelt wird.
7. Die Ereignisse in den USA verdeutlichen auch den fortschreitenden Zerfall der ideologischen Strukturen des Kapitalismus, wobei wiederum die USA "Vorreiter" sind. Der Amtsantritt der populistischen Trump-Administration, der starke Einfluss des religiösen Fundamentalismus, das wachsende Misstrauen gegenüber der Wissenschaft haben ihre Wurzeln in bestimmten Faktoren der Geschichte des amerikanischen Kapitalismus, aber die Entwicklung des Zerfalls und insbesondere der Ausbruch der Pandemie haben alle Arten von irrationalen Ideen in den Mainstream des politischen Lebens gebracht, die genau die völlige Perspektivlosigkeit für die Zukunft widerspiegeln, die die bestehende Gesellschaft bietet.
Insbesondere die USA sind zum Knotenpunkt für die Ausstrahlung von "Verschwörungstheorien" in der gesamten fortgeschrittenen kapitalistischen Welt geworden, vor allem über das Internet und die sozialen Medien, die die technologischen Mittel zur weiteren Untergrabung der Grundlagen jeglicher Vorstellung von objektiver Wahrheit in einem Ausmaß bereitgestellt haben, von dem der Stalinismus und der Nationalsozialismus nur träumen konnten. Verschwörungstheorien, die in verschiedenen Formen auftreten, haben bestimmte gemeinsame Merkmale: die personalisierte Sichtweise über geheime Eliten, die die Gesellschaft aus dem Verborgenen heraus steuerten, eine Ablehnung wissenschaftlicher Methoden und ein tiefes Misstrauen gegenüber allen offiziellen Diskursen. Im Gegensatz zur Mainstream-Ideologie der Bourgeoisie, die die Demokratie und die bestehende Staatsmacht als wahre Repräsentanten der Gesellschaft darstellt, haben die Verschwörungstheorien ihr Gravitationszentrum im Hass auf die etablierten Eliten, einem Hass, den sie gegen das Finanzkapital und die klassische demokratische Fassade des staatskapitalistischen Totalitarismus richten. Das verleitete Vertreter der Arbeiterbewegung in der Vergangenheit dazu, diesen Ansatz als "Sozialismus der Narren" zu bezeichnen (August Bebel, mit Bezug auf den Antisemitismus) – ein Fehler, der vor dem Ersten Weltkrieg noch verständlich war, heute aber gefährlich wäre. Der verschwörungstheoretische Populismus ist kein verzerrter Versuch, sich dem Sozialismus oder irgendetwas, das dem proletarischen Klassenbewusstsein ähnelt, zu nähern. Eine seiner Hauptquellen ist die Bourgeoisie selbst: der Teil der Bourgeoisie, der sich darüber ärgert, gerade aus den elitären inneren Kreisen seiner eigenen Klasse ausgeschlossen zu sein, unterstützt von anderen Teilen der Bourgeoisie, die ihre frühere zentrale Position verloren haben oder dabei sind, sie zu verlieren. Die Massen, die diese Art von Populismus hinter sich herzieht, sind weit davon entfernt, von der Bereitschaft beseelt zu sein, die herrschende Klasse herauszufordern, sondern hoffen, indem sie sich mit dem Kampf um die Macht derjenigen identifizieren, die sie unterstützen, in irgendeiner Weise an dieser Macht teilzuhaben oder zumindest von ihr auf Kosten anderer begünstigt zu werden.
8. Während das Voranschreiten des kapitalistischen Zerfalls neben der chaotischen Zuspitzung der imperialistischen Rivalitäten in erster Linie die Form der politischen Zersplitterung und des Kontrollverlusts der herrschenden Klasse annimmt, bedeutet dies nicht, dass die Bourgeoisie bei ihren Bemühungen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, nicht mehr auf den Staatstotalitarismus zurückgreifen könnte. Im Gegenteil, je mehr die Gesellschaft zum Auseinanderbrechen neigt, desto verzweifelter wird das Vertrauen der Bourgeoisie in die zentralisierende Staatsmacht, die das Hauptinstrument dieser machiavellistischsten aller herrschenden Klassen ist. Die Reaktion der Fraktionen der herrschenden Klasse, die dem allgemeinen Interesse des nationalen Kapitals und des Staates gegenüber verantwortlicher gesonnen sind, auf den Aufstieg des Populismus ist ein typisches Beispiel dafür. Die Wahl Bidens, unterstützt durch eine enorme Mobilisierung der Medien, von Teilen des politischen Apparats und sogar des Militärs und der Sicherheitsdienste, drückt diese reale Gegentendenz zur Gefahr der sozialen und politischen Desintegration aus, die am deutlichsten vom Trumpismus verkörpert wird. Kurzfristig können solche "Erfolge" als Bremse gegenüber dem wachsenden sozialen Chaos fungieren. Angesichts der Covid-19-Krise zeigen die beispiellosen Abschottungsmaßnahmen, die als letztes Mittel die unkontrollierte Ausbreitung der Krankheit aufhalten sollen; der massive Rückgriff auf die Staatsverschuldung, um ein Minimum an Lebensstandard in den fortgeschrittenen Ländern zu erhalten; die Mobilisierung wissenschaftlicher Ressourcen, um einen Impfstoff zu finden – das Bedürfnis der Bourgeoisie, das Bild des Staates als Beschützer der Bevölkerung zu bewahren, und ihren Unwilligkeit, angesichts der Pandemie Glaubwürdigkeit und Autorität zu verlieren. Längerfristig führt dieser Rückgriff auf den Staatstotalitarismus aber eher zu einer weiteren Verschärfung der Widersprüche des Systems. Die nahezu Lähmung der Wirtschaft und die Anhäufung von Schulden können kein anderes Ergebnis haben, als die globale Wirtschaftskrise zu beschleunigen, während auf der sozialen Ebene die massive Ausweitung der polizeilichen Befugnisse und der staatlichen Überwachung, die zur Durchsetzung der Lockdown-Gesetze eingeführt wurden – und zwangsläufig zur Rechtfertigung aller Formen von Protest und Dissens verwendet werden –, das Misstrauen gegenüber dem politischen Establishment zusehends verschärfen, was sich hauptsächlich auf dem antiproletarischen Terrain der "Bürgerrechte" ausdrückt.
9. Der offensichtliche Charakter der politischen und ideologischen Zerfallsprozesse in der führenden Macht der Welt bedeutet nicht, dass die anderen Zentren des Weltkapitalismus in der Lage wären, alternative Festungen der Stabilität zu bilden. Am deutlichsten wird dies wiederum im Fall von Großbritannien, das gleichzeitig von den höchsten Covid-Todesraten in Europa und den ersten Symptomen der selbst zugefügten Wunde des Brexit heimgesucht wird sowie der realen Möglichkeit eines Auseinanderbrechens in seine konstituierenden "Nationen" gegenübersteht. Die aktuellen hässlichen Auseinandersetzungen zwischen Großbritannien und der EU über die Verwendbarkeit und Verteilung von Impfstoffen bieten einen weiteren Beweis dafür, dass der Haupttrend in der globalen bürgerlichen Politik heute in Richtung zunehmender Fragmentierung und nicht in Richtung Einheit angesichts eines "gemeinsamen Feindes" geht. Europa selbst ist von diesen zentrifugalen Tendenzen nicht verschont geblieben, nicht nur in Bezug auf den Umgang mit der Pandemie, sondern auch in Bezug auf die Frage der "Menschenrechte" und der Demokratie in Ländern wie Polen und Ungarn. Es ist bemerkenswert, dass selbst zentrale Länder wie Deutschland, das früher als relativer "sicherer Hafen" politischer Stabilität galt und auf seine wirtschaftliche Stärke bauen konnte, diesmal von einem wachsenden politischen Chaos betroffen ist. Die Beschleunigung des Zerfalls im historischen Zentrum des Kapitalismus ist sowohl durch einen Kontrollverlust als auch durch zunehmende Schwierigkeiten bei der Herstellung politischer Homogenität gekennzeichnet. Auch wenn die EU nach dem Verlust ihrer zweitgrößten Volkswirtschaft nicht unmittelbar von größeren Spaltungen bedroht ist, hängen diese Bedrohungen weiterhin über dem Traum von einem vereinten Europa. Und während die chinesische Staatspropaganda die wachsende Uneinigkeit und Inkohärenz der "Demokratien" hervorhebt und sich selbst als Bollwerk globaler Stabilität präsentiert, ist Pekings zunehmender Rückgriff auf Repression im Innern, wie gegen die "Demokratiebewegung" in Hongkong und die uigurischen Muslime, in Wirklichkeit ein Beweis dafür, dass China eine tickende Zeitbombe ist. Das außergewöhnliche Wachstum Chinas ist selbst ein Produkt des Zerfallsperiode. Die wirtschaftliche Öffnung während der Deng-Periode in den 1980er Jahren mobilisierte riesige Investitionen, vor allem aus den USA, Europa und Japan. Das Tiananmen-Massaker 1989 machte deutlich, dass diese wirtschaftliche Öffnung von einem unflexiblen politischen Apparat durchgesetzt wurde, der nur durch eine Kombination aus Staatsterror, einer rücksichtslosen Ausbeutung der Arbeitskraft, die Hunderte Millionen Arbeiter einem Dauerzustand als Wanderarbeiter unterwirft, und einem rasenden Wirtschaftswachstum, dessen Fundamente nun zunehmend wackelig erscheinen, dem Schicksal des Stalinismus im russischen Block entgehen konnte. Die totalitäre Kontrolle über den gesamten Gesellschaftskörper, die repressive Verhärtung der stalinistischen Fraktion von Xi Jinping, ist kein Ausdruck von Stärke, sondern eine Manifestation der Schwäche des Staates, dessen Zusammenhalt durch die Existenz von Fliehkräften innerhalb der Gesellschaft und wichtigen Cliquenkämpfen innerhalb der herrschenden Klasse gefährdet ist.
10. Im Gegensatz zu einer Situation, in der die Bourgeoisie in der Lage ist, die Gesellschaft für den Krieg zu mobilisieren wie in den 1930er Jahren, ist die Endphase des Weges, des Rhythmus und der Formen der Dynamik des verfaulenden Kapitalismus in Richtung Zerstörung der Menschheit schwieriger vorherzusagen, weil er das Ergebnis einer Konvergenz verschiedener Faktoren ist, von denen einige teilweise verborgen sein können. Das Endergebnis, so betonen die Thesen zum Zerfall, ist dasselbe: „Seiner eigenen Logik und seinen letzten Konsequenzen überlassen, führt [der Kapitalismus] die Gesellschaft zum gleichen Ergebnis wie der Weltkrieg. Ob man brutal von einem thermonuklearen Bombenhagel in einem Weltkrieg ausgelöscht wird oder durch die Umweltverschmutzung, die Radioaktivität der Atomkraftwerke, den Hunger, die Epidemien und die Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte (in denen auch Atomwaffen eingesetzt werden können) vernichtet wird, läuft letztendlich aufs gleiche hinaus. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Zerstörung besteht darin, daß die erste schneller ist, während die zweite langsamer ist, dafür aber umso mehr Leid verursacht.“ Heute jedoch werden die Konturen dieses Vernichtungstriebes schärfer. Die Folgen der Naturzerstörung durch den Kapitalismus lassen sich immer weniger leugnen, ebenso wie das Versagen der Weltbourgeoisie mit all ihren globalen Konferenzen und Versprechen, sich in Richtung einer "grünen Wirtschaft" zu bewegen, einen Prozess aufzuhalten, der untrennbar mit dem Bedürfnis des Kapitalismus verbunden ist, in seinem konkurrierenden Streben nach dem Akkumulationsprozess jeden letzten Winkel des Planeten zu durchdringen. Die Covid-Pandemie ist wahrscheinlich der bisher bedeutendste Ausdruck dieses tiefgreifenden Ungleichgewichts zwischen Mensch und Natur, aber auch andere Warnzeichen mehren sich, vom Schmelzen des Polareises bis zu den verheerenden Bränden in Australien und Kalifornien und der Verschmutzung der Ozeane durch den Abfall der kapitalistischen Produktion.
11. Gleichzeitig mehren sich die "Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte", da der Kapitalismus in seiner letzten Phase in ein zunehmend irrationales imperialistisches "Jeder gegen jeden" stürzt. Die zehnjährige Agonie in Syrien, einem Land, das nun durch einen Konflikt, an dem mindestens fünf rivalisierende Lager beteiligt sind, völlig ruiniert ist, ist vielleicht der deutlichste Ausdruck dieses erschreckenden "Haifischbeckens", aber wir sehen ähnliche Erscheinungsformen in Libyen, am Horn von Afrika und im Jemen; Kriege, die durch das Aufkommen regionaler Mächte wie dem Iran, der Türkei und Saudi-Arabien unterstützt und verschlimmert wurden, von denen keiner die Disziplin der globalen Hauptmächte akzeptieren kann: Diese Mächte zweiten oder dritten Ranges können bedingte Bündnisse mit den mächtigsten Staaten schmieden, nur um sich in anderen Situationen als Gegner zu konfrontieren (wie im Fall der Türkei und Russlands im Krieg in Libyen). Die wiederkehrenden militärischen Konfrontationen in Israel/Palästina zeugen ebenfalls von der Unlösbarkeit vieler dieser Konflikte, und in diesem Fall wurde das Abschlachten von Zivilisten durch die Entwicklung einer Pogromstimmung innerhalb Israels selbst verschärft, was die Auswirkungen der Zersetzung sowohl auf militärischer als auch auf sozialer Ebene zeigt. Gleichzeitig beobachten wir eine Verschärfung der Konflikte zwischen den Weltmächten. Die Verschärfung der Rivalitäten zwischen den USA und China war bereits unter Trump zu beobachten, aber die Biden-Administration wird in dieselbe Richtung weitergehen, wenn auch unter anderen ideologischen Vorwänden, wie z.B. Chinas Menschenrechtsverletzungen; gleichzeitig hat die neue Administration angekündigt, dass sie sich nicht mehr vor Russland "wegducken" wird, das nun seinen Stützpunkt im Weißen Haus verloren hat. Und auch wenn Biden versprochen hat, die USA wieder in eine Reihe von internationalen Institutionen und Abkommen einzubinden (zum Klimawandel, zum iranischen Atomprogramm, zur NATO...), bedeutet das nicht, dass die USA auf ihre Fähigkeit verzichten werden, allein zur Verteidigung ihrer Interessen zu handeln. Der Militärschlag gegen proiranische Milizen in Syrien durch die Biden-Administration nur Wochen nach der Wahl war eine klare Aussage in diesem Sinne. Das Streben eines Jeder-für-sich wird es für die Vereinigten Staaten immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich machen, ihre Führungsrolle durchzusetzen – ein Beispiel für die Beschleunigung des Jeder-gegen-jeden in der Zerfallsperiode.
12. Innerhalb dieses chaotischen Bildes steht zweifellos die wachsende Konfrontation zwischen den USA und China tendenziell im Mittelpunkt. Die neue Administration hat damit ihr Bekenntnis zum "Tilt to the East" (zur Neigung nach Osten, jetzt unterstützt von der Tory-Regierung in Großbritannien) demonstriert, die bereits eine zentrale Achse der Außenpolitik Obamas war. Konkretisiert hat sich dies in der Entwicklung der "Quad", einer explizit antichinesischen Allianz zwischen den USA, Japan, Indien und Australien. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir auf die Bildung stabiler Blöcke und einen allgemeinen Weltkrieg zusteuern.
Der Weg zum Krieg wird immer noch durch die starke Tendenz des „Jeder-für-sich“ und Chaos auf imperialistischer Ebene behindert, während der Kapitalismus in den zentralen kapitalistischen Ländern noch nicht über die politischen und ideologischen Elemente verfügt – einschließlich insbesondere einer politischen Niederlage der Arbeiterklasse –, welche die Gesellschaft ‚vereinigen‘ und den Weg zum Weltkrieg ebnen könnten. Die Tatsache, dass wir immer noch in einer im Wesentlichen multipolaren Welt leben, wird insbesondere durch das Verhältnis zwischen Russland und China verdeutlicht. Während Russland sich in bestimmten Fragen sehr willig gezeigt hat, sich mit China zu verbünden, im Allgemeinen in Opposition zu den USA, ist es sich nicht weniger der Gefahr bewusst, sich seinem östlichen Nachbarn unterzuordnen, und ist einer der Hauptgegner von Chinas "Neuer Seidenstraße" in Richtung imperialistischer Hegemonie.
13. Das bedeutet nicht, dass wir in einer Ära größerer Sicherheit lebten als in der Periode des Kalten Krieges, die unter der Bedrohung durch ein nukleares Armageddon litt. Im Gegenteil: Wenn die Phase des Zerfalls durch einen zunehmenden Kontrollverlust der Bourgeoisie gekennzeichnet ist, so gilt dies auch für die enormen Mittel der Zerstörung – nukleare, konventionelle, biologische und chemische –, die von der herrschenden Klasse angehäuft worden und nun über eine weitaus größere Zahl von Nationalstaaten verteilt sind als in der vorangegangenen Periode. Wir sehen zwar keinen kontrollierten Marsch in Richtung Krieg, der von disziplinierten Militärblöcken angeführt würde, aber wir können die Gefahr einseitiger militärischer Ausbrüche oder sogar grotesker Unfälle nicht ausschließen, die eine weitere Beschleunigung des Abgleitens in die Barbarei bedeuten würden.
14. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus außerhalb einer Weltkriegssituation ist die Wirtschaft direkt und tiefgreifend von einem Phänomen betroffen – der Covid-19-Pandemie –, das nicht direkt mit den Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft zusammenhängt. Das Ausmaß und die Bedeutung der Auswirkungen der Pandemie als Produkt der Agonie eines Systems, das sich in völliger Zersetzung befindet und völlig obsolet ist, veranschaulicht die beispiellose Tatsache, dass das Phänomen der kapitalistischen Zersetzung nun auch massiv und in globalem Maßstab die gesamte kapitalistische Wirtschaft betrifft. Dieses Eindringen der Auswirkungen des Zerfalls in die Wirtschaftssphäre wirkt sich direkt auf die Entwicklung der neuen Phase der offenen Krise aus und läutet eine in der Geschichte des Kapitalismus noch nie dagewesene Situation ein. Die Auswirkungen des Zerfalls, welche die Mechanismen des Staatskapitalismus, die bisher zur "Begleitung" und Begrenzung der Auswirkungen der Krise eingerichtet wurden, tiefgreifend verändern, bringen einen Faktor der Instabilität und Zerbrechlichkeit, der wachsenden Unsicherheit in die Situation ein.
Das Chaos, das sich der kapitalistischen Wirtschaft bemächtigt, bestätigt Rosa Luxemburgs Ansicht, dass der Kapitalismus keinen rein ökonomischen Zusammenbruch erleben wird. „Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalsherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist.“ (Akkumulation des Kapitals, Kapitel 32)
15. Indem die Pandemie ein kapitalistisches System traf, das sich bereits seit Anfang 2018 in einem deutlichen Abschwung befand, konkretisierte sie schnell die Vorhersage des 23. Kongresses der IKS, dass wir auf einen neuen Absturz in die Krise zusteuern.
Die gewaltige Beschleunigung der Wirtschaftskrise – und die Ängste der Bourgeoisie – lassen sich an der Höhe der enormen Schuldenmauer ablesen, die eilig errichtet wurde, um den Produktionsapparat vor dem Bankrott zu bewahren und ein Minimum an sozialem Zusammenhalt zu gewährleisten.
Eine der wichtigsten Erscheinungsformen der Schwere der gegenwärtigen Krise liegt – im Gegensatz zu vergangenen Situationen offener Wirtschaftskrisen und im Gegensatz zur Krise von 2008 – darin, dass die zentralen Länder (Deutschland, China und die USA) gleichzeitig getroffen wurden und zu den am stärksten von der Rezession betroffenen Ländern gehören, in China durch einen starken Rückgang der Wachstumsrate 2020. Die schwächsten Staaten sehen ihre Wirtschaft durch Inflation, den Wertverfall ihrer Währung und Verarmung stranguliert.
Nach vier Jahrzehnten des Rückgriffs auf Kredit und Schulden, um der wachsenden Tendenz zur Überproduktion entgegenzuwirken, unterbrochen von immer tieferen Rezessionen und immer begrenzteren Erholungen, markierte die Krise von 2007-9 bereits einen weiteren Schritt im Abstieg des Kapitalismus in eine irreversible Krise. Während massive staatliche Interventionen das Bankensystem vor dem völligen Ruin bewahren konnten und die Verschuldung in noch schwindelerregendere Höhen trieben, wurden die Ursachen der Krise von 2007-09 nicht überwunden. Die Widersprüche der Krise verschoben sich auf eine höhere Ebene mit einer erdrückenden Schuldenlast für die Staaten selbst. Die Versuche, die Volkswirtschaften wieder anzukurbeln, führten nicht zu einer wirklichen Erholung: Ein seit dem Zweiten Weltkrieg beispielloses Element war, dass abgesehen von den USA, China und in geringerem Maße auch Deutschland die Produktionsniveaus in allen anderen wichtigen Ländern zwischen 2013 und 2018 stagnierten oder sogar sanken. Die extreme Fragilität dieser "Erholung", indem sie alle Voraussetzungen für eine weitere deutliche Verschlechterung der Weltwirtschaft versammelte, nahm die aktuelle Situation bereits vorweg.
Trotz des historischen Ausmaßes der Erholungspläne und weil die Wiederankurbelung der Wirtschaft auf so chaotische Weise erfolgt, ist noch nicht absehbar, wie – und in welchem Ausmaß – es der Bourgeoisie gelingen wird, die Situation zu stabilisieren, da diese von allerlei Ungewissheiten geprägt ist, vor allem hinsichtlich der Entwicklung der Pandemie selbst.
Im Gegensatz zu dem, was die Bourgeoisie 2008 tun konnte, als sie die G7 und die G20, in welchen sich die wichtigsten Staaten zusammengefunden hatten, versammelte und in der Lage war, sich auf eine koordinierte Antwort auf die Kreditkrise zu einigen, reagiert heute jedes nationale Kapital in verzettelter Form, ohne jede andere Sorge als die Wiederbelebung der eigenen Wirtschaftsmaschinerie und ihr Überleben auf dem Weltmarkt, ohne Abstimmung zwischen den Hauptkomponenten des kapitalistischen Systems. ‚Jeder für sich selbst‘ ist entscheidend vorherrschend geworden.
Die offensichtliche Ausnahme des europäischen Konjunkturprogramms, einschließlich der Vergemeinschaftung von Schulden zwischen den EU-Ländern, erklärt sich aus dem Bewusstsein der beiden wichtigsten EU-Staaten, dass ein Minimum an Zusammenarbeit zwischen ihnen notwendig ist, um eine größere Destabilisierung der EU zu vermeiden, um ihren Hauptrivalen China und den USA die Stirn zu bieten, auch auf die Gefahr hin, eine beschleunigte Abwertung ihrer Position in der Weltarena zu riskieren.
Der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, die Pandemie einzudämmen und die Lähmung der Produktion zu vermeiden, führte zum "Krieg der Masken" und zum "Krieg der Impfstoffe" Der gegenwärtige Krieg der Impfstoffe, die Art und Weise, wie sie hergestellt und verteilt werden, ist ein Spiegel der Zerrissenheit, die die Weltwirtschaft befallen hat.
Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat die Bourgeoisie alles getan, um eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den Staaten aufrechtzuerhalten, indem sie sich insbesondere auf die aus der Zeit der imperialistischen Blöcke geerbten Organe der internationalen Regulierung stützte. Dieser Rahmen der "Globalisierung" ermöglichte es, die Auswirkungen der Phase des Zerfalls auf der wirtschaftlichen Ebene zu begrenzen, indem die Möglichkeit der "Assoziierung" von Nationen in verschiedenen Gebieten der Wirtschaft – Finanzen, Produktion usw. – maximal vorangetrieben wurde.
Mit der Verschärfung der Krise und der imperialistischen Rivalitäten wurden die multilateralen Institutionen und Mechanismen bereits durch die Tatsache auf die Probe gestellt, dass die Hauptmächte zunehmend ihre eigene Politik betrieben, insbesondere China, indem es sein riesiges paralleles Netzwerk, die Neue Seidenstraße, aufbaute, und die USA, die dazu neigten, jenen Institutionen den Rücken zu kehren, weil sie nicht mehr geeignet waren, die vorherrschende Rolle der USA zu erhalten. Der Populismus trat bereits als ein Faktor in Erscheinung, der die schon bedenkliche wirtschaftliche Lage verschlimmerte, indem er ein Element der Unsicherheit angesichts der Auswirkungen der Krise einführte. Seine Machtübernahme in verschiedenen Ländern beschleunigte die Abstumpfung der Mittel, die der Kapitalismus seit 1945 eingesetzt hatte, um ein Abdriften in einen Rückzug hinter nationale Grenzen zu vermeiden, was nur zu einer unkontrollierten 'Ansteckung', d.h. Befeuerung der Wirtschaftskrise führen kann.
Die Entfesselung der Dynamik des „jeder-für-sich“ ergibt sich aus dem durch die Krise verschärften Widerspruch im Kapitalismus zwischen dem immer globaler werdenden Maßstab der Produktion und der nationalen Struktur des Kapitals. Indem er ein wachsendes Chaos innerhalb der Weltwirtschaft hervorruft (mit der Tendenz zur Zersplitterung der Produktionsketten und der Aufteilung des Weltmarktes in regionale Zonen, zur Stärkung des Protektionismus und der Vervielfachung einseitiger Maßnahmen), ist dieser völlig irrationale Zug jeder Nation, sich auf Kosten aller anderen zu retten, kontraproduktiv für jedes nationale Kapital und eine Katastrophe auf Weltebene und ein entscheidender Faktor für die Verschlechterung der gesamten Weltwirtschaft.
Dieses Vorpreschen der "verantwortungsvollsten" bürgerlichen Fraktionen in Richtung eines zunehmend irrationalen und chaotischen Managements des Systems und vor allem das beispiellose Voranschreiten dieser Tendenz hin zu „jedem für sich“, offenbart einen zunehmenden Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihr eigenes System.
16. Als einzige Nation mit einer positiven Wachstumsrate im Jahr 2020 (2 %) ist China nicht als großer Sieger oder gestärkt aus der Pandemiekrise hervorgegangen, auch wenn es auf Kosten seiner Rivalen vorübergehend an Boden gewonnen hat. Ganz im Gegenteil. Die anhaltende Wachstumsverschlechterung seiner Wirtschaft, die weltweit am höchsten verschuldet ist und zudem eine niedrige Auslastung der Kapazitäten und einen Anteil an "Zombie-Unternehmen" von über 30% aufweist, zeugt davon, dass China von nun an nicht mehr in der Lage ist, die Rolle zu spielen, die es in den Jahren 2008-11 bei der Wiederankurbelung der Weltwirtschaft gespielt hat.
China ist konfrontiert mit einer Verkleinerung der Märkte auf der ganzen Welt, mit dem Wunsch zahlreicher Staaten, sich aus der Abhängigkeit von der chinesischen Produktion zu befreien, und mit der Gefahr der Zahlungsunfähigkeit einiger Länder, die in das Projekt der Seidenstraße eingebunden und die am stärksten von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie betroffen sind. Die chinesische Regierung verfolgt daher eine Ausrichtung auf die binnenwirtschaftliche Entwicklung des Plans "Made in China 2025" und des Modells des "Doppelten Kreislaufs", das auch darauf abzielt, den Verlust der Auslandsnachfrage durch die Stimulierung der Binnennachfrage zu kompensieren. Dieser politische Neuausrichtung stellt jedoch keine "Hinwendung nach innen" dar, der chinesische Imperialismus wird und kann der Welt nicht den Rücken kehren. Im Gegenteil, das Ziel dieses Wandels ist es, eine nationale Autarkie auf dem Gebiet der Schlüsseltechnologien zu erlangen, um desto mehr in der Lage zu sein, jenseits der eigenen Grenzen an Boden zu gewinnen. Er stellt eine neue Stufe in der Entwicklung ihrer Kriegswirtschaft dar. All dies verursacht mächtige Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse, zwischen den Anhängern der Lenkung der Wirtschaft durch die Kommunistische Partei Chinas und denen, die mit der Marktwirtschaft und dem Privatsektor verbunden sind, zwischen den "Planern" der Zentralbehörde und den lokalen Behörden, die die Investitionen selbst lenken wollen. Sowohl in den Vereinigten Staaten (in Bezug auf die "GAFA"-Technologieriesen aus dem Silicon Valley) als auch – noch entschiedener – in China (in Bezug auf Ant International, Alibaba usw.) gibt es eine starke Bewegung des zentralen Staatsapparats hin zur Zerschlagung von Unternehmen, die zu groß (und zu mächtig) werden, um sie zu kontrollieren.
17. Die Folgen der rasenden Umweltzerstörung durch den sich zersetzenden Kapitalismus, die Phänomene der Klimaveränderung und der Zerstörung der Artenvielfalt, führen in erster Linie zu einer weiteren Verelendung der am meisten benachteiligten Teile der Weltbevölkerung (Afrika südlich der Sahara und Südasien) oder derjenigen, die Opfer militärischer Konflikte sind. Aber sie betreffen mehr und mehr alle Volkswirtschaften, an ihrer Spitze die entwickelten Länder.
Wir erleben derzeit die Vervielfachung extremer meteorologischer Phänomene, extrem heftige Regenfälle und Überschwemmungen, große Brände, die durch die Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur (Städte, Straßen, Flussanlagen) zu enormen finanziellen Verlusten in Stadt und Land führen. Diese Phänomene stören das Funktionieren des industriellen Produktionsapparates und schwächen auch die Produktivität der Landwirtschaft. Die globale Klimakrise und die daraus resultierende zunehmende Desorganisation des Weltmarktes für Agrarprodukte bedrohen die Ernährungssicherheit vieler Staaten.
Der sich zersetzende Kapitalismus verfügt nicht über die Mittel, um die globale Erwärmung und die ökologische Verwüstung wirklich zu bekämpfen. Diese wirken sich schon jetzt zunehmend negativ auf die Reproduktion des Kapitals aus und können nur ein Hindernis für die Rückkehr zum Wirtschaftswachstum sein.
Getrieben von der Notwendigkeit, veraltete Schwerindustrien und fossile Brennstoffe zu ersetzen, stellt die "grüne Wirtschaft" keinen Ausweg für das Kapital dar, weder auf der ökologischen noch auf der ökonomischen Ebene. Ihre Produktionsnetzwerke sind nicht grüner und nicht weniger umweltschädlich. Das kapitalistische System ist nicht in der Lage, sich auf eine "Grüne Revolution" einzulassen. Das Vorgehen der herrschenden Klasse in diesem Bereich verschärft unweigerlich die zerstörerische wirtschaftliche Konkurrenz und die imperialistischen Rivalitäten. Das Entstehen neuer und potenziell profitabler Sektoren, wie z.B. die Produktion von Elektrofahrzeugen, könnte bestenfalls bestimmten Teilen der stärkeren Volkswirtschaften zugutekommen, aber angesichts der Grenzen zahlungsfähiger Märkte und der zunehmenden Probleme, auf die der immer massivere Einsatz von Geldschöpfung und Verschuldung stößt, werden sie nicht in der Lage sein, als Lokomotive für die Wirtschaft als Ganzes zu fungieren. Die "Grüne Wirtschaft" ist auch ein privilegiertes Mittel mächtiger ideologischer Mystifikationen über die Möglichkeit, den Kapitalismus zu reformieren, und eine erlesene Waffe gegen die Arbeiterklasse, die Werksschließungen und Entlassungen rechtfertigt.
18. Als Reaktion auf die zunehmenden imperialistischen Spannungen erhöhen alle Staaten ihre militärischen Anstrengungen, sowohl in Bezug auf den Umfang als auch auf die Dauer. Die militärische Spirale dehnt sich auf immer mehr "Konfliktzonen" aus, wie z.B. Cyber-Sicherheit und die zunehmende Militarisierung des Weltraums. Alle Atommächte fahren ihre Atomprogramme diskret wieder hoch. Alle Staaten modernisieren und passen ihre Streitkräfte an.
Dieser irrsinnige Rüstungswettlauf, zu dem jeder Staat durch die Gesetze der interimperialistischen Konkurrenz unrettbar verdammt ist, ist umso irrationaler, als das zunehmende Gewicht der Kriegswirtschaft und der Rüstungsproduktion einen beträchtlichen Teil des nationalen Reichtums absorbiert: Diese gigantische Masse an Militärausgaben im Weltmaßstab bedeutet, auch wenn sie eine Profitquelle für die Waffenhändler darstellt, eine Sterilisierung und eine Zerstörung von Teilen des Gesamtkapitals. Die Investitionen, die bei der Produktion und dem Verkauf von Waffen und Rüstungsgütern realisiert werden, bilden keineswegs den Ausgangspunkt oder die Quelle für die Akkumulation neuer Profite: Einmal produzierte oder erworbene Waffen dienen nur dazu, Tod und Zerstörung zu säen oder in Arsenalen ungenutzt herumzustehen, bis sie veraltet sind und ersetzt werden müssen. Die ökonomischen Auswirkungen dieser völlig unproduktiven Ausgaben "werden für das Kapital katastrophal sein. Angesichts bereits unüberschaubarer Haushaltsdefizite ist die massive Erhöhung der Militärausgaben, die das Anwachsen der zwischenimperialistischen Antagonismen notwendig macht, eine wirtschaftliche Belastung, die den Abstieg des Kapitalismus in den Abgrund nur beschleunigen wird" (Report on the International Situation, in International Review 35 [engl./frz./span. Ausgabe]).
19. Nach Jahrzehnten gigantischer Verschuldung gehen die massiven Liquiditätsspritzen, die in den jüngsten Konjunkturprogrammen enthalten sind, weit über das Volumen früherer Interventionen hinaus. Die Milliarden von Dollar, die durch die amerikanischen, europäischen und chinesischen Pläne freigesetzt wurden, haben die Weltverschuldung auf den Rekordwert von 365% des Welt-BIP gebracht.
Die Verschuldung, die vom Kapitalismus während seiner gesamten Epoche der Dekadenz immer wieder als Linderungsmittel für die Krise der Überproduktion eingesetzt wurde, ist eine Maßnahme, um die Dinge auf Kosten noch schwererer Krämpfe in die Zukunft zu verschieben. Sie hat jetzt ein noch nie dagewesenes Ausmaß angenommen. Seit der Großen Depression hat die Bourgeoisie ihre Entschlossenheit gezeigt, ein System, das zunehmend von der Überproduktion und der schwindenden Verfügbarkeit von Märkten bedroht ist, durch immer raffiniertere Mittel der staatlichen Intervention am Leben zu erhalten, die darauf abzielen, eine umfassende Kontrolle über ihre Wirtschaft auszuüben. Aber sie hat keine Möglichkeit, die wirklichen Ursachen der Krise zu bekämpfen. Selbst wenn es keine feste, vorherbestimmte Grenze für die überstürzte Flucht in die Verschuldung gibt, einen Punkt, an dem eine Fortsetzung unmöglich wird, kann diese Politik nicht unbegrenzt weitergehen, ohne schwerwiegende Auswirkungen auf die Stabilität des Systems infolge der Schuldenlast zu haben, wie die immer häufigeren und ausgedehnteren Krisen des letzten Jahrzehnts zeigen – aber auch, weil sich eine solche Politik, zumindest in den letzten vier Jahrzehnten, als immer weniger effektiv bei der Wiederbelebung der Weltwirtschaft erwiesen hat.
Die Schuldenlast verurteilt das kapitalistische System nicht nur zu immer verheerenderen Konvulsionen (Bankrott von Unternehmen und sogar von Staaten, Finanz- und Währungskrisen usw.), sondern kann auch, indem sie den Spielraum der Staaten, die Gesetze des Kapitalismus zu überlisten, immer mehr einschränkt, ihre Fähigkeit zur Wiederbelebung ihrer jeweiligen Volkswirtschaften nur behindern.
Die Krise, die sich bereits seit Jahrzehnten abzeichnet, wird die schwerste der gesamten Dekadenzperiode werden, und ihre historische Bedeutung wird sogar die erste Krise dieser Epoche, die Krise, die 1929 begann, übertreffen. Nach mehr als 100 Jahren Zuspitzung kapitalistischer Dekadenz, mit einer Wirtschaft, die durch den Militärsektor verwüstet, durch die Auswirkungen der Umweltzerstörung geschwächt, in ihren Reproduktionsmechanismen durch Verschuldung und staatliche Manipulationen tiefgreifend verändert, der Pandemie zum Opfer gefallen ist und zunehmend unter allen anderen Auswirkungen der Zersetzung leidet, ist es eine Illusion zu glauben, dass es unter diesen Bedingungen eine dauerhafte Erholung der Wirtschaft geben wird.
20. Gleichzeitig sollten Revolutionäre nicht der Versuchung erliegen, in eine "katastrophenhafte" Vision einer Weltwirtschaft am Rande des endgültigen Zusammenbruchs zu verfallen. Die Bourgeoisie wird weiterhin bis zum Tode um das Überleben ihres Systems kämpfen, sei es mit direkten wirtschaftlichen Mitteln (wie der Ausbeutung unerschlossener Ressourcen und potenzieller neuer Märkte, typisch für Chinas Projekt der Neuen Seidenstraße) oder politisch, vor allem durch die Manipulation von Krediten und die Missachtung des Wertgesetzes. Das bedeutet, dass es immer noch Phasen der Stabilisierung zwischen den wirtschaftlichen Erschütterungen mit immer schwerer wiegenden Folgen geben kann.
21. Die Rückkehr zu einer Art "Neo-Keynesianismus", die durch die enormen Ausgabenverpflichtungen der Biden-Administration und Initiativen zur Erhöhung der Unternehmenssteuern eingeleitet wurden – wenngleich auch motiviert durch die Notwendigkeit, die bürgerliche Gesellschaft zusammenzuhalten, und durch die ebenso dringende Notwendigkeit, sich den schärfer werdenden imperialistischen Spannungen zu stellen –, zeigt die Bereitschaft der herrschenden Klasse, mit verschiedenen Formen des Wirtschaftsmanagements zu experimentieren, nicht zuletzt, weil die Mängel der in den Thatcher-Reagan-Jahren eingeführten neoliberalen Politik unter dem Licht der Pandemiekrise stark zutage getreten sind. Allerdings können solche politischen Veränderungen die Weltwirtschaft nicht davor bewahren, zwischen den beiden Gefahren von Inflation und Deflation, neuen Kreditklemmen und Währungskrisen zu schwanken, die alle zu brutalen Rezessionen führen.
22. Die Arbeiterklasse zahlt einen hohen Preis für die Krise. Erstens, weil sie der Pandemie am unmittelbarsten ausgesetzt ist und die Hauptleidtragende der Ansteckungen ist, und zweitens, weil das Absacken der Wirtschaft die schwersten Angriffe seit der Großen Depression auf allen Ebenen der Arbeits- und Lebensbedingungen entfesselt, obgleich nicht alle Teile der Klasse auf die gleiche Art betroffen sein werden.
Die Vernichtung von Arbeitsplätzen war 2020 viermal so groß wie 2009, aber das volle Ausmaß des bevorstehenden massiven Anstiegs der Massenarbeitslosigkeit ist noch nicht bekannt. Obwohl die öffentlichen Subventionen, die in einigen Ländern an Teilarbeitslose ausgezahlt werden, den sozialen Schock abmildern sollen (in den Vereinigten Staaten zum Beispiel ist das Durchschnittseinkommen der Lohnempfänger im ersten Jahr der Pandemie laut offizieller Statistik sogar gestiegen – zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus während einer Rezession –, werden Millionen von Arbeitsplätzen sehr bald verschwinden.
Die exponentielle Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und die allgemeine Senkung der Löhne werden zu einem gigantischen Anstieg der Verarmung führen, von der viele Arbeiter bereits betroffen sind. Die Zahl der Hungeropfer in der Welt hat sich verdoppelt und in den westlichen Ländern gibt es wieder Hunger.
Diejenigen, die noch einen Job haben, müssen mit einer höheren Arbeitsbelastung und einer verschärften Ausbeutungsrate rechnen.
Von den Bemühungen der Bourgeoisie, die wirtschaftliche Situation zu "normalisieren", hat die Arbeiterklasse nichts anderes zu erwarten als Entlassungen und Lohnkürzungen, verschärftem Stress und Angst, drastische Erhöhungen der Sparmaßnahmen auf allen Ebenen, im Bildungswesen sowie bei den Gesundheitsrenten und Sozialleistungen. Kurzum, wir werden eine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf einem Niveau erleben, das keine der Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg bisher erlebt hat.
23. Da die kapitalistische Produktionsweise in ihre Dekadenz eingetreten ist, wächst der Druck, diesen Niedergang mit staatskapitalistischen Maßnahmen zu bekämpfen. Die Tendenz zur Stärkung der staatskapitalistischen Organe und Formen ist jedoch alles andere als eine Stärkung des Kapitalismus; im Gegenteil, sie sind Ausdruck der zunehmenden Widersprüche auf wirtschaftlicher und politischer Ebene. Mit der Beschleunigung des Zerfalls im Gefolge der Pandemie erleben wir auch eine starke Zunahme der staatskapitalistischen Maßnahmen. Diese sind nicht Ausdruck einer größeren staatlichen Kontrolle über die Gesellschaft, sondern vielmehr Ausdruck der wachsenden Schwierigkeiten, die Gesellschaft als Ganzes zu organisieren und ihre zunehmende Tendenz zur Fragmentierung zu verhindern.
24. Die IKS erkannte Anfang der 90er Jahre, dass der Zusammenbruch des Ostblocks und die endgültige Eröffnung der Zerfallsphase dem Proletariat wachsende Schwierigkeiten bereiten würden: Der Mangel an politischer Perspektive, der schon in den 80er Jahren ein zentrales Element der Schwierigkeiten der Klassenbewegung war, wurde durch die ohrenbetäubenden Kampagnen über den Tod des Kommunismus ernsthaft verschärft; in Verbindung damit wurde das Klassenbewusstsein des Proletariats in der neuen Periode stark geschwächt, sowohl durch die atomisierenden und spaltenden Auswirkungen des gesellschaftlichen Zerfalls als auch durch die bewussten Bemühungen der herrschenden Klasse, diese Auswirkungen durch ideologische Kampagnen (das "Ende der Arbeiterklasse") und die "materiellen" Veränderungen, die durch die Politik der Globalisierung herbeigeführt wurden (Auflösung traditioneller Zentren des Klassenkampfes, Verlagerung von Industrien in Regionen der Welt, in denen die Arbeiterklasse nicht den gleichen Grad an historischer Erfahrung hatte usw.), zu verschärfen.
25. Die IKS neigte dazu, die Tiefe und Dauer dieses Rückzugs im Klassenkampf zu unterschätzen und sah oft Anzeichen dafür, dass der Rückfluss kurz vor der Überwindung stünde und wir bald darauf neue internationale Wellen des Kampfes wie in der Periode nach 1968 erleben würden. Im Jahr 2003 sagte die IKS auf der Grundlage neuer Kämpfe in Frankreich, Österreich und anderswo eine Wiederbelebung der Kämpfe durch eine neue Generation von Proletariern voraus, die weniger von den antikommunistischen Kampagnen beeinflusst worden waren und einer zunehmend unsicheren Zukunft gegenüberstehen würden. In hohem Maße wurden diese Vorhersagen durch die Ereignisse von 2006-2007, insbesondere den Kampf gegen den CPE in Frankreich, und von 2010-2011, insbesondere durch die Indignados-Bewegung in Spanien, bestätigt. Diese Bewegungen zeigten Fortschritte auf der Ebene der Solidarität zwischen den Generationen, der Selbstorganisation durch Versammlungen, der Diskussionskultur, der wirklichen Sorge um die Zukunft der Arbeiterklasse und der Menschheit als Ganzer. In diesem Sinne zeigten sie das Potenzial für eine Vereinigung der wirtschaftlichen und politischen Dimensionen des Klassenkampfes. Es dauerte jedoch lange, bis wir die immensen Schwierigkeiten verstanden, mit denen diese neue Generation konfrontiert war, die unter den Bedingungen der Zerfallserscheinungen "aufgewachsen" war, Schwierigkeiten, die das Proletariat daran hinderten, den Rückzug nach 1989 in dieser Zeit umzukehren.
26. Ein Schlüsselelement in diesen Schwierigkeiten war die fortgesetzte Erosion der Klassenidentität. Dies hatte sich bereits in den Kämpfen von 2010/11 gezeigt, insbesondere in der Bewegung in Spanien: Trotz der wichtigen Fortschritte, die auf der Ebene des Bewusstseins und der Organisation gemacht wurden, sah sich die Mehrheit der Indignados eher als "Bürger*innen" denn als Teil einer Klasse, was sie anfällig für die demokratischen Illusionen machte, mit denen Leute wie Democracia Real (der späteren Podemos) hausieren gingen, und später für das Gift des katalanischen und spanischen Nationalismus. In den nächsten Jahren wurde der Rückfluss, der dieser Bewegungen folgte, durch den raschen Aufstieg des Populismus vertieft, der neue Spaltungen in der internationalen Arbeiterklasse schuf – Spaltungen, die nationale und ethnische Gräben ausschlachtete, angeheizt durch die pogromistischen Einstellungen der populistischen Rechten, aber auch politische Spaltungen zwischen Populismus und Anti-Populismus. Überall auf der Welt wuchsen Wut und Unzufriedenheit, die auf ernsthafter materieller Entbehrung und echten Zukunftsängsten beruhten; aber in Ermangelung einer proletarischen Antwort wurde ein Großteil davon in klassenübergreifende Revolten wie die Gelbwesten in Frankreich kanalisiert, in Kampagnen zu einzelnen Themen auf dem bürgerlichen Terrain wie die Klimaproteste, in Bewegungen für Demokratie gegen Diktatur (Hongkong, Weißrussland, Myanmar usw.) oder in das unentwirrbare Geflecht rassischer und sexueller Identitätspolitik, die dazu dienen, die entscheidende Frage der proletarischen Klassenidentität als einzige Grundlage für eine authentische Antwort auf die Krise der kapitalistischen Produktionsweise weiter zu verschleiern. Die Ausbreitung dieser Bewegungen – ob sie nun als klassenübergreifende Revolten oder offen bürgerliche Mobilisierungen auftreten – hat nicht nur für die Arbeiterklasse als Ganzes, sondern auch für die kommunistische Linke selbst, für die Organisationen, die die Verantwortung haben, das Klassenterrain zu definieren und zu verteidigen, erhebliche Schwierigkeiten geschaffen.
Ein deutliches Beispiel dafür war die Unfähigkeit der Bordigisten und der IKT zu erkennen, dass die durch den Polizistenmord an George Floyd im Mai 2020 provozierte Wut sofort in bürgerliche Kanäle umgeleitet wurde. Aber auch die IKS ist angesichts dieser oft verwirrenden Vielzahl von Bewegungen auf wichtige Probleme gestoßen und wird im Rahmen ihrer kritischen Bilanz auf die letzten 20 Jahre Art und Ausmaß der Fehler, die wir in der Zeit vom Arabischen Frühling 2011 über die sogenannten Kerzenscheinproteste in Südkorea bis zu diesen neueren Revolten und Mobilisierungen gemacht haben, ernsthaft untersuchen müssen.
27. Insbesondere die Pandemie hat der Arbeiterklasse erhebliche Schwierigkeiten bereitet:
- Die Mehrheit der Arbeiter*innen erkennt die Realität dieser Krankheit und die realen Gefahren, die durch das Zusammenkommen in großer Zahl entstehen, was die Möglichkeit von Vollversammlungen und Arbeiterdemonstrationen verhindert; das Proletariat ist nicht nur mit der Bourgeoisie konfrontiert, sondern auch und in einem unmittelbareren Sinne mit dem Virus. Im Allgemeinen sind Situationen, in denen Naturkatastrophen eine überragende Rolle spielen, für die Entwicklung des Klassenkampfes nicht förderlich. Die Empörung Voltaires gegen die Natur wegen des Erdbebens von Lissabon ließ sich nicht verallgemeinern. Im Gegensatz zum "sozialen Erdbeben" des Massenstreiks von 1905 in Russland brachte das Erdbeben von 1906 in San Francisco die Sache des Proletariats ebenso wenig voran wie das von 1923 in Tokio.
- Wie immer zögert die Bourgeoisie nicht, die Auswirkungen des Zerfalls gegen die Arbeiterklasse einzusetzen. Während die Lockdowns in erster Linie durch die Einsicht der Bourgeoisie motiviert waren, dass sie keine andere Möglichkeit hatte, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, wird sie sicherlich die Situation ausnutzen, um die Atomisierung und die Ausbeutung der Arbeiterklasse durchzusetzen, insbesondere durch das neue Modell des "Homeoffice". Dieser neue Schritt in der Atomisierung der arbeitenden Bevölkerung ist eine Quelle wachsenden psychologischen Leidens, besonders unter der Jugend (mit steigenden Suizidraten).
- Ebenso hat die herrschende Klasse die Bedingungen der Pandemie genutzt, um ihre Systeme der Massenüberwachung zu verstärken und neue repressive Gesetze einzuführen, die Proteste und Demonstrationen einschränken, neben zunehmend offener Polizeigewalt gegen alle Ausdrucksformen sozialer Unzufriedenheit.
- Der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit infolge der Kontakteinschränkungen wird weder in dieser Situation noch kurzfristig ein Faktor für die Vereinheitlichung der Arbeiterkämpfe sein, sondern eher die Atomisierung weiter verstärken.
- Obwohl die Lockdowns eine große soziale Unzufriedenheit hervorgerufen haben, hat diese, wenn sie sich offen geäußert hat wie in Spanien im Februar und in Deutschland im April 2021, überwiegend die Form von Protesten "für individuelle Freiheit" angenommen, die für die Arbeiterklasse eine totale Sackgasse sind.
- Ganz allgemein hat die Zeit der Pandemie einen weiteren Aufschwung der "Identitätspolitik" erlebt, in der die Unzufriedenheit mit dem Leben unter dem gegenwärtigen System in einen Strudel aufeinanderprallender Identitäten auf der Grundlage von Rasse, Geschlecht, Kultur usw. aufgesplittert wird, die eine große Bedrohung für die Wiederherstellung der einzigen Identität darstellen, die in der Lage ist, die gesamte Menschheit hinter sich zu vereinen und zu befreien: die proletarische Klassenidentität. Darüber hinaus verbirgt sich hinter diesem Chaos konkurrierender Identitäten, die die gesamte Bevölkerung durchdringen, der Wettbewerb zwischen verschiedenen bürgerlichen Fraktionen von rechts bis links, der die Gefahr in sich birgt, die Arbeiterklasse in neue Formen des reaktionären "Kulturkampfes" und sogar in einen gewaltsamen Bürgerkrieg zu zerren.
28. Trotz der enormen Probleme, vor denen das Proletariat steht, lehnen wir die Vorstellung ab, dass die Klasse bereits im Weltmaßstab besiegt sei oder kurz vor einer solchen Niederlage stehe, die mit der der Konterrevolution vergleichbar wäre, einer Niederlage, von der sich das Proletariat möglicherweise nicht mehr erholen könne. Das Proletariat als ausgebeutete Klasse kann nicht umhin, durch die Schule der Niederlagen zu gehen, aber die zentrale Frage ist, ob das Proletariat bereits so sehr vom unerbittlichen Vormarsch der Zerfallsphase überwältigt worden ist, dass sein revolutionäres Potenzial effektiv untergraben worden ist. Die Einschätzung einer solchen Niederlage in der Zerfallsphase ist eine weitaus komplexere Aufgabe als in der Periode vor dem Zweiten Weltkrieg, als sich das Proletariat offen gegen den Kapitalismus erhoben hatte und durch eine Reihe von schweren Niederlagen zerschlagen wurde, oder in der Periode nach 1968, als das Haupthindernis für den Vorstoß der Bourgeoisie in Richtung eines neuen Weltkriegs die Wiederaufnahme des Kampfes durch eine neue und unbesiegte Generation von Proletarisierten war. Wie wir bereits in Erinnerung gerufen haben, birgt die Zerfallsphase in der Tat die Gefahr, dass das Proletariat einfach nicht reagiert und über einen langen Zeitraum hinweg zermahlen wird – eher ein "Tod durch tausend Stiche" als eine frontale Klassenkonfrontation. Demgegenüber behaupten wir, dass es immer noch genügend Beweise gibt, die zeigen, dass trotz des unzweifelhaften "Voranschreitens" der Zerfallsphase, trotz der Tatsache, dass die Zeit nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse läuft, das Potential für eine tiefgreifende proletarische Wiederbelebung – die zu einer Wiedervereinigung zwischen der ökonomischen und der politischen Dimension des Klassenkampfes führt – nicht verschwunden ist. Das zeigt sich anhand:
- des Fortbestehens wichtiger proletarischer Bewegungen, die in der Zerfallsphase (2006-7, 2010-11, etc.) entstanden sind;
- des Umstandes, dass wir vor der Pandemie einige embryonale und sehr zerbrechliche Anzeichen für ein Wiederaufleben des Klassenkampfes sahen, insbesondere in Frankreich 2019. Und auch wenn diese Dynamik dann durch die Pandemie und die Lockdowns weitgehend blockiert wurde, gab es in mehreren Ländern auch während der Pandemie einige Arbeiterproteste, vor allem zu Fragen der Sicherheit, insbesondere der Hygiene, am Arbeitsplatz.
- Der kleinen, aber bedeutsamen Anzeichen einer unterirdischen Reifung des Bewusstseins, die sich in einem Versuch des globalen Nachdenkens über das Scheitern des Kapitalismus und der Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft in einigen Bewegungen zeigte (insbesondere in derjenigen der Indignados 2011), aber auch durch das Auftauchen von jungen Leuten, die nach Klassenpositionen suchen und sich dem Erbe der Kommunistischen Linken zuwenden.
- Noch wichtiger ist, dass die Situation, mit der die Arbeiterklasse konfrontiert ist, nicht mehr dieselbe ist wie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Beginn der Phase des Zerfalls im Jahr 1989. Damals war es möglich, diese Ereignisse als Beweis für den Tod des Kommunismus und den Sieg des Kapitalismus, für den Beginn einer strahlenden Zukunft für die Menschheit darzustellen. Dreißig Jahre Zerfallsphase haben diese ideologische Täuschung einer helleren Zukunft schwer untergraben, und insbesondere die Pandemie hat die Verantwortungslosigkeit und Fahrlässigkeit aller kapitalistischen Regierungen und die Realität einer von tiefen wirtschaftlichen Spaltungen zerrissenen Gesellschaft aufgedeckt, in der wir keineswegs "alle in einem Boot" sitzen. Im Gegenteil, die Pandemie und der Lockdown haben eher den Zustand der Arbeiterklasse offenbart, sowohl als Hauptopfer der Gesundheitskrise, aber auch als Quelle aller Arbeit und aller materieller Produktion, insbesondere zur Befriedigung der Grundbedürfnisse. Dies kann eine der Grundlagen für eine zukünftige Wiederherstellung der Klassenidentität sein. Und zusammen mit der wachsenden Einsicht, dass der Kapitalismus eine völlig überholte Produktionsweise ist, war dies bereits ein Element für das Auftreten der politisierten Minderheiten, deren Motivation vor allem darin bestand, die dramatische Situation der Menschheit zu verstehen.
- Auf einer breiteren historischen Ebene schließlich hat der Prozess des Zerfalls den assoziierten Charakter der Arbeit im Kapitalismus nicht beseitigt. Dies gilt trotz der durch den Zerfall hervorgerufenen gesellschaftlichen Atomisierung, trotz bewusster Versuche, die Arbeitskraft durch Strategien wie die "Gig Economy" zu fragmentieren, trotz ideologischer Kampagnen, die darauf abzielen, die besser ausgebildeten Teile des Proletariats als "Mittelschicht" darzustellen. Das Kapital mobilisiert weltweit immer mehr Arbeiter*innen, der Prozess der Proletarisierung und damit die Ausbeutung der lebendigen Arbeit geht unvermindert weiter. Die Arbeiterklasse ist heute größer und vernetzter denn je, aber mit dem Fortschreiten des Zerfalls verstärkt sich die soziale Atomisierung und Isolierung. Dies drückt sich auch in den Schwierigkeiten der Arbeiterklasse aus, ihre eigene Klassenidentität zu erfahren. Nur durch die Kämpfe der Arbeiterklasse auf ihrem eigenen Klassenterrain ist sie in der Lage, ihre "assoziierte" Macht zu schaffen, die eine Vorwegnahme der assoziierten Arbeit im Kommunismus ausdrückt. Die Arbeiter werden vom Kapital im Produktionsprozess zusammengeführt, die gemeinsame Arbeit wird unter Zwang realisiert, aber der revolutionäre Charakter des Proletariats bedeutet, diese Verhältnisse in einem kollektiven Kampf dialektisch umzukehren. Die Ausbeutung der gemeinsamen Arbeit wird ‚umgedreht‘ im Kampf gegen die Ausbeutung und für die Befreiung des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit, für eine Gesellschaft, die es versteht, das volle Potenzial der assoziierten Arbeit bewusst zu nutzen.
In diesem Sinne enthält der Abwehrkampf der Arbeiterklasse den Keim der qualitativ höheren gesellschaftlichen Beziehungen, die das Endziel des Klassenkampfes sind – das, was Marx die "frei assoziierten Produzenten" nannte. Durch die Assoziation, durch die Zusammenführung aller seiner Bestandteile, Fähigkeiten und Erfahrungen kann das Proletariat mächtig werden, kann es der immer bewusstere und geeintere Kämpfer für und Vorbote einer befreiten Menschheit werden.
29. Trotz der Tendenz, dass der Prozess des Zerfalls auf die Wirtschaftskrise reagiert, bleibt diese auch in der gegenwärtigen Phase der "Verbündete des Proletariats". Wie es die Thesen zum Zerfall ausdrücken: "Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das in letzter Instanz die Entwicklung der Weltlage bestimmt, bildet derselbe Faktor, der sich am Anfang der Entwicklung des Zerfalls befindet, den wesentlichen Ansporn für den Kampf und die Bewußtwerdung der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der gesellschaftlichen Fäulnis zu widerstehen. Denn auch wenn das Proletariat kein Terrain findet, um die Teilkämpfe gegen die Auswirkungen des Zerfalls zu vereinen, bildet sein Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise die Grundlage für die Weiterentwicklung seiner Klassenstärke und Einheit. (...) Dies ist so, weil:
- die ökonmischen Attacken (Lohnsenkungen, Entlassungen, Verschärfung der Arbeitshetze, etc.) im Gegensatz zu den Auswirkungen des Zerfalls (z.B. die Umweltverschmutzung, die Drogensucht, die Unsicherheit usw.), die relativ unterschiedslos alle Gesellschaftsschichten erfassen und einen günstigen Nährboden für klassenübergreifende Kampagnen und Mystifikationen bilden (wie Ökologie, Anti-AKW-Bewegungen, antirassistische Mobilisierungen usw.), direkt aus der Krise herrühren, die ganz spezifisch das Proletariat (das heißt, die Mehrwert produzierende und auf diesem Terrain das Kapital konfrontierende Klasse) betrifft;
- die Wirtschaftskrise im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zerfall, der hauptsächlich den Überbau betrifft, ein Phänomen ist, das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft selbst ergreift, auf denen dieser Überbau ruht; daher stellt die Krise die ultimativen Ursachen der gesamten Barbarei bloß, unter der die Gesellschaft leidet, und ermöglicht somit der Arbeiterklasse, sich der Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung dieses Systems bewußt zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern." (These 17)
30. Folglich müssen wir jede Tendenz zurückweisen, die Bedeutung der "defensiven", ökonomischen Kämpfe der Klasse herunterzuspielen, was ein typischer Ausdruck der modernistischen Anschauung ist, die die Klasse nur als eine ausgebeutete Kategorie und nicht gleichermaßen als historische, revolutionäre Kraft sieht. Es ist natürlich richtig, dass der ökonomische Kampf allein die Folgen der Verwesung nicht aufhalten kann: Wie es in den Thesen zum Zerfall heißt: "Um der Bedrohung ein Ende zu machen, die der Zerfall darstellt, reicht der Widerstand der Arbeiter gegen die Folgen der Krise nicht mehr aus: allein die kommunistische Revolution kann solch einer Gefahr beikommen." Aber es ist ein großer Fehler, die ständige, dialektische Wechselwirkung zwischen den ökonomischen und politischen Aspekten des Kampfes aus den Augen zu verlieren, wie Rosa Luxemburg in ihrer Arbeit über den Massenstreik von 1905 betonte; und wiederum in der Hitze der deutschen Revolution von 1918/19, als die "politische" Dimension offen zutage trat, bestand sie darauf, dass das Proletariat immer noch seine ökonomischen Kämpfe als einzige Grundlage für die Organisierung und Vereinigung als Klasse entwickeln müsse. Es wird die Kombination eines erneuerten Verteidigungskampfes auf einem Klassenterrain sein, der auf die objektiven Grenzen der sich zersetzenden bürgerlichen Gesellschaft stößt und durch die Intervention der revolutionären Minderheit befruchtet wird, die es der Arbeiterklasse ermöglichen wird, eine notwendige umfassende proletarische Politisierung zu erreichen – um ihre revolutionäre Perspektive wiederzuerlangen und die Menschheit aus dem Albtraum des sich zersetzenden Kapitalismus herauszuführen.
31. In einer ersten Phase wird die Wiederentdeckung der Klassenidentität und der Kampfbereitschaft der Klasse eine Form des Widerstands gegen die zersetzenden Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls darstellen – ein Bollwerk gegen die weitere Zersplitterung und Spaltung der Arbeiterklasse ihrer selbst. Ohne die Entwicklung des Klassenkampfes neigen solche Phänomene wie die Zerstörung der Umwelt und die Ausbreitung des militärischen Chaos dazu, Gefühle der Ohnmacht und den Rückgriff auf falsche Lösungen wie Ökologismus und Pazifismus zu verstärken. Aber in einem weiter entwickelten Stadium des Kampfes, wenn eine revolutionäre Situation herangereift ist, kann die Realität dieser Bedrohungen für das Überleben der Spezies zu einem Faktor der Einsicht werden, dass der Kapitalismus tatsächlich die Endphase seines Niedergangs erreicht hat und dass die Revolution der einzige Ausweg ist. Insbesondere die Kriegstreiberei des Kapitalismus – vor allem, wenn die Großmächte direkt oder indirekt daran beteiligt sind – kann ein wichtiger Faktor für die Politisierung des Klassenkampfes sein, da sie sowohl eine sehr konkrete Zunahme der Ausbeutung und der physischen Gefahr mit sich bringt als auch eine weitere Bestätigung dafür, dass die Gesellschaft vor der folgenschweren Wahl zwischen Sozialismus und Barbarei steht. Aus Faktoren der Demobilisierung und Verzweiflung können diese Bedrohungen die Entschlossenheit des Proletariats stärken, dieses sterbende System zu beseitigen.
"Auch kann das Proletariat in der Zukunft nicht darauf hoffen, die Schwächung, die der Zerfall in der Bourgeoisie selbst bewirkt, zu seinen Gunsten auszunutzen. In dieser Periode muß es sein Ziel sein, den schädlichen Auswirkungen des Zerfalls in seinen eigenen Reihen zu trotzen, indem es nur auf seine eigenen Kräfte zählt, auf seine Fähigkeit baut, sich kollektiv und solidarisch für die Verteidigung seiner Interessen als ausgebeutete Klasse einzusetzen (selbst wenn die Propaganda der Revolutionäre ständig die Gefahren des Zerfalls unterstreichen muß). Nur in der vorrevolutionären Periode, d.h. wenn das Proletariat zur Offensive übergegangen ist, wenn es sich direkt und offen im Kampf für seine eigenen historische Perspektive engagiert, kann es bestimmte Effekte des Zerfalls, insbesondere den Zerfall der bürgerlichen Ideologie und der Kräfte der kapitalistischen Macht, als Hebel benutzen und gegen das Kapital wenden." (Thesen zum Zerfall)
In gewisser Weise "befindet sich die Kommunistische Linke heute in einer ähnlichen Situation wie in den 1930er Jahren, in dem Sinne, dass sie gezwungen ist, eine neue und beispiellose historische Situation zu verstehen." (Resolution zur Internationalen Lage [75], 13. Kongress der IKS, International Review Nr. 97 (engl./frz./span. Ausgabe), 1999)
Diese Beobachtung, zutreffender denn je, würde intensive Debatten zwischen den Organisationen des proletarischen politischen Milieus erfordern, um die Bedeutung der Covid-19-Krise in der Geschichte des Kapitalismus und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu analysieren. Angesichts der rasanten Entwicklung der Ereignisse wirken die Gruppen des proletarischen politischen Milieus jedoch völlig hilflos und entwaffnet: Statt die marxistische Methode als lebendige Theorie zu begreifen, reduzieren sie sie auf ein invariantes Dogma, in dem der Klassenkampf als unveränderliche Wiederholung ewig gültiger Schemata gesehen wird, ohne zeigen zu können, was nicht nur fortbesteht, sondern sich auch verändert hat. So ignorieren die bordigistischen oder rätistischen Gruppen hartnäckig den Eintritt des Systems in seine Phase der Dekadenz. Auf der anderen Seite lehnt die Internationale Kommunistische Tendenz (IKT) die Zerfallsphase als katastrophistische Sichtweise ab und beschränkt ihren Erklärungswert auf die Binsenweisheit, dass der Profit für die Pandemie verantwortlich sei, und die illusorische Vorstellung, dass diese nur ein anekdotisches Ereignis, eine Zwischenstation, in den Angriffen der Bourgeoisie zur Maximierung ihrer Profite sei. Diese Gruppen des proletarischen politischen Milieus begnügen sich damit, die Schemata der Vergangenheit zu wiederholen, ohne die spezifischen Umstände, den Zeitpunkt und die Auswirkungen der Pandemie zu analysieren. Infolgedessen ist ihr Beitrag zur Beurteilung des Kräfteverhältnisses zwischen den beiden antagonistischen Klassen in der Gesellschaft, der Gefahren oder Chancen für die Klasse und ihre Minderheiten sehr dürftig.
Ein dezidiert marxistischer Ansatz ist umso notwendiger, als das Misstrauen gegenüber dem offiziellen Diskurs derzeit zum Aufkommen zahlreicher trügerischer und fantastischer "alternativer Erklärungen" der Ereignisse führt. Verschwörungstheorien, eine fantasievoller als die andere, tauchen auf und werden von Millionen von Anhängern geteilt: Die Pandemie und heute die massenhafte Impfung seien Machenschaften der Chinesen, um ihre Vorherrschaft zu sichern, ein Komplott der Weltbourgeoisie zur Kriegsvorbereitung oder zur Umstrukturierung der Weltwirtschaft, eine Übernahme durch eine geheime Internationale der Virologen oder eine nebulöse Weltverschwörung der Eliten (unter der Leitung von Soros oder Gates), ... Diese allgemeine Atmosphäre verursacht sogar eine Desorientierung des politischen Milieus, einen regelrechten "Corona-Blues".
Für die IKS ist der Marxismus „eine lebendige Gedankenwelt, für die jedes bedeutsame historische Ereignis eine Gelegenheit zur Bereicherung darstellt. (…) Die revolutionären Organisationen und Militanten tragen die besondere und fundamentale Verantwortung, dieses Bemühen um einen Denkprozeß mit Herzblut auszuführen und, wie unsere Ahnen Lenin, Luxemburg, die Italienische Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken (BILAN), die Kommunistische Linke Frankreichs usw., gleichzeitig vorsichtig und kühn vorwärtszuschreiten:
indem sie sich fest auf die Errungenschaften der marxistischen Grundlagen stützen,
indem sie die Wirklichkeit ohne Scheuklappen untersuchen und indem sie die Gedankenwelt "ohne Verbote und ohne Ächtung" (BILAN) zur Entfaltung verhelfen.
Angesichts solcher historischen Ereignisse ist es besonders wichtig, daß die Revolutionäre in der Lage sind, die veralteten von den nach wie vor gültigen Analysen unterscheiden, um eine doppelte Klippe zu umschiffen: entweder sich in seiner Verknöcherung einzuschließen oder "das Kind mit dem Bade auszuschütten".“ (Orientierungstext: Militarismus und Zerfall [76], Internationale Revue Nr. 13, 1991)
Deshalb zwang die Covid-19-Krise die IKS, die herausragenden Elemente dieses wichtigen Ereignisses in den Rahmen des Zerfalls zu setzen, den die Organisation vor mehr als 30 Jahren zum Verständnis der Entwicklung des Kapitalismus entwickelt hatte. Dieser Rahmen wird in der Resolution zur internationalen Lage [77] des 23. Internationalen Kongresses der IKS (2019) deutlich in Erinnerung gerufen: „Vor dreißig Jahren betonte die IKS die Tatsache, dass das kapitalistische System in die letzte Phase seiner Dekadenzzeit, die seines Zerfalls eingetreten war. Diese Analyse basierte auf einer Reihe von empirischen Fakten, bot aber gleichzeitig einen Rahmen für das Verständnis dieser Fakten: „Doch die Geschichte bleibt in solch einer Situation, in der die beiden fundamentalen - und antagonistischen - Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne ihre eigene Antwort durchsetzen zu können, nicht stehen. Noch weniger als in den anderen vorhergehenden Produktionsweisen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein ‘Einfrieren’ des gesellschaftlichen Lebens möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich noch weiter zuspitzen, führen die Unfähigkeit der Bourgeoisie, der gesamten Gesellschaft irgendeine Perspektive anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, die seinige offen zu behaupten, zum Phänomen des allgemeinen Zerfalls, zur Fäulnis der Gesellschaft bei lebendigem Leib.“ (Der Zerfall, die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [9], Punkt 4, Internationale Revue Nr. 13, 1991).
Unsere Analyse hat die beiden Bedeutungen des Begriffs „Zerfall“ sorgfältig geklärt; einerseits gilt er für ein Phänomen, das die Gesellschaft betrifft, insbesondere in der Zeit der Dekadenz des Kapitalismus, und andererseits bezeichnet er eine bestimmte historische Phase dieser Phase, ihre Endphase: „(...) so ist es auch unverzichtbar, den grundlegenden Unterschied zwischen den Zerfallselementen, die den Kapitalismus seit Anfang des Jahrhunderts erfaßt haben, und dem allgemeinen Zerfall herauszustellen, in den dieses System gegenwärtig versinkt und der sich noch verschlimmern wird. Neben dem streng quantitativen Aspekt erreicht das Phänomen des gesellschaftlichen Zerfalls heute solch ein Ausmaß und solch eine Tiefe, daß eine neue und einzigartige Qualität erlangt wird, die den Eintritt des Kapitalismus in eine besondere Phase, in die ultimative Phase seiner Geschichte manifestiert, eine Phase, in welcher der Zerfall ein, wenn nicht gar der entscheidende Entwicklungsfaktor der Gesellschaft sein wird.“ (ebenda Punkt 2)
Vor allem dieser letzte Punkt, die Tatsache, dass der Zerfall tendenziell zum entscheidenden Faktor für die Entwicklung der Gesellschaft und damit aller Komponenten der Weltsituation wird – eine Idee, die von den anderen Gruppen der Kommunistischen Linken keineswegs geteilt wird –, bildet den Schwerpunkt dieser Resolution.“ (Resolution zur internationalen Lage [77], 23. Kongress der IKS, Internationale Revue Nr. 56). In diesem Zusammenhang ist es das Ziel dieses Berichts, die Auswirkungen der Covid-19-Krise auf die Vertiefung der Widersprüche innerhalb des kapitalistischen Systems und die Auswirkungen derselben auf die Vertiefung der Phase des Zerfalls zu bewerten.
1. Die Covid-19 Krise offenbart die Tiefe der Fäulnis des Kapitalismus
Die Pandemie wütet im Herzen des Kapitalismus: Eine erste, eine zweite, schließlich eine dritte Infektionswelle überrollt die Welt und insbesondere die Industrieländer; die Versorgung in den Krankenhäusern droht zusammenzubrechen und man ist gezwungen, immer wieder mehr oder weniger radikale Kontaktbeschränkungen zu verhängen. Nach einem Jahr Pandemie lauten die offiziellen Zahlen, die in vielen Ländern weitgehend unterschätzt werden, mehr als 500.000 Todesfälle in den USA und mehr als 650.000 in der Europäischen Union und Lateinamerika.
In den letzten zwölf Monaten haben sich die Bourgeoisien, nicht nur der peripheren Länder, sondern vor allem der Hauptindustrieländer, trotz dieser Produktionsweise mit ihren unbegrenzten wissenschaftlichen und technologischen Kapazitäten als unfähig erwiesen:
- die Ausdehnung der Pandemie zu verhindern, dann ihren Wiederausbruch durch eine zweite, dritte, .... Welle;
- eine Überforderung der Krankenhäuser zu vermeiden, wie in Italien, Spanien, aber auch in Großbritannien und den USA;
- Techniken und Instrumente zu entwickeln, um die verschiedenen Wellen zu kontrollieren und einzudämmen;
- die Suche nach einem Impfstoff zu koordinieren und zu zentralisieren und eine geplante und gut durchdachte Produktions-, Verteilungs- und Impfpolitik für den gesamten Planeten aufzustellen.
Stattdessen haben sie um die Ergreifung inkohärenter und chaotischer Maßnahmen konkurriert und in ihrer Verzweiflung auf Maßnahmen aus den dunkelsten Zeiten der Geschichte zurückgegriffen, wie Kontaktbeschränkungen, Quarantäne oder Ausgangssperren. Sie verurteilten Hunderttausende von Menschen zum Tode, indem man sich auf die Covid-Patienten für die Aufnahme in überfüllte Krankenhäuser konzentrierte und die Behandlung anderer schwerer Krankheiten aufschob.
Der katastrophale Verlauf der Pandemie ist grundlegend mit dem unerbittlichen Druck der historischen Krise der kapitalistischen Produktionsweise verbunden. Die Auswirkungen der Sparmaßnahmen, die sich seit der Rezession von 2007-2011 noch verschärft haben, der rücksichtslose wirtschaftliche Wettbewerb zwischen den Staaten und die Priorität, die insbesondere in den Industrieländern der Aufrechterhaltung der Produktionskapazitäten zu Lasten der Gesundheit der Menschen im Namen des Primats der Wirtschaft eingeräumt wird, haben das Ausmaß der Pandemie begünstigt und stellen ein dauerhaftes Hindernis für ihre Eindämmung dar. Diese Pandemie ist nicht das Produkt des Schicksals oder der Unzulänglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse oder gesundheitlicher Mittel (wie es in früheren Produktionsweisen der Fall gewesen sein mag); sie kommt auch nicht wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, noch stellt sie eine vorübergehende Erscheinung dar. Sie drückt die grundsätzliche Ohnmacht der untergehenden kapitalistischen Produktionsweise aus, die über die Fahrlässigkeit dieser oder jener Regierung hinausgeht, sondern im Gegenteil auf die Blockierung und Fäulnis der gesamten bürgerlichen Gesellschaft hinweist. Und vor allem zeigt es das Ausmaß dieses seit 30 Jahren andauernden Zerfalls.
1.1. Sein Auftauchen wirft ein Schlaglicht auf 30 Jahre des Zerfalls.
Die Covid-19-Krise ist nicht aus dem Nichts entstanden; sie ist sowohl Ausdruck als auch Ergebnis einer 30-jährigen Zerfallsphase, die eine Tendenz zur Vervielfachung, Vertiefung und immer deutlicheren Konvergenz der verschiedenen Erscheinungsformen des Zerfalls verdeutlicht.
(a) Die Wichtigkeit und Bedeutung der Zerfallsdynamik wurde von der IKS bereits Ende der 80er Jahre analysiert: „Während die Bourgeoisie kein freies Spiel hat, um ihre „Lösung“ durchzusetzen, den generalisierten imperialistischen Krieg, und der Klassenkampf nicht ausreichend entwickelt ist, um eine revolutionäre Perspektive zu verdeutlichen, versinkt der Kapitalismus noch stärker in der Dynamik des Zerfalls, dem Verfaulen am lebendigen Leib, was sich auf allen Ebenen seiner Existenz äußert:
- Verschlechterung der internationalen Beziehungen zwischen den Staaten, was sich durch das Aufblühen des Terrorismus ausdrückt;
- immer wieder technologische und sogenannte Naturkatastrophen;
- Zerstörung der ökologischen Umwelt;
- Hungersnöte, Epidemien, Ausdruck der absoluten Verarmung, die immer mehr um sich greift;
- Explosion der "Nationalitätenkonflikte";
- das Leben der Gesellschaft wird geprägt durch die Zunahme der Kriminalität, der Selbstmorde, des Wahnsinns, individuelle Atomisierung;
- ideologischer Zerfall, gekennzeichnet unter anderem durch die Entwicklung des Mystizismus, des Nihilismus, der Ideologie des "Jeder für sich" usw.“ (Resolution zur Internationalen Lage, 8. Kongress der IKS, 1989, Internationale Revue Nr. 11)
(b) Die Implosion des Sowjetblocks markiert eine spektakuläre Beschleunigung des Prozesses, trotz der Kampagnen, die dies vertuschen wollen. Der Zusammenbruch einer der beiden sich gegenüberstehenden imperialistischen Blöcke von innen heraus, ohne dass dies das Produkt entweder eines Weltkrieges zwischen den Blöcken oder der proletarischen Offensive gewesen wäre, kann nur als ein wesentlicher Ausdruck des Eintritts in die Phase des Zerfalls verstanden werden. Die sich in dieser Implosion manifestierenden Tendenzen des Kontrollverlustes und der Verschärfung des "Jeder für sich" wurden jedoch weitgehend kaschiert und zunächst durch die Wiederbelebung des Ansehens der "Demokratie" aufgrund ihres "Sieges über den Kommunismus" (Kampagnen über den Tod des Kommunismus und die Überlegenheit der demokratischen Regierungsform) konterkariert; dann durch den 1. Golfkrieg (1991), der im Namen der Vereinten Nationen gegen Saddam Hussein geführt wurde und der es Bush Senior ermöglichte, eine "internationale Staatenkoalition" unter Führung der USA durchzusetzen und damit die Tendenz zum Alleingang zu bremsen. Schließlich durch die Tatsache, dass der wirtschaftliche Zusammenbruch infolge der Implosion des Ostblocks nur die ehemaligen Länder des russischen Blocks, einen besonders rückständigen Teil des Kapitalismus, betraf und die Industrieländer weitgehend verschonte.
(c) Zu Beginn des 21. Jahrhunderts äußert sich die Ausbreitung des Zerfalls vor allem in der Explosion des „Jeder für sich“ und des Chaos auf der imperialistischen Ebene. Der Angriff auf die New Yorker Zwillingstürme und das Pentagon durch Al-Qaida am 11. September 2001 und die einseitige militärische Antwort der Bush-Administration öffneten die "Büchse der Pandora" der Zerfallserscheinungen: Mit dem Angriff und der Invasion des Irak im Jahr 2003 unter Missachtung internationaler Konventionen oder Organisationen und ohne die Meinung ihrer wichtigsten "Verbündeten" zu berücksichtigen, wurde die führende Weltmacht vom Polizisten der Weltordnung zur Haupttriebkraft des „Jeder für sich“ und des Chaos. Die Besetzung des Irak, gefolgt vom Bürgerkrieg in Syrien (2011), verschärften die imperialistische Jeder-für-sich-Haltung nicht nur im Nahen Osten, sondern in der ganzen Welt gewaltig. Sie verschärften auch den Trend einer sich abschwächenden Führungsrolle der USA, während Russland wieder Punkte gewonnen hat, insbesondere durch eine "störende", aufwühlende imperialistische Rolle in Syrien, und China als Herausforderer der Supermacht USA rasch aufsteigt.
(d) In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts steht das quantitative und qualitative Wachstum des Terrorismus, begünstigt durch die Ausbreitung von Chaos und kriegerischer Barbarei in der Welt, als Instrument des Krieges zwischen Staaten im Mittelpunkt. Das hat zur Bildung eines neuen Staates geführt, des "Islamischen Staates" (IS), mit Armee, Polizei, Verwaltung, Schulen, für den der Terrorismus die Waffe der Wahl ist und der eine Welle von Selbstmordattentaten im Nahen Osten, aber auch in den Metropolen der Industrieländer entfesselt hat. „Die Gründung des IS in den Jahren 2013-14 und die Angriffe in Frankreich in den Jahren 2015-16, Belgien und Deutschland im Jahr 2016 stellen einen weiteren Schritt in diesem Prozess dar.“ (Bericht über den Zerfall heute [78], 22. Kongress der IKS, 2017, veröffentlicht in Internationale Revue Nr. 56). Diese Ausbreitung dieses "Kamikaze-Terrorismus“ geht Hand in Hand mit dem Anstieg des irrationalen und fanatischen religiösen Radikalismus auf der ganzen Welt, vom Nahen Osten bis Brasilien, von den USA bis Indien.
(e) 2016-17 zeigen das Brexit-Referendum in Großbritannien und der Aufstieg von Trump in den USA den populistischen Tsunami als besonders markante neue Erscheinungsform des sich vertiefenden Zerfalls. „Der Aufstieg des Populismus ist unter den gegenwärtigen Umständen Ausdruck des zunehmenden Kontrollverlustes der Bourgeoisie über das Funktionieren der Gesellschaft, der sich im Wesentlichen daraus ergibt, was im Kern ihres Zerfalls liegt, der Unfähigkeit der beiden grundlegenden Klassen der Gesellschaft, eine Antwort auf die unlösbare Krise zu geben, in die die kapitalistische Wirtschaft versinkt. Mit anderen Worten, der Zerfall ist im Wesentlichen das Ergebnis der Ohnmacht der herrschenden Klasse, einer Ohnmacht, die in ihrer Unfähigkeit verwurzelt ist, diese Krise in der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden, und die zunehmend dazu neigt, ihren politischen Apparat zu beeinflussen.
Zu den aktuellen Ursachen der populistischen Welle gehören die Hauptmanifestationen des sozialen Zerfalls: der Anstieg von Verzweiflung, Nihilismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, verbunden mit einer wachsenden Ablehnung der „Eliten“ (die „Reichen“, Politiker, Technokraten) und in einer Situation, in der die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, selbst auf embryonale Weise eine Alternative anzubieten.“ (Resolution zur internationalen Lage: imperialistische Spannungen, Leben der Bourgeoisie, Wirtschaftskrise [77], 23. Kongress der IKS, Punkt 4, Internationale Revue Nr. 56) Während diese populistische Welle vor allem die Bourgeoisien der Industrieländer betrifft, so manifestiert sie sich auch in anderen Regionen der Welt in Form der Machtübernahme starker und "charismatischer" Führer (Orban, Bolsonaro, Erdogan, Modi, Duterte, ...) oft mit der Unterstützung von Sekten oder extremistischen Bewegungen religiöser Inspiration (evangelikale Kirchen in Lateinamerika oder in Afrika, Muslimbruderschaft in der Türkei, hinduistische rassistische Identitätsbewegungen im Fall von Modi).
Die Zerfallsphase hat bereits eine 30-jährige Geschichte und der kurze Überblick zeigt, wie sich die Fäulnis des Kapitalismus durch Phänomene ausgebreitet und vertieft hat, die nach und nach immer mehr Aspekte der Gesellschaft erfasst haben und die die Zutaten bilden, die den explosiven Charakter der weltweiten Covid-19 Krise hervorgerufen haben. Es stimmt, dass die Entwicklung dieser Phänomene in den letzten 30 Jahren nicht kontinuierlich war, aber sie fand auf verschiedenen Ebenen statt (ökologische Krise, das imperialistische „Jeder für sich“, Zersplitterung der Staaten, Terrorismus, soziale Unruhen, Verlust der Kontrolle über den politischen Apparat, ideologischer Verfall) und untergrub zunehmend die Versuche des Staatskapitalismus, dieser Dynamik entgegenzuwirken und einen gewissen gemeinsamen Rahmen aufrechtzuerhalten. Doch während die verschiedenen Phänomene eine beachtliche Intensität erreichten, erschienen sie bis dahin als „eine Vermehrung von Symptomen welche ohne offensichtlichen Zusammenhang erschienen war. Dies im Gegensatz zu früheren Perioden kapitalistischer Dekadenz, die von so offensichtlichen Meilensteinen wie dem Weltkrieg oder der proletarischen Revolution definiert und beherrscht wurden.“ (Bericht über die Covid-Pandemie und die Periode des kapitalistischen Zerfalls [79], Juli 2020) Es ist gerade die Bedeutung der Covid-19-Krise, dass sie, wie die Implosion des Ostblocks, in hohem Maße bezeichnend für die Phase der Zersetzung ist, indem sie alle Faktoren der Fäulnis des Systems in sich bündelt und anhäuft.
1.2. Seine Wirkung ergibt sich aus dem Zusammenspiel der von ihm geförderten Zerfallserscheinungen
So, wie es die verschiedenen Erscheinungsformen der Dekadenz (Weltkriege, allgemeine Wirtschaftskrisen, Militarismus, Faschismus und Stalinismus, usw.) gibt, so auch eine Häufung von Erscheinungsformen der Zerfallsphase. Das Ausmaß der Auswirkungen der Covid-19-Krise erklärt sich nicht nur aus dieser Akkumulation, sondern auch aus dem Zusammentreffen der ökologischen, gesundheitlichen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Zerfallserscheinungen in einer noch nie dagewesenen Spirale, die zu einem tendenziellen Kontrollverlust über immer mehr Aspekte der Gesellschaft und zu einem Ausbruch irrationaler Ideologien geführt hat, die für die Zukunft der Menschheit äußerst gefährlich sind.
(a) Covid-19 und Zerstörung der Natur
Die Pandemie ist eindeutig Ausdruck des Bruchs im Verhältnis zwischen Mensch und Natur, der mit der Dekadenz des Systems und insbesondere mit der letzten Phase dieser Dekadenz, dem Zerfall, genauer gesagt mit dem unkontrollierten Wachstum der Städte und der Konzentration (Ausbreitung übervölkerter Elendsviertel) in den Randgebieten des Kapitalismus, der Abholzung der Wälder und dem Klimawandel eine Intensität und eine weltweite Dimension erreicht hat, die zuvor nie erreicht wurde. So wies im Fall von Covid-19 eine aktuelle Studie von Forschern der Universitäten Cambridge und Hawaii sowie des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (in der Zeitschrift Science of the Total Environment) darauf hin, dass der Klimawandel in Südchina im vergangenen Jahrhundert die Konzentration von Fledermausarten, die Träger von Tausenden von Coronaviren sind, in der Region begünstigt und die Übertragung von SARS-CoV-2, wahrscheinlich über das Schuppentier, auf den Menschen ermöglicht hat1.
Seit Jahrzehnten führt die unwiederbringliche Zerstörung der Natur zu einer wachsenden Gefahr von Umwelt- und Gesundheitskatastrophen, wie die SARS-, H1N1- und Ebola-Epidemien zeigen, die glücklicherweise nicht zu Pandemien wurden. Doch obwohl der Kapitalismus über die technologische Stärke verfügt, Menschen auf den Mond zu schicken und monströse Waffen zu produzieren, die den Planeten dutzendfach zerstören können, war er nicht in der Lage, die Mittel zur Verfügung zu stellen, um die ökologischen und gesundheitlichen Probleme zu beheben, die zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie führten. Der Mensch wird zunehmend von seinem "organischen Körper" (Marx) getrennt, und der gesellschaftliche Zerfall verstärkt diese Tendenz.
(b) Covid-19 und wirtschaftliche Rezession
Gleichzeitig haben Spar- und Umstrukturierungsmaßnahmen in der Forschung und im Gesundheitssystem, die seit der Rezession 2007-2011 verstärkt wurden, die Krankenhauskapazitäten reduziert und die Forschung zu Covid-Viren verlangsamt, wenn nicht sogar gestoppt, obwohl frühere Epidemien Warnzeichen für ihre Gefährlichkeit waren. Andererseits war es während der Pandemie das primäre Ziel der Industrieländer, die Produktionskapazitäten so lange wie möglich aufrechtzuerhalten (und auch Kindertagesstätten, Kindergärten und Grundschulen, damit die Eltern zur Arbeit gehen konnten), wohl wissend, dass Unternehmen und Schulen trotz der getroffenen Maßnahmen (Tragen einer Maske, Abstand halten usw.) eine nicht zu vernachlässigende Quelle der Ansteckung darstellen. Insbesondere während der Kontaktbeschränkungen im Sommer 2020 spielte die Bourgeoisie zynisch mit der Gesundheit der Bevölkerung im Namen des Primats der Ökonomie, das schon immer vorherrschte, auch wenn dies zum Entstehen einer neuen Welle der Pandemie und der Wiederholung der Kontaktbeschränkungen, der Zunahme der Zahl der Krankenhausaufenthalte und der Todesfälle beitragen musste.
(c) Covid-19 und das „Jeder für sich“ auf imperialistischer Ebene
Die wachsende Konkurrenz zwischen den Staaten hat die Ausbreitung der Pandemie von Anfang an stark begünstigt und sogar ihre Ausnutzung für hegemoniale Zwecke gefördert. Erstens trugen die anfänglichen Versuche Chinas, den Ausbruch des Virus zu vertuschen, und seine Weigerung, Informationen an die WHO weiterzugeben, wesentlich zur anfänglichen Ausbreitung der Pandemie bei. Zweitens wurden das Fortbestehen der Pandemie und ihre verschiedenen Wellen sowie die Zahl der Opfer durch die Weigerung vieler Länder begünstigt, ihre Vorräte an Gesundheitsmaterialien mit ihren Nachbarn zu "teilen". Dazu trugen auch das wachsende Chaos in der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ländern bei, auch und gerade innerhalb der EU, und der "Impfstoff-Wettlauf" zwischen konkurrierenden Pharmariesen (mit lukrativen Gewinnen für die Gewinner), statt alle verfügbaren medizinischen und pharmakologischen Kompetenzen zu bündeln. Der "Impfstoffkrieg" zwischen den Staaten ist in vollem Gange: So hatte sich die Europäische Kommission zunächst geweigert, die von Pfizer-BioNTech vorgeschlagenen 5 Millionen zusätzlichen Impfstoffdosen zu reservieren – auf Druck Frankreichs, das eine gleichwertige Zusatzbestellung für die französische Firma Sanofi forderte. Der Impfstoff von AstraZeneca/Oxford University ist vorrangig für England reserviert, zum Nachteil von EU-Bestellungen. Darüber hinaus werden chinesische (Sinovac), russische (Sputnik V), indische (BBV152) oder amerikanische (Moderna) Impfstoffe von diesen Staaten als Instrumente imperialistischer Politik weithin instrumentalisiert. Die Konkurrenz zwischen den Staaten und die Explosion des "Jeder für sich" haben das erschreckende Chaos bei der Bewältigung der Pandemiekrise noch verstärkt.
(d) Covid-19 und der Verlust der Kontrolle der Bourgeoisie über ihren politischen Apparat
Der Verlust der Kontrolle über den politischen Apparat war bereits eines der Merkmale, die die Implosion des Ostblocks kennzeichneten, aber er war damals als eine Besonderheit erschienen, die mit dem besonderen Charakter der stalinistischen Regime verbunden war. Die Flüchtlingskrise (2015-16), das Aufkommen sozialer Unruhen gegen die Korruption der Eliten und vor allem die populistische Flutwelle (2016), die in den vorangegangenen Jahrzehnten sicherlich schon vorhanden, aber weniger ausgeprägt waren, haben die Bedeutung dieses Phänomens als Ausdruck des fortschreitenden Zerfalls in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts 2010-2020 unterstrichen. Diese Dimension spielte eine entscheidende Rolle bei der Ausweitung der Covid-19-Krise. Der Populismus und insbesondere populistische Führer wie Bolsonaro, Johnson oder Trump haben die Ausbreitung und die tödlichen Auswirkungen der Pandemie durch ihre „vandalenartige“ Politik begünstigt: Sie haben Covid-19 als einfache Grippe verharmlost, eine inkohärente Umsetzung einer Politik zur Begrenzung der Ansteckungen begünstigt, indem sie offen ihre Skepsis ihr gegenüber zum Ausdruck brachten und jede internationale Zusammenarbeit sabotierten. So hat sich Trump offen über die empfohlenen Hygienemaßnahmen hinweggesetzt, China offen beschuldigt (er sprach vom "chinesischen Virus") und jegliche Zusammenarbeit mit der WHO verweigert.
Dieser "Vandalismus" drückt auf bezeichnende Weise den Kontrollverlust der Bourgeoisie über ihren politischen Apparat aus: Nachdem sie sich zunächst als unfähig erwiesen hatten, die Ausbreitung der Pandemie zu begrenzen, haben es die verschiedenen nationalen Bourgeoisien versäumt, ihre Aktionen zu koordinieren und ein umfassendes System von "Tests" und "Verfolgung und Aufspürung" einzurichten, um neue Wellen der Ansteckung von Covid-19 zu kontrollieren und zu begrenzen. Schließlich verdeutlicht der langsame und chaotische Ablauf der Impfkampagne einmal mehr die Schwierigkeiten des Staates, die Pandemie adäquat zu managen. Die Abfolge von widersprüchlichen und unwirksamen Maßnahmen hat in der Bevölkerung eine wachsende Skepsis und Misstrauen gegenüber den Regierungsrichtlinien geschürt: "Wir können feststellen, dass es den Bürgern im Vergleich zur ersten Welle schwerer fällt, sich an die Empfehlungen zu halten" (D. Le Guludec, Präsident der Haute Autorité de Santé in Frankreich, LMD 800, November 2020). Diese Sorge plagt die Regierungen der Industrieländer (von Macron bis Biden) stark, und sie drängen die Bevölkerung, den Empfehlungen und Richtlinien der Behörden zu folgen.
(e) Covid-19 und Ablehnung von Eliten, irrationale Ideologien oder Aufkommen von Verzweiflung
Populistische Bewegungen sind nicht nur gegen die Eliten gerichtet, sondern fördern auch den Aufstieg nihilistischer Ideologien und das rückschrittlichste religiöse Sektenverhalten, das durch die sich vertiefende Phase des Zerfalls bereits verstärkt wurde. Die Covid-19-Krise hat eine beispiellose Explosion von Verschwörungstheorien und wissenschaftsfeindlichen Ansichten ausgelöst, die die Anfechtung der staatlichen Gesundheitspolitik anheizen. Verschwörungstheorien gibt es zuhauf, die wildeste Vorstellungen über das Virus und die Pandemie verbreiten. Außerdem haben populistische Führer wie Bolsonaro oder Trump ihre Verachtung für die Wissenschaft offen zum Ausdruck gebracht. Die exponentielle Ausbreitung des irrationalen Denkens und die Infragestellung der wissenschaftlichen Rationalität während der Pandemie ist eine eindrucksvolle Illustration des sich beschleunigenden Zerfalls. Populistische Ablehnung der Eliten und irrationale Ideologien haben dazu geführt, dass staatliche Maßnahmen wie Ausgangssperren und Abriegelungen auf rein bürgerlichem Terrain zunehmend gewaltsam bekämpft werden. Diese eliten- und staatsfeindliche Wut hat das Aufkommen von "vandalenartigen", nihilistischen, staatsfeindlichen Kundgebungen (Dänemark, Italien, Deutschland) oder Aufständen gegen Einschränkungen (mit Rufen wie "Freiheit!", "Für unsere Rechte und unser Leben"), gegen die "Diktatur der Einschränkungen" oder die "Täuschung durch ein Virus, das es nicht gibt", angeregt, wie sie im Januar in Israel, im Libanon, in Spanien und vor allem in vielen niederländischen Städten ausgebrochen sind.
1.3. Eine Bündelung der Auswirkungen in den Zentren des Kapitalismus
Die Auswirkungen der Zerfallsphase trafen zunächst die Peripherie des Systems hart: Länder Osteuropas mit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks und Ex-Jugoslawien, Kriege im Nahen Osten, Wiederaufflammen kriegerischer Spannungen in Asien (Afghanistan, Korea, chinesisch-indischer Grenzkonflikt), Hungersnöte, Bürgerkriege, Chaos in Afrika. Das änderte sich mit der Flüchtlingskrise, die eine massive Flut von Asylsuchenden nach Europa brachte, oder mit dem Exodus verzweifelter Bevölkerungsgruppen aus Mexiko und Mittelamerika, die in die USA zu gelangen versuchten, dann mit den dschihadistischen Anschlägen in den USA und im Herzen Europas und schließlich mit dem populistischen Tsunami von 2016. Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist der Kern der Industrieländer zunehmend betroffen und dieser Trend bestätigt sich dramatisch mit der Covid-19-Krise.
Die Pandemie traf das Herz des Kapitalismus, insbesondere die USA, mit voller Wucht. Im Vergleich zur Krise von 1989, der Implosion des Ostblocks, die die Phase des Zerfalls einleitete, besteht ein entscheidender Unterschied gerade darin, dass die Covid-19-Krise nicht einen besonders rückständigen Teil der kapitalistischen Produktionsweise betrifft, dass sie also nicht als Sieg des "demokratischen Kapitalismus" dargestellt werden kann, da sie im Gegenteil durch die Demokratien Europas und die USA das Zentrum des kapitalistischen Systems trifft. Wie ein Bumerang kommen die schlimmsten Auswirkungen des Zerfalls, die der Kapitalismus jahrelang auf die Peripherie des Systems abgewälzt hatte, zurück und treffen die Industrieländer, die nun im Zentrum der Turbulenzen stehen und weit davon entfernt sind, von all ihren Auswirkungen befreit zu sein. Auf diese Auswirkung auf die zentralen Industrieländer hatte die IKS schon hinsichtlich der schrumpfenden Kontrolle des „politischen Spiels“ hingewiesen, vor allem ab 2017. Aber heute stehen die amerikanische, englische, deutsche Bourgeoisie (und ihnen folgend die der anderen Industrieländer) im Zentrum des Wirbelsturms der Pandemie und ihrer Folgen auf der gesundheitlichen, wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ideologischen Ebene.
Unter den zentralen Ländern sind die USA, das mächtigste unter ihnen, am stärksten von der Covid-Krise erfasst: die höchste absolute Zahl an Infektionen und Todesfällen weltweit; eine beklagenswerte Gesundheitssituation; eine unter Trump wie „Vandalen“ handelnde Administration, die die Pandemie katastrophal verwaltete und das Land international von seinen Verbündeten isoliert hat; eine Wirtschaft, die in tiefen Schwierigkeiten steckt; ein Präsident, der die Wahlen diskreditierte, zum Marsch auf das Parlament aufrief, die Spaltung des Landes vertiefte und das Misstrauen gegenüber Wissenschaft und rationalen Daten schürte und als "Fake News" bezeichnete. Heute sind die USA das Epizentrum des Zusammenbruchs.
Wie ist es zu erklären, dass die Pandemie dieses Mal weniger die "Peripherie" des Systems zu treffen scheint (Anzahl der Infektionen sowie Zahl der Todesfälle), und zwar insbesondere Asien und Afrika? Es gibt natürlich eine Reihe von Indizien: Klima, Bevölkerungsdichte oder geografische Isolation (wie die Fälle von Neuseeland, Australien oder Finnland in Europa zeigen), aber auch die relative Zuverlässigkeit der Daten: Zum Beispiel stellt sich die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 im Jahr 2020 in Russland als dreimal höher heraus als die offizielle Zahl (185.000 statt 55.000), wie eine der Vize-Ministerpräsidentinnen, Tatjana Golikowa, aufgrund der Übersterblichkeit einräumt (De Morgen, 29.12.2020).
Grundsätzlich hat die Tatsache, dass Asien und Afrika bereits Erfahrung im Umgang mit Pandemien (H1N1, Ebola) haben, sicherlich zu ihren Gunsten gewirkt. Dann gibt es verschiedene Erklärungen wirtschaftlicher Art (die mehr oder weniger große Dichte an internationalem Austausch und Kontakten, die Wahl von begrenzten Einschränkungen, die eine Fortsetzung der wirtschaftlichen Tätigkeit ermöglichen), sozialer Art (eine ältere Bevölkerung, von denen Unzählige in "Altersheimen" untergebracht sind), medizinischer Art (eine mehr oder weniger hohe durchschnittliche Lebenserwartung: vgl. Frankreich: 82,4; Vietnam: 76; China: 76,1; Ägypten: 70,9; Philippinen: 68,5; Kongo: 64,7 und die mehr oder weniger große Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten). Darüber hinaus sind und werden die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas indirekt stark von der Pandemie betroffen sein, durch Verzögerungen bei der Impfung in der Peripherie, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Krise und die Verlangsamung des Welthandels, wie die derzeitige Gefahr einer Hungersnot in Mittelamerika aufgrund der wirtschaftlichen Stagnation zeigt. Schließlich hängt die Tatsache, dass die europäischen Länder und die USA es so weit wie möglich vermeiden, drastische und brutale Einschränkungen und Kontrollen zu verhängen, wie sie in China erlassen wurden, zweifellos auch mit der Vorsicht der Bourgeoisie gegenüber einer desorientierten, aber nicht besiegten Arbeiterklasse zusammen, die nicht bereit ist, sich vom Staat "einsperren" zu lassen. Der Verlust der Kontrolle über den politischen Apparat und die Wut in der Bevölkerung angesichts des Zusammenbruchs des Gesundheitswesens und des Scheiterns der Gesundheitspolitik machen es umso notwendiger, mit Bedacht zu handeln.
2. Die Covid-19-Krise läutet eine starke Beschleunigung des Zerfallsprozesses ein
Angesichts eines proletarischen politischen Milieus, das nach der Leugnung vergangener Zerfallserscheinungen die pandemische Krise als eine vorübergehende Episode betrachtet, muss die IKS im Gegenteil betonen, dass das Ausmaß der Covid-19-Krise und ihre Folgen keine "Rückkehr zur Normalität" ermöglichen werden. Auch wenn die Zuspitzung des Zerfalls, genau wie es bei der Dekadenz der Fall ist, nicht linear verläuft, auch wenn der Abgang des Populisten Trump und die Übernahme der Macht durch Biden in den USA zunächst das Bild einer illusorischen Stabilisierung vermitteln mögen, muss man sich bewusst sein, dass verschiedene Tendenzen, die sich während der Covid-19-Krise manifestiert haben, eine Beschleunigung des Prozesses der Fäulnis und der Zerstörung des Systems darstellen.
2.1. Der verrottende Überbau infiziert nun auch die wirtschaftliche Basis
Im Jahr 2007 kam unsere Analyse noch zu dem Schluss: “Paradoxerweise ist die wirtschaftliche Lage des Kapitalismus am geringfügigsten vom Zerfall beeinträchtigt. Dies verhält sich hauptsächlich deshalb so, weil es gerade diese wirtschaftliche Lage ist, die in letzter Instanz die anderen Aspekte des Lebens dieses Systems bestimmt, einschließlich jener, die sich aus dem Zerfall ergeben. (…) Trotz aller Reden über den „Triumph des Liberalismus" und das „Gesetz des freien Marktes" verzichten die Staaten heute weder auf Interventionen in die Wirtschaft noch auf Strukturen, die die Aufgabe haben, die internationalen Beziehungen wenigstens ansatzweise zu regulieren. Im Gegenteil: in der Zwischenzeit sind weitere Institutionen geschaffen worden, wie beispielsweise die Welthandelsorganisation.“ (Resolution zur internationalen Lage [80], Internationale Revue Nr. 40, 2007) Bisher wurden die wirtschaftliche Krise und der Zerfall durch den Eingriff des Staates getrennt, erstere schien nicht durch den zweiten beeinflusst zu sein.
In der Tat wurden die internationalen Mechanismen des Staatskapitalismus, die im Rahmen der imperialistischen Blöcke (1945-89) eingesetzt wurden, ab den 1990er Jahren auf Initiative der Industrieländer als Linderungsmittel für die Krise und als Schutzschild gegen die Auswirkungen des Zerfalls aufrechterhalten. Die IKS hatte die multilateralen Mechanismen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und eine gewisse Koordinierung der Wirtschaftspolitik nicht als Vereinigung des Kapitals auf Weltebene und auch nicht als Tendenz zum Super-Imperialismus verstanden, sondern als Zusammenarbeit der Bourgeoisien auf internationaler Ebene, um den Markt und die Weltproduktion zu regulieren und zu organisieren, um das Gewicht des Versinkens in der Krise zu verlangsamen und die Auswirkungen der Zerfallseffekte auf den neuralgischen Bereich in der Wirtschaft zu vermeiden und schließlich das Herz des Kapitalismus (USA, Deutschland, ...) zu schützen. Dieser Mechanismus des Widerstands gegen Krise und Zerfall erodierte jedoch mehr und mehr. Seit 2015 haben mehrere Phänomene begonnen, eine solche Erosion zum Ausdruck zu bringen: die Tendenz einer beträchtlichen Schwächung der Koordination zwischen den Ländern, insbesondere in Bezug auf die Erholung der Wirtschaft (und die deutlich im Gegensatz zu der koordinierten Reaktion steht, die angesichts der Krise von 2008-2011 stattfand), eine Fragmentierung der Beziehungen zwischen und innerhalb von Staaten. Seit 2016 haben das Brexit-Votum und die Trump-Präsidentschaft das Risiko der Lähmung und Fragmentierung der
Europäischen Union erhöht und den Handelskrieg zwischen den USA und China, aber auch die wirtschaftlichen Spannungen zwischen den USA und Deutschland verschärft.
Eine wesentliche Konsequenz der Covid-19-Krise ist die Tatsache, dass die Auswirkungen des Zerfalls, der Verschärfung des „Jeder für sich“ und des Kontrollverlusts, die bisher im Wesentlichen den Überbau des kapitalistischen Systems betrafen, nun dazu tendieren, sich direkt auf die ökonomische Basis des Systems auszuwirken, auf seine Fähigkeit, die ökonomischen Erschütterungen beim Versinken in seine historische Krise zu bewältigen. „Bei der Entwicklung unserer Analyse des Zerfalls sind wir davon ausgegangen, dass dieses Phänomen sich sowohl auf die Form der imperialistischen Konflikte (siehe den Artikel Orientierungstext: Militarismus und Zerfall, in der Internationalen Revue Nr. 13) als auch auf das Bewusstsein des Proletariats auswirkt. Demgegenüber waren wir der Ansicht, dass es keine wirklichen Auswirkungen auf die Entwicklung der Krise des Kapitalismus haben würde. Wenn der gegenwärtige Aufstieg des Populismus dazu führen würde, dass diese Strömung in einigen der wichtigsten europäischen Länder an die Macht käme, so würde der Zerfall jedoch auch eine solche Auswirkung entfalten“ (Bericht über den Zerfall heute [78], 22. Kongress der IKS 2017, Internationale Revue Nr. 56, 2020). Tatsächlich ist die im Jahr 2017 erkannte Perspektive schnell zur Realität geworden, und nun müssen wir berücksichtigen, dass sich Wirtschaftskrise und Zerfall zunehmend gegenseitig stören und beeinflussen.
So haben Haushaltsbeschränkungen in der Gesundheitspolitik und der Krankenhausversorgung die Ausbreitung der Pandemie begünstigt, was wiederum zu einem Zusammenbruch des Welthandels und der Volkswirtschaften, insbesondere der Industrieländer, geführt hat (die BIPs der wichtigsten Industrieländer werden im Jahr 2020 so negativ sein wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr). Die wirtschaftliche Rezession wird ihrerseits den weiteren Verfall des Überbaus fördern. Andererseits wird die Verschärfung der Haltung des „Jeder für sich“ und des Kontrollverlustes, welche die Krise um Covid-19 insgesamt kennzeichnen, nun auch die Wirtschaft infizieren. Auffallend ist die fehlende internationale Abstimmung zwischen den zentralen Ländern auf wirtschaftlicher Ebene (kein G7-, G8- oder G20-Treffen im Jahr 2020), und auch die fehlende Koordination der Wirtschafts- und Gesundheitspolitik zwischen den EU-Ländern ist offensichtlich. Angesichts des Drucks der wirtschaftlichen Widersprüche innerhalb der Kernländer des Kapitalismus, angesichts des Zögerns Chinas bezüglich seiner Politik (sich weiter der Welt zu öffnen oder einen nationalistischen strategischen Rückzug nach Asien einzuleiten), werden die Erschütterungen der wirtschaftlichen Basis tendenziell immer stärker und chaotischer werden.
2.2. Die zentralen Länder im Mittelpunkt der wachsenden Instabilität der Beziehungen innerhalb und zwischen den Bourgeoisien
In den vergangenen Jahren haben wir eine Verschärfung der Spannungen innerhalb und zwischen den Bourgeoisien erlebt. Insbesondere mit der Machtübernahme von Trump und der Umsetzung des Brexits hat sich dies auf der Ebene der Bourgeoisien, insbesondere der amerikanischen und englischen, die bisher als die stabilsten und erfahrensten der Welt galten, deutlich geäußert: Die Folgen der Covid-19 Krise können diese Spannungen nur noch weiter verschärfen:
- Die englische Bourgeoisie gerät in den Post-Brexit-Nebel, nachdem sie durch Trumps Niederlage die Unterstützung des großen Bruders USA verloren hat, während sie gleichzeitig die volle Wucht der Folgen der Pandemie zu spüren bekommt. Was den Brexit betrifft, so scheint die Unzufriedenheit mit dem unklaren Abkommen mit der EU sowohl bei denjenigen, die das Abkommen nicht wollten (Schottland, Nordirland), als auch bei denjenigen, die einen harten Brexit wollten (Fischereiindustrie), groß zu sein, während es (noch?) kein Abkommen mit der EU für Dienstleistungen (80 % des Handels) gibt und die Spannungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wachsen (z.B. wegen Impfstoffen). Was die Covid-19-Krise anbelangt, so musste England in aller Eile umstrukturieren, hat die Marke von 120.000 Todesfällen überschritten und steht unter einem schrecklichen Druck auf seine Gesundheitsdienste. Unterdessen ist es zu großen Spannungen innerhalb ihrer wichtigsten politischen Parteien, der Tories und der Labour Party, die sich beide in einer schweren internen Krise befinden, gekommen.
- Die Verschärfung der Spannungen zwischen den USA und anderen Staaten war unter der Trump-Administration offensichtlich: „Das Vandalen-Verhalten eines Trump, das amerikanische internationale Verpflichtungen über Nacht unter Missachtung etablierter Regeln kündigen kann, stellt einen neuen und starken Faktor der Unsicherheit dar und gibt weitere Impulse zum „Jeder für sich“. Es ist ein weiteres Kennzeichen der neuen Phase, in der der Kapitalismus weiter in die Barbarei und den Abgrund des ungezügelten Militarismus versinkt.“ (Resolution zur internationalen Lage (2019): imperialistische Spannungen, Leben der Bourgeoisie, Wirtschaftskrise [77], Internationale Revue Nr. 56, Punkt 13) Aber auch innerhalb der US-Bourgeoisie selbst sind die Spannungen virulent. Dies zeigte sich bereits in der Strategie, die die Aufrechterhaltung ihrer Vorherrschaft während des katastrophalen Irak-Abenteuers von Bush Junior sicherstellen sollte: "Die Beförderung der so genannten „Neokonservativen" an die Staatsspitze 2001 war ein regelrechtes Desaster für die US-Bourgeoisie. Weshalb hat die führende Bourgeoisie der Welt diese Bande von Abenteurern und Stümpern dazu berufen, ihre Interessen zu vertreten? Was war der Grund für die Blindheit der herrschenden Klasse des stärksten kapitalistischen Landes der Welt? Tatsächlich war die Beauftragung der Bande um Cheney, Rumsfeld und Konsorten mit den Regierungsgeschäften keineswegs eine ebenso simple wie gigantische „Fehlbesetzung" durch die US-Bourgeoisie. Wenn sich die Lage der USA auf dem imperialistischen Terrain noch sichtbarer verschlechtert hat, so ist dies vor allem Ausdruck der Sackgasse, in der sich dieses Land schon zuvor durch den zunehmenden Verlust ihrer Führungsrolle befand, und des allgemein herrschenden „Jeder-für-sich" in den internationalen Beziehungen, das die Zerfallsphase kennzeichnet.“ (Resolution zur internationalen Lage [80], 17. Kongress der IKS, Internationale Revue Nr. 40, 2007) Aber mit Trumps "vandalismusähnlicher" Politik und der Covid-19-Krise scheinen die Widersprüche innerhalb der US-Bourgeoisie viel breiter zu sein (Einwanderung, Wirtschaft), und vor allem scheint die Fähigkeit des politischen Apparats, den Zusammenhalt einer zersplitterten Gesellschaft aufrechtzuerhalten, unterminiert zu sein. In der Tat haben nationale "Einheit" und "Identität" angeborene Schwächen, die sie anfällig für Zerfallstendenzen machen. So die Existenz großer ethnischer und migrantischer ‚Communities‘, die seit den Anfängen der USA unter Rassendiskriminierung leiden und von denen einige vom "offiziellen" Leben ausgeschlossen sind; das Gewicht von Kirchen und Sekten, die irrationales und wissenschaftsfeindliches Denken propagieren, die große Autonomie der Verwaltung der Staaten der "Amerikanischen Union" im Verhältnis zur Bundesmacht (es gibt z.B. eine Unabhängigkeitsbewegung in Texas), der immer deutlicher werdende Gegensatz zwischen den Staaten der Ost- und Westküste (Kalifornien, Oregon, Washington, New York, Massachusetts, etc.), die die Vorteile der "Globalisierung" voll ausschöpfen, und die Bundesstaaten des Südens (Tennessee, Louisiana, etc.), des "Rostgürtels" (Indiana, Ohio, etc.) und des "tiefen Zentrums" (Oklahoma, Kansas, etc.), die eindeutig einen eher protektionistischen Ansatz favorisieren, tendieren zu einer Fragmentierung der amerikanischen Gesellschaft, auch wenn der Bundesstaat noch lange nicht die Kontrolle über die Situation verloren hat. Das Spektakel der Anfechtung des Ablaufs und der Ergebnisse der letzten Präsidentschaftswahlen sowie die "Erstürmung" des Kapitols durch Trumps Anhänger vor den Augen der Weltöffentlichkeit wie in einer Bananenrepublik bestätigen jedoch die Verschärfung dieses Trends zur Zersplitterung.
Im Hinblick auf die zukünftige Verschärfung der Spannungen innerhalb und zwischen den Bourgeoisien sind zwei Punkte zu klären.
(a) Die Machtübernahme Bidens ändert nichts an den Wurzeln der Probleme der USA
Die Amtsübernahme der Biden-Administration bedeutet keineswegs den Abbau der Spannungen zwischen und innerhalb der Fraktionen der Bourgeoisie, und vor allem verschwindet damit nicht die Prägung der Innen- und Außenpolitik durch den Populismus Trumps: Einerseits haben 4 Jahre Unberechenbarkeit und Vandalismus durch Trump, zuletzt im katastrophalen Umgang mit der Pandemie, die innenpolitische Situation der USA, die Fragmentierung der amerikanischen Gesellschaft sowie ihre internationale Positionierung tiefgreifend geprägt. Mehr noch hat Trump in der letzten Phase seiner Präsidentschaft alles getan, um die Situation für seinen Nachfolger noch chaotischer zu machen (vgl. den Brief der letzten 10 Verteidigungsminister, in dem Trump aufgefordert wird, die Armee nicht in die Anfechtung der Wahlergebnisse im Dezember 2020 einzubeziehen, in die Besetzung des Kongresses durch seine Anhänger). Zweitens zeigen Trumps Wahlergebnisse, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung seine Ideen und vor allem seine Abneigung gegen politische Eliten teilt. Schließlich deutet der Einfluss Trumps und seiner Ansichten auf einen Großteil der republikanischen Partei auf eine schwierige Führung für die (außerhalb der politischen Eliten) unpopuläre Biden-Administration hin. Bidens Sieg hat mehr mit einer Anti-Trump-Polarisierung zu tun als mit Begeisterung für das Programm des neuen Präsidenten.
Auch wenn die Biden-Administration auf der formalen Ebene und in bestimmten Bereichen wie der Klimapolitik oder der Einwanderung zum Bruch mit Trumps Politik tendieren wird, so kann ihre Innenpolitik der "Rache" der Eliten – die hauptsächlich an den beiden Küsten wohnen – am "deep America" (die Themen fossile Brennstoffe und "the wall" hängen genau damit zusammen) und ihre Außenpolitik, gekennzeichnet durch die Fortsetzung von Trumps Politik im Nahen Osten und eine Verstärkung der Konfrontation mit China (vergleiche Bidens harte Haltung gegenüber Xi während ihres ersten Telefongesprächs und die Forderung der USA an die EU, ihr Handelsabkommen mit China zu überprüfen) auf lange Sicht nur zu einer Verstärkung der Instabilität innerhalb der US-Bourgeoisie und zwischen den Bourgeoisien anderer Länder führen.
(b) China ist nicht der große Sieger der Situation
Offiziell präsentiert sich China als „das Land, das die Pandemie besiegt hat". Wie sieht die Lage wirklich aus? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die kurzfristigen (effektive Kontrolle der Pandemie) und mittelfristigen Auswirkungen der Covid-19 Krise bewerten.
China trägt eine überwältigende Verantwortung für die Entstehung und Ausbreitung der Pandemie. Nach dem SARS-Ausbruch 2003 wurden Protokolle für lokale Behörden erstellt, um die zentralen Behörden zu warnen. Schon beim Ausbruch der Schweinepest 2019 wurde klar, dass dies nicht funktioniert, weil im stalinistischen Staatskapitalismus lokale Beamte um ihre Karrieren/Beförderungen fürchten, wenn sie schlechte Nachrichten verkünden. Dito zu Beginn des Covid-19 in Wuhan. Es waren die "demokratischen Bürgeroppositionen", die letztlich die Nachrichten veröffentlichten und somit mit Verzögerung die Nachrichten an die Führung in Beijing weiterleiteten. Die "zentrale Ebene" fiel zunächst durch Abwesenheit auf: Sie warnte die WHO nicht, und drei Wochen lang war Xi abwesend, drei wertvolle Wochen gingen verloren. Seitdem weigert sich China immer noch, der WHO überprüfbare Daten über die Entwicklung der Pandemie auf seinem Territorium zu liefern.
Die kurzfristigen Auswirkungen sind in erster Linie indirekt. Die offiziellen Zahlen der Ansteckungen und Todesfälle sind nicht zuverlässig. (Diese reichen von 30.000 bis zu mehreren Millionen) und laut der New York Times ist sich möglicherweise die chinesische Regierung selbst nicht über das Ausmaß der Epidemie bewusst, da die lokalen Behörden aus Angst vor Repressalien seitens der Zentralregierung über die Anzahl der Infektionen, Tests und Todesfälle lügen. Die Verhängung rücksichtsloser und barbarischer Abriegelungen ganzer Regionen, die buchstäblich Millionen von Menschen wochenlang in ihren Häusern einsperren (in den letzten Monaten wurde das wieder regelmäßig praktiziert), legte jedoch die chinesische Wirtschaft für mehrere Wochen völlig lahm und führte zu massiver Arbeitslosigkeit (205 Millionen ab Mai 2020) und katastrophalen Erntefolgen (in Kombination mit Dürren, Überschwemmungen und Heuschreckenplagen). 2020 ist das Wachstum des BIP um mehr als 4 % niedriger als 2019 (+6,1 % zu +1,9 %); der Binnenkonsum wurde durch eine vollständige Freigabe von Krediten durch den Staat aufrechterhalten.
Längerfristig sieht sich die chinesische Wirtschaft mit der Verlagerung strategischer Industrien durch die USA und europäische Länder und den Schwierigkeiten der "Neuen Seidenstraße" konfrontiert, und zwar wegen finanzieller Probleme, die mit der Wirtschaftskrise zusammenhängen und durch die Covid-19 Krise noch verschärft werden (chinesische Finanzierung, aber vor allem der Verschuldungsgrad von "Partner"-Ländern wie Sri Lanka, Bangladesch, Pakistan, Nepal usw.), aber auch wegen des wachsenden Misstrauens vieler Länder und des gegen China gerichteten Drucks der USA. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es im Jahr 2020 zu einem Einbruch des finanziellen Wertes der in das Projekt "Neue Seidenstraße" gesteckten Investitionen kam (-64%).
Die Covid-19-Krise und die Hindernisse, auf die die "Neue Seidenstraße" stößt, haben die Spannungen, die sich an der Spitze des chinesischen Staates immer deutlicher abzeichnen, noch verschärft, zwischen der "ökonomistischen" Fraktion, die vor allem auf wirtschaftliche Globalisierung und "Multilateralismus" setzt, um Chinas kapitalistische Expansion voranzutreiben, und der "nationalistischen" Fraktion, die eine muskulösere Politik fordert und die Stärke ("Es ist China, das Covid besiegt hat") angesichts interner (die Uiguren, Hongkong, Taiwan) und externer Bedrohungen (Spannungen mit den USA, Indien und Japan) betont. Im Hinblick auf den nächsten Volkskongress im Jahr 2022, der den neuen Präsidenten ernennen (oder den alten bestätigen?) soll, ist die Lage in China daher auch besonders instabil.
2.3. Der Staatskapitalismus als Faktor, der die Widersprüche verschärft
"Wie die GCF 1952 festgestellt hat, ist der Staatskapitalismus keine Lösung für die Widersprüche des Kapitalismus, auch wenn er deren Auswirkungen verzögern kann, sondern er ist Ausdruck dieser Widersprüche. Die Fähigkeit des Staates, eine zerfallende Gesellschaft zusammenzuhalten, so eindringlich sie auch sein mag, ist daher dazu bestimmt, im Laufe der Zeit nachzulassen und letztlich zu einem erschwerenden Faktor genau der Widersprüche zu werden, die er einzudämmen versucht. Der Zerfall des Kapitalismus ist die Periode, in der ein wachsender Kontrollverlust der herrschenden Klasse und ihres Staates zum dominierenden Trend der gesellschaftlichen Entwicklung wird, was Covid so dramatisch offenbart.“ (Bericht über die Covid-Pandemie und die Periode des kapitalistischen Zerfalls [79], Juli 2020) Mit der Pandemiekrise kommt der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit eines massiven Interventionismus des Staatskapitalismus, um die Auswirkungen der Krise zu begrenzen, und einer gegenläufigen Tendenz zum Kontrollverlust, zur Fragmentierung, die ihrerseits durch diese Versuche des Staates seine Kontrolle aufrechtzuerhalten, verschärft wird, auf besonders akute Weise zum Ausdruck.
Die Covid-19-Krise stellt vor allem eine Beschleunigung des Glaubwürdigkeitsverlustes des Staatsapparates dar. Während der Staatskapitalismus massiv intervenierte, um die Auswirkungen der Pandemie zu bewältigen (sanitäre Maßnahmen, Kontaktbeschränkungen, Massenimpfungen, allgemeiner finanzieller Ausgleich zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen, etc.), erwiesen sich die auf den verschiedenen Ebenen ergriffenen Maßnahmen oft als unwirksam oder riefen neue Widersprüche hervor (die Impfung verschärfte die staatsfeindliche Opposition der "Impfgegner", der wirtschaftliche Ausgleich für eine Branche erregte den Unmut anderer). Wenn also der Staat die gesamte Gesellschaft repräsentieren und ihren Zusammenhalt aufrechterhalten soll, wird er von der Gesellschaft immer weniger als solcher anerkannt: Angesichts der wachsenden Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit der Bourgeoisie, die auch in den zentralen Ländern immer deutlicher zutage tritt, besteht die Tendenz, den Staat als eine Struktur im Dienste der korrupten Eliten zu sehen, als eine Kraft der Unterdrückung. Infolgedessen fällt es ihr immer schwerer, Regeln durchzusetzen: In vielen europäischen Ländern wie Italien, Frankreich oder Polen, aber auch in den USA, kam es zu Demonstrationen gegen staatliche Maßnahmen zur Schließung von Betrieben oder gegen Ausgehverbote. Überall, vor allem unter jungen Menschen, entstehen Social-Media-Kampagnen, die sich gegen diese Regeln wenden, wie zum Beispiel der Hashtag "Ich will das Spiel nicht mehr spielen" in Holland.
Die Unfähigkeit der Staaten, damit umzugehen, wird durch die Auswirkungen des populistischen "Vandalismus" sowohl symbolisiert als auch beeinflusst. Die Störung des politischen „Spiels“ der Bourgeoisie in den Industrieländern ist seit Beginn des 21. Jahrhunderts durch populistische Bewegungen und Parteien, die oft der extremen Rechten nahestehen, auffällig. Erinnern wir uns an den überraschenden Einzug von Le Pen in die „Endrunde" der Präsidentschaftswahlen 2002 in Frankreich, den blitzartigen und spektakulären Durchbruch der "Liste Pim Fortuyn" in den Niederlanden 2001-2002, die Berlusconi-Regierungen mit Unterstützung der extremen Rechten in Italien, den Aufstieg von Jörg Haider und der FPÖ in Österreich oder den Aufstieg der Tea Party in den USA. Schon damals verknüpfte die IKS das Phänomen mit der Schwäche der Bourgeoisien: "Sie hängen von der Stärke oder Schwäche der nationalen Bourgeoisie ab. In Italien neigen die Schwächen und inneren Spaltungen der Bourgeoisie, auch aus imperialistischer Sicht, dazu, eine bedeutende populistische Rechte wieder aufleben zu lassen. In Großbritannien hingegen ist die faktische Nichtexistenz einer spezifischen rechtsextremen Partei mit der Erfahrung und überlegenen Beherrschung des politischen Spiels durch die englische Bourgeoisie verbunden." (Rise of the Far Right in Europe: Is There a Fascist Danger Today? [81] International Review Nr. 110 (engl./frz./span. Ausgabe), 2002) Während die Tendenz zum Kontrollverlust tatsächlich weltweit ist und die Peripherie geprägt hat (Länder wie Brasilien, Venezuela, Peru in Lateinamerika, die Philippinen oder Indien in Asien), so trifft sie heute die Industrieländer, die historisch stärksten Bourgeoisien (Großbritannien) und heute vor allem die USA, hart. Während die populistische Welle von der Anfechtung des Establishments profitiert, dezimiert und destabilisiert die Machtübernahme der Populisten durch ihre "vandalismusartige" Politik (vgl. Trump, Bolsonaro, aber auch die "populistische Regierung" M5S und Lega in Italien) die staatlichen Strukturen weiter, insofern sie weder Willens noch in der Lage sind, die Staatsgeschäfte verantwortungsvoll zu übernehmen.
Diese Beobachtungen widersprechen der These, dass die Bourgeoisie durch diese Maßnahmen eine Mobilisierung und Unterwerfung der Bevölkerung im Hinblick auf eine Mobilisierung für einen generalisierten Krieg durchführt. Im Gegenteil, die chaotische Gesundheitspolitik und die Unfähigkeit der Staaten, mit der Situation umzugehen, drücken die Schwierigkeit der Bourgeoisien der zentralen Länder aus, ihre Kontrolle über die Gesellschaft durchzusetzen. Die Zunahme dieser Tendenz kann die Glaubwürdigkeit der demokratischen Institutionen verändern (ohne dass dies im gegenwärtigen Kontext die geringste Verstärkung des Klassenterrains bedeutet) oder im Gegenteil die Entwicklung von Kampagnen zur Verteidigung dieser Institutionen oder sogar zur Wiederherstellung einer "wahren Demokratie" bedeuten: So gab es während des Angriffs auf das Kapitol diejenigen, die die Demokratie zurückfordern wollten, die "von den Eliten als Geisel genommen wurde" ("das Kapitol ist unser Haus"), und diejenigen, die die Demokratie gegen einen populistischen Putsch verteidigten.
Die Tatsache, dass die Bourgeoisie immer weniger in der Lage ist, eine Perspektive für die gesamte Gesellschaft aufzuzeigen, führt auch zu einer beängstigenden Ausbreitung irrationaler alternativer Ideologien und zu einer wachsenden Verachtung einer wissenschaftlichen und begründeten Vorgehensweise. Natürlich ist der Zusammenbruch der Werte der herrschenden Klasse nicht neu. Seit Ende der 1960er Jahre ist dies offensichtlich, aber die Vertiefung von Zersetzung, Chaos und Barbarei hat den Aufstieg von Hass und Gewalt nihilistischer Ideologien und des rückschrittlichsten religiösen Sektierertums gefördert. Die Covid-19-Krise hat zu einem Aufschwung dieser Bewegungen wie QAnon, Wolverine Watchmen, Proud Boys oder der Boogaloo-Bewegung in den USA, evangelikaler Sekten in Brasilien, Lateinamerika oder Afrika, sunnitischer oder schiitischer muslimischer Sekten, aber auch hinduistischer oder buddhistischer Sekten geführt. Sie verbreiten Verschwörungstheorien und völlig abwegige Vorstellungen über das Virus, die Pandemie, den Ursprung (Kreationismus) oder die Zukunft der Gesellschaft. Die exponentielle Ausbreitung des irrationalen Denkens und der Ablehnung der Beiträge der Wissenschaft wird sich tendenziell beschleunigen.
2.4. Die Zunahme gegen den Staat gerichteter Unruhen und klassenübergreifenden Bewegungen
Ausbrüche von Volksaufständen gegen Elend und kriegerische Barbarei waren seit Beginn der Zerfallsphase vorhanden und nehmen im 21. Jahrhundert zu: Argentinien (2001-2002), die französischen Vorstädte 2005, Iran 2009, London und andere englische Städte 2011, der Ausbruch von Unruhen im Maghreb und im Nahen Osten 2011-12 (der "Arabische Frühling"). Eine neue Welle sozialer Unruhen brach aus in Chile, Ecuador oder Kolumbien (2019), im Iran (2017-18 und wieder 2019-20), im Irak, im Libanon (2019-2020), aber auch in Rumänien (2017), Bulgarien (2013 und 2019-2020) oder Frankreich mit der "Gelbwesten"-Bewegung (2018-2019) und, mit spezifischen Ausprägungen, in Ferguson (2014) und Baltimore (2016) in den USA. Diese Revolten spiegelten die wachsende Verzweiflung der Bevölkerungen wider, die unter der Erosion der sozialen Beziehungen leiden und den traumatischen und dramatischen Folgen der Verarmung in Verbindung mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch oder endlosen Kriegen ausgesetzt sind. Sie richten sich auch zunehmend gegen die Korruption der Cliquen an der Macht und ganz allgemein gegen die politischen Eliten.
Im Zuge der Covid-19-Krise häufen sich derartige Wutausbrüche, die sich in Form von Demonstrationen und sogar Ausschreitungen äußern. Sie neigen dazu, sich um drei Pole herum zu kristallisieren:
(a) klassenübergreifende Bewegungen, die die Revolte gegen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Covid-19-Krise zum Ausdruck bringen (z.B. die "Gelbwesten");
(b) identitätsbasierte Bewegungen, die populistischen Ursprungs sind (MAGA) oder sich auf einen Teilaspekt (Einpunktforderung) beschränken und dazu neigen, die Spannungen zwischen Teilen der Bevölkerung zu verschärfen (wie z. B. Rassenrevolten (BLM), aber auch religiös inspirierte Bewegungen – z.B. in Indien – usw.);
(c) Anti-Establishment- und antistaatliche Bewegungen im Namen der "individuellen Freiheit", eines nihilistischen Typs, ohne wirkliche "Alternativen", wie z.B. "Anti-Vax"- oder Verschwörungs-Bewegungen ("Holt meine Institutionen von den Eliten zurück").
Solche Bewegungen führen oft zu Krawallen und Plünderungen und dienen als Ventil für Jugendbanden aus vom Zerfall geplagten Vierteln. Während diese Bewegungen den ernsthaften Verlust der Glaubwürdigkeit der politischen Strukturen der Bourgeoisie aufzeigen, bietet keine von ihnen in irgendeiner Weise eine Perspektive für die Arbeiterklasse. Nicht jede Revolte gegen den Staat ist automatisch ein günstiges Terrain für das Proletariat: Im Gegenteil, sie lenkt es von seinem Klassenterrain auf ein Terrain, das nicht das seine ist.
2.5. Die Ausnutzung der ökologischen Bedrohung durch die Kampagnen der Bourgeoisie
Die Pandemie veranschaulicht die dramatische Verschärfung der Umweltzerstörung, die nach den Erkenntnissen und Prognosen, die inzwischen in wissenschaftlichen Kreisen einhellig akzeptiert werden und die sich die Mehrheit der bürgerlichen Klasse in allen Ländern selbst zu eigen gemacht hat (Pariser Abkommen, 2015), alarmierende Ausmaße annimmt: Verschmutzung der Luft in den Städten und des Wassers in den Ozeanen, Klimawandel mit immer heftigeren meteorologischen Phänomenen, das Voranschreiten der Wüstenbildung und die Beschleunigung des Verschwindens von Pflanzen- und Tierarten, die das biologische Gleichgewicht unseres Planeten zunehmend bedrohen. “All diese wirtschaftlichen und sozialen Katastrophen, die im allgemeinen zwar auf die Dekadenz zurückgehen, bilden mit ihrer Häufung und ihrem Ausmaß die Tatsache ab, daß dieses System sich in einer völlig ausweglosen Lage befindet und dem größten Teil der Weltbevölkerung keine Zukunft anzubieten hat, außer der Zunahme von unvorstellbarer Barbarei. Es ist ein System, dessen Wirtschaftspolitik, Forschungen und Investitionen systematisch auf Kosten der Zukunft der Menschheit und damit auch auf Kosten der Zukunft des Systems an sich verwirklicht werden.“ (Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [9], Internationale Revue Nr. 13, 1991, Punkt 7)
Die herrschende Klasse ist aufgrund der ureigenen Gesetze des Kapitalismus und insbesondere der Verschärfung der Widersprüche durch das Versinken im Zerfall nicht in der Lage, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Daher kann sich die ökologische Krise nur verschärfen und in Zukunft neue Katastrophen hervorrufen. In den letzten Jahrzehnten hat die Bourgeoisie jedoch die ökologische Dimension zurückgewonnen, um eine Perspektive für "Reformen innerhalb des Systems" zu schaffen. Insbesondere die Bourgeoisien der Industrieländer stellen die "ökologische Transition" und die "grüne Ökonomie" in den Mittelpunkt ihrer aktuellen Kampagnen zur Durchsetzung einer Perspektive der drakonischen Austerität, als Teil ihrer Wirtschaftspolitik nach der Pandemie, zur Restrukturierung und Stärkung der Wettbewerbsposition der Industrieländer. So stehen sie im Mittelpunkt der "Konjunkturprogramme" der Europäischen Kommission für die EU-Länder und des Konjunkturprogramms der Biden-Administration in den USA. Die Ökologie wird also in den kommenden Jahren mehr denn je eine große Mystifikation darstellen, welche von den Revolutionären bekämpft werden muss.
3. Schlussfolgerungen
Dieser Bericht hat gezeigt, dass die Pandemie keine neue Periode einleitet, sondern in erster Linie ein Indikator für den Grad des Zerfalls ist, der während der dreißigjährigen Zerfallsphase erreicht wurde, ein Grad, der bisher oft unterschätzt wurde. Gleichzeitig kündigt die Pandemie auch eine deutliche Beschleunigung verschiedener Zerfallseffekte in der kommenden Zeit an, wie insbesondere die Auswirkungen der Covid-19-Krise auf die staatliche Wirtschaftsführung und ihre verheerenden Folgen für die zentralen Industrieländer, allen voran für die Supermacht USA, zeigen. Es gibt Möglichkeiten für spezifische gegenläufige Entwicklung, die eine gewisse “Pause“ oder sogar eine gewisse Rückgewinnung der Kontrolle durch den Staatskapitalismus erzwingen können. Aber diese spezifischen Ereignisse werden keineswegs bedeuten, dass die historische Dynamik des Versinkens in der Phase des Zerfalls, die in diesem Bericht hervorgehoben wird, in Frage gestellt wird.
Wenn die Perspektive auch nicht die eines generalisierten Weltkrieges (zwischen imperialistischen Blöcken) ist, so kündigt das gegenwärtige Versinken in der Tendenz des "Jeder für sich" doch eine brutale Zunahme mörderischer, kriegerischer Auseinandersetzungen, aussichtsloser, in Blut ertränkter Revolten oder anderer Katastrophen für die Menschheit an. “Der Verlauf der Geschichte ist unumkehrbar: der Zerfall führt, wie sein Name sagt, zur Auflösung und Fäulnis der Gesellschaft, ins Nichts. Seiner eigenen Logik und seinen letzten Konsequenzen überlassen, führt er die Gesellschaft zum gleichen Ergebnis wie der Weltkrieg. Ob man brutal von einem thermonuklearen Bombenhagel in einem Weltkrieg ausgelöscht wird oder durch die Umweltverschmutzung, die Radioaktivität der Atomkraftwerke, den Hunger, die Epidemien und die Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte (in denen auch Atomwaffen eingesetzt werden können) vernichtet wird, läuft letztendlich aufs gleiche hinaus. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Zerstörung besteht darin, daß die erste schneller ist, während die zweite langsamer ist, dafür aber umso mehr Leid verursacht.“ (Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [9], Internationale Revue Nr. 13, 1991, Punkt 11)
Das Fortschreiten der Zerfallsphase kann auch zu einer Abschwächung der Fähigkeit des Proletariats führen, seine revolutionäre Aktion durchzuführen. Die Arbeiterklasse befindet sich damit in einem Wettlauf gegen das Versinken der Gesellschaft in der Barbarei eines historisch überholten Systems. Natürlich können die Kämpfe der Arbeiter*innen die Entwicklung des Zerfalls nicht verhindern, aber sie können den Auswirkungen dieses Zerfalls, des "Jeder für sich", Einhalt gebieten. Zur Erinnerung: „Die Dekadenz des Kapitalismus war notwendig, damit das Proletariat in der Lage ist, den Kapitalismus zu stürzen. Dagegen ist das Auftreten des historischen Phänomens des Zerfalls, das Resultat der Verlängerung der Dekadenz infolge des Ausbleibens der proletarischen Revolution, keineswegs eine notwendige Etappe für das Proletariat auf dem Weg zu seiner Emanzipation.“ (Der Zerfall: die letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus [9], Internationale Revue Nr. 13, 1991, Punkt 12)
Die Covid-19 Krise erzeugt somit eine noch unberechenbarere und verworrenere Situation. Die Spannungen auf den verschiedenen Ebenen (gesundheitlich, sozioökonomisch, militärisch, politisch, ideologisch) werden große soziale Umwälzungen, massive Volksaufstände, zerstörerische Unruhen, intensive ideologische Kampagnen – wie die um die Ökologie – hervorrufen. Ohne einen soliden Rahmen für das Verständnis der Ereignisse werden Revolutionäre nicht in der Lage sein, ihre Rolle als politische Avantgarde der Klasse zu spielen, sondern werden stattdessen zu ihrer Verwirrung beitragen, zur Abschwächung ihrer Fähigkeit, ihre revolutionäre Rolle zu erfüllen.
Frühjahr 2021
1 Dieser Text wurde im Juli 2020 geschrieben, und wir konnten eine neuere Information nicht berücksichtigen, die die These als plausibel ansieht, dass die Epidemie ihren Ursprung in einem Laborunfall in Wuhan, China, hatte (siehe dazu den folgenden Artikel von Le Monde vom 14.05.2021: Origines du Covid-19 : l’hypothèse d’un accident à l’Institut de virologie de Wuhan relancée après la divulgation de travaux inédits [82]). Dennoch würde diese Hypothese, wenn sie bestätigt würde, unsere Analyse, dass die Pandemie ein Produkt des Zerfalls des Kapitalismus ist, in keiner Weise schmälern. Im Gegenteil, es würde verdeutlichen, dass letztere die wissenschaftliche Forschung in einem Land nicht verschont, dessen kometenhaftes Wachstum in den letzten Jahrzehnten den Stempel des Zerfalls trägt.
Auf ihrem 23. Internationalen Kongress stellte die IKS klar, dass wir zwischen dem Konzept des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und dem Begriff des Historischen Kurses unterscheiden müssen. Ersteres gilt für alle Phasen des Klassenkampfes, sowohl im Aufstieg als auch in der Dekadenz, während der zweite nur für die Dekadenz gilt und dann auch nur in der Zeit zwischen dem Vorlauf zum Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989. Die Idee eines Historischen Kurses macht nur in Phasen Sinn, in denen es möglich wird, die allgemeine Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft entweder auf einen Weltkrieg oder auf entscheidende Klassenkonfrontationen hin vorherzusagen. So konnte die Italienische Linke in den 1930er Jahren erkennen, dass die vorangegangene Niederlage des Weltproletariats in den 1920er Jahren einen Kurs in Richtung des Zweiten Weltkriegs eröffnet hatte, während die IKS nach 1968 richtig argumentierte, dass der Kapitalismus ohne eine frontale Niederlage einer wiederauflebenden Arbeiterklasse nicht in der Lage sein würde, das Proletariat für einen Dritten Weltkrieg zu rekrutieren. Im Gegensatz dazu kann das System in der Phase des Zerfalls, dem Produkt einer historischen Pattsituation zwischen den Klassen, selbst wenn der Weltkrieg durch den Zerfall des Blocksystems für die absehbare Zukunft von der Tagesordnung entfernt wurde, in andere Formen der irreversiblen Barbarei abgleiten, ohne dass es zu einer frontalen Konfrontation mit der Arbeiterklasse kommt. In einer solchen Situation wird es viel schwieriger zu erkennen, wann ein "Point of no return" erreicht und die Möglichkeit einer proletarischen Revolution ein für alle Mal begraben ist.
Aber die "Unvorhersehbarkeit" im Zerfall bedeutet keineswegs, dass es den Revolutionären nicht mehr um die Einschätzung des globalen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen gehen würde. Dieser Punkt wird offensichtlich durch den Titel der Resolution des 23. Kongresses zum Klassenkampf bekräftigt: Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Es gibt zwei Schlüsselelemente dieser Resolution, die wir hier hervorheben müssen:
- "Im Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist es immer die herrschende Klasse, die in der Offensive ist, außer in einer revolutionären Situation" (Punkt 9). In bestimmten Momenten können die Verteidigungskämpfe der Arbeiterklasse die Angriffe der Bourgeoisie zurückdrängen, aber in der Dekadenz besteht die Tendenz, dass solche Siege immer begrenzter und kurzlebiger werden: Dies ist ein zentraler Faktor, damit die proletarische Revolution in dieser Epoche sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Möglichkeit wird;
- Das primäre Mittel zur "Messung" des Kräfteverhältnisses ist die Beobachtung der Tendenz der Arbeiterklasse, ihre Klassenautonomie zu entwickeln und ihre eigene Lösung für die historische Krise des Systems zu präsentieren. Kurz gesagt, die Tendenz zur Politisierung – die Entwicklung des Klassenbewusstseins bis zu dem Punkt, an dem die Arbeiterklasse die Notwendigkeit begreift, die politische Maschinerie der herrschenden Klasse zu konfrontieren und zu stürzen und sie durch ihre eigene Klassendiktatur zu ersetzen.
Diese Themen sind der "rote Faden", der sich durch die Resolution zieht, wie im ersten Abschnitt angekündigt:
"Ende der 1960er Jahre, mit der Erschöpfung des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit, war die Arbeiterklasse angesichts der sich verschlechternden Lebensbedingungen wieder auf der gesellschaftlichen Bühne aufgetaucht. Die international explodierenden Arbeiterkämpfe beendeten die längste Zeit der Konterrevolution in der Geschichte, öffneten einen neuen historischen Kurs in Richtung Klassenkonfrontationen und hinderten die herrschende Klasse daran, ihre eigene Antwort auf die akute Krise des Kapitalismus zu geben: einen dritten Weltkrieg. Dieser neue historische Kurs war durch das Aufkommen massiver Kämpfe gekennzeichnet, insbesondere in den zentralen Ländern Westeuropas mit der Bewegung vom Mai 1968 in Frankreich, gefolgt vom „Heißen Herbst“ in Italien 1969 und vielen anderen Kämpfen wie in Argentinien im Frühjahr 1969 und in Polen im Winter 1970-71. In diesen massiven Bewegungen erhoben große Teile der neuen Generation, die keinen Krieg erlebt hatten, erneut die Perspektive des Kommunismus zur realen Möglichkeit.
Im Zusammenhang mit dieser allgemeinen Bewegung der Arbeiterklasse in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren müssen wir auch die internationale Wiederbelebung der organisierten Kommunistischen Linken in einem sehr kleinen, aber nicht minder bedeutenden Ausmaß hervorheben, der Tradition, die der Flagge der proletarischen Weltrevolution in der langen Nacht der Konterrevolution treu geblieben war. In diesem Prozess stellte die Gründung der IKS einen wichtigen Impuls für die Kommunistische Linke als Ganzes dar.
Angesichts einer Dynamik, die zu einer Politisierung der Arbeiterkämpfe führte, entwickelte die Bourgeoisie (die von der Bewegung vom Mai 1968 überrascht worden war) sofort eine groß angelegte und langfristige Gegenoffensive, um zu verhindern, dass die Arbeiterklasse ihre eigene Antwort auf die historische Krise der kapitalistischen Wirtschaft gibt: die proletarische Revolution."[1]
Die Resolution zeichnet dann in groben Zügen nach, wie die Bourgeoisie, die machiavellistische Klasse schlechthin, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzte, um diese Dynamik zu blockieren:
- In einer ersten Phase, in der sie der Arbeiterklasse eine rein bürgerliche politische Alternative anbot. In den späten 60er und frühen 70er Jahren durch die Entgleisung ihrer Bestrebungen in Richtung der falschen Morgendämmerung linker Regierungen, die in der Lage wären, den Kapitalismus zu humanisieren und sogar eine sozialistische Gesellschaft einzuführen, und ab den späten 70er Jahren durch die Arbeitsteilung zwischen einer harten Rechten an der Macht, die die von der Wirtschaftskrise geforderten brutalen Kürzungen des Lebensstandards der Arbeiterklasse durchführt, und einer "Linken in der Opposition", die besser in der Lage ist, die Bedrohung durch die Wellen des Kampfes, die diese Periode kennzeichneten, aufzufangen;
- den umfangreichen Einsatz der extremen Linken des Kapitals (Maoisten, Trotzkisten usw.), um die wachsende Suche nach politischen Antworten durch eine signifikante Minderheit der neuen Generation wieder einzufangen;
- die Aktionen von radikalen Gewerkschaften und sogar "außergewerkschaftlichen" Organisationsformen, die von der extremen Linken manipuliert werden, um die wachsende Enttäuschung der Arbeiter über die Gewerkschaften und die Gefahr, dass die Arbeiter zu einem politischen Verständnis der Rolle der Gewerkschaften in der dekadenten Epoche gelangen, zum Entgleisen zu bringen;
- der Einsatz von korporatistischer und nationalistischer Ideologie, um wichtige Arbeiterkämpfe zu isolieren und, wo nötig, durch direkte staatliche Repression zu zerschlagen (vgl. den Bergarbeiterstreik in Großbritannien und, in viel größerem Maßstab, den Massenstreik in Polen 1980);
- die bewusste Reorganisation der globalen Produktion und des Handels, die ab den 1980er Jahren einsetzte: die Politik der "Globalisierung" war zwar grundsätzlich von der Notwendigkeit bestimmt, auf die Wirtschaftskrise zu reagieren, enthielt aber auch ein direkt arbeiterfeindliches Element, indem sie versuchte, traditionelle Zentren proletarischer Kampfkraft aufzubrechen und die Klassenidentität zu untergraben;
- Der tatsächlich stattfindende Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft wandte sich gegen die Arbeiterklasse. So wurde die in dieser neuen Phase verstärkte Tendenz des "Jeder für sich selbst" genutzt, um die gesellschaftliche Atomisierung und korporatistische Spaltung zu verstärken. Vor allem der Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" im Ostblock war der Startschuss für eine gigantische Kampagne über den vorgeblichen Tod des Kommunismus, die die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse, eine eigene revolutionäre Perspektive zu entwickeln, vertiefte und erweiterte.
Während diese Schwierigkeiten bereits in den 1980er Jahren wuchsen – und die Wurzel der Pattsituation zwischen den Klassen bildeten –, eröffneten die Ereignisse von 1989 nicht nur endgültig die Phase des Zerfalls, sondern brachten einen tiefgreifenden Rückzug der Klasse auf allen Ebenen mit sich: in ihrer Kampfbereitschaft, in ihrem Bewusstsein, in ihrer eigentlichen Fähigkeit, sich als spezifische Klasse in der bürgerlichen Gesellschaft zu erkennen. Darüber hinaus beschleunigte sie alle negativen Tendenzen des gesellschaftlichen Zerfalls, die schon in der vorangegangenen Periode eine Rolle gespielt hatten: das krebsartige Wachstum von Egoismus, Nihilismus und Irrationalität, die die natürlichen Produkte einer Gesellschaftsordnung sind, die der Menschheit keine Perspektive für ihre Zukunft mehr bieten kann.[2]
Die Resolution des 23. Kongresses bekräftigt auch, dass es trotz aller negativen Faktoren der Zerfallsphase, die das Kräfteverhältnis ungünstig bestimmen, immer noch Anzeichen für eine proletarische Gegentendenz gab. Insbesondere die Studentenbewegung gegen den CPE in Frankreich 2006 und die Indignados-Bewegung in Spanien 2011 sowie das Wiederauftauchen neuer Leute, die nach genuin kommunistischen Positionen suchen, liefern konkrete Beweise dafür, dass das Phänomen der unterirdischen Reifung des Bewusstseins, das Wühlen des "alten Maulwurfs", auch in der neuen Phase noch wirkt. Das Streben einer neuen Generation von Proletariern, die Sackgasse der kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen, das erneute Interesse an früheren Bewegungen, die die Möglichkeit einer revolutionären Alternative aufgeworfen hatten (1917-23, Mai 68 usw.), bestätigen, dass die Perspektive einer zukünftigen Politisierung nicht im Schlamm des Zerfalls ertränkt wurde. Doch bevor wir weiter zu einem besseren Verständnis des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen im letzten Jahrzehnt, und vor allem im Gefolge der Covid-Pandemie, vorstoßen, ist es notwendig, tiefer darauf einzugehen, was genau mit dem Begriff Politisierung gemeint ist.
Die marxistische Avantgarde der Arbeiterbewegung hat in ihrer ganzen Geschichte dafür gekämpft, die Wechselbeziehung zwischen verschiedenen Aspekten des Klassenkampfes zu klären: ökonomisch und politisch, praktisch und theoretisch, defensiv und offensiv. Der tiefe Zusammenhang zwischen der ökonomischen und der politischen Dimension wurde von Marx in seiner ersten Polemik mit Proudhon hervorgehoben:
"Man sage nicht, daß die gesellschaftliche Bewegung die politische ausschließt. Es gibt keine politische Bewegung, die nicht gleichzeitig auch eine gesellschaftliche wäre.
Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein."[3]
Diese Polemik setzte sich in den Tagen der Ersten Internationale im Kampf gegen die Lehren von Bakunin fort. In dieser Periode war die Notwendigkeit, die politische Dimension des Klassenkampfes zu bekräftigen, vor allem mit dem Kampf um Reformen und damit mit der Intervention in die parlamentarische Arena der Bourgeoisie verbunden. Aber der Konflikt mit den Anarchisten sowie die praktischen Erfahrungen der Arbeiterklasse warfen auch Fragen auf, die mit der offensiven Phase des Kampfes zusammenhingen, vor allem mit den Ereignissen der Pariser Kommune, dem ersten Beispiel der politischen Macht der Arbeiterklasse.
In der Zeit der Zweiten Internationale, vor allem in ihrer Degenerationsphase, begann ein neuer Kampf: der Kampf der linken Strömungen gegen die wachsende Tendenz, die ökonomische Dimension, die als Spezialität der Gewerkschaften angesehen wurde, und die politische Dimension, die sich zunehmend auf die Bemühungen der Partei um Sitze in bürgerlichen Parlamenten und Kommunen reduzierte, rigide zu trennen.
Mit dem Anbruch der dekadenten Epoche des Kapitalismus bekräftigten das dramatische Auftreten des Massenstreiks 1905 in Russland und die Entstehung der Sowjets die wesentliche Einheit der ökonomischen und der politischen Dimension und die Notwendigkeit unabhängiger Klassenorgane, die beide Aspekte miteinander verbinden. Wie Luxemburg es in ihrem Pamphlet über den Massenstreik, das im Wesentlichen eine Polemik gegen die überholten Vorstellungen der sozialdemokratischen Rechten und der Mitte war, ausdrückte:
"Es gibt nicht zwei verschiedene Klassenkämpfe der Arbeiterklasse, einen ökonomischen und einen politischen, sondern es gibt nur einen Klassenkampf, der gleichzeitig auf die Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und auf die Abschaffung der Ausbeutung mitsamt der bürgerlichen Gesellschaft gerichtet ist."[4]
Es ist jedoch notwendig, daran zu erinnern, dass diese beiden Dimensionen zwar Teile einer Einheit sind, aber nicht identisch, und ihre Einheit wird von den Arbeitern, die sich in den tatsächlichen Kämpfen engagieren, oft nicht begriffen. Selbst wenn ein Streik um wirtschaftliche Forderungen schnell mit der aktiven Opposition von Organen des bürgerlichen Staates (Regierung, Polizei, Gewerkschaften usw.) konfrontiert wird, ist vielleicht der "objektiv" politische Kontext des Kampfes nur für eine militante Minderheit der beteiligten Arbeiter offensichtlich.
Darüber hinaus wird betont, dass innerhalb der Bewegung hin zu einem Bewusstsein für die politischen Implikationen des Kampfes zwei unterschiedliche Dynamiken im Spiel sind: einerseits das, was man als Politisierung der Kämpfe bezeichnen könnte, und andererseits die Entstehung von politisierten Minderheiten, die mit dem unmittelbaren Aufschwung des offenen Kampfes verbunden sein können oder auch nicht.
Und wieder haben wir es im ersten Fall mit einem Prozess zu tun, der sich durch verschiedene Phasen bewegt. In der Dekadenz kann es zwar keine proletarische Intervention in die bürgerliche politische Sphäre mehr geben, aber es kann immer noch defensive politische Forderungen und Debatten geben, die noch nicht die Frage der politischen Macht oder einer neuen Gesellschaft stellen, z. B. wenn Proletarier darüber diskutieren, wie sie auf Polizeigewalt reagieren sollen, wie bei den Massenstreiks in Polen 1980 oder der Anti-CPE-Bewegung 2006. Erst in einem sehr fortgeschrittenen Stadium des Kampfes können die Arbeiter*innen die Ergreifung der politischen Macht als ein wirkliches Ziel ihrer Bewegung ins Auge fassen. Nichtsdestotrotz ist das, was die Politisierung von Kämpfen im Allgemeinen charakterisiert, der Ausbruch einer massiven Debattenkultur, wo der Arbeitsplatz, die Straßenecke, der öffentliche Platz, Universitäten und Schulen Schauplätze leidenschaftlicher Diskussionen darüber sind, wie der Kampf vorangebracht werden kann, wer die Feinde des Kampfes sind, über seine Organisationsmethoden und allgemeinen Ziele, wie Trotzki und John Reed sie in ihren Büchern über die Russische Revolution von 1917 beschrieben haben und die vielleicht das wichtigste "Warnzeichen" für die Bourgeoisie über die Gefahren waren, die von den Ereignissen von Mai/Juni 1968 in Frankreich ausgingen.
Für den Marxismus ist die kommunistische Minderheit eine Emanation der Arbeiterklasse, aber der Arbeiterklasse, gesehen als historische Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft; sie ist kein mechanisches Produkt ihrer unmittelbaren Kämpfe. Sicherlich kann die Erfahrung eines bitteren Klassenkonflikts einzelne Arbeiter zu revolutionären Schlussfolgerungen treiben, aber Kommunisten können auch "gemacht" werden, indem man über die allgemeinen Bedingungen des Proletariats und des Kapitalismus im Allgemeinen nachdenkt, und sie können auch ihren soziologischen Ursprung in Schichten außerhalb des Proletariats haben. So drückt es Marx in der "Deutschen Ideologie" aus:
"In der Entwicklung der Produktivkräfte kommt ein Stadium, wo Produktionskräfte und Verkehrsmittel ins Leben gerufen werden, die unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil stiften, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte sind (...) und was damit zusammenhängt, daß eine Klasse hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft herausgedrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen anderen Klassen forciert wird; eine Klasse, die die Majorität aller Gesellschaftsmitglieder bildet und von der das Bewußtsein über die Notwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein, ausgeht, das sich natürlich auch unter den anderen Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden kann".
Offensichtlich ist die Konvergenz der beiden Dynamiken – der Politisierung der Kämpfe und der Entwicklung der revolutionären Minderheit – wesentlich für das Entstehen einer revolutionären Situation; und wir können sogar sagen, dass eine solche Konvergenz, wie sie der einleitende Abschnitt der Resolution für den Mai 68 in Frankreich feststellt, der Ausdruck einer Verschiebung des Verlaufs der Geschichte hin zu großen Klassenauseinandersetzungen sein kann. In ähnlicher Weise sind die Fortschritte im allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse und das Auftreten politisierter Minderheiten beides an der Wurzel Produkte der unterirdischen Reifung des Bewusstseins, die auch dann weitergehen kann, wenn der offene Kampf aus dem Blickfeld verschwunden ist. Die beiden Dynamiken zu verwechseln, kann aber auch zu falschen Schlussfolgerungen führen, insbesondere zu einer Überschätzung des unmittelbaren Potenzials des Klassenkampfes. Wie der englische Ausdruck besagt: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.
Die Resolution (Punkt 6) warnt uns auch vor den ganz erheblichen Schwierigkeiten, die der Bewusstwerdung der Arbeiterklasse im Wege stehen, dass sie "entweder revolutionär oder nichts" ist. Sie spricht von der Natur der Arbeiterklasse als einer ausgebeuteten Klasse, die allen Zwängen der herrschenden Ideologie unterworfen ist, so dass "das Klassenbewusstsein nicht von Sieg zu Sieg voranschreiten kann, sondern sich nur ungleichmäßig durch eine Reihe von Niederlagen entwickeln kann"; sie stellt auch fest, dass die Klasse in der Dekadenz mit zusätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert ist, zum Beispiel: dem Nichtvorhandensein von Massenorganisationen, in denen die Arbeiter eine politische Kultur aufrechterhalten und entwickeln können; dem Nichtvorhandensein eines Minimalprogramms, was bedeutet, dass der Klassenkampf die schwindelerregenden Höhen des Maximalprogramms erklimmen muss; der Verwendung früherer Instrumente der Arbeiterorganisationen gegen den Klassenkampf, was – insbesondere im Fall des Stalinismus – dazu beigetragen hat, eine Kluft zwischen den echten kommunistischen Organisationen und der Masse der Arbeiterklasse zu schaffen. An anderer Stelle betont die Resolution in Anlehnung an unsere Thesen zum Zerfall die neuen Schwierigkeiten, die durch die besonderen Bedingungen der letzten Phase des kapitalistischen Niedergangs entstehen.
Eine dieser Schwierigkeiten wird in der Resolution ausführlich behandelt: die Gefahr, die von klassenübergreifenden Kämpfen wie den Gelbwesten in Frankreich oder den Volksaufständen ausgeht, die durch die zunehmende Verelendung der Massen in den weniger "entwickelten" Ländern ausgelöst werden. In all diesen Bewegungen, in einer Situation, in der die Arbeiterklasse ein sehr niedriges Niveau der Klassenidentität hat und noch weit davon entfernt ist, ihre Kräfte so zu bündeln, dass sie dem Zorn und der Unzufriedenheit, die sich in der Gesellschaft aufbauen, eine Perspektive geben könnte, nehmen die Proletarisierten nicht als eigenständige soziale und politische Kraft teil, sondern als eine Masse von Individuen. In einigen Fällen sind diese Bewegungen nicht nur klassenübergreifend und vermischen proletarische Forderungen mit den Bestrebungen anderer sozialer Schichten (wie im Fall der Gelbwesten), sondern vertreten offen bürgerliche Ziele, wie die Demokratieproteste in Hongkong oder die Illusion von nachhaltiger Entwicklung oder Rassengleichheit innerhalb des Kapitalismus, wie im Fall der Youth-for-Climate-Märsche und der Black-Lives-Matter-Proteste. Die Resolution ist nicht ganz präzise, was die hier zu treffende Unterscheidung angeht, was ein Spiegelbild breiterer Probleme in den Analysen der IKS zu solchen Ereignissen ist: daher die Notwendigkeit eines speziellen Abschnitts in diesem Bericht, der diese Fragen klärt.
"Aufgrund der gegenwärtigen großen Schwierigkeiten der Arbeiterklasse bei der Entwicklung ihrer Kämpfe, aufgrund ihrer Unfähigkeit, im Moment ihre Klassenidentität wiederzuerlangen und eine Perspektive für die gesamte Gesellschaft zu eröffnen, neigt das soziale Terrain dazu, von klassenübergreifenden Kämpfen besetzt zu sein, denen insbesondere das Kleinbürgertum den Stempel aufdrückt. (...) Diese klassenübergreifenden Bewegungen sind das Ergebnis einer Perspektivlosigkeit, die die Gesellschaft als ganze betrifft, einschließlich eines wichtigen Teils der herrschenden Klasse selbst. (...) Der Kampf um die Klassenautonomie des Proletariats ist in dieser Situation, die durch die Verschärfung des Zerfalls des Kapitalismus diktiert wird, von entscheidender Bedeutung:
- gegen klassenübergreifende Kämpfe;
- gegen Teilbereichskämpfe aller Arten von sozialen Kategorien, die eine falsche Illusion einer „Schutzgemeinschaft“ vermitteln;
- gegen die Mobilisierungen auf dem faulen Terrain von Nationalismus, Pazifismus, „ökologischer“ Reform usw." (Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, 23. Kongress der IKS)
Klassenübergreifende Kämpfe und partielle Kämpfe sind Hindernisse für die Entwicklung des Arbeiterkampfes. Wir haben in letzter Zeit gesehen, wie schwer es der IKS gefallen ist, diese beiden Fragen zu meistern:
- Wir haben die Gelbwesten zu Beginn als eine Bewegung mit positiven Elementen für den Klassenkampf gesehen (wegen des Themas der Ablehnung der Gewerkschaften);
- in der Jugendbewegung um die Klimafrage, die ein Teilbereichskampf ist, haben wir die Mobilisierung der Jugendlichen als etwas Positives gesehen und dabei Punkt 12 unserer Plattform vergessen;
- bei der Ermordung von George Floyd gab es Tendenzen, sie als eine klassenübergreifende Bewegung zu sehen, als die Empörung, die sie auslöste, zu einer Mobilisierung auf einem direkt bürgerlichen Terrain führte, die eine demokratischere Polizei und Justiz forderte.
Die Einleitung zur Diskussion über den Klassenkampf am 23. Kongress erinnerte daran, dass die Analyse der Bewegungen des Arabischen Frühlings nicht in die kritische Bilanz aufgenommen wurde, die wir seit dem 21. Kongress durchführten, trotz ungeklärter Differenzen, insbesondere „der Fragen opportunistischer Ausrutscher, die wir in der Vergangenheit z.B. gegenüber der klassenübergreifenden Bewegung des Arabischen Frühling und anderer machten“[5].
Wenn die Organisation in ihrer Intervention auch nicht den Begriff "Interklassismus" benutzte, um diese Bewegungen zu qualifizieren, so beschrieb sie sie doch in einer Weise, die alle Merkmale einer klassenübergreifenden Bewegung entwickelte und zeigte, dass sie über deren Wesen nicht völlig im Dunkeln tappte: "Die Arbeiterklasse hat bis anhin noch nicht als eine selbständige Kraft auftreten können in dem Sinne, dass sie die Richtung der Revolten, welche sich oft als Revolten aller ausgebeuteten Schichten, der ruinierten Bauernschaft und der verarmenden Mittelschichten manifestierten, hätte in die Hände nehmen können."[6]
Die damals entwickelte Position – „Im Allgemeinen steht die Arbeiterklasse nicht an der Spitze dieser Rebellion, aber sie spielt sicherlich eine wesentliche Rolle und übt Einfluss aus, was sich an den Organisationsmethoden der Bewegung und in einigen Fällen an der spezifischen Entwicklung der Arbeiterkämpfe ablesen lässt, wie die Streiks in Algerien und vor allem die große Streikwelle in Ägypten“[7] – schaffte es nicht, das Klassenterrain, auf dem sie sich entwickelten, genau zu verorten oder die Dynamik der Arbeiterkomponente herauszuarbeiten, die in diesen Bewegungen zu finden war.
- Unsere Analyse basierte auf einer von Empirie geprägten Herangehensweise: Der Vergleich mit dem Iran 1979, der sicherlich anregend war, wurde herangezogen, ohne ihn in die neue Situation zu stellen, ohne ihn mit Hilfe unseres Rahmens zu rekontextualisieren: "Bei dem Versuch, den Klassencharakter dieser Rebellionen zu begreifen, muss man deshalb zwei sich ergänzende Fehler vermeiden: auf der einen Seite die Vermengung all dieser Massen mit dem Proletariat (eine Position, die am deutlichsten von der Groupe Communiste Internationaliste - GCI verkörpert wird) und auf der anderen Seite die Ablehnung alles Positiven in den Revolten, da sie nicht explizite Arbeiterrevolten sind. "[8] Der zweite Teil des Zitats macht Zugeständnisse an eine Herangehensweise, die "positive Punkte" und "negative Punkte" betrachtet, ohne sie auf ihren Klassencharakter zu gründen.
- Eine Überschätzung dieser Bewegungen: "All diese Erfahrungen sind wichtige Schritte bei der Entwicklung eines echten revolutionären Bewusstseins. Aber der Weg in dieser Richtung ist noch sehr lang, es stehen noch viele Hindernisse im Weg, Illusionen und ideologische Schwächen"[9]; "Alle diese Revolten sind eine großartige Erfahrung auf dem Weg hin zu einem revolutionären Bewusstsein"[10].
Obwohl die Organisation zu Recht darauf hinwies, dass die Indignados-Bewegung und die Aufstände der ausgebeuteten Klassen und insbesondere der Arbeiterklasse im Nahen Osten einen gemeinsamen Ursprung in den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise haben, tat sie dies, indem sie alle Bewegungen, ob sie nun aus den zentralen Ländern oder aus den Ländern der Peripherie kamen, auf die gleiche Ebene stellte oder sie amalgamierte. Das heißt, ohne sie in den Rahmen der Kritik der Theorie des schwachen Gliedes zu stellen (siehe die Resolution zur internationalen Lage vom 20. Kongress)[11].
Die IKS definierte die Indignados-Bewegung als eine Bewegung der Arbeiterklasse, gekennzeichnet durch:[12]
- einen Verlust der Klassenidentität: "Dies erklärt zum Teil, weshalb die Teilnahme der Arbeiterklasse an diesen Bewegungen nicht im Vordergrund stand, sondern dass sich eher Arbeiter als Individuen beteiligten (Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Rentner…), die nach einer Klärung suchen, sich gefühlsmäßig beteiligen, die aber nicht über die Kraft, den Zusammenhalt und die Klarheit verfügen, die man erlangt, wenn man kollektiv als Klasse handelt".
- die Anwesenheit nicht-proletarischer Schichten: "Unter den Empörten gibt es viele Mitglieder nicht-proletarischer Schichten, insbesondere eine immer stärker lohnabhängig werdende Mittelschicht". "Obgleich die Bewegung als sehr vage und ungenau definiert erscheint, stellt dies ihren Klassencharakter nicht infrage, vor allem wenn wir die Entwicklung in ihrer Dynamik betrachten, d.h. im Hinblick auf die Zukunft (...) Die Arbeiterklasse ist in dieser Bewegung nicht als führende Kraft zu erkennen, auch gibt es keine spürbare Mobilisierung von den Arbeitsplätzen ausgehend. Man spürt vielmehr die Präsenz der Arbeiterklasse anhand der Dynamik des Suchens, der Klärung, der Vorbereitung des gesellschaftlichen Nährbodens, der Erkenntnis, dass wichtige Kämpfe auf uns zukommen. Darin steckt seine Bedeutung, auch wenn dies nur ein sehr kleiner, sehr unsicherer Schritt ist."
Unsere Texte aus dieser Zeit machen keinen Unterschied zwischen der Indignados-Bewegung in Spanien und den Revolten in den arabischen Ländern. Es gibt jedoch sehr wichtige Unterschiede: In Spanien dominierte der proletarische Flügel die Indignados-Bewegung zwar nicht, aber er kämpfte für seine eigene Autonomie angesichts der Bemühungen von "Demokratie Jetzt", ihn zu zerstören. In den arabischen Ländern war das Proletariat bestenfalls nicht in der Lage, sich auf seinem eigenen Terrain zu behaupten oder seine eigenen Kampfmethoden zu nutzen, um sein Bewusstsein zu entwickeln, und ließ sich hinter nationalistischen und demokratischen Fraktionen mobilisieren[13].
Ohne jemals die Existenz des Zerfalls oder das Gewicht der tiefgreifenden Schwierigkeiten in diesen Bewegungen zu leugnen, stand die Analyse dieser Bewegungen in den arabischen Ländern mit ihrer Betonung der "positiven Aspekte" der sozialen Revolten[14] nicht im Kontext des Zerfalls[15]. Dies führte dazu, die entschiedene Anprangerung des demokratischen und nationalistischen Giftes abzuschwächen, das in diesen Ländern so mächtig war, und der Gefahr, die es vor allem in diesen Teilen der Welt darstellte, aber auch und vor allem der Propaganda der westlichen Bourgeoisien gegenüber dem europäischen Proletariat, die die Notwendigkeit der Demokratie in den arabischen Ländern betonte.
Die Ungeduld, nach der Wiederbelebung der Kämpfe im Jahr 2003 überall und schnell einen Ausweg aus dem Rückzug nach 1989 zu sehen, war eine schwere Last: "Die jüngste internationale Welle von Revolten gegen die kapitalistische Sparpolitik öffnet die Tür zu einer anderen Lösung: die Solidarität aller Ausgebeuteten über religiöse oder nationale Spaltungen hinweg; Klassenkampf in allen Ländern mit dem ultimativen Ziel einer weltweiten Revolution, die die Negation der nationalen Grenzen und Staaten sein wird. Ein oder zwei Jahre zuvor wäre eine solche Perspektive für die meisten völlig utopisch gewesen. Heute betrachtet eine wachsende Zahl von Menschen die globale Revolution als eine realistische Perspektive gegenüber der kollabierenden Ordnung des globalen Kapitals."[16]
Die Position der IKS war nicht nur von einer allgemeinen Überschätzung der Situation geprägt, sondern innerhalb dieser von einer Überschätzung der Bedeutung der Bewegungen in den arabischen Ländern für die Entwicklung einer proletarischen Perspektive. Ebenso wirkte sich die Tendenz, die Bedeutung der Debatte im politischen proletarischen Milieu zu vernachlässigen, negativ aus: Während der Beitrag des NCI zur Analyse der Piqueteros-Bewegung 2002-4 sehr wichtig gewesen war, war die IKS nicht in der Lage, die von Internationalist Voice daran geübte Kritik zu berücksichtigen (die allerdings nicht auf dem gleichen Niveau der Klarheit war wie die Analyse des NCI).
Wir können aus diesen Tatsachen schließen, dass die IKS zwar in der Analyse der Bewegungen in den arabischen Ländern im Jahr 2011 ihren massenhaften Charakter untersuchte, auch ihre Gleichzeitigkeit mit anderen Bewegungen in den westlichen Ländern sowie die Formen, die diese Bewegungen angenommen haben (Versammlungen etc.), auch die Anwesenheit der Arbeiterklasse (im Unterschied zum chaotischen Charakter einiger klassenübergreifender Unruhen oder von Mobilisierungen, die von linken Gruppen kontrolliert waren, wie z.B. den Piqueteros), doch all dies, ohne einen Schritt zurückzutreten und einen klaren Blick auf das zu haben, was sie wirklich darstellten, in einem Kontext, in dem die erfahrensten Teile des Weltproletariats nicht in der Lage waren, eine Perspektive und eine Richtung anzubieten. Dieser Ansatz war im Immediatismus gefangen.
In dem Gesamtzusammenhang, der die Ungeduld und Überstürzung begünstigte, die in der Organisation herrschte, in der Vorstellung, dass das Weltproletariat den Rückzug nach 1989 bereits massiv überwunden habe, war dieser Immediatismus sicherlich das Vorzimmer zum Opportunismus, der Ausgangspunkt für ein Abgleiten in den Opportunismus und das Aufgeben von Klassenpositionen, was durch die verschiedenen Arten, wie sich dieser Immediatismus manifestierte, belegt werden kann:
- die eher widersprüchliche Art unserer Stellungnahmen zu den Aufständen im Nahen Osten;
- das Fehlen von Kohärenz und Artikulation auf der Grundlage der Grundsatzpositionen der Organisation, die unseren politischen Analysen zugrunde liegen, oder sogar das Vergessen oder Aufgeben dieser Positionen (z.B. das Ersetzen des Konzepts der klassenübergreifenden Kämpfe durch "soziale Revolten“, ohne wirklich zu erklären, was wir mit "sozialen Revolten" meinten);
- die eher empirische und oberflächliche Herangehensweise, die dazu neigt, an der Oberfläche der Dinge zu bleiben und den politischen Rahmen der IKS zu ersetzen;
- die große Rolle, die unsere Auffassung der Empörung als einseitig positiver Faktor für die Entwicklung des proletarischen Bewusstseins (oder sogar als Hinweis auf den positiven Charakter einer Bewegung, angewandt auf alle Arten von Bewegungen) spielte;
- die Tendenz, positive Elemente dort zu sehen, wo die Situation von den größten Gefahren für die Klasse beherrscht wurde, was zu einer Schwächung der Anprangerung der bürgerlichen Ideologie durch die Organisation führte.
Während all diese Elemente zusammen die Bedingungen für offen opportunistische Positionen mit sich bringen – wenn die proletarische Klarheit und die Verteidigung der Klassenpositionen durch die IKS diesen schädlichen Tendenzen nicht ein Hindernis in den Weg stellt –, sollte betont werden, dass die IKS keine Positionen eingenommen hat, die ihrer Plattform und ihren Klassenpositionen direkt widersprechen. Wir müssen diese Schwierigkeiten auf der Ebene dessen einordnen, was sie wirklich sind (was nicht bedeutet, ihre Bedeutung und Gefahren zu relativieren). Die Analyse und Intervention der IKS wurde durch den Immediatismus geschwächt (mit allem, was dies auf der Ebene der Zweideutigkeit, der Oberflächlichkeit, des Mangels an Strenge, des Vergessens der Verteidigung unseres Rahmens und unserer politischen Positionen und einer Dynamik, die dem Opportunismus Tür und Tor öffnet, bedeutet), aber wir können nicht schlussfolgern, dass sie direkt opportunistische Positionen einnahm (was hingegen in Bezug auf die Jugendbewegung um die Ökologie der Fall war).
Der Ausrutscher gegenüber der Jugendbewegung gegen die ökologische Zerstörung zeigte ein Vergessen von Punkt 12 unserer Plattform: "Die ökologische Frage, wie alle sozialen Fragen (ob Erziehung, familiäre und sexuelle Beziehungen oder was auch immer) sind dazu bestimmt, eine enorme Rolle in jeder zukünftigen Bewusstwerdung und jedem kommunistischen Kampf zu spielen. Das Proletariat, und nur es, hat die Fähigkeit, diese Fragen in sein eigenes revolutionäres Bewusstsein zu integrieren. Dadurch wird es dieses Bewusstsein verbreitern und vertiefen. Es wird so in der Lage sein, alle "Teilbereichskämpfe" zu führen und ihnen eine Perspektive zu geben. Die proletarische Revolution wird sich im Kampf um den Kommunismus mit all diesen Problemen ganz konkret auseinandersetzen müssen. Aber sie können nicht der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer revolutionären Klassenperspektive sein. In Abwesenheit des Proletariats sind sie schlimmstenfalls der Ausgangspunkt für neue Runden der Barbarei. Das Flugblatt und der Artikel der IKS in Belgien sind krasse Beispiele für Opportunismus. Diesmal ist es nicht Opportunismus in organisatorischen Fragen, sondern Opportunismus in Bezug auf die Klassenpositionen, wie sie in unserer Plattform dargelegt sind" (Genosse S., Beitrag im internen Bulletin 2019).
Wir müssen zugeben, dass der Bericht über den Klassenkampf an den 23. Kongress auf dieser Ebene Zweideutigkeiten enthielt. Er nahm eine zweideutige Position über die Natur dieser Bewegungen ein und ließ die Tür offen für die Idee, dass sie eine positive Rolle in der Entwicklung des Bewusstseins spielen könnten.[17]
Wir haben uns schwer getan, zu erkennen, was diese beiden Arten von Bewegungen unterscheidet, mit der Tendenz, sie zu amalgamieren, sie auf dieselbe Ebene zu stellen. Was ist es also, was klassenübergreifende Kämpfe und Teilbereichskämpfe unterscheidet? In klassenübergreifenden Bewegungen werden die Forderungen der Arbeiter verwässert und mit kleinbürgerlichen Forderungen vermischt (vgl. die Gelbwesten). Das ist nicht der Fall bei Teilbereichskämpfen, die sich im Wesentlichen auf der Ebene des Überbaus ausdrücken, deren Forderungen sich auf Themen konzentrieren, die die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft aussparen, auch wenn sie auf den Kapitalismus als Verantwortlichen verweisen können, wie bei der Klimafrage oder bei der Unterdrückung der Frauen, die dem kapitalistischen Patriarchat angelastet wird. Sie sind auch Faktoren der Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse, Spaltungen mit Arbeiter*innen, die im Energiesektor beschäftigt sind im ersten Fall, oder durch die Verstärkung von Spaltungen zwischen den Geschlechtern. Arbeiter*innen können in Teilbereichskämpfe hineingezogen werden, aber das macht sie nicht klassenübergreifend. Es geht darum, den Unterschied zwischen Teilbereichskämpfen und klassenübergreifenden Kämpfen zu klären, und was sie gemeinsam haben können.
In den 2010er Jahren erkannte die IKS die Empörung als einen wichtigen Bestandteil des Klassenkampfes des Proletariats und als einen Faktor seiner Bewusstwerdung. Allerdings hatte die IKS die Tendenz, ihre Bedeutung "an sich" auf eine etwas metaphysische Art und Weise zu definieren. Eine der Wurzeln unserer Schwierigkeiten liegt in der unangemessenen und einseitigen Verwendung des Begriffs der Empörung als etwas notwendigerweise Positives, ein Anzeichen für Reflexion und sogar für die Entwicklung des Klassenbewusstseins, ohne die Klassennatur ihres Ursprungs oder das Klassenterrain, auf dem sie zum Ausdruck kommt, zu berücksichtigen. Mit dem weiteren Eintauchen in den Zerfall wird es viele Bewegungen geben, die von Empörung, Abscheu, Wut unter großen Schichten der Gesellschaft gegen die Erscheinungen dieser Periode angetrieben werden.
Der Bericht über den Klassenkampf für den 23. IKS Kongress widmet sich unter anderem der Ausbreitung der sozialen Empörung gegen die zerstörerische Natur der kapitalistischen Gesellschaft (z.B. in den Reaktionen gegen die Ermordung von Schwarzen, zur Klimafrage oder gegen die Belästigung von Frauen). Die dabei behauptete Idee, dass diese Bewegungen, die auf Wut basieren, durch das Proletariat übernommenen werden könnten, wenn es nur seine Klassenidentität wiedererlangte und auf seinem Terrain kämpfte, führt eine Zweideutigkeit darüber ein, ob das Proletariat die Führung über solche Bewegungen in ihrer gegenwärtigen Form „übernehmen“ kann. Dies steht im Widerspruch zu dem, was in Punkt 12 unserer Plattform gesagt wird: “Der Kampf gegen die ökonomischen Grundlagen des Systems beinhaltet den Kampf gegen den Überbau der kapitalistischen Gesellschaft, aber umgekehrt trifft dies nicht zu." Außerdem behindern solche partiellen Kämpfe tendenziell den Kampf der Arbeiterklasse, ihre Autonomie, und deshalb weiß die Bourgeoisie sehr wohl, wie sie sie zur Erhaltung der kapitalistischen Ordnung übernehmen kann. In diesem Sinne ist die Empörung an sich kein Faktor in der Entwicklung des Klassenbewusstseins: Alles hängt von dem Terrain ab, auf dem sie zum Ausdruck kommt. Diese emotionale Reaktion, die von verschiedenen Klassen kommen kann, führt nicht automatisch zu einer Reflexion, die zur Entwicklung des Klassenbewusstseins beitragen kann.
Die Organisation muss klären: Was wären im historischen Maßstab die Bedingungen für eine autonome proletarische Bewegung, die erfüllt sein müssten, um all den verschiedenen Unmutsäußerungen und Unterdrückungen, die von der kapitalistischen Gesellschaft auferlegt werden und die heute, in Ermangelung einer proletarischen Führung, ihr einziges Ventil auf dem Terrain klassenübergreifender oder bürgerlicher Mobilisierungen finden, einen völlig neuen Fokus und eine neue Richtung zu geben.
Die Auswirkung der kapitalistischen Krise auf die gesamte Gesellschaft wirft eine weitere Frage auf, die es zu klären gilt: Wie ist das Verhältnis des Kampfes des Proletariats zu anderen Klassen, zu nicht ausbeuterischen Zwischenschichten, die im Kapitalismus noch existieren und in der Lage sind, eigene Mobilisierungen gegen die Politik des Staates zu entwickeln (wie z.B. die Bauernbewegungen)?
Fast ein Jahrzehnt ist seit der Indignados-Bewegung vergangen. So wichtig sie auch war, sie markierte keineswegs eine Umkehr im Rückzug der 1989 begonnen hatte. Wir wissen auch, dass die Bourgeoisie – vor allem in Frankreich, wo die Gefahr einer politischen Ansteckung am deutlichsten war – Gegenmaßnahmen ergriff, um zu verhindern, dass eine ähnliche oder weiter fortgeschrittene Bewegung in der traditionellen "Heimat" der Revolutionen ausbricht.
In vielerlei Hinsicht hat sich der Rückzug der Arbeiterklasse nach dem Abklingen der Bewegungen um 2011 vertieft. Die Illusionen, die im Arabischen Frühling vorherrschten, sind angesichts der Unfähigkeit der Arbeiterklasse, den verschiedenen Revolten eine Führung zu geben, in Barbarei, Krieg, Terrorismus und grausamer Unterdrückung ertränkt worden. In Europa und den USA hat die populistische Flut, zum Teil genährt durch die barbarischen Entwicklungen in Afrika und im Nahen Osten, die die Flüchtlingskrise und den Rückschlag des islamischen Terrorismus auslösten, einen Teil der Arbeiterklasse überrollt. In der "Dritten Welt" provozierte die zunehmende wirtschaftliche Misere tendenziell Revolten, bei denen die Arbeiterklasse wiederum nicht in der Lage war, sich auf ihrem eigenen Terrain zu manifestieren. Noch deutlicher kam die Tendenz der sozialen Unzufriedenheit, einen klassenübergreifenden Charakter anzunehmen, in einem zentralen Land wie Frankreich mit den Gelbwesten-Demonstrationen zum Ausdruck, die ein ganzes Jahr lang anhielten. Ab 2016, mit dem Machtantritt von Trump und dem Votum für den Brexit in Großbritannien, erreichte der Aufstieg des Populismus spektakuläre Ausmaße und zog einen Teil der Arbeiterklasse in seine Kampagnen gegen die "Eliten" hinein. Und im Jahr 2020 beschleunigte sich dieser ganze Zerfallsprozess mit der Pandemie noch dramatischer. Das durch die Pandemie erzeugte Klima der Angst und die daraus resultierende Abschottung haben die Atomisierung der Arbeiterklasse weiter verstärkt und tiefgreifende Schwierigkeiten für eine Klassenantwort auf die verheerenden wirtschaftlichen Folgen der Covid-19 Krise geschaffen.
Und doch sahen wir, nicht lange bevor die Pandemie zuschlug, eine neue Entwicklung der Klassenbewegungen: die Streiks der Lehrer und der General Motors Autobeschäftigten in den USA; die weit verbreiteten Streiks im Iran 2018, die die Frage der Selbstorganisation aufwarfen, auch wenn sie, entgegen den Übertreibungen von Teilen des proletarischen Milieus, noch weit von der Bildung von Räten entfernt waren. Insbesondere diese Streiks im Iran warfen die Frage der Klassensolidarität angesichts der staatlichen Repression auf.
Vor allem haben wir die Kämpfe in Frankreich Ende 2019 gesehen, wo wichtige Teile der Arbeiterklasse um Klassenforderungen herum auf der Straße waren und die Gelbwesten-Bewegung beiseite schoben, die auf eine symbolische Präsenz im Hintergrund der Aufmärsche reduziert wurde.
Es gab Parallelen in anderen Ländern, zum Beispiel in Finnland. Aber dann traf die Pandemie das Herz Europas und lähmte weitgehend die Möglichkeit der Kämpfe in Frankreich, eine internationale Dimension anzunehmen. Dass dies eine reale Möglichkeit gewesen wäre, zeigte in verschiedensten Ländern der Ausbruch von Streiks von Arbeiter*innen zur Verteidigung ihrer Arbeitsbedingungen angesichts der völlig unzureichenden Gesundheitsmaßnahmen von Staat und Arbeitgebern.[18] Diese Bewegungen konnten sich angesichts der restriktiven Bedingungen der ersten Aussperrung nicht weiterentwickeln, obwohl die zentrale Rolle der Arbeiterklasse bei der Aufrechterhaltung des sozialen Lebens von den Sektoren hervorgehoben wurde, die keine andere Wahl hatten, als während der Aussperrung weiterzuarbeiten: Gesundheit, Transport, Lebensmittelversorgung usw. Die herrschende Klasse bemühte sich sehr, diese Arbeiter*innen als Helden*innen im Dienste der Nation darzustellen, aber die Heuchelei der Regierungen – und damit die Klassengrundlage für die "Opfer", die die Lohnabhängigen zu erbringen hatten – war für viele offensichtlich. In Großbritannien zum Beispiel gab es wütende Proteste der Angestellten im Gesundheitswesen, als klar wurde, dass ihr "Heldentum" keine Lohnerhöhung wert war.[19]
Zusätzlich zu der Pandemie sah sich die Arbeiterklasse schnell mit weiteren Hindernissen für die Entwicklung des Klassenbewusstseins konfrontiert, vor allem in den USA, wo die Black-Lives-Matter-Proteste die Aufmerksamkeit auf das "einzige Thema" der Rasse lenkten, gefolgt von dem riesigen Wahlkampf, der demokratischen Illusionen neuen Auftrieb gab. Beide Kampagnen hatten eine große internationale Wirkung. Insbesondere in den USA bleibt die Gefahr, dass die Arbeiterklasse über die Identitätspolitik von rechts und links in gewaltsame Auseinandersetzungen hinter konkurrierenden bürgerlichen Fraktionen hineingezogen wird, sehr real: Der dramatische Angriff von Trump-Anhängern auf das Kapitol zeigt, dass der Trumpismus, auch wenn Trump aus der Regierung entfernt wurde, als mächtige Kraft auf der Straße bestehen bleibt. Schließlich sehen sich die Arbeiter jetzt mit einer weiteren Welle der Pandemie und einer neuen Serie von Abriegelungen konfrontiert, die nicht nur die staatlich erzwungene Atomisierung der Klasse erneuern, sondern auch zu Explosionen der Frustration gegen die Lock-downs geführt haben, die einige Teile der Klasse in reaktionäre Proteste hineingezogen haben, die von Verschwörungstheorien und der Ideologie des "souveränen Individuums" angeheizt wurden.
Für den Moment hat die Kombination all dieser Probleme, aber vor allem die durch die Pandemie auferlegten Bedingungen, als gewichtige Bremse für die fragile Wiederbelebung des Klassenkampfes zwischen 2018 und 2020 gewirkt. Es ist schwer vorherzusagen, wie lange diese Situation andauern wird, und deshalb können wir keine konkreten Perspektiven für die Entwicklung des Kampfes in der kommenden Periode geben. Was wir jedoch sagen können, ist, dass die Arbeiterklasse mit brutalen Angriffen auf ihre Lebensbedingungen konfrontiert sein wird. Dies hat bereits in einer Reihe von Sektoren begonnen, in denen die Arbeitgeber ihre Belegschaften drastisch reduziert haben. Die Regierungen der zentralen Länder des Kapitalismus zeigen immer noch eine gewisse Vorsicht im Umgang mit der Klasse, indem sie Firmen subventionieren, um sie in die Lage zu versetzen, ihre Angestellten zu halten, indem sie solche, die nicht von zu Hause aus arbeiten können, "beurlauben", um einen sofortigen Absturz in die Verarmung zu verhindern. Ebenso indem sie Maßnahmen ergreifen, um Zwangsräumungen von Mieter*innen zu vermeiden, die ihre Mieten nicht bezahlen können. Dies kostet die Regierungen enorme Summen und erhöht die ohnehin schon angeschwollene Schuldenlast erheblich. Wir wissen, dass früher oder später die Arbeiter*innen dafür zur Kasse gebeten werden.
Die dramatischen Entwicklungen in der Weltlage seit dem letzten IKS-Kongress haben zwangsläufig zu Debatten sowohl innerhalb der Organisation als auch in unserem Milieu von Kontakten und Sympathisant*innen geführt. Diese Debatten haben sich auf die Bedeutung der Pandemie und die Beschleunigung des Zerfalls konzentriert, aber sie haben auch neue Fragen über das Kräfteverhältnis zwischen den Klasse aufgeworfen. Auf dem 24. Kongress unserer Sektion in Frankreich (Révolution Internationale, RI) im Sommer 2020 wurde Kritik am Bericht über den Klassenkampf geäußert, vor allem an seiner Einschätzung der Bewegung gegen die Rentenreformen in Frankreich Anfang 2019. Insbesondere Genossin M. argumentierte – unserer Meinung nach zurecht –, dass darin behauptet wurde, dass die Bewegung einen gewissen Grad an Politisierung erreicht habe, ohne ausreichende Beweise für einen solchen Fortschritt zu liefern; gleichzeitig mangelte es dem Bericht an Klarheit hinsichtlich der Unterscheidung zwischen der Politisierung von Kämpfen und der Politisierung von Minderheiten – eine Unterscheidung, die der vorliegende Bericht zu klären versucht hat. In ihrem Text warnt M. vor einer Überschätzung des gegenwärtigen Niveaus des Klassenkampfes (einem Fehler, den wir in der Vergangenheit oft begangen haben – vgl. den Bericht an den 21. Kongress):
"Die Tendenz, die Kämpfe zu politisieren, zeigte sich keineswegs in der Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich. Es gab keinen Raum für eine proletarische Debatte, keine Generalversammlung. Die Politisierung der Arbeiterklasse auf ihrem eigenen Klassenterrain wird untrennbar mit ihrem Auftauchen aus dem tiefgreifenden Rückzug verbunden sein, den sie seit 1989 erlebt hat. Das Proletariat in Frankreich, wie in allen Ländern, hat noch nicht den Weg zurück zu seiner revolutionären Perspektive gefunden, ein Weg, der durch den Zusammenbruch des Ostblocks blockiert wurde. Mit der Verschärfung der Krise und den Angriffen auf ihre Lebensbedingungen ist es offensichtlich, dass die Arbeiterklasse sich heute mehr und mehr bewusst wird, dass der Kapitalismus ihr keine Zukunft zu bieten hat. Sie sucht nach einer Perspektive, aber sie weiß noch nicht, dass diese Perspektive in ihren Händen und in ihren Kämpfen verborgen und verschüttet ist. Dieses Bewusstsein über die monströse Realität der heutigen Welt bedeutet keine Politisierung auf ihrem eigenen Klassenterrain, d.h. außerhalb des Rahmens der bürgerlichen Demokratie. Trotz seines enormen kämpferischen Potentials (das durch den Einbruch der Pandemie nicht erschöpft wurde) stellt das Proletariat in Frankreich noch nicht die Frage der proletarischen Revolution. Auch wenn das Wort "Revolution" auf einigen Transparenten wieder aufgetaucht ist, welchen Inhalt hat es? Ich glaube nicht, dass es eine Frage der "proletarischen" Revolution ist. Die Arbeiterklasse in Frankreich hat ihre Klassenidentität noch nicht wiedergefunden (die in der Bewegung gegen die Rentenreform noch sehr embryonal war). Es gibt in ihr immer noch eine Ablehnung oder zumindest ein sehr tiefes Misstrauen gegenüber dem Wort 'Kommunismus'."
Darüber hinaus argumentiert M., dass diese Überschätzung der Tendenz zur Politisierung die Tür für eine rätistische Vision öffnen kann: “Die Politisierung der Kämpfe kann nur verifiziert werden, wenn die revolutionäre Avantgarde beginnt, einen gewissen Einfluss in den Arbeiterkämpfen zu haben (vor allem in den Vollversammlungen). Dies ist heute nicht der Fall. Der Bericht von RI öffnet daher die Tür für eine rätistische Vision, indem er behauptet, dass es bereits 'die Anzeichen einer Politisierung des Kampfes' gebe".
Die Gefahr einer rätistischen Sichtweise wird auch in den Divergenzen angesprochen, die Genosse S. auf und nach dem 23. Kongress äußerte, jedoch nicht mit demselben Ausgangspunkt. Diese Divergenzen haben sich seither vertieft und zu einer öffentlichen Debatte geführt, die ihrerseits eine gewisse Wirkung auf einige unserer Kontakte hatte. Insofern sie sich auf das Problem des Gleichgewichts der Klassenkräfte beziehen, berühren diese Divergenzen drei Schlüsselfragen:
- das Potenzial und die Grenzen der wirtschaftlichen Kämpfe,
- die Frage der unterirdischen Reifung,
- die Frage der "politischen Niederlagen". Hier hat die Veröffentlichung der ersten Runde der Debatte über die Divergenzen einige unserer Kontakte dazu veranlasst, Fragen darüber zu stellen, was in den 1980er Jahren passiert sei.
In seiner Antwort auf unsere Replik in einem internen Bulletin bekräftigt S., wo er mit dem IKS über die Notwendigkeit des ökonomischen Kampfes übereinstimmt: weil die Arbeiter ihre physische Existenz gegen die kapitalistische Ausbeutung verteidigen müssen; weil die Arbeiter dafür kämpfen müssen, über den Arbeitstag hinaus ein "Leben" zu haben, damit sie Zugang zur Kultur, zu politischen Debatten usw. haben; und weil, wie Marx es ausdrückte, eine Klasse, die auf dieser Ebene nicht für ihre Interessen kämpfen kann, sich gewiss nicht als eine zur Erneuerung der Gesellschaft fähige Kraft präsentieren kann. Aber gleichzeitig, so argumentiert er, sind unter den Bedingungen des Zerfalls, nicht zuletzt durch die Untergrabung einer Perspektive für die soziale Revolution durch die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Ostblocks, die historischen Verbindungen zwischen der ökonomischen und der politischen Dimension des Kampfes so weit zerbrochen, dass diese Einheit nicht durch eine Entwicklung der ökonomischen Kämpfe allein wiederhergestellt werden kann. Und hier zitiert er Rosa Luxemburg in Sozialreform oder Revolution, um die IKS vor einem Rückfall in eine rätistische Sichtweise zu warnen, in der die "Arbeiter selbst", ohne die unverzichtbare Rolle der revolutionären Organisation, ihre revolutionäre Perspektive wiedererlangen können: "Der Sozialismus wohnt also dem alltäglichen Kampfe der Arbeiterklasse durchaus nicht als Tendenz inne, er wohnt inne nur hier den immer mehr sich zuspitzenden objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft, dort der subjektiven Erkenntnis von der Unerlässlichkeit der Aufhebung durch eine soziale Umwälzung."
Daraus schließt S., dass die Hauptgefahr, der sich die IKS gegenübersieht, eine rätistische Abweichung ist, bei der die Organisation es der Wiederbelebung der ökonomischen Kämpfe überlässt, sich "spontan" zu politisieren, und damit ignoriert, was ihre Hauptaufgabe sein sollte: die Durchführung der notwendigen theoretischen Vertiefung, die es der Klasse ermöglichen würde, wieder Vertrauen in den Marxismus und die Möglichkeit einer kommunistischen Gesellschaft zu gewinnen.
Wir haben gesehen, dass die Gefahr des Rätismus nicht von der Hand zu weisen ist, wenn es darum geht, den Prozess der Politisierung zu verstehen: Wir haben schmerzhaft gelernt, dass die Gefahr, übermäßig begeistert auf die Möglichkeiten und die vermeintliche Tiefe der unmittelbaren Kämpfe zu reagieren, allgegenwärtig ist. Wir stimmen auch mit Luxemburg – und mit Lenin – darin überein, dass das sozialistische Bewusstsein nicht das mechanische Produkt des täglichen Kampfes ist, sondern ein Produkt der historischen Bewegung der Klasse, was selbstverständlich die theoretische Ausarbeitung und Intervention der revolutionären Organisation einschließt. Was aber in der Argumentation von S. fehlt, ist jegliche Erklärung des tatsächlichen Prozesses, durch den die revolutionäre Theorie die Massen wieder "ergreifen" kann. Unserer Ansicht nach hängt dies mit einer Meinungsverschiedenheit über die Frage der unterirdischen Reifung zusammen.
In seinem Text heißt es: "Die Antwort fragt, ob ich die Situation heute für schlimmer halte als in den 1930er Jahren (als Gruppen wie Bilan trotz der Niederlage der Klasse zu einer politischen und theoretischen 'unterirdischen Reifung' des Bewusstseins beitrugen), während ich die Existenz einer solchen Reifung in der Gegenwart verneine. Ja, auf der Ebene der unterirdischen Reifung ist die Situation in der Tat schlechter als in den 1930er Jahren, da die Tendenz unter den Revolutionären heute eher in Richtung politischer und theoretischer Regression geht".
Um darauf zu antworten, ist es notwendig, auf unsere ursprüngliche Debatte über die Frage der unterirdischen Reifung zurückzugehen – auf den Kampf gegen die rätistische Auffassung, dass sich das Klassenbewusstsein nur in Phasen des offenen Kampfes entwickelt.
So war MCs[20] Argument in Über die unterirdische Reifung vom Oktober 1983, dass die Ablehnung der unterirdischen Reifung die Rolle der revolutionären Organisation bei der Herausbildung des Klassenbewusstseins zutiefst unterschätzt: "Der Klassenkampf des Proletariats geht durch Höhen und Tiefen, aber das ist nicht der Fall mit dem Klassenbewusstsein: die Idee der Regression des Bewusstseins mit dem Rückzug des Klassenkampfes wird durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung widerlegt, eine Geschichte, in der die Ausarbeitung und Vertiefung der Theorie in einer Periode des Rückzugs weitergeht. Es ist wahr, dass sich das Feld, der Umfang ihrer Aktion verengt, aber nicht ihre Ausarbeitung in der Tiefe".
Genosse S. leugnet natürlich nicht die Rolle der revolutionären Organisation bei der Entwicklung der Theorie. Wenn er also von "unterirdischer Regression" spricht, meint er, dass die kommunistische politische Avantgarde (und damit die IKS) es versäume, die theoretische Arbeit zu leisten, die notwendig wäre, um das Vertrauen der Arbeiterklasse in ihre revolutionäre Perspektive wiederherzustellen – dass sie sich theoretisch und politisch rückwärts bewege.
Aber wir sollten uns daran erinnern, dass der Text von MC die unterirdische Reifung nicht auf die Arbeit der revolutionären Organisation beschränkt:
"Die Arbeit der Reflexion geht in den Köpfen der Arbeiter weiter und wird sich im Aufschwung neuer Kämpfe manifestieren. Es existiert ein kollektives Gedächtnis der Klasse, und dieses Gedächtnis trägt auch zur Entwicklung der Bewusstwerdung und ihrer Ausdehnung in der Klasse bei". Oder noch einmal: "Dieser Prozess der Bewusstseinsentwicklung ist nicht allein den Kommunisten vorbehalten, aus dem einfachen Grund, dass die kommunistische Organisation nicht der einzige Sitz des Bewusstseins ist. Dieser Prozess ist auch das Produkt anderer Elemente der Klasse, die fest auf einem Klassenterrain bleiben oder in diese Richtung tendieren".
Das ist wichtig, weil S. gerade die unterirdische Reifung auf die revolutionäre Organisation allein zu beschränken scheint. Wenn wir ihn richtig verstehen, sei dies, da die IKS zur theoretischen und politischen Regression tendiere, ein Beweis für die "unterirdische Regression", von der er spricht. Natürlich stimmen wir nicht mit dieser Einschätzung der gegenwärtigen Situation des IKS überein, aber das ist eine andere Diskussion. Der Punkt, auf den man sich hier konzentrieren sollte, ist, dass die kommunistische Organisation und das proletarische-politische Milieu nur die Spitze des Eisbergs in einem tieferen Prozess sind, der in der Klasse vor sich geht:
In einer Polemik mit der CWO in International Review 43 über das Problem der unterirdischen Reifung des Bewusstseins haben wir diesen Prozess wie folgt definiert:
"- auf der am wenigsten bewußten Ebene und in den meisten Teilen der Klasse äußert sich dies durch einen wachsenden Widerspruch zwischen dem historischen Wesen, den wirklichen Bedürfnissen der Klasse und der oberflächlichen Unterstützung der Arbeiter für die bürgerlichen Ideen. Dieser Gegensatz mag lange Zeit größtenteils unausgesprochen, verdeckt oder unterdrückt bleiben, oder er mag in seiner negativen Form durch den Verlust von Illusionen und eine Loslösung von den Hauptthemen der bürgerlichen Ideologie auftauchen;
- in einem begrenzteren Teil der Klasse ninmt das in den Reihen vieler Arbeiter, die fest auf einem proletarischen Terrain verwurzelt bleiben, die Form von Diskussionen über die früheren Kämpfe an, mehr oder weniger formalen Diskussionen über die zukünftigen Auseinandersetzungen, das Auftauchen von kämpferischen Kernen in den Fabriken und unter den Arbeitslosen. Die eindruckvollste Verdeutlichung dieses Aspektes des Phänomens der unterirdischen Reifung wurde jüngst mit den Massenstreiks in Polen im Sommer 1980 geliefert, in denen die von den Arbeitern angewandten Kampfmethoden bewiesen, daß sie die Lehren aus den Kämpfen von 1956,1970 und 1976 gezogen hatten.
- In einem Teil der Klasse, der zahlenmäßig noch kleiner, aber dazu bestimmt ist, mit dem Voranschreiten des Kampfes weiter anzuwachsen, nimmt dies die Form einer ausdrücklichen, offenen Verteidigung des kommunistischen Programms an und somit der Umgruppierung einer organisierten marxistischen Avantgarde. Das Auftauchen von kommunistischen Organisationen, das keine Widerlegung des Begriffs der unterirdischen Reifung darstellt, ist sowohl ein Ergebnis wie auch ein aktiver Faktor bei diesem Prozeß." [21]
Was in diesem Modell fehlt, ist ein weiteres Milieu: Leute, die zwar oft nicht direkte Produkte von Klassenbewegungen sind, aber nach kommunistischen Positionen suchen, also der Sumpf (oder ein Teil davon – der Teil, der ein Produkt eines politischen Fortschritts ist, auch wenn er verwirrt ist, im Gegensatz zu den degenerierenden Elementen, die einen Rückschritt von einer höheren Ebene der Klarheit ausdrücken), und jene, die sich expliziter auf die revolutionären Organisationen zubewegen.
Das Auftauchen eines solchen Milieus ist nicht das einzige Anzeichen für eine unterirdische Reifung, aber es ist sicherlich das offensichtlichste. Genosse S. hat argumentiert, dass das Erscheinen dieses Milieus allein schon mit dem Verweis auf das revolutionäre Wesen der Arbeiterklasse erklärt werden könne. Da wir aber die Klasse nicht als statische, sondern als dynamische Kraft verstehen, ist es genauer, es als Produkt einer Bewegung zum Bewusstsein innerhalb der Klasse zu sehen. Und es ist sicherlich notwendig, die Bewegung innerhalb der Bewegung zu studieren, um zu verstehen, ob in dieser Schicht ein Reifungsprozess stattfindet – mit anderen Worten: Zeigt das Milieu der suchenden Elemente selbst Zeichen einer Entwicklung? Und wenn wir die beiden "Wellen" der politisierten Minderheiten vergleichen, die seit etwa 2003 aufgetaucht sind, gibt es in der Tat Hinweise darauf, dass eine solche Entwicklung stattgefunden hat.
Der erste Schub fand Mitte der 2000er Jahre statt und fiel mit dem zusammen, was wir eine neue Generation der Arbeiterklasse nannten, die sich in der Anti-CPE-Bewegung und den Indignados äußerte. Ein kleiner Teil dieses Milieus wandte sich der Kommunistischen Linken zu und schloss sich sogar der IKS an, was Hoffnungen weckte, dass wir eine neue Generation von Revolutionären vor uns hätten (vgl. den Orientierungstext zur Debattenkultur[22]). Was wir tatsächlich erlebten, war eine Bewegung (der französische Begriff "mouvance" wäre zutreffender), die sich weitgehend im Sumpf befand und die sich als sehr durchlässig für den Einfluss von Anarchismus, Modernismus und politischem Parasitismus erwies. Eines der kennzeichnenden Merkmale dieser Mouvance war neben dem Misstrauen gegenüber der politischen Organisation eine tiefe Ablehnung des Konzepts der Dekadenz und damit der als sektiererisch und apokalyptisch angesehenen Gruppen der Kommunistischen Linken, allen voran der IKS. Einige der Elemente in dieser Welle waren in den 1990er Jahren in den Ultra-Aktivismus der antikapitalistischen Bewegung involviert gewesen. Und obwohl sie einen ersten Schritt gemacht hatten, die zentrale Rolle der Arbeiterklasse beim Sturz des Kapitalismus zu sehen, behielten sie ihre aktivistischen Neigungen bei, was einige von ihnen (z.B. die Mehrheit des Kollektivs, das libcom organisiert) zu einem wiederbelebten Anarcho-Syndikalismus drängte, zu Ideen des "Organisierens" am Arbeitsplatz, die von der Möglichkeit lebten, kleine Siege zu erringen, und sich von jeder Vorstellung abwandten, dass die objektive und historische Entfaltung der Krise selbst ein Faktor in der Entwicklung des Klassenkampfes ist.
Die zweite Welle von suchenden Elementen, die wir in den letzten Jahren wahrgenommen haben, ist von geringerem Ausmaß als die vorangegangene, aber sicherlich auf einer tiefer greifenden Ebene angesiedelt: Sie neigt dazu, die Dekadenz und sogar den Zerfall des Kapitalismus als selbstverständlich zu betrachten; sie umgeht oft den Anarchismus, der ihrer Meinung nach nicht über die theoretischen Werkzeuge verfügt, um die gegenwärtige Periode zu verstehen, und hat weniger Angst davor, direkt mit den Gruppen der Kommunistischen Linken Kontakt aufzunehmen. Oft sehr jung und ohne direkte Erfahrung mit dem Klassenkampf, geht es diesen Leuten in erster Linie darum, sich zu vertiefen, die chaotische Welt, mit der sie konfrontiert sind, zu verstehen, indem sie sich die marxistische Methode aneignen. Hier liegt unserer Ansicht nach eine klare Konkretisierung des kommunistischen Bewusstseins vor, das sich, mit den Worten Rosa Luxemburgs ausgedrückt, aus "hier den immer mehr sich zuspitzenden objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft, dort der subjektiven Erkenntnis der Arbeiterklasse von der Unerlässlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung" ergibt.
In Bezug auf diese entstehende Schicht politisierter Elemente hat die IKS eine doppelte Verantwortung als "fraktionsähnliche" Organisation. Einerseits natürlich die lebenswichtige theoretische Ausarbeitung, die erforderlich ist, um eine klare Analyse einer sich ständig verändernden Weltsituation zu liefern und die kommunistische Perspektive zu bereichern.[23] Aber es beinhaltet auch eine geduldige Arbeit des Aufbaus der Organisation: die Arbeit der "Kaderbildung", wie es die Gauche Communiste de France GCF nach dem Zweiten Weltkrieg ausdrückte, das heißt, die Entwicklung neuer Militanter, die den Kurs durchhalten; die Verteidigung gegen die Einfälle der bürgerlichen Ideologie und die Verleumdungen des politischen Parasitismus, etc. Diese Arbeit des organisatorischen Aufbaus taucht in der Antwort des Genossen S. überhaupt nicht auf, doch ist sie eines der Hauptelemente im konkreten Kampf gegen den Rätismus.
Außerdem: Wenn dieser Prozess der unterirdischen Reifung des Bewusstseins ein realer ist, wenn er die Spitze des Eisbergs von Entwicklungen ist, die in weitaus breiteren Schichten der Klasse stattfinden, dann hat die IKS recht, wenn sie die Möglichkeit einer zukünftigen Wiederverbindung zwischen den Abwehrkämpfen und der wachsenden Erkenntnis, dass der Kapitalismus der Menschheit keine Zukunft zu bieten hat, ins Auge fasst. Mit anderen Worten, dieser Prozess kündigt das intakte Potenzial für die Politisierung der Kämpfe und ihre Konvergenz mit dem Entstehen neuer revolutionärer Minderheiten und dem wachsenden Einfluss der kommunistischen Organisation an.
Die Veröffentlichung einer ersten Runde der Debatte über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen hat verschiedene Divergenzen in unserem Milieu enger Sympathisanten zum Vorschein gebracht. Im IKS-Forum, insbesondere im Thread Interne Debatte i [83]n der [83] IK [83]S [83] über die internationale Lage | International Communist Current (internationalism.org) [83], im Austausch von Beiträgen mit MH, Debatte über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen | International Communist Current (internationalism.org) [84], in unseren Kontakttreffen und auf seinem eigenen Blog[24] hat sich namentlich Genosse MH zunehmend kritisch zu unserer Auffassung geäußert, dass es im Wesentlichen der Zusammenbruch des Ostblocks 1989 war, der den langen Rückzug der Arbeiterklasse auslöste, aus dem wir noch nicht herausgekommen sind. Für MH war es im Wesentlichen eine politisch-ökonomische Offensive der herrschenden Klasse nach 1980, angeführt vor allem von der britischen Bourgeoisie, die der dritten Welle von Klassenkämpfen ein Ende bereitete (oder besser: sie bei der Geburt abwürgte). Aus dieser Sicht war es die Niederlage des Bergarbeiterstreiks 1985 in Großbritannien, die die Niederlage der Kämpfe in den 1980er Jahren markierte. Diese Schlussfolgerung führt MH derzeit dazu, unsere Sicht der Kämpfe nach 1968 neu zu bewerten und sogar den Begriff des Zerfalls in Frage zu stellen, obwohl seine Differenzen manchmal zu implizieren scheinen, dass "der Zerfall gesiegt hat" und dass wir uns der Realität einer schweren historischen Niederlage der Arbeiterklasse stellen müssen. Genosse Baboon stimmt weitgehend mit MH über die zentrale Bedeutung der Niederlage des Bergarbeiterstreiks überein, ist ihm aber nicht bis zu dem Punkt gefolgt, den Zerfall in Frage zu stellen oder zu dem Schluss zu kommen, dass der Rückzug der Arbeiterklasse vielleicht einen qualitativen Schritt in eine Art historische Niederlage gemacht habe.[25]
Genosse S. scheint dies nun aber immer deutlicher zu vertreten. Wie er es kürzlich in einem Brief an unser internationales Zentralorgan formulierte:
"Gibt es eine grundsätzliche Divergenz über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen oder gibt es sie nicht?
Die Position der Organisation ist, dass die Arbeiterklasse unbesiegt ist. In unseren Reihen gibt es auch die entgegengesetzte Position, dass die Arbeiterklasse in den letzten fünf Jahren eine politische Niederlage erlitten hat, deren Hauptsymptom die Explosion des Identitarismus aller Art ist, die in erster Linie aus dem Versagen der Klasse resultiert, ihre eigene Klassenidentität wiederzufinden. Die Position der Organisation ist, dass die Situation der Klasse besser ist als in den 1990er Jahren unter dem Schock des 'Todes des Kommunismus', während die andere Position davon ausgeht, dass die Situation der Klasse heute schlimmer ist als in den 1990er Jahren, dass das Weltproletariat heute kurz davor steht, eine politische Niederlage von einem Ausmaß zu erleiden, von dem es vielleicht eine Generation braucht, um sich zu erholen".
Wie wir zu Beginn dieses Berichts dargelegt haben, bedeutet die Anerkennung der IKS, dass das Konzept des Historischen Kurses in der Phase der Zerfalls nicht mehr gilt, dass es viel schwieriger wird, die Gesamtdynamik der Ereignisse zu beurteilen und insbesondere zu dem Schluss zu kommen, dass die Tür zu einer revolutionären Zukunft endgültig geschlossen ist, da der Zerfall das Proletariat in einem allmählichen Prozess überwältigen kann, ohne dass die Bourgeoisie es direkt, in einem Kampf von Angesicht zu Angesicht, besiegen muss, wie es in der Periode der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war. Es ist daher schwierig zu verstehen, was S. mit einer "politischen Niederlage von einem Ausmaß, von dem es vielleicht eine Generation braucht, um sich zu erholen", meint. Wenn das Proletariat es noch nicht in einem offenen politischen Kampf mit dem Klassenfeind aufgenommen hat, wie es das 1917-23 getan hat, nach welchen Kriterien beurteilen wir dann, dass der Rückzug des Klassenkampfes in den letzten drei Jahrzehnten einen solchen Punkt erreicht hat? Und außerdem, da auf eine solche Niederlage vermutlich eine große Beschleunigung der Barbarei folgen würde und – nach der Ansicht von S. – ein Weltkrieg oder zumindest ein "begrenzter" nuklearer Holocaust – welche Möglichkeiten zur "Erholung" würden der nächsten Generation bleiben?
Ein letzter Punkt: Genosse S. behauptet, dass wir die Situation der Klasse als "besser" als nach dem Zusammenbruch der Blöcke sehen würden. Dies ist nicht richtig. Wir haben zwar gesagt, dass die Bedingungen für künftige Klassenkonfrontationen somit zwangsläufig reifen, und wie der Bericht über den Klassenkampf für den Kongress unserer Sektion in Frankreich gezeigt hat, findet dies in einem Kontext statt, der sich sehr von der Situation zu Beginn der Phase des Zerfalls unterscheidet:
- Während 1989 als Niederlage des Kommunismus und Sieg des Kapitalismus dargestellt werden konnte, kann die Pandemie nicht als Rechtfertigung der Überlegenheit des gegenwärtigen Systems präsentiert werden. Im Gegenteil, trotz aller Mystifikationen, die die Ursprünge und die Natur der Pandemie umgeben, liefert sie einen weiteren Beweis dafür, dass das kapitalistische System zu einer Gefahr für die Menschheit geworden ist, auch wenn dies im Moment nur eine kleine Minderheit klar erkannt hat.
- Während die Ereignisse von 1989 einen schweren Schlag für die Kampfbereitschaft und das Klassenbewusstsein darstellten und die Entwicklung des Zerfalls tendenziell den Verlust der Klassenidentität verschärft hat, ist die Pandemie im Kontext einer gewissen Wiederbelebung des Klassenkampfes ausgebrochen. Während die Bereitschaft der Bourgeoisie, Gesundheit und Leben im Interesse des Profits zu opfern, sowie ihr chaotischer Umgang mit der Pandemie tendenziell ein Bewusstsein dafür hervorruft, dass wir nicht "alle im gleichen Boot sitzen“ – dass die Arbeiterklasse und die Armen die Hauptopfer der Pandemie und der kriminellen Fahrlässigkeit der herrschenden Klasse sind.
Aber all diese "Pluspunkte" kommen nach 30 Jahren Zerfall, in einer Periode, in der die Zeit nicht mehr zugunsten des Proletariats läuft, das weiterhin unter den sich anhäufenden Wunden leidet, die ihm eine Gesellschaft zufügt, die stehenden Fußes verrottet. In mancher Hinsicht würden wir zustimmen, dass die Situation "schlimmer" ist als in den 1980er Jahren. Aber wir werden in unserer Aufgabe als revolutionäre Minderheit versagen, wenn wir irgendeinen der Wegweiser ignorieren, die auf eine Wiederbelebung des Klassenkampfes hindeuten – auf eine proletarische Bewegung, die die Möglichkeit enthält, die Gesellschaft vor einem endgültigen Sturz in den Abgrund zu bewahren.
Frühjahr 2021
[1] Resolution über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen [11], Internationale Revue Nr. 56
[3] Das Elend der Philosophie, 1847
[4] Der Massenstreik, die Partei und die Gewerkschaften, 1906
[5] Aus einem Beitrag des Genossen J. in einem internen Bulletin 2011.
[6] Soziale Revolten im Maghreb und im Nahen Osten, nukleare Katastrophe in Japan, Krieg in Libyen: Nur die proletarische Revolution kann die Menschheit vor dem kapitalistischen Horror retten [85], Internationale Revue 47. Die Resolution des 21. Kongresses hat noch eine zweideutige Zeile zu den Bewegungen im Nahen Osten, die "vom Interklassismus geprägt" seien.
[7] Was ist los in Nordafrika, im Nahen & Mittleren Osten? [86] (IKSonline, März 2011)
[8] ebd.
[9] ebd.
[10] Soziale Revolten im Maghreb und im Nahen Osten, nukleare Katastrophe in Japan, Krieg in Libyen: Nur die proletarische Revolution kann die Menschheit vor dem kapitalistischen Horror retten [85], Internationale Revue 47.
[11] Wir bemühten die "Metapher der fünf Ströme (...):
1. Soziale Bewegungen junger Menschen in prekären Arbeitssituationen, Arbeitslosigkeit oder im Studium, welche mit dem Kampf gegen das CPE-Gesetz in Frankreich 2006 begannen, mit der Revolte in Griechenland 2008 weitergingen, und 2011 in der Bewegung der Empörten und Occupy gipfelten.
2. Bewegungen die massiv waren, doch von der Bourgeoisie gut kontrolliert und im Vorfeld vorbereitet wurden, wie in Frankreich 2007, Frankreich und Großbritannien 2010, Griechenland 2010-2012, usw.
3. Bewegungen, die unter dem Gewicht der klassenübergreifenden Ideologie litten, wie in Tunesien und Ägypten 2011.
4. Ansätze massiver Streiks in Ägypten 2007, Vigo (Spanien) 2006, China 2009.
5. Bewegungen in Fabriken oder in einzelnen Industriesektoren, die vielversprechende Zeichen enthielten, wie bei Lindsey 2009, bei Tekel 2010 oder diejenige der Elektrizitätsangestellten in Großbritannien 2011.
Diese fünf Ströme gehören trotz ihrer Unterschiede der Arbeiterklasse. Jeder drückt auf seine Art eine Bemühung der Arbeiterklasse aus, zu sich selber zurückzufinden trotz all der Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihr von der Bourgeoisie in den Weg gelegt werden. Jeder enthält eine Dynamik der Suche, der Klärung und der Vorbereitung des Klassenterrains. In unterschiedlicher Weise sind sie durch die Vollversammlungen Teil der Suche nach „der Welt, die uns zum Sozialismus führen wird“ (wie es Rosa Luxemburg bezüglich der Arbeiterräte ausdrückte)." (Resolution zur internationalen Lage, 20. IKS-Kongress, Internationale Revue 51)
[12] Die Bewegung der Empörten in Spanien, Griechenland und Israel: Von der Empörung zur Vorbereitung der Klassenkämpfe [87], Internationale Revue 48
[13] Wie der Titel des Artikels aus IR 48 andeutet, wurden die Bewegungen in Griechenland und Israel im Jahr 2011 (aber auch die Proteste in der Türkei und in Brasilien im Jahr 2013) auf sehr ähnliche Weise analysiert wie die Indignados in Spanien. Eine kritische Durchsicht aller unserer Artikel aus dieser Zeit ist daher erforderlich.
[14] Zu hinterfragen ist auch die Existenz von Unklarheiten und Verwirrungen über die positive Wirkung von Hungerunruhen für die Entwicklung von Klassenbewusstsein (vgl. International Review 134 [engl./frz./span. Ausgabe]).
[15] Das Kapitel "Kämpfe gegen die Kriegswirtschaft im Nahen Osten" aus dem Bericht zum 23. Kongress wurde nicht eingehend diskutiert. Der Bericht spricht von der Existenz proletarischer Bewegungen in mehreren Ländern, und es ist notwendig, diese Bewegungen auf einer solideren und tieferen Grundlage neu zu bewerten und zu versuchen, die Analyse dieser Bewegungen in den Rahmen der Kritik des schwachen Glieds sowie den Kontext des Zerfalls zu stellen (was der Bericht nicht explizit zu tun scheint, indem er den auf die Bewegungen von 2011 angewandten Ansatz übernimmt), um die Natur dieser Bewegungen und ihre Stärken und Schwächen zu betrachten.
[16] Aus dem englischsprachigen Artikel auf ICConline 2011 "Israel protestiert: ‘Mubarak, Assad, Netanyahu’!", zitiert im zuvor erwähnten Artikel in IR 48
[17] "Angesichts des allgemeinen Verlustes der Klassenidentität kann man kaum verhindern, dass solche Proteste in die Fallen der Bourgeoisie tappen – in Mystifikationen über Identitätspolitik und Reformismus, und somit direkt von linken und demokratischen bürgerlichen Fraktionen manipuliert werden."
[20] Marc Chirik, Gründungsmitglied der IKS und ehemaliges Mitglied von BILAN und der Gauche Communiste de France. Vgl. International Review Nr. 65 und 66 (engl./frz./span. Ausgabe): Marc, Part 1: From the Revolution of October 1917 to World War II | International Communist Current (internationalism.org) [90]; Marc, Part 2: From World War II to the present day | International Communist Current (internationalism.org) [91]
[23] Wie in der Diskussion im internationalen Zentralorgan der IKS im Februar hervorgehoben wurde, kann der IKS nicht vorgeworfen werden, die Bemühungen um eine Vertiefung unseres Verständnisses des kommunistischen Programms zu vernachlässigen. Die Existenz einer dreißigjährigen Serie über den Kommunismus liefert einen Beweis dafür, dass wir hier nicht bei Null anfangen...
[25] Wir werden hier nicht weiter auf diese Diskussionen eingehen, außer zu sagen, dass sie auf einer Unterschätzung sowohl der bedeutenden Kämpfe zu beruhen scheinen, die nach 1985 stattfanden, wo die Infragestellung der Gewerkschaften in Ländern wie Frankreich und Italien die herrschende Klasse zwang, ihren Gewerkschaftsapparat zu radikalisieren, als auch vor allem auf einer Unterschätzung der Auswirkungen des Zusammenbruchs des Ostblocks auf die Kampfbereitschaft und das Bewusstsein.
Der vorliegende Bericht setzt die Arbeit des am 24. Kongress von Révolution Internationale angenommenen Berichts fort.[1] Mehrere Aspekte werden in diesem angemessen behandelt, insbesondere die Maßnahmen, die im wirtschaftlichen Bereich angesichts der Pandemie ergriffen wurden, das gewaltsame Eindringen des Zerfalls in den wirtschaftlichen Bereich, der Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen, der sich zu einem echten Alptraum entwickelt. Wir werden nicht näher auf diese Elemente eingehen, sondern uns auf die Perspektive konzentrieren: Wohin entwickelt sich die Weltwirtschaft nach der großen Katastrophe, die mit der Pandemie ausgebrochen ist?
Der vom 23. Internationalen Kongress verabschiedete Bericht zur Wirtschaftskrise ging davon aus: "Wir müssen die Möglichkeit erheblicher Schocks in der Weltwirtschaft in den Jahren 2019-2020 in Betracht ziehen. Negative Faktoren sind die Anhäufung von zunehmend unkontrollierbaren Schulden, der tobende Handelskrieg, starke Abwertungen von überbewerteten Finanzanlagen, eine Schrumpfung der deutschen Wirtschaft um -0,1 % im dritten Quartal 2018 und die niedrigste Wachstumsrate der chinesischen Wirtschaft des letzten Jahrzehnts".
Für das Jahr 2020 verzeichnete die Weltbank einen globalen Rückgang der Wirtschaftsleistung von 5,2 %, d.h. 7 % für die 23 größten Volkswirtschaften der Welt und 2,5 % in den "Entwicklungsländern". Laut Weltbank ist der Produktionsrückgang der schlimmste seit 1945 und "das erste Mal seit 1870, dass so viele Volkswirtschaften einen gleichzeitigen Produktionsrückgang erlebt haben"[2]. Ein sehr wichtiges Phänomen ist der Rückgang des Welthandels. Ein Indikator ist der Rückgang des Weltseehandels, der im Jahr 2020 um 10 % zurückging. Doch paradoxerweise "haben sich die Containerpreise in den letzten zwei Monaten im Durchschnitt vervierfacht. Von rund 1.500 Dollar auf fast 5.000 Dollar. In einigen Fällen waren es sogar bis zu 12.000 Dollar. Das liegt daran, dass Länder wie China ihre Schiffe und Container für den Eigengebrauch nutzen und sie damit dem globalen Verkehr entziehen“[3].
Für 2021 wird ein Aufschwung der Weltwirtschaft prognostiziert, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Pandemie bis Juni 2021 überwunden ist, ansonsten sind die Prognosen deutlich pessimistischer. Es wird fieberhafte Wachstumssteigerungen geben, aber darüber hinaus sollten wir bedenken, dass die seriösesten Prognosen auf eine Stabilisierung der Weltwirtschaft ab 2023 hindeuten. Die Erfahrung mit dem Aufschwung nach 2008 ist, dass er lange brauchte, um zu greifen (ab 2013), eher blutleer war und 2018 Anzeichen der Erschöpfung zeigte. Wie wir im Laufe dieses Berichts sehen werden, sind die aktuellen Bedingungen der Weltwirtschaft viel schlechter als 2008, und anstatt Vorhersagen zu machen ist es wichtig, diese erhebliche Verschlechterung zu verstehen.
Einerseits vermitteln die "Experten" ein irreführendes Bild von den Auswirkungen der Pandemiekrise auf die Wirtschaft. Sie gehen von dem Axiom aus, dass eine solche Krise keine irreversiblen Auswirkungen auf den Wirtschaftsapparat habe und dass sich die Wirtschaft auf einem höheren Niveau als in der vorherigen Periode erholen werde. Eine solche Annahme unterschätzt die erhebliche Verschlechterung des langfristigen Produktions-, Finanz- und Handelsgewebes, das durch die Pandemiekrise wahrscheinlich tiefgreifend geschwächt wird. Es wird geschätzt, dass in den OECD-Ländern 30 % der Unternehmen dauerhaft verschwinden könnten. Wir haben mehr als 100 Jahre einer kapitalistischen Dekadenz hinter uns, mit einer Wirtschaft, die durch die Kriegswirtschaft und die Auswirkungen der Umweltzerstörung deformiert, durch Verschuldung und staatliche Manipulationen in ihren Reproduktionsmechanismen tiefgreifend verändert, durch Pandemien ausgehöhlt und zunehmend von den Auswirkungen des Zerfalls betroffen ist. Unter solchen Bedingungen ist es illusorisch zu glauben, dass sich die Wirtschaft ohne den geringsten Kratzer erholen werde.
Auf der anderen Seite hat die tiefgreifende Schwäche des proklamierten "Aufschwungs" von 2013-2018 bereits die aktuelle Situation eingeläutet. Außerhalb der USA, Chinas und in geringerem Maße Deutschlands hat die Produktion in allen großen Ländern der Welt stagniert oder ist (nach Schätzungen der Weltbank) gesunken – etwas, das es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat.
Bereits auf dem 22. Kongress stellten wir den wachsenden Einfluss der Zerfallseffekte auf wirtschaftlicher Ebene und insbesondere auf die staatskapitalistische Bewältigung der Krise fest. Wir waren uns dieser Tendenz in dem vom 23. Kongress angenommenen Bericht zur Wirtschaftskrise bewusst, der dieses Vordringen des Zerfalls als einen der Hauptfaktoren in der Entwicklung der wirtschaftlichen Situation feststellte, und schließlich vertiefte der vom 24. Kongress von Révolution Internationale angenommene Bericht zu diesem Thema diese Analyse, die sich auf die Pandemie in einem doppelten Sinne konzentrierte: als Folge des Zerfalls, aber auch der Verschärfung der Wirtschaftskrise, und gleichzeitig als Faktor einer starke Beschleunigung der letzteren.
Es ist wichtig, unsere Herangehensweise an die Frage zu unterstreichen: Eines der Merkmale der Dekadenz ist, dass das kapitalistische System versucht, alle Möglichkeiten, die in seinen Produktionsverhältnissen enthalten sind, bis an ihre äußersten Grenzen zu dehnen, auch auf die Gefahr hin, seine eigenen ökonomischen Gesetze zu verletzen. So ist "einer der Hauptwidersprüche des Kapitalismus derjenige, der aus dem Konflikt zwischen der zunehmend globalen Natur der Produktion und der notwendigerweise nationalen Struktur des Kapitals entsteht. Indem er die wirtschaftlichen, finanziellen und produktiven Möglichkeiten der 'Verbände' der Nationen bis an ihre Grenzen ausreizt, hat der Kapitalismus in seinem Kampf gegen die Krise einen bedeutenden 'frischen Wind' erhalten, aber gleichzeitig hat er sich in eine riskante Situation gebracht" (Bericht zum 23. Kongress). Diese "riskante Situation" hat ihre ernsten Konsequenzen im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Zerfalls auf dem wirtschaftlichen Terrain gezeigt, besonders in den letzten fünf Jahren der 2010er Jahre.
Die Pandemie bündelt eine Beschleunigung des Zerfalls in sich und verschlimmert ihn gleichzeitig. Der Bericht über die Wirtschaftskrise konzentriert sich auf diese grundlegende Realität. Die Resolution zur Lage in Frankreich zeigt diese zentrale Achse deutlich: "Im Jahr 2008, während der 'Subprime-Krise', war die Bourgeoisie in der Lage, auf internationaler Ebene koordiniert zu reagieren. Die berühmten G7, G8, ... G20 (die in den Schlagzeilen waren) symbolisierten diese Fähigkeit der Staaten, sich zumindest darauf zu einigen, zu versuchen, auf die 'Schuldenkrise' zu reagieren. 12 Jahre später sind die Spaltung, der 'Krieg der Masken' und dann der 'Krieg der Impfstoffe', die Kakophonie der Beschlüsse zur Schließung der Grenzen gegen die Ausbreitung von Covid-19, die fehlende Abstimmung auf internationaler Ebene (mit Ausnahme Europas, das sich gegen seine Konkurrenten zu schützen versucht), um den wirtschaftlichen Zusammenbruch zu begrenzen, Anzeichen für den Vormarsch des 'Jeder für sich' und das Abgleiten der höchsten politischen Machtgruppen des Kapitalismus in eine zunehmend irrationale Verwaltung des Systems". Diese Tendenz ist besonders in den USA stärker, wo ein langer Trend des wirtschaftlichen Niedergangs mit einer beispiellosen Verschärfung der Erosion des politischen Apparats und des sozialen Gewebes einhergeht.
Es wäre jedoch ein Fehler zu glauben, dass diese Tendenz auf die Vereinigten Staaten beschränkt ist. In Europa scheint Deutschland reagiert zu haben, aber die Spannungen innerhalb der EU werden immer deutlicher und der Schock des Brexit wird Folgen haben, die noch nicht absehbar sind. Chinas "Stabilität" ist mehr Schein als Sein.
Folglich können wir sagen, dass die Auswirkungen des Zusammenbruchs im wirtschaftlichen Bereich und in der staatlichen Verwaltung der Wirtschaft nicht mehr verschwinden und einen immer stärkeren Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung haben werden. Es stimmt zwar, dass die Bourgeoisie Gegentendenzen in Gang setzen wird (z. B. die EU-Vereinbarungen zur teilweisen Vergemeinschaftung der Schulden oder Bidens Aufhebung bestimmter von Trump beschlossener Maßnahmen), aber jenseits der Bremsen oder der Gegenmaßnahmen wird das Gewicht des Zerfalls auf die Wirtschaft und auf die staatliche Verwaltung der Wirtschaft stärker werden, mit Folgen, die im Moment schwer vorherzusagen sind. Anstatt Vorhersagen zu treffen, müssen wir die Entwicklungen genau beobachten und innerhalb des von uns aufgestellten Gesamtrahmens Schlussfolgerungen ziehen.
Mit der Antwort, die das Kapital in den meisten Ländern auf die Pandemie geben musste (die Lockdowns, die noch nicht beendet sind), ist eine der schlimmsten Rezessionen der Geschichte eingetreten.
Um einen allgemeinen Zusammenbruch zu verhindern, war die Bourgeoisie gezwungen, Milliardenbeträge nachzuschießen. Dies hat es ihr ermöglicht, sich "durchzuschlagen", "den Sturm zu überstehen"[4]. Es wird notwendig sein, "die Weltwirtschaft zu retten". Und wie wird diese komplizierte Operation durchgeführt werden?
Wir können sagen, dass sie unter viel schlechteren Bedingungen als 2008 durchgeführt werden, dass sie eine heftige Dosis an Sparmaßnahmen mit sich bringen und dass die Weltwirtschaft in einem viel schlechteren Zustand zurückbleiben wird, mit weniger Kapazität zur Erholung, mit Chaos und erheblichen Erschütterungen.
Fünf Faktoren erklären diese schlechteren Bedingungen:
1. Das wachsende Gewicht des Zerfalls in der Wirtschaft und dem Staatskapitalismus;
2. China wird nicht mehr in der Lage sein, die Rolle einer Rettungslokomotive zu spielen, wie es das 2008 getan hat;
3. Umweltkatastrophe;
4. das Gewicht der Kriegswirtschaft;
5. die erdrückende Last der Schulden.
Mit der Pandemie haben wir eine chaotische und irrationale Reaktion der Staaten erlebt, angefangen bei den größten und mächtigsten. Die WHO wurde von allen Staaten ignoriert, wodurch die erforderliche internationale Strategie, die sich möglichst auf wissenschaftliche Kriterien stützt, verhindert wurde. Jeder Staat hat versucht, seine Wirtschaft so spät wie möglich herunterzufahren, um keine Wettbewerbs- und imperialistischen Vorteile gegenüber seinen Konkurrenten zu verlieren. Ebenso wurden die Wirtschaften wieder geöffnet, um Vorteile gegenüber den Rivalen zu erlangen, und die durch die Verschärfung der Pandemie verursachten Schließungen waren gefangen in dem Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, die Produktion angesichts der Rivalen aufrechtzuerhalten und zu steigern, und der Notwendigkeit zu verhindern, dass der Produktionsapparat und der soziale Zusammenhalt durch neue Ansteckungswellen angegriffen werden.
Der Maskenkrieg war ein entwürdigendes Spektakel: Staaten, die als "seriös" galten, wie Frankreich oder Deutschland, stahlen unverhohlen Lieferungen von Masken, die für andere Länder bestimmt waren. Dasselbe ist mit Ausrüstungsgegenständen wie Beatmungsgeräten, Sauerstoff, persönlicher Schutzausrüstung usw. geschehen.
Im aktuellen Krieg um Impfstoffe: ihre Herstellung, ihre Verteilung und die Impfungen selbst zeigen die wachsende Unordnung, in die die Weltwirtschaft abgleitet.
In der Impfstoff-Forschung und -Herstellung haben wir einen chaotischen Wettlauf zwischen den Staaten gesehen, die in einem erbitterten Wettbewerb stehen. Großbritannien, China, Russland, die Vereinigten Staaten usw. befanden sich in einem Wettlauf gegen die Zeit, um den Impfstoff als Erster zu haben. Eine internationale Koordination hat gefehlt. Die Impfstoffe wurden in Rekordzeit getestet, ohne wirkliche Garantie für die Wirksamkeit.
Die Verteilung ist ebenso chaotisch. Der Konflikt der EU mit der britischen Firma AstraZeneca ist ein Zeugnis dafür. Die reicheren Länder haben die ärmeren Länder ungeschützt gelassen. Israel hat seine Staatsbürger geimpft und die Palästinenser außen vor gelassen. Russland benutzt irreführende Propaganda, um seinen Impfstoff als den besten darzustellen. Es ist ein Beweis dafür, dass der Impfstoff als Instrument der imperialistischen Einflussnahme benutzt wird. Russland und China machen daraus keinen Hehl und verkünden offen, dass sie den Ländern, die sich ihren wirtschaftlichen, politischen und militärischen Forderungen beugen, niedrigere Preise anbieten werden.
Und schließlich ist die Art und Weise, in der die Bevölkerung geimpft wird, wirklich verblüffend unorganisiert und undiszipliniert. In Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien, um nur einige Beispiele zu nennen, gibt es einen ständigen Versorgungsmangel, Verzögerungen bei der Impfung sogar bei den Gruppen, die als vorrangige Gruppen vorgesehen sind (Gesundheitspersonal, über 65-Jährige). Die geplanten Impfungen wurden mehrfach verschoben. Oft wird die erste Dosis verabreicht und die zweite auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben, wodurch die Wirksamkeit des Impfstoffs gefährdet wird. Machthaber, Politiker, Geschäftsleute, das Militär usw. haben die Liste der Prioritätsgruppen umgangen und wurden zuerst geimpft.
Was uns dieses entwürdigende Spektakel um die Impfstoffe zeigt, ist eine wachsende Tendenz des Kapitalismus, die Fähigkeit zur "internationalen Zusammenarbeit" zu untergraben, die es geschafft hatte, die Wirtschaftskrise im Zeitraum 1990-2008 zu mildern. Der Kapitalismus beruht auf einem mörderischen Wettbewerb – und dieses konstituierende Merkmal des Kapitalismus ist in der Blütezeit der "Globalisierung" nicht verschwunden –, aber was wir jetzt sehen, ist ein verschärfter Wettbewerb, der ein so sensible Themen wie Gesundheit und Epidemien zum Gegenstand hat. Wenn in der aufsteigenden Periode des Kapitalismus die Konkurrenz zwischen den Kapitalen und Nationen ein Faktor der Expansion und Entwicklung des Systems war, ist sie in der Dekadenz im Gegenteil ein Faktor der Zerstörung und des Chaos: Zerstörung durch die Barbarei des imperialistischen Krieges; Chaos (das auch Zerstörung und Kriege einschließt) vor allem mit dem Vordringen der Zerfallsauswirkungen in den Bereich der Wirtschaft und seine staatliche Verwaltung. Dieses Chaos wird zunehmend die globalen Produktions- und Versorgungsketten, die Planung der Produktion, die Fähigkeit, "unerwartete" Phänomene wie Pandemien oder andere Katastrophen zu bekämpfen, betreffen.
Die Rückführung der Produktion ins Heimatland durch multinationale Unternehmen war bereits seit 2017 im Gange, scheint sich aber mit der Pandemie beschleunigt zu haben: "Eine diese Woche veröffentlichte Studie der Bank of America über 3.000 Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von insgesamt 22 Billionen Dollar, die in 12 wichtigen globalen Sektoren angesiedelt sind, besagt, dass 80 % dieser Unternehmen Pläne haben, einen Teil ihrer Produktion aus dem Ausland zu repatriieren. ‚Dies ist der erste Wendepunkt in einem jahrzehntelangen Trend‘, verkünden die Autoren. In den letzten drei Jahren sind 153 Unternehmen in die USA zurückgekehrt, während 208 Unternehmen in die EU zurückgekehrt sind“.[5]
Sind diese Maßnahmen unumkehrbar? Erleben wir das Ende der Phase der "Globalisierung", d.h. der globalen Produktion, die stark mit einer internationalen Arbeitsteilung verflochten ist, wobei Produktions-, Transport- und Logistikketten im globalen Maßstab organisiert sind?
Die erste Überlegung ist, dass die Pandemie länger dauert als erwartet. Am 28. September 2020 wurde die Zahl von einer Million Todesfällen erreicht; am 15. Januar, weniger als vier Monate später, waren es bereits zwei Millionen. Obwohl Impfstoffe eingesetzt werden, sagt die wissenschaftliche Direktorin der WHO, Soumya Swaminathan, voraus, dass wir bis 2022 warten müssen, um eine vernünftige Immunisierung der Bevölkerung in Europa zu erreichen. Es ist wahrscheinlich, dass die Störungen und Unterbrechungen in der Produktion das ganze Jahr 2021 andauern werden.
Zweitens, wenn wir die historische Erfahrung betrachten, können wir sehen, dass die Maßnahmen des Staatskapitalismus, die als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg ergriffen wurden, nach Kriegsende nicht völlig verschwanden, und 10 Jahre später, mit der Krise von 1929, machten sie einen gigantischen Sprung, was die richtige Vorhersage des Ersten Kongresses der Kommunistischen Internationale bestätigte: "(...) all diese Grundfragen des wirtschaftlichen Lebens der Welt werden nicht durch den freien Wettbewerb, nicht durch Kombinationen nationaler und internationaler Trusts geregelt, sondern durch direkte Anwendung von militärischer Gewalt im Interesse ihrer weiteren Erhaltung. Hat die völlige Unterordnung der Staatsmacht unter die Gewalt des Finanzkapitals die Menschheit zur imperialistischen Schlachtbank geführt, so hat das Finanzkapital durch diese Massenabschlachtung nicht nur den Staat, sondern auch sich selbst vollends militarisiert und ist nicht mehr fähig, seine wesentlichen ökonomischen Funktionen anders als mittels Blut und Eisen zu erfüllen."[6]
Ebenso ist es wahrscheinlich, dass die Maßnahmen, die als Reaktion auf die Pandemie auf dem wirtschaftlichen Terrain ergriffen wurden, bestehen bleiben, auch wenn es teilweise Rückschläge geben wird.
Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass sich China, Deutschland und die USA schon seit 2015 in diese Richtung bewegen – wie wir im Bericht zum 23. Kongresses geschrieben haben. Die Maßnahmen, die während der Pandemie ergriffen worden sind, vertiefen nur eine Orientierung, die bereits in den 2010er Jahren vorhanden war.
Dass die Großmächte ihre finanziellen und wirtschaftlichen Antworten auf die Gefahr des Bankrotts vorerst nicht koordiniert haben, ist ein Beweis dafür. Während es in der Krise 2008 vermehrt zu Treffen der G8, G20 etc. kam, ist diese Art von Koordination nun offensichtlich nicht mehr vorhanden.[7]
Allerdings bietet die globalisierte Struktur der Weltproduktion den mächtigsten Volkswirtschaften große Vorteile, und sie werden Maßnahmen ergreifen, um die oben beschriebenen großen Störungen zu beheben. Ein ganz klares Beispiel: Der Plan zur Vergemeinschaftung der Schulden in der EU kommt vor allem Deutschland zugute, das seine Exporte nach Spanien, Italien etc. konsolidieren wird. Diese Länder, die als "die großen Nutznießer" dargestellt werden, werden am Ende die großen Verlierer sein, da ihr industrielles Gewebe durch die überwältigende Konkurrenz der deutschen Exporte geschwächt werden wird. Tatsächlich wird die Vergemeinschaftung der Schulden Deutschland helfen, der chinesischen Präsenz in den südeuropäischen Ländern zu begegnen, die sich seit 2013 verstärkt hat. Wir sind nicht Zeugen einer Demontage der Globalisierung, sondern ihrer zunehmenden Verwerfung – zum Beispiel durch die Tendenz zur Zersplitterung in regionale Bereiche –, des viel größeren Gewichts protektionistischer Tendenzen, der Verlagerung von Produktionsgebieten, der Vervielfachung von Maßnahmen, die jedes Land für sich selbst ergreift, unter Verletzung internationaler Vereinbarungen. Kurzum, ein wachsendes Chaos in der Funktionsweise der Weltwirtschaft.
Im Zeitraum 2009-2015 spielte China mit seinen Käufen und Investitionen eine wesentliche Rolle bei der schwachen Belebung der Weltwirtschaft nach dem schweren Umbruch von 2008. Kann China angesichts der aktuellen Situation die gleiche Rolle als Lokomotive der Weltwirtschaft spielen?
Wir denken, dass diese Möglichkeit aus mindestens 4 Gründen sehr unwahrscheinlich ist:
1. Chinas aktuelle Situation ist viel schwächer als damals: Das Produktionswachstum geht langsam aber sicher weiter zurück; laut IWF wird China das schlechteste Wachstum seit 35 Jahren haben: nur 1,2%. Laut der (bordigistischen) Internationalen Kommunistischen Partei „lag die offizielle Arbeitslosenquote in China Ende April bei 6%; aber eine Studie einer chinesischen Organisation schätzte die reale Arbeitslosigkeit zum gleichen Zeitpunkt auf 20,5% (oder 70 Millionen Arbeitslose); die Studie wurde zurückgezogen und die Leitung der Organisation von den Behörden bestraft, aber westliche Ökonomen legten Zahlen in der gleichen Größenordnung vor“ (zitiert in unserem internen Bulletin).
Chinas Verschuldungsgrad ist gigantisch (300% des BIP im Jahr 2019); die Situation vieler seiner Unternehmen ist sehr fragil. So gibt es in China z.B. 30% Zombie-Unternehme[8], was der höchste Prozentsatz weltweit ist (in Deutschland und Frankreich wird er auf 10% geschätzt). Auch halten staatliche Unternehmen immer noch einen großen Anteil an der Wirtschaft und diese Unternehmen haben die höchste Schuldenlast.
2. Das Seidenstraßenprojekt – ein 60 Länder umfassender Plan zur kommerziellen, wirtschaftlichen und imperialistischen Expansion – zielt darauf ab, einen globalen Wirtschaftsraum ausschließlich für China zu definieren, mit dem Ergebnis, dass die Rolle, die China bei der Stimulierung des Welthandels spielen kann, immer kleiner wird. Chinas Rivalen und vor allem die USA haben darauf mit einem Handelskrieg und im asiatisch-ozeanischen Raum mit dem Trans-Pacific Economic Cooperation Agreement reagiert, das 12 Länder in diesem Raum miteinander verbindet. Und von den Ländern, die sich durch ihre Teilnahme am Seidenstraßenprojekt bei China verschulden mussten, sind einige am stärksten von den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie betroffen, die ihre Zahlungsfähigkeit bedroht.
3. Diese "Vereinbarungen" zeigen, dass die Dynamik, die die kommenden Jahre dominieren wird – außer es gäbe eine Trendwende, was höchst unwahrscheinlich ist – nicht die einer "Kooperation" ist, sondern eher eine große Fragmentierung der Weltproduktion in ‘reservierte’ Bereiche unter chinesischer, amerikanischer, deutscher Vormundschaft.
4. Der Schuldenberg, der nach 2008 dazu diente, den chinesischen Motor "anzukurbeln", ermöglichte ein zweistelliges Wachstum in China und schuf auch in China selbst größere Märkte für viele Exporteure aus den USA, Ostasien und Europa. Aber die Voraussetzungen dafür, dass sich dies wiederholt, sind nicht gegeben. Alle Länder sind protektionistischer geworden. Außerdem haben die Arbeitskräfte in China, die zu den niedrigsten Löhnen gehörten, höhere Löhne erhalten, was zu erheblichen Arbeitsplatzverlagerungen aus China in andere, noch billigere Länder (Südostasien, Afrika) geführt hat.
Der Prozess der ökologischen Zerstörung (Verwüstung und Verschmutzung der Umwelt und der natürlichen Ressourcen) reicht weit zurück. Der imperialistische Krieg und die Kriegswirtschaft haben in erheblichem Maße zu diesem Prozess beigetragen. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit dieser Prozess die kapitalistische Wirtschaft negativ beeinflusst hat, indem er die Akkumulation behindert hat.
Im Rahmen dieses Berichts können wir darauf keine ausführliche Antwort geben. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass im Zusammenhang mit den zunehmenden Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit zwischen den Ländern, mit den nationalistischen Manövern der einzelnen Staaten, die ökologische Zerstörung einen immer negativeren Einfluss auf die Reproduktion des Kapitals haben wird und dazu beiträgt, dass die Momente des wirtschaftlichen Aufschwungs in der kommenden Periode viel schwächer und instabiler sind als in der Vergangenheit.
Die Luftverschmutzung tötet schätzungsweise 7 Millionen Menschen pro Jahr. Verunreinigtes Wasser verursacht jedes Jahr etwa 485.000 Todesfälle.[9]
Während des 20. Jahrhunderts starben in der Dritten Welt 260 Millionen Menschen an Luftverschmutzung in Innenräumen, etwa doppelt so viele wie in allen Kriegen des Jahrhunderts. Das sind mehr als viermal so viele, wie durch Luftverschmutzung im Freien starben.[10]
Extreme Wetterereignisse, Artensterben, sinkende landwirtschaftliche Erträge und giftige Luft und Wasser schädigen bereits die Weltwirtschaft, wobei allein die Verschmutzung jedes Jahr 4,6 Billionen USD kostet.[11]
Allein der Schutz der Städte an den Küsten wird große Summen verschlingen – ebenso viel wie, wenn nicht sogar mehr als alle Rettungspakete, die im Rahmen der Corona-Pandemie verabschiedet werden mussten. Die wirtschaftlichen Implikationen dieses Chaos sind sehr real. Die Auswirkungen dieses Prozesses der Selbstzerstörung sind schwindelerregend. Es wird berechnet, dass bei einem Temperaturanstieg von 4 ºC durch den Klimawandel das globale BIP gegenüber 2010 um 30 % fallen wird (der Rückgang während der Depression in den 30er Jahren betrug 26,7 %). Der jetzige Rückgang wird dauerhaft sein: 1,2 Milliarden Arbeitsplätze könnten verloren gehen. Diese Zahlen berücksichtigen weder die sich vertiefende Wirtschaftskrise noch die Auswirkungen von Covid.
All diese Schäden werden durch die Covid-Krise erheblich verschlimmert, auch wenn es noch eine Weile dauern wird, bis die Auswirkungen abgeschätzt werden können. Tatsächlich drückt die Covid-Pandemie selbst deutlich aus, welche Folgen die ökologische Zerstörung für die Wirtschaft hat: „Die Besiedlung von Naturräumen und der Kontakt des Menschen mit Tieren, die Reservoire für Viren und Krankheitserreger sind, ist das erste Glied in der Kette, die die Pandemien erklärt. Die Zerstörung von Lebensräumen in Wäldern in tropischen Gebieten führt dazu, dass viele Krankheitserreger, die zuvor auf unzugängliche Orte beschränkt waren, auf den Menschen übertragen werden können. Menschen treffen auf Tierarten, mit denen sie vorher nicht in Berührung gekommen sind, und erhöhen so die Wahrscheinlichkeit, sich mit von Tieren übertragenen Krankheiten zu infizieren. Tiermärkte, Transport und Globalisierung verbreiten sie dann".[12]
Institutionen wie die Weltbank warnen eindringlich vor den Folgen der ökologischen Zerstörung, zum Beispiel in Bezug auf die Ausbreitung der Armut:
„Neue Forschungen schätzen, dass der Klimawandel bis 2030 zwischen 68 Millionen und 135 Millionen Menschen in die Armut treiben wird. Der Klimawandel ist eine ernsthafte und spezifische Bedrohung für Länder in Afrika südlich der Sahara und Südasien, den Regionen, in denen sich die meisten armen Menschen befinden. In mehreren Ländern lebt ein großer Teil der Armen in konfliktbetroffenen Gebieten, die in hohem Maße Überschwemmungen ausgesetzt sind, wie Nepal, Kamerun, Liberia und die Zentralafrikanische Republik“.[13]
Das Scheitern der internationalen Zusammenarbeit rund um die Covid-Pandemie ist ein Vorgeschmack auf die Jeder-gegen-jeden Haltung, die angesichts des Klimawandels vorherrschen wird. Der aus der Covid-Pandemie resultierende verschärfte wirtschaftliche Wettbewerb kann diese Dynamik nur noch beschleunigen. Die Fähigkeit des Kapitalismus, den Anstieg der globalen Temperatur zu begrenzen, wird immer schwächer.
„Zusammengenommen würden schnelle Maßnahmen gegen den Temperaturanstieg und ein erneutes Bekenntnis zur Globalisierung die Weltwirtschaft auf einen Output von 185 Billionen Dollar im Jahr 2050 bringen. Ein Verzögern der Maßnahmen zur Senkung der Kohlenstoffemissionen und ein Ausfransen der grenzüberschreitenden Verbindungen könnte es auf 149 Billionen Dollar begrenzen – das entspricht quasi dem Verlust des gesamten BIP der USA und Chinas im letzten Jahr".[14]
Der Widerspruch zwischen den Interessen der kapitalistischen Nation und des gesamten kapitalistischen Systems einerseits und der Zukunft der Menschheit andererseits könnte nicht deutlicher sein. Wenn weitere Maßnahmen gegen den Klimawandel ergriffen werden, werden sich die imperialistischen und wirtschaftlichen Spannungen mit dem Aufstieg Chinas zur wichtigsten Wirtschaftsmacht der Welt qualitativ verschärfen. Wenn keine Maßnahmen ergriffen werden, wird die Weltwirtschaft um 30 % schrumpfen, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringen wird.
Dies kann die Umweltzerstörung durch den Kapitalismus nur exponentiell weiter vertiefen und den Boden für weitere Pandemien bereiten, da die Bedingungen dafür erweitert werden, wie mehrere Beiträge in den Diskussionsbulletins hervorhoben.[15]
Die Kriegswirtschaft, so ruft uns Internationalisme in Erinnerung, ist ein Ballast für die Weltwirtschaft. Trotz der klaren Position des Orientierungstextes
Militarismus & Zerfall[16] neigten Teile der Organisation zur Ansicht, dass in der Zeit des Zerfalls die Kriegsausgaben tendenziell reduziert würden und nicht mehr die enormen Auswirkungen hätten, die sie in der Zeit der Blöcke und des Kalten Krieges hatten. Diese Ansicht ist falsch, wie der auf dem 23. Kongress verabschiedete Bericht unterstreicht: „Die globalen Militärausgaben verzeichnen 2019 den größten Anstieg seit zehn Jahren. Im Laufe des Jahres 2019 erreichten die Militärausgaben weltweit 1,9 Billionen Dollar (1,8 Billionen Euro), ein Anstieg von 3,6 Prozent in einem Jahr, der größte seit 2010. ‚Die Militärausgaben haben den höchsten Stand seit dem Ende des Kalten Krieges erreicht‘, sagte Nan Tian, ein Forscher am SIPRI".[17]
Die Notwendigkeit, Covid zu bekämpfen, hat die Aufrüstung nicht verringert. Der Etat der Bundeswehr steigt bis 2021 um 2,85%, Spanien erhöht die Militärausgaben um 4,7, Frankreich um 4,5 und Großbritannien um weitere 18,5 Milliarden Euro.[18]
In den Vereinigten Staaten hat der Senat, um die gegen China gerichtete Hysterie zu schüren, eine astronomische Erhöhung der Militärausgaben beschlossen, die bis 2021 740 Milliarden Dollar erreichen werden. In Japan „genehmigte Premierminister Yoshihide Suga am Montag die neunte Erhöhung des Militärbudgets in Folge und stellte damit einen neuen Rekord von 5,34 Billionen Yen (etwa 51,7 Milliarden Dollar) auf, eine Steigerung von 1,1% gegenüber dem Vorjahresbudget“.[19]
„Die US-Kriege in Afghanistan, Irak, Syrien und Pakistan haben die amerikanischen Steuerzahler 6,4 Billionen Dollar gekostet, seit sie im Jahr 2001 begannen. - Diese Summe ist 2 Billionen Dollar mehr als alle Ausgaben der Bundesregierung im kürzlich abgeschlossenen Haushaltsjahr“.[20]
Für China liegen keine Daten für 2021 vor, aber die Militärausgaben sind 2020 offenbar weniger stark gestiegen als 2019. Allerdings „erreichte die Volksbefreiungsarmee zwei wichtige Meilensteine, indem sie ihren ersten zu 100 % einheimischen Flugzeugträger und ihre erste ballistische Interkontinentalrakete, die die USA erreichen kann, vorstellte. Außerdem baute China 2017 in Dschibuti seinen ersten Militärstützpunkt in Übersee. Peking entwirft außerdem eine neue Generation von Zerstörern und Raketen, um seine Abschreckung gegenüber seinen asiatischen Nachbarn und der US-Marine zu stärken.“[21]
Russland hat seine Militärausgaben im Dreijahreszeitraum 2018-2021 drastisch erhöht, Australien „hat in den letzten zwei Jahren ein ehrgeiziges Marineprogramm zum Aufbau einer Hochseeflotte mit zwölf neuen U-Booten, die von der französischen Werft DCNS gebaut werden sollen, neun Fregatten (ein Programm, für das sich Navantia bewirbt), zwei Logistikschiffen und zwölf Patrouillenschiffen gestartet; außerdem wird es bis 2020 72 US-Kampfflugzeuge vom Typ F-35 von Lockheed Martin erhalten. Die australischen Behörden planen sogar, ihr Budget innerhalb eines Jahrzehnts auf 21 Milliarden Dollar pro Jahr zu verdoppeln“. Die skandinavischen Länder "sehen die russische Bedrohung ihres Luftraums und in der Arktis immer weniger als Fiktion an, und im Falle Schwedens wurden die Wiedereinführung der Wehrpflicht und erhebliche Erhöhungen des Verteidigungsbudgets angekündigt“.[22]
Dieser kurze Blick auf den blutigen Dschungel der Militärausgaben zeigt, dass die Kriegswirtschaft und die Rüstung, abgesehen von dem anfänglichen Schub, den sie geben können, am Ende eine immer schwerere Last für sie darstellen, und wir können voraussehen, dass sie an der Tendenz mitwirken werden, die wirtschaftliche Erholung, die der Kapitalismus für die Zeit nach der Covid-Pandemie anstrebt, brüchiger und noch anfälliger für Erschütterungen machen.[23]
Im Jahr 1948 umfasste der Marshall-Plan eine Kreditsumme von 8 Milliarden Dollar; der Brady-Plan zur Rettung der südamerikanischen Volkswirtschaften im Jahr 1985 umfasste 50 Milliarden Dollar; die Ausgaben, um aus dem Sumpf des Jahres 2008 herauszukommen, erreichten die astronomische Zahl von 750 Milliarden Dollar.
Die aktuellen Zahlen lassen die früheren Geldspritzen für die Wirtschaft als geringfügig erscheinen. Die EU hat ein 750-Milliarden-Euro-Paket geschnürt. In Deutschland "setzt die Regierung das größte Hilfspaket in der Geschichte der Bundesrepublik ein. Zur Finanzierung dieses Pakets wird der Bund neue Kredite in Höhe von rund 156 Milliarden Euro aufnehmen.“[24] Biden hat dem Kongress ein 1,9 Billionen Dollar schweres Konjunktur- und Hilfsprogramm vorgeschlagen. Der gesamte Stimulus, der im Jahr 2020 in die US-Wirtschaft fließt, wird auf 4 Billionen Dollar geschätzt.
Die weltweite Verschuldung lag im dritten Quartal 2020 bei 229 Billionen Euro, 365 % des weltweiten BIP (ein neuer historischer Rekord). In den Industrieländern liegt diese Verschuldung bei 382 %. Laut dem International Institute of Finance hat sich diese Eskalation seit 2016 beschleunigt, mit einem Anstieg in den letzten 4 Jahren von 44 Billionen Euro. In diesem Rahmen müssen wir uns mit den Folgen der aktuellen Eskalation der globalen Verschuldung auseinandersetzen.[25]
Die Akkumulation des Kapitals (die von Marx definierte erweiterte Reproduktion) hat als Grundlage ihrer Entwicklung die außerkapitalistischen Märkte und die nicht ausreichend in den Kapitalismus integrierten Bereiche. Wenn beide kleiner werden, ist der einzige Ausweg für das staatlich organisierte Kapital die Verschuldung, die darin besteht, immer größere Geldsummen wegen der erwarteten Produktion der kommenden Jahre in die Wirtschaft zu pumpen.
Wenn es in den großen Volkswirtschaften keine inflationären Schocks gibt, dann aus drei Gründen:
1) Die deflationäre Tendenz, die die Weltwirtschaft seit 2008 erfasst hat.
2) Die Überbewertung der Vermögenswerte von Unternehmen und sogar Staaten ist chronisch geworden und hat die Aussagekraft der seit Jahrzehnten nicht mehr verlässlichen Wirtschaftszahlen geschwächt.
3) Nullzins oder sogar Negativzinsen.
Einer der Faktoren, die es dem globalen Kapital ermöglichten, die Auswirkungen der Verschuldung abzufedern, war die internationale Koordination der Geldpolitik, ein gewisses Maß an Koordination und Organisation der Finanztransaktionen auf globaler Ebene. Wenn dieser Faktor allmählich versagt und das "Jeder für sich" die Oberhand gewonnen hat, welche Konsequenzen sind dann zu erwarten?
Der Kapitalismus hat das Äquivalent von dreieinhalb Jahren der Weltproduktion eingesetzt. Ist das eine unbedeutende Zahl, die ins Unendliche gestreckt werden könnte? Ganz und gar nicht. Dieser gigantische Wundbrand ist der Nährboden nicht nur für verrückte Spekulationsrallyes, die sich im undurchschaubaren Labyrinth der Finanztransaktionen institutionalisiert haben, sondern auch für Währungskrisen, gigantische Firmen- und Bankenpleiten, und sogar bedeutende Staaten können bankrott gehen. Dieser Prozess impliziert logischerweise, dass der Binnenmarkt für Kapital nicht unendlich wachsen kann, auch wenn es keine feste Grenze in dieser Angelegenheit gibt. In diesem Zusammenhang stellt die Krise der Überproduktion in der gegenwärtigen Phase ihrer Entwicklung ein Problem der Rentabilität für den Kapitalismus dar. Die Bourgeoisie schätzt, dass etwa 20 % der Produktivkräfte der Welt ungenutzt sind. Die Überproduktion von Produktionsmitteln ist besonders sichtbar und betrifft Europa, die Vereinigten Staaten, Indien, Japan usw.[26]
Seit 1985, als die USA ihre Position als Gläubiger aufgaben, um zu einem der größten Schuldner zu werden, leidet die Weltwirtschaft an der abartigen Situation, dass praktisch alle Länder verschuldet sind, die größten Gläubiger wiederum die größten Schuldner sind, und jeder weiß das. Heute – nach Jahrzehnten gigantischer Verschuldung – haben die jüngsten Rettungspakete alle bisherigen Interventionen übertroffen. Aber jetzt sind die großen Spieler alle so hoch verschuldet, dass die Gefahr von 'Detonationen' und Schuldenlawinen steigt. Jetzt erleichtert die 'Nullzins‘-Situation noch die Politik der steigenden Schuldenlasten, aber – alle anderen Faktoren beiseite gelassen – sollten die Zinsen steigen, wird etwas ins Rutschen kommen ...
Die brutale Schließung der Produktion hat Folgen. Erstens werden China und Deutschland, aber auch andere große Produktionsländer, mit einer riesigen Produktionsüberkapazität konfrontiert sein, die nicht sofort kompensiert werden kann. Im Allgemeinen werden sich der Maschinensektor, die Elektronik, die IT, die Rohstoffversorgung, das Transportwesen usw. mit riesigen Lagerbeständen und einer langsamen Wiederbelebung der Nachfrage konfrontiert sehen.
Obwohl es zweifellos Momente der Erholung der Produktion geben wird (die in der kapitalistischen Propaganda enthusiastisch bejubelt werden) und obwohl es Gegentendenzen geben wird, die die intelligentesten Sektoren des Kapitals in Gang setzen werden[27], ist es unbestreitbar, dass die Weltwirtschaft im kommenden Jahrzehnt erschüttert und geschwächt sein wird.
Im letzten halben Jahrhundert hat der Kapitalismus angesichts der vielen Umwälzungen, die er erlebt hat (1975, 1987, 1998, 2008), die Fähigkeit gezeigt, "weiterzumachen". Die globalen Bedingungen, die wir gerade analysiert haben, erlauben uns jedoch die Vermutung, dass diese Fähigkeit erheblich geschwächt ist. Es wird nicht – wie die Rätisten und Bordigisten hoffen – zu einem großen finalen Zusammenbruch kommen, aber da das Herz der Weltwirtschaft – insbesondere die USA und in zunehmendem Maße auch Teile Europas – stark destabilisiert ist, wird es schwieriger werden, eine Antwort auf die Krise auf internationaler Ebene zu koordinieren, was zusammen mit dem erdrückenden Gewicht der Schulden eine klare Bestätigung der Perspektive darstellt, die im Bericht des 23. Kongresses aufgezeigt wurde : "Das destabilisierende Gewicht der ungezügelten Verschuldung; die wachsende Sättigung der Märkte; die zunehmenden Schwierigkeiten des 'globalisierenden Managements' der Weltwirtschaft, verursacht durch den Einbruch des Populismus, aber auch die Verschärfung des Wettbewerbs und das Gewicht der enormen Investitionen, die das Wettrüsten erfordert; schließlich, ein nicht zu vernachlässigender Faktor, die zunehmend negativen Auswirkungen der galoppierenden Zerstörung der Umwelt und die unkontrollierte Umwälzung der 'natürlichen' Gleichgewichte des Planeten“.
Eine der Maßnahmen, die die Staaten ergreifen werden, um die Wirtschaft anzukurbeln, sind die so genannten "Green Economy"-Pläne. Diese werden von der Notwendigkeit angetrieben, die alte Schwerindustrie und fossile Brennstoffe durch Elektronik, Computerisierung, KI, leichte Materialien und neue Energiequellen zu ersetzen, die eine höhere Produktivität, Kostenreduzierung und Arbeitseinsparungen ermöglichen. Eine Zeit lang mögen die großen Investitionen, die eine solche Wiederbelebung der Wirtschaft erfordert – die auch die Rüstungsproduktion einschließt –, die Wirtschaft der Länder ankurbeln, die in diesem Prozess am besten positioniert sind, aber das Gespenst der Überproduktion wird wieder zurückkehren und die Weltwirtschaft heimsuchen.
Die Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter verlief in der Zeit von 1967-80 sehr langsam.
Sie begann sich erst in den 1980er Jahren zu beschleunigen, als die Sozialleistungen eingeschränkt wurden, Massenentlassungen stattfanden und sich die Prekarität der Arbeit durchzusetzen begann.
Im Zeitraum 1990-2008 setzte sich die Verschlechterung fort: Der systematische Abbau von Arbeitsplätzen wurde zum "Normalfall". Außerdem begann eine Wohnungskrise. Die Massenmigration drückte auf die Löhne und Arbeitsbedingungen in den zentralen Ländern. Allerdings war der Rückgang der Lebensbedingungen in den zentralen Ländern noch allmählich und begrenzt. Es gab etwas Perverses, das den Rückgang überdeckte: die Entwicklung massiver Kredite in proletarischen Haushalten.
In dem vom 23. Kongress angenommenen Bericht zeigten wir die enorme Verschlechterung des Lebensstandards des Proletariats in den zentralen Ländern, erhebliche Kürzungen bei Renten, Gesundheit, Bildung, Sozialleistungen usw., den Anstieg der Arbeitslosigkeit und insbesondere die spektakuläre Entwicklung der Arbeitsplatzunsicherheit. Die 2010er Jahre haben eine große Eskalation der Verschlechterung des Arbeitslebens in den zentralen Ländern bedeutet. Die allmählichen Angriffe, die wir zwischen 1970-2008 gesehen haben, begannen sich im Jahrzehnt 2010-2020 zu beschleunigen.
Die Pandemiekrise hat die Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiter verschärft. Erstens wurden in allen Ländern die Arbeiter zur Schlachtbank geführt, weil sie gezwungen waren, in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren und sich ohne Schutzausrüstung am Arbeitsplatz wiederfanden (in der Tat gab es zu Beginn der Schließung deswegen viele Proteste in Fabriken, Lagern usw.). Es ist jedoch anzumerken, dass Arbeiter im Gesundheitswesen und in Altenheimen eine hohe Anzahl von Infektionen und Todesfällen erlitten haben. Arbeiter*innen in der Lebensmittelindustrie waren ebenfalls stark betroffen[28], ebenso wie Lohnabhängige in der Landwirtschaft, von denen die meisten Migrant*innen sind.[29]
Angriffe auf die Arbeiterklasse in allen Ländern, aber besonders in den zentralen Ländern, stehen eindeutig auf der Tagesordnung. Der Bericht der ILO Covid-19 und die Welt der Arbeit ist unverblümt: "Die Covid-19-Pandemie hat der Welt der Arbeit die schwerste Krise seit der Großen Depression der 1930er Jahre beschert".
Arbeitslosigkeit. Die Überkapazitäten in der Industrie und die langsame und schwache Erholung der Nachfrage werden als starker Anreiz für massive Entlassungen wirken. Während der Zeit der strikten Abschottung verdeckten die enormen staatlichen Subventionen für die Teilzeitarbeitslosen den Ernst der Lage vieler Arbeiter*innen, die unter einer drastischen Reduzierung ihrer Einkommen leiden. Eine allmähliche "Normalisierung" der wirtschaftlichen Funktionsweise wird jedoch eine weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen der Arbeiter mit sich bringen, die in vielen Fällen unumkehrbar ist. Nach Angaben der ILO ist ein weltweiter Verlust von 36 Millionen Arbeitsplätzen das Best-Case-Szenario und 130 Millionen sind das Worst-Case-Szenario, das für das Jahr 2021 geschätzt wird.[30]
Wir können das an einer Analyse der düsteren Perspektive für die Autoindustrie verdeutlichen: "Ein Experte der deutschen Autoindustrie gab folgende Prognose ab: Der Prognose zufolge werden alle großen Automobilmärkte im zweistelligen Prozentbereich schrumpfen. Am stärksten betroffen sind Frankreich und Italien mit einem Rückgang von jeweils 25 Prozent, Spanien mit 22 Prozent sowie Deutschland, die USA und Mexiko mit jeweils 20 Prozent. Für den größten Automobilmarkt der Welt, China, erwartet Dudenhöffer einen Absatzrückgang von rund 15 Prozent. In den deutschen Werken gibt es plötzlich Überkapazitäten von 1,3 bis 1,7 Millionen Fahrzeugen. Kurzarbeit kann nur kurze Zeiträume überbrücken. Kein Unternehmen könnte über Jahre hinweg ungenutzte Produktionskapazitäten vorhalten. Deshalb sind heute 100.000 der 830.000 Arbeitsplätze bei Autoherstellern und Zulieferern in Deutschland gefährdet – "unter optimistischen Annahmen", wie Dudenhöffer schreibt“.[31]
Prekarität. Die ILO nennt Prekarität "nicht ausreichend ausgelastete Beschäftigung" und schätzt, dass sich weltweit 473 Millionen Arbeitnehmer in diesem Zustand befinden (2020). Ebenso wichtig ist die informelle Arbeit: "Mehr als 2 Milliarden Arbeiter sind mit wirtschaftlichen Aktivitäten beschäftigt, die nicht ausreichend oder überhaupt nicht durch formale Systeme in Gesetz oder Praxis abgedeckt sind". Nach Angaben der ILO "verdienen 630 Millionen Arbeiter weltweit nicht genug mit ihrer Arbeit, um sich und ihre Familien aus der Armut zu befreien“.[32]
Löhne. In Bezug auf die Löhne hat die ILO den globalen Rückgang der Löhne bis 2020 auf 8,3 % geschätzt. Trotz staatlicher Unterstützungsmaßnahmen sinken die Löhne bis 2020 (ILO-Daten) in Peru um 56,2 %, in Brasilien um 21,3 %, in Vietnam um 6,9 %, in Italien um 4,0 %, in Großbritannien um 2,9 % und in den USA um 9,3 %.
Der oben erwähnte ILO-Bericht warnt, dass "die Krise besonders verheerende Auswirkungen auf viele Bevölkerungsgruppen und gefährdete Sektoren auf der ganzen Welt hat. Junge Menschen, Frauen und Geringqualifizierte mit niedrigem Einkommen werden es schwerer haben, von einer baldigen Erholung zu profitieren und sind einem sehr hohen Risiko ausgesetzt, langfristige Folgen und Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt zu erleiden“.
Die unglaubliche Höhe der Staatsverschuldung kann nicht unbegrenzt aufrechterhalten werden; ab einem bestimmten Punkt wird sie zwangsläufig zur Verabschiedung drastischer Sparmaßnahmen führen, die Bildung, Gesundheit, Renten, Subventionen, Sozialleistungen usw. betreffen.
Vom "intelligenten Management" des Staatskapitalismus ist nichts zu erwarten, nur Sparpolitik, Elend, Chaos und keine Zukunft. Die Zukunft der Menschheit liegt in den Händen des Proletariats, sein Widerstand gegen die brutale Sparpolitik und die Politisierung dieses Widerstands werden in der kommenden Periode der Schlüssel sein.
(Frühjahr 2021)
[1] Die Auswirkungen des Zerfalls auf die Wirtschaft: Bericht über die Wirtschaftskrise (24. Kongress von Révolution Internationale, 2020) [94]
[2] La pandémie de Covid-19 plonge l’économie planétaire dans sa pire récession depuis la Seconde Guerre [95] mondiale
[3] Die Weltmarkpreise im Schiffsverkehr vervierfachten sich nach der Covid-Pandemie.
[4] Die Zahlen und die Analyse dieser massiven Geldspritzen sind in dem vom 24. Kongress von Révolution Internationale angenommenen Bericht über die Wirtschaftskrise enthalten, so dass wir sie hier nicht wiederholen werden (vgl. Fn 1).
[5] La Vanguardia: Associación de Cargadores de España [96], 02.03.2020
[6] Manifest des Ersten Kongresses der Komintern
[7] Biden schlug einen G-10-Gipfel vor, nicht um sich wirtschaftlich mit China abzustimmen, sondern um es zu isolieren.
[8] Zombie-Firmen sind solche, die ständig ihre Schulden refinanzieren müssen, weil der Schuldendienst ihre ganzen Gewinne verschlingt und sie dazu zwingt, weitere Schulden aufzunehmen.
[10] Quelle: assessment paper, AIR POLLUTION [98], Guy Hutton, 2011
[11] The economics of extinction [99], Kirk Hamilton, Cameron Hepburn, Alexander Teytelboym, Frank Sperling, François Cohen, 2018
[12] Quelle: LA VANGUARDIA [100], Rapport de l'Agence européenne pour l'environnement, 08.09.2020
[13] LA BANQUE MONDIALE [101]
[14] Bloomberg Businessweek [102], 13.11.2020
[15] „(…) die rücksichtslose Eroberung "wilder" Gebiete durch das Kapital, wie wir bereits bei Ebola gesehen haben, [was] mit dem Landhunger dieses kapitalistischen Systems zu tun hat, d.h. mit dem Funktionieren der Grundrenten. Die zunehmende Urbanisierung, die Ausbeutung jedes Quadratzentimeters des Planeten (...) führt zu einer erzwungenen Koexistenz zwischen den Arten." (D.) "Es besteht in der Tat die Tendenz, das Ausmaß zu unterschätzen, in dem die Pandemie ein Produkt der ökologischen Dimension ist, ein weiteres grundlegendes Merkmal des Zerfalls. Das Zitat aus Le Fil Rouge ist interessant, da die Tendenz zu Pandemien mit dem metabolischen Austausch mit der Natur (Marx) verbunden ist – der durch die Entwicklung des Kapitalismus in Dekadenz und Zerfall verzerrte Ausmaße angenommen hat. Die Vorstellung, dass es sich beinahe um eine Naturkatastrophe handle, führt dazu, die sozialen Wurzeln aus dem Blickfeld zu verlieren." (B.) (2020)
[17] Bericht des International Peace Research Institute (SIPRI), publiziert am 27.04.2020.
[18] Quelle: Alemania incrementa en 1300 millones su presupuesto de defensa [103], infodefensa.com, 01.12.2020
[20] Quelle: CNBC [105], America has spent $6.4 trillion on wars in the Middle East and Asia since 2001, a new study says, 20.11.2019
[21] Quelle: EL COMERCIO [106], China fijó el gasto militar en USD 178 000 millones para este 2020, 21.05.2020
[22] China und Russland verdoppeln ihre Militärausgaben innerhalb eines Jahrzehnts, ABC Internacional [107], 12.11.2017
[23] Die Kriegswirtschaft kann die Wirtschaft zunächst ankurbeln. Aber diese Ankurbelung ist trügerisch, und das zeigt sich, wenn wir die langfristige Perspektive betrachten. Es gibt das Beispiel Russland. In jüngerer Zeit ist da der Fall der Türkei, die nach einem spektakulären Start heute durch das erdrückende Gewicht der Kriegsanstrengungen zunehmend geschwächt ist. Auch der Iran und Saudi-Arabien, die sich in einer extremen Rivalität befinden, werden wirtschaftlich immer mehr geschwächt.
[24] Aus einem internen Kommuniqué unserer Sektion in Deutschland
[25] Republica, [108]La deuda mundial escalará en 2020 a un récord de 233 billones [108], 18.11.2020
[26] Die Auswirkungen des Zerfalls auf die Wirtschaft: Bericht über die Wirtschaftskrise (24. Kongress von Révolution Internationale, 2020) [94]
[27] Siehe dazu den in der vorstehenden Fußnote erwähnten Bericht zur Wirtschaftskrise des 24. Kongresse von RI.
[28] "Die Situation in der Fleischverpackungsindustrie zeigte ein ähnliches Bild wie in den Schlachthäusern von Chicago vor mehr als einem Jahrhundert. Plötzlich wurden hohe Infektionsraten beim Personal in den Schlachthöfen bekannt. Es wurde bekannt, dass dies die modernen Sweatshops in Deutschland sind, mit sehr billigen Arbeitskräften aus Osteuropa, die in Baracken oder sehr heruntergekommenen, überfüllten Wohnungen leben – angemietet von Subunternehmern der Schlachthöfe. Hunderte von ihnen haben sich aufgrund der beengten Arbeits- und Wohnverhältnisse angesteckt" (Kommuniqué unserer Sektion in Deutschland, 2020)
[29] In Spanien versuchten im April 2020 Erdbeerpflücker, zumeist Arbeiter aus Marokko und Afrika, gegen die entsetzliche Überbelegung ihrer Baracken zu streiken, woraufhin die linke Koalitionsregierung sofort die Guardia Civil einsetzte.
[30] Quelle: ILO, Observatoire de l’OIT Le Covid‑19 et le monde du travail [109], 7. Auflage, 15.01.2021
[31] Aus einem Kommuniqué unserer Sektion in Deutschland
Dieser Bericht steht im Zusammenhang mit der Resolution zur internationalen Lage, die vom 24. Kongress der IKS verabschiedet wurde, insbesondere mit den folgenden Punkten:
„8. Während das Voranschreiten des kapitalistischen Zerfalls neben der chaotischen Zuspitzung der imperialistischen Rivalitäten in erster Linie die Form der politischen Zersplitterung und des Kontrollverlusts der herrschenden Klasse annimmt, bedeutet dies nicht, dass die Bourgeoisie bei ihren Bemühungen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, nicht mehr auf den Staatstotalitarismus zurückgreifen könnte. (...) Die Wahl Bidens, unterstützt durch eine enorme Mobilisierung der Medien, von Teilen des politischen Apparats und sogar des Militärs und der Sicherheitsdienste, drückt diese reale Gegentendenz zur Gefahr der sozialen und politischen Desintegration aus, die am deutlichsten vom Trumpismus verkörpert wird. (...)
9. Der offensichtliche Charakter der politischen und ideologischen Zerfallsprozesse in der führenden Macht der Welt bedeutet nicht, dass die anderen Zentren des Weltkapitalismus in der Lage wären, alternative Festungen der Stabilität zu bilden. (...)
12. Innerhalb dieses chaotischen Bildes steht zweifellos die wachsende Konfrontation zwischen den USA und China tendenziell im Mittelpunkt. Die neue Administration hat damit ihr Bekenntnis zum "Tilt to the East" (zur Neigung nach Osten, jetzt unterstützt von der Tory-Regierung in Großbritannien) demonstriert, die bereits eine zentrale Achse der Außenpolitik Obamas war.“
Vor diesem Hintergrund zielt dieser Bericht darauf ab, die Ereignisse der letzten Monate zu erfassen und sich zu den folgenden drei Fragen zu äussern:
1. Wo steht der Niedergang der Hegemonie der USA?
2. Hat China von den Ereignissen in diesem Zeitraum profitiert?
3. Was ist heute der vorherrschende Trend in der imperialistischen Konfrontation?
"Bestätigt als die einzig verbliebene Supermacht würden die USA alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass eine andere Supermacht - in Wirklichkeit ein anderer imperialistischer Block - ihre "neue Weltordnung" herausfordert" (Resolution zur internationalen Lage, Punkt 4, 15. Kongress der IKS, 2003). Die Geschichte der letzten 30 Jahre ist in Bezug auf die USA durch einen systematischen Niedergang ihrer Führungsrolle gekennzeichnet, trotz einer beharrlichen Politik, die darauf abzielt, ihre Hegemonie in der Welt aufrechtzuerhalten.
Verschiedene Phasen kennzeichnen die Bemühungen der USA, ihre Führungsrolle angesichts sich verändernder Bedrohungen aufrechtzuerhalten. Sie sind auch von der internen Uneinigkeit innerhalb der amerikanischen herrschenden Klasse über die zu verfolgende Politik geprägt und werden diese zudem noch verschärfen.
(a) Die "Neue Weltordnung" unter Führung der USA (Bush senior und Clinton: 1990-2001)
Präsident Bush senior nutzte die Invasion der irakischen Streitkräfte in Kuwait aus, um eine breite internationale Militärkoalition um die USA herum zu mobilisieren, um Saddam Hussein zu "bestrafen". Der erste Golfkrieg sollte ein "Exempel" statuieren: Angesichts einer Welt, die immer mehr von Chaos und dem "Jeder für sich" beherrscht wird, sollte ein Mindestmaß an Ordnung und Disziplin durchgesetzt werden, und zwar in erster Linie in den wichtigsten Ländern des ehemaligen Westblocks. Die einzige Supermacht, die sich gehalten hat, wollte der "internationalen Gemeinschaft" eine "neue Weltordnung" unter ihrer Ägide aufzwingen, weil sie als einzige die Mittel dazu hatte, aber auch, weil sie in der globalen Unordnung am meisten zu verlieren hat.
Allerdings wird sie diese Rolle nur ausüben können, wenn sie die ganze Welt zunehmend in das Korsett des Militarismus und der Kriegsbarbarei zwängt wie während des blutigen Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien, als sie den imperialistischen Appetit der europäischen Länder (Deutschland, Großbritannien und Frankreich) mit der Durchsetzung der "Pax americana" in der Region unter ihrer Autorität (Dayton-Abkommen, Dez. 1995) abwehren musste.
(b) Die USA als "Weltsheriff/ Weltpolizist" (Bush junior: 2001-2008)
Die Al-Qaida-Anschläge vom 11. September 2001 veranlassten Präsident Bush junior, einen "War against terror" gegen Afghanistan und vor allem gegen den Irak im Jahr 2003 zu entfesseln. Trotz allen Drucks und der Verwendung von "Fake News", um die "internationale Gemeinschaft" hinter den USA gegen die "Achse des Bösen" zu mobilisieren, scheiterten die USA dabei, die anderen imperialistischen Staaten gegen Saddams "Schurkenstaat" zu mobilisieren, und marschierten fast allein in den Irak ein, mit Tony Blairs England als einzigem bedeutenden Verbündeten.
Das Scheitern dieser Interventionen, das durch den Rückzug aus dem Irak (2011) und aus Afghanistan (2021) unterstrichen wurde, machte deutlich, dass die USA nicht mehr in der Lage waren, den "Weltsheriff" zu spielen und der Welt ihre Ordnung aufzuzwingen. Im Gegenteil, dieser "Krieg gegen den Terror" hat die Büchse der Pandora des Zerfalls in diesen Regionen vollends geöffnet, indem er die Ausbreitung des „Jeder für sich“ selbst verschärft hat, was sich insbesondere in einer allseitigen Zunahme der imperialistischen Ambitionen von Mächten wie China und Russland, natürlich dem Iran, aber auch der Türkei, Saudi-Arabien und sogar den Golf-Emiraten oder Katar manifestiert hat. Die zunehmende Ausweglosigkeit der US-Politik und die irrsinnige Flucht in die kriegerische Barbarei haben die deutliche Schwächung der globalen Führungsrolle der USA deutlich gemacht.
Die Obama-Regierung versuchte, die Auswirkungen der katastrophalen Politik Bushs zu verringern (die Hinrichtung Bin Ladens 2011 unterstrich die absolute technologische und militärische Überlegenheit der USA), und wies immer deutlicher auf den Aufstieg Chinas als Hauptgefahr für die amerikanische Hegemonie hin, was innerhalb dieser Bourgeoisie und ihres Staatsapparats intensive Debatten auslöste.
(c) Die "America First"-Politik (Trump, im Grunde fortgeführt von Biden: 2017)
Die von Trump ab 2017 umgesetzte Politik des "America First" auf imperialistischer Ebene stellt in Wirklichkeit die offizielle Anerkennung des Scheiterns der imperialistischen Politik der USA in den letzten 25 Jahren dar: „Die Formalisierung des Prinzips der Verteidigung nur ihrer Interessen als Nationalstaat und die Auferlegung profitabler Machtverhältnisse als Hauptgrundlage für die Beziehungen zu anderen Staaten durch die Trump-Administration bestätigt das Scheitern der Politik der letzten 25 Jahre des Kampfes gegen die Tendenz des „Jeder für sich“ als Weltpolizist zur Verteidigung der ab 1945 geltenden Weltordnung und zieht die Konsequenzen daraus.“ (23. Internationaler Kongress der IKS, Resolution zur internationalen Lage, Internationale Revue Nr. 56, Frühling 2020)
Angesichts der mangelnden Bereitschaft der Arbeitermassen, sich für massive Militäreinsätze zu engagieren, und der hohen Verluste, die ein massiver Einsatz von Soldaten in der Welt mit sich bringen würde (vgl. bereits die Rekrutierungsschwierigkeiten von Bush junior für den Irakkrieg), bedeutete diese Position zwar eine maximale Begrenzung der Operationen mit "boots on the grounds", ging aber vor allem mit einer zunehmenden Polarisierung und einer betonten Aggressivität gegenüber China einher, das tendenziell immer mehr als Hauptgefahr identifiziert wird. Während diese Position in der Obama-Regierung weiterhin umstritten war und auch in der Trump-Regierung Spannungen zwischen den Befürwortern der Bekämpfung von "Schurkenstaaten" wie dem Iran (Pompeo, Kushner) und den Befürwortern der "chinesischen Hauptgefahr" (Geheimdienst und Militär) auftraten, ist die Polarisierung auf letztere Option zweifellos die zentrale Achse der Außenpolitik Bidens. Es handelt sich dabei um eine strategische Entscheidung der USA, ihre Kräfte auf den militärischen und technologischen Wettbewerb mit China zu konzentrieren, um ihre Vormachtstellung zu bewahren und sogar auszubauen und ihre Position als "Pate" des herrschenden Clans gegenüber den konkurrierenden Clans (China und nebenbei Russland), die ihre Hegemonie am direktesten bedrohen, zu verteidigen. Schon als Weltpolizist verschärften die USA kriegerische Gewalt, Chaos und das „Jeder für sich“; ihre aktuelle Politik ist keineswegs weniger destruktiv geworden, ganz im Gegenteil.
Die von der Trump-Regierung eingeleitete Polarisierung der USA gegenüber China und eine entsprechende Umverteilung der Kräfte wurden von der Biden-Regierung in vollem Umfang übernommen. Diese hat nicht nur die von Trump eingeleiteten aggressiven wirtschaftlichen Maßnahmen gegen China beibehalten, sondern vor allem den Druck durch eine aggressive Politik erhöht:
- politisch: Verteidigung der Rechte der Uiguren und Hongkongs, diplomatische und handelspolitische Annäherung an Taiwan, Hacker-Vorwürfe gegen China;
- militärisch im Chinesischen Meer durch explizite und spektakuläre Aktionen in den letzten Monaten: vermehrte Militärübungen unter Beteiligung der US-Flotte und der Flotten von Verbündeten im Südchinesischen Meer, alarmierende Berichte über die unmittelbar drohende chinesische Intervention in Taiwan, Präsenz von US-Spezialkräften in Taiwan zur Betreuung taiwanischer Eliteeinheiten, Abschluss eines neuen Verteidigungsabkommens, des AUKUS, zwischen den USA, Australien und Großbritannien, das eine militärische Koordination eingeführt hat, die ausdrücklich gegen China gerichtet ist, Bidens Zusage, Taiwan im Falle einer chinesischen Aggression zu unterstützen.
Taiwan hat in der Strategie der USA gegenüber China immer eine wichtige Rolle gespielt. Während es im Kalten Krieg ein wichtiger Teil der Eindämmungsmaßnahmen des „kommunistischen“ Blocks war, stellte es in den 1990er und frühen 2000er Jahren das Schaufenster der globalisierten kapitalistischen Gesellschaft dar, in die China eingebunden war. Mit dem Aufstieg Chinas hat sich der Blickwinkel jedoch geändert und Taiwan spielt wieder eine geostrategische Rolle, um der chinesischen Marine den Zugang zum Westpazifik zu versperren. Auf strategischer Ebene “stellen die Produktionsstätten der Insel in der Tat den Großteil der Halbleiter der neuesten Generation her, die für die globale digitale Wirtschaft (Smartphones, vernetzte Objekte, künstliche Intelligenz usw.) unerlässlich sind“ (Le Monde diplomatique, Oktober 2021).
China hat seinerseits aggressiv auf diesen politischen und militärischen Druck reagiert, insbesondere auf denjenigen, der Taiwan betrifft: Abhaltung massiver und bedrohlicher See- und Luftmanöver rund um die Insel, Veröffentlichung alarmierender Studien, die auf ein "noch nie dagewesenes" Kriegsrisiko mit Taiwan hinweisen, oder Pläne für einen Überraschungsangriff auf Taiwan, der zu einer totalen Niederlage der Streitkräfte der Insel führen würde.
Warnungen, Drohungen und Einschüchterungen haben sich also in den letzten Monaten im Chinesischen Meer abgewechselt. Sie unterstreichen den wachsenden Druck, den die USA auf China ausüben. In diesem Zusammenhang haben die USA alles darangesetzt, andere asiatische Länder, die über Pekings Expansionsbestrebungen besorgt sind, hinter sich zu bringen, indem sie beispielsweise versucht haben, eine Art asiatische NATO, die QUAD, zu gründen, die die USA, Japan, Australien und Indien vereint, und Südkorea mit einzubeziehen. Andererseits und in ähnlicher Weise wollte Biden die NATO wiederbeleben, um die europäischen Länder in seine Politik des Drucks gegen China einzubinden. Paradoxerweise zeigt die Bildung des AUKUS die Grenzen auf, die dem Zusammenschluss anderer Nationen hinter den USA gesetzt sind. Der AUKUS bedeutet zunächst eine Ohrfeige für Frankreich und macht Bidens schöne Worte von der "Partnerschaft" innerhalb der NATO zunichte. Darüber hinaus bestätigt dieses Abkommen auch die Zurückhaltung von Ländern wie Indien mit seinen eigenen imperialistischen Ambitionen und vor allem von Südkorea und Japan, die zwischen der Angst vor Chinas militärischer Aufrüstung und ihren beträchtlichen Industrie- und Handelsbeziehungen zu China eingeklemmt sind.
Nachdem der Irak und Syrien in Chaos und blutige Barbarei versunken sind, bestätigen die Ereignisse vom September 2021 in Afghanistan voll und ganz die prägenden Trends dieses Zeitraums: den Niedergang der US-Führung und den Aufstieg von Chaos und dem „Jeder gegen jeden“.
Der völlige Zusammenbruch des afghanischen Regimes und der afghanischen Armee, der blitzartige Vormarsch der Taliban trotz einer 20-jährigen US-Militärintervention im Land und Hunderten von Milliarden Dollar, die im "nation building" versenkt wurden, sowie die panikartige Evakuierung von US-Bürgern und Mitarbeitern bestätigen auf eindrucksvolle Weise, dass die USA nicht mehr in der Lage sind, die Rolle des "Weltpolizisten" zu erfüllen. Konkret hat der dramatische und chaotische Abzug der US-Truppen aus Afghanistan zu einer inneren und äußeren Niederlage für die Biden-Regierung geführt.
(a) Außenpolitisch untergrub das Debakel in den Augen seiner "Verbündeten" die Vertrauenswürdigkeit der USA
Da selbst NATO-Sekretär J. Stoltenberg zugeben musste, dass die USA nicht mehr garantieren, die europäischen Verbündeten gegen ihre Feinde zu verteidigen, wurde Bidens gesamte Charmeoffensive gegenüber der NATO und den Verbündeten zunichte gemacht. Das völlige Fehlen von Absprachen innerhalb der NATO und der absolute Alleingang der USA führten zu empörten Reaktionen in London, Berlin und Paris. Was die Kollaborateure der Amerikaner in Afghanistan (wie die Kurden in Syrien, die von Trump verraten wurden) betrifft, so fürchten sie zu Recht um ihr Leben: Hier ist eine Weltmacht Nummer eins, die nicht in der Lage ist, das Leben ihrer Kollaborateure und die Unterstützung ihrer Verbündeten zu garantieren. Sie verdient daher kein "Vertrauen" (wie Xi Jinping sarkastisch betonte!).
(b) Innenpolitisch hat sie die Glaubwürdigkeit der Biden-Administration ausgehöhlt
In der Resolution zur internationalen Lage des 24. IKS-Kongresses heißt es: "Die Wahl Bidens, unterstützt durch eine enorme Mobilisierung der Medien, von Teilen des politischen Apparats und sogar des Militärs und der Sicherheitsdienste, drückt diese reale Gegentendenz zur Gefahr der sozialen und politischen Desintegration aus, die am deutlichsten vom Trumpismus verkörpert wird. Kurzfristig können solche "Erfolge" als Bremse gegenüber dem wachsenden sozialen Chaos fungieren.“ (Punkt 8) Das Afghanistan-Debakel hat jedoch nicht nur die Unzuverlässigkeit der USA gegenüber ihren Verbündeten deutlich gemacht, sondern auch die Spannungen innerhalb der amerikanischen Bourgeoisie verschärft und allen gegnerischen Kräften (Republikanern und Populisten), die diesen übereilten und demütigenden Rückzug durch eine Regierung, die "die Vereinigten Staaten international entehrt", verurteilen, einen breiten Raum eröffnet. Und das zu einem Zeitpunkt, da die von der Biden-Administration propagierte Politik der industriellen Wiederbelebung und der großen Bauvorhaben, die die vom Populismus verursachten Schäden begrenzen sollte, auf heftigen Widerstand der Republikaner im Kapitol und Trumps stieß und sie angesichts einer stagnierenden Impfpolitik gezwungen war, Zwangsmaßnahmen gegenüber der Bevölkerung zu ergreifen.
Die fehlende Zentralisierung der Taliban-Macht, die unzähligen Strömungen und Gruppen mit den unterschiedlichsten Bestrebungen, aus denen sich die Bewegung zusammensetzt, und die Vereinbarungen mit lokalen Kriegsherren, das ganze Land rasch einzunehmen, führen dazu, dass die Situation von Chaos und Unberechenbarkeit geprägt ist, wie die jüngsten Anschläge gegen die Hazara-Minderheit zeigen. Dies kann den Interventionswillen der verschiedenen Imperialismen nur verstärken, aber auch die Unberechenbarkeit der Situation und damit auch das herrschende Chaos.
- Der Iran ist mit den Hazara-Minderheiten entlang seiner Grenzen verbunden und will seinen Einfluss in dieser Region aufrechterhalten. Pakistan ist besorgt, dass der Sieg der Taliban (die es über seinen Geheimdienst finanziert) zu einer Unabhängigkeitsbewegung der paschtunischen Bevölkerung innerhalb seiner eigenen Grenzen führen könnte. Indien, das das gestürzte Regime in großem Umfang finanzierte, sieht sich nun mit einer Intensivierung der muslimischen Guerilla im indischen Kaschmir konfrontiert. Russland hat seine Truppen in den ehemaligen Sowjetrepubliken Asiens verstärkt, um jeglichen Bestrebungen, die dortigen dschihadistischen Bewegungen zu unterstützen, entgegenzuwirken.
- Zieht insbesondere China irgendeinen Vorteil aus dem Rückzug der USA? Das Gegenteil ist der Fall. Das Chaos in Afghanistan selbst macht eine kohärente und langfristige Politik in diesem Land unberechenbar. Außerdem stellt die Präsenz der Taliban an Chinas Grenzen ein ernsthaftes Gefahrenpotenzial für islamistische Infiltrationen nach China (Uiguren) dar, zumal die pakistanischen "Brüder" der Taliban (die TTP, Cousins des ISK) eine Anschlagskampagne gegen die Baustellen der "neuen Seidenstraße" führen, bei der bereits ein Dutzend chinesischer "Entwicklungshelfer" ums Leben gekommen sind. China versucht, der Gefahr in Afghanistan zu begegnen, indem es sich in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens (Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan) niederlässt. Diese Republiken gehören jedoch traditionell zum russischen Einflussbereich, was die Gefahr einer Konfrontation mit diesem "strategischen Verbündeten" erhöht, dem seine langfristigen Interessen (die "neue Seidenstraße") ohnehin fundamental entgegenstehen (siehe Punkt 4.2, der sich mit der chinesisch-russischen Allianz befasst).
China hat in den letzten Jahrzehnten einen kometenhaften Aufstieg in wirtschaftlicher und imperialistischer Hinsicht erlebt, der es zum wichtigsten Herausforderer der USA gemacht hat. Wie die Ereignisse in Afghanistan im September 2021 bereits zeigen, konnte es jedoch weder vom anhaltenden US-Rückgang noch von der Covid-19-Krise und ihren Folgen profitieren, um seine Positionen in den imperialistischen Beziehungen zu stärken – im Gegenteil. Betrachten wir die Schwierigkeiten, mit denen die chinesische Bourgeoisie in Bezug auf die Kontrolle des Coronavirus, die Verwaltung der Wirtschaft, die imperialistischen Beziehungen und die Spannungen innerhalb der eigenen Bourgeoisie konfrontiert ist.
China setzt auf Herdenimmunität, bevor es das Land öffnet, aber die strikte Lockdown-Politik, die es in der Zwischenzeit in ganzen Städten und Regionen anwendet, wann immer Infektionen festgestellt werden, belastet die Wirtschafts- und Handelsaktivitäten schwer. So führte die Schließung des Hafens von Yantian, des drittgrößten Containerhafens der Welt, im Mai zur monatelangen Blockade von Tausenden von Containern und Hunderten von Schiffen, was den weltweiten Seeverkehr völlig durcheinanderbrachte.
Das Streben nach kollektiver Immunität veranlasst zudem einige chinesische Provinzen und Städte dazu, finanzielle Sanktionen gegen die Hinterherhinkenden zu verhängen. Angesichts der zahlreichen Kritiken in den chinesischen sozialen Netzwerken hat die Zentralregierung solche Maßnahmen blockiert, da sie dazu tendierten, "den nationalen Zusammenhalt zu gefährden".
Am gravierendsten sind sicher die übereinstimmenden Daten über die begrenzte Wirksamkeit der chinesischen Impfstoffe, die von verschiedenen Ländern, die sie verwenden, mitgeteilt wurden: “Insgesamt scheint die Impfkampagne in Chile – die mit derzeit 62 % Geimpften in der Bevölkerung wichtig ist – keine nennenswerten Auswirkungen auf den Anteil der Todesfälle zu haben“ (H. Testard, Covid-19: Impfung hebt in Asien ab, aber die Zweifel an den chinesischen Impfstoffen wachsen, Asialyst, 21.07.21). Die chinesischen Verantwortlichen erwägen heute sogar Vereinbarungen über den Import von Pfizer oder Moderna, um die Unwirksamkeit ihrer eigenen Impfstoffe zu kompensieren.
Abgesehen von der unbestreitbaren Verantwortung Chinas für den Ausbruch der Pandemie belastet Pekings ineffizientes Management der Covid-Krise die allgemeine Politik des chinesischen Staatskapitalismus.
Das starke Wachstum, das China in den letzten 40 Jahren verzeichnet hat – auch wenn die Zahlen im letzten Jahrzehnt bereits rückläufig waren – scheint sich dem Ende zuzuneigen. Experten erwarteten, dass das chinesische BIP im Jahr 2021 um weniger als 6 % wachsen wird, während es im letzten Jahrzehnt durchschnittlich 7 % und im Jahrzehnt davor über 10 % betrug. Verschiedene andere Faktoren verschärfen die derzeitigen Schwierigkeiten der chinesischen Wirtschaft:
(a) Die Gefahr des Platzens der chinesischen Immobilienblase: Evergrande, die Nummer zwei der chinesischen Immobilienbranche, wird derzeit von rund 300 Milliarden Euro Schulden erdrückt, die sie nicht mehr bedienen kann, was allein 2 % des BIP des Landes entspricht. Andere Bauträger wie Fantasia Holdings oder Sinic Holdings, die ihren Gläubigern gegenüber fast zahlungsunfähig sind, sind ebenfalls betroffen. Generell hat der Immobiliensektor, der 25 % der chinesischen Wirtschaft ausmacht, eine gigantische öffentliche und private Verschuldung in Höhe von mehreren Billionen US-Dollar verursacht. Der Konkurs von Evergrande ist in Wirklichkeit nur die erste Sequenz eines bevorstehenden globalen Zusammenbruchs dieses Sektors. Heute stehen so viele Wohnungen leer, dass sie 90 Millionen Menschen beherbergen könnten. Zwar wird der unmittelbare Zusammenbruch des Sektors insofern vermieden, als die chinesischen Behörden keine andere Wahl haben, als die Schäden des Schiffbruchs zu begrenzen und ansonsten sehr schwere Auswirkungen auf den Finanzsektor zu riskieren: "(...) Es wird keinen Schneeballeffekt wie 2008 [in den USA] geben, weil die chinesische Regierung die Maschine stoppen kann, meint Andy Xie, ein unabhängiger Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger Mitarbeiter von Morgan Stanley in China, der von Le Monde zitiert wird. Ich denke, dass wir mit Anbang [Versicherungsgruppe, Anm. d. Ü.] und HNA [Hainan Airlines] gute Beispiele dafür haben, was passieren kann: Es wird einen Ausschuss geben, der das Unternehmen, die Gläubiger und die Behörden an einen Tisch bringt und der entscheidet, welche Vermögenswerte verkauft, welche umstrukturiert werden sollen und schließlich wie viel Geld übrig bleibt und wer Gelder verlieren kann". (P.-A. Donnet, Fall von Evergrande in China: Das Ende des billigen Geldes, Asialyst, 25.09.21).
Doch während der chinesische Immobiliensektor sein Geschäftsmodell auf einer phänomenalen Verschuldung aufbaut, schreiben viele andere Sektoren rote Zahlen: Ende 2020 betrug die Gesamtverschuldung chinesischer Unternehmen 160 % des BIP des Landes, während die Verschuldung amerikanischer Unternehmen bei etwa 80 % lag, und die "toxischen" Investitionen der Lokalregierungen würden heute laut Analysten von Goldman Sachs allein 53 Billionen Yuan ausmachen, was einer Summe entspricht, die 52 % des chinesischen BIP ausmacht. Somit besteht die Gefahr, dass das Platzen der Immobilienblase nicht nur andere Wirtschaftssektoren ansteckt, sondern auch zu sozialer Instabilität führt (fast 3 Millionen direkte und indirekte Arbeitsplätze hängen mit Evergrande zusammen), der größten Angst der regierenden KPCh.
(b) Energieausfälle: Sie sind die Folge einer unzureichenden Kohleversorgung, die unter anderem durch die Rekordüberschwemmungen in der Provinz Shaanxi verursacht wurde, die allein 30 % des landesweiten Brennstoffs produziert, und auch durch die von Xi beschlossenen strengeren Vorschriften zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung. Der Mangel belastet bereits die Industrietätigkeit in mehreren Regionen: Die Stahl-, Aluminium- und Zementindustrie leiden bereits unter der Einschränkung des Stromangebots. Diese Einschränkung hat die Produktionskapazitäten für Aluminium um etwa 7 % und für Zement um 29 % reduziert (Zahlen von Morgan Stanley), und Papier und Glas könnten die nächsten betroffenen Sektoren sein. Diese Kürzungen bremsen nun das Wirtschaftswachstum im ganzen Land. Die Lage ist jedoch noch ernster, als es auf den ersten Blick scheint: "Denn diese Stromknappheit wirkt sich nun auch auf den Wohnungsmarkt in einigen Regionen des Nordostens aus. So hat die Provinz Liaoning die Stromabschaltungen aus dem Industriesektor auf Wohnnetze ausgeweitet" (P.-A. Donnet, China: How the serious electricity shortage threats the economy, Asialyst, 30.09.21).
(c) Unterbrechungen in den Produktions- und Lieferketten: Diese hängen mit der Energiekrise, aber auch mit den Ausgangsbeschränkungen infolge der Covid-Infektionen (siehe vorherigen Punkt) zusammen. Sie beeinträchtigen die Produktion in Industrien in verschiedenen Regionen und erhöhen das Risiko von Unterbrechungen in den bereits angespannten nationalen und globalen Lieferketten, zumal einige Hersteller mit einem akuten Mangel an Halbleitern konfrontiert sind.
Die Verwirklichung der "Neuen Seidenstraße" wird immer schwieriger, was auf die finanziellen Probleme im Zusammenhang mit der Covid-Krise und den Schwierigkeiten der chinesischen Wirtschaft, aber auch auf die Vorbehalte der Partner zurückzuführen ist:
- Einerseits wurde das Verschuldungsniveau der "Partner"-Länder durch die Covid-Krise erhöht, und diese sind nun nicht mehr in der Lage, die Zinsen für die chinesischen Kredite zu zahlen. Länder wie Sri Lanka, Bangladesch, Kirgisistan, Pakistan, Montenegro und verschiedene afrikanische Länder haben China gebeten, die Zahlung ihrer Schulden, die in diesem Jahr fällig sind, umzustrukturieren, hinauszuschieben oder zu streichen.
- Andererseits gibt es ein wachsendes Misstrauen vieler Länder gegenüber Chinas Vorgehen (EU, Kambodscha, Philippinen, Indonesien) in Verbindung mit dem von den USA gegen China gerichteten Druck (wie in Lateinamerika), und es gibt auch die Folgen des durch den Zerfall erzeugten Chaos, das einige Schlüsselländer der "Neuen Seidenstraße", wie z.B. Äthiopien, destabilisiert. Kurzum, es ist nicht verwunderlich, dass es 2020 zu einem Einbruch des finanziellen Werts der in das Projekt "Neue Seidenstraße" geflossenen Investitionen (-64 %) gekommen ist, obwohl China seit 2013 mehr als 461 Milliarden US-Dollar verliehen hat.
Unter Deng Xiao Ping richtete der chinesische Staatskapitalismus stalinistischer Prägung unter dem Deckmantel der Politik "Reiche schaffen, um ihren Reichtum zu teilen", "freie" Zonen (Hongkong, Macao etc. ) ein, um einen "freien Markt"-Kapitalismus zu entwickeln, der den Zufluss von internationalem Kapital ermöglichte und auch einen privatkapitalistischen Sektor förderte, der mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der "Globalisierung" der Wirtschaft in den 1990er Jahren dort exponentiell wuchs, auch wenn der öffentliche Sektor unter direkter staatlicher Kontrolle immer noch 30 % der Wirtschaft ausmacht. Wie ging die rigide und repressive Struktur des stalinistischen Staates und der Einheitspartei mit dieser "Öffnung" für den Privatkapitalismus um? Ab den 1990er Jahren wandelte sich die Partei, indem sie massiv Unternehmer und Leiter von Privatunternehmen aufnahm. "Anfang der 2000er Jahre hob der damalige Präsident Jiang Zemin das Verbot der Rekrutierung von Unternehmern aus dem Privatsektor, die bis dahin als Klassenfeinde angesehen worden waren, auf (...). Die so ausgewählten Geschäftsleute werden Mitglied der politischen Elite, was ihnen garantiert, dass ihre Unternehmen zumindest teilweise vor Kadern mit räuberischen Tendenzen geschützt sind" (Que reste-t-il-t-il du communisme en Chine ?, Le monde diplomatique Nr. 68, Juli 2021). Heute machen Fachkräfte und Manager mit Hochschulabschluss 50 % der KPCh-Anhängerschaft aus.
Die Gegensätze zwischen den verschiedenen Fraktionen werden sich daher nicht nur innerhalb der staatlichen Strukturen, sondern auch innerhalb der KPCh selbst äußern. Seit mehreren Jahren (vgl. bereits den Bericht über imperialistische Spannungen des 20. Kongresses der IKS, 2013, Internationale Revue Nr. 51) wachsen die Spannungen zwischen verschiedenen Fraktionen innerhalb der chinesischen Bourgeoisie, insbesondere zwischen jenen, die stärker mit privatkapitalistischen Sektoren verbunden sind, die von internationalem Handel und Investitionen abhängen, und jenen, die mit staatlichen Strukturen und Finanzkontrolle auf regionaler oder nationaler Ebene verbunden sind, also jenen, die eine Öffnung gegenüber dem Welthandel befürworten, und jenen, die eine stärker nationalistische Politik vorantreiben. Insbesondere die "Linkswende", die von der Fraktion hinter Präsident Xi eingeleitet wurde und weniger wirtschaftlichen Pragmatismus und mehr nationalistische Ideologie bedeutet, hat in den letzten Jahren die Spannungen und die politische Instabilität verstärkt: Davon zeugen "die anhaltenden Spannungen zwischen Premierminister Li Keqiang und Präsident Xi Jinping über den wirtschaftlichen Aufschwung ebenso wie die "neue Position" Chinas auf der internationalen Bühne" (China: in Beidaihe, "Sommeruniversität" der Partei, interne Spannungen auf den Punkt gebracht, A. Payette, Asialyst, 06.09.20), die "Kriegspolitik", die die chinesische Diplomatie gegenüber Taiwan betreibt, aber gleichzeitig Xis spektakuläre Erklärung, dass China bis 2060 eine CO2-neutrale Wirtschaft erreichen will, die explizite Kritik an Xi, die immer wieder auftaucht (zuletzt der Aufsatz "Virusalarm", der von einem angesehenen Professor für Verfassungsrecht an der Qinghua-Universität in Peking veröffentlicht wurde und das Ende Xis vorhersagt), Spannungen zwischen Xi und den Generälen, die die Volksarmee führen, Interventionen des Staatsapparats gegenüber Unternehmern, die zu "flamboyant" und kritisch gegenüber der staatlichen Kontrolle sind (Jack Ma und Ant Financial, Alibaba). Einige Konkurse (HNA, Evergrande) könnten übrigens auf die Cliquenkämpfe innerhalb der Partei zurückgeführt werden, beispielsweise im Rahmen der zynischen Kampagne zum "Schutz der Bürger vor den Exzessen der ‚kapitalistischen Klasse‘“.
Kurzum: Die chinesische Bourgeoisie profitiert keineswegs von der aktuellen Situation, sondern ist wie andere Bourgeoisien mit der Last der Krise, dem Chaos des Zerfalls und den inneren Spannungen konfrontiert, die sie mit allen Mitteln innerhalb ihrer veralteten staatskapitalistischen Strukturen einzudämmen versucht.
Die in den vorangegangenen Punkten analysierten Umstände zeigen zwar, dass die Spannungen zwischen den USA und China tendenziell eine dominierende Rolle auf der imperialistischen Bühne einnehmen, ohne dass sie jedoch eine Tendenz zur Bildung imperialistischer Blöcke hervorbringen. Denn abgesehen von einigen begrenzten Bündnissen wie dem AUKUS gelingt es der Hauptmacht des Planeten, den USA, heute nicht nur nicht, die anderen Mächte für ihre politische Linie zu mobilisieren (früher gegen den Irak oder den Iran, heute gegen China), sondern sie ist darüber hinaus unfähig, ihre eigenen Verbündeten zu verteidigen und die Rolle eines "Blockführers" zu spielen. Dieser Niedergang der US-Führung führt zu einer Verschärfung des Chaos, das sich sogar zunehmend auf die Politik aller dominanten Imperialismen auswirkt, einschließlich Chinas, das es ebenfalls nicht schafft, seine Führung dauerhaft auf andere Länder auszudehnen.
Die Tatsache, dass die Taliban die Amerikaner "besiegt" haben, wird all die kleinen Haie ermutigen, die nicht zögern werden, ihre Interessen einzubringen, wenn es niemanden gibt, der "Regeln auferlegt". Wir treten in eine Beschleunigung des gesetzlosen Imperiums und das größte Chaos der Geschichte ein. „Jeder für sich“ wird zum zentralen Faktor der imperialistischen Beziehungen, und kriegerische Barbarei bedroht ganze Teile der Welt.
(a) Zentralasien, Naher Osten und Afrika:
Neben der Barbarei des Bürgerkriegs im Irak, in Syrien, Libyen oder Jemen und dem Absturz Afghanistans in den Horror gibt es starke Spannungen zwischen Armenien und Aserbaidschan, angeregt durch die Türkei, die damit Russland provoziert. In Äthiopien (unterstützt von Eritrea) ist ein Bürgerkrieg gegen die "Rebellenprovinz" Tigray (unterstützt vom Sudan und von Ägypten) ausgebrochen, und schließlich wachsen die Spannungen zwischen Algerien und Marokko. Die "Somalisierung" von Staaten und die Zone der Instabilität und "Rechtlosigkeit" (siehe dazu auch den Bericht des 20. Kongresses der IKS, 2013) haben sich immer weiter ausgedehnt: Das Chaos herrscht nun von Kabul bis Addis Abeba, von Sanaa bis Eriwan, von Damaskus bis Tripolis, von Bagdad bis Bamako.
(b) Mittel- und Südamerika:
Covid trifft den Subkontinent hart (1/3 der weltweiten Todesfälle im Jahr 2020 bei 1/8 der Weltbevölkerung) und hat ihn in die schlimmste Rezession seit 120 Jahren gestürzt: Schrumpfung des BIP um 7,7 % und Anstieg der Armut um fast 10 % im Jahr 2020 (Le monde diplomatique [LMD], Okt. 2021). Das Chaos wächst, wie in Haiti, das unter der blutigen Herrschaft von Banden und in entsetzlichem Elend versinkt, und auch in Mittelamerika ist die Lage katastrophal: Hunderttausende verzweifelter Menschen fliehen vor Elend und Chaos und drohen die Südgrenze der USA zu überrennen. Die Region leidet zunehmend unter den mit dem Zerfall verbundenen Konvulsionen: soziale Aufstände in Kolumbien und Chile, populistische Verwirrung in Brasilien. Mexiko versucht, seine eigenen Karten zu spielen (Vorschlag einer neuen OAS usw.), ist aber zu sehr von den USA abhängig, um seine eigenen Bestrebungen durchzusetzen. Die USA waren nicht in der Lage, Maduro in Venezuela, dem die Chinesen und Russen und sogar der Iran weiterhin "humanitäre" Unterstützung leisten, sowie das Regime in Kuba zu stürzen. China hat sich vor allem seit 2008 in die Wirtschaft der Region eingeschlichen und ist zu einem wichtigen Gläubiger vieler lateinamerikanischer Staaten geworden, doch die Gegenoffensive der USA übt derzeit starken Druck auf einige Staaten (Panama, Ecuador, Chile) aus, sich von Pekings "räuberischen Wirtschaftsaktivitäten" zu distanzieren.
(c) Europa:
Die Spannungen zwischen der NATO und Russland haben sich in den letzten Monaten verschärft: Nach dem Vorfall mit dem Ryanair-Flugzeug, das von Weißrussland entführt und abgefangen wurde, um einen nach Litauen geflüchteten Dissidenten festzunehmen, gab es im Juni NATO-Manöver im Schwarzen Meer vor der Küste der Ukraine, bei denen es zu einem Zusammenstoß zwischen einer britischen Fregatte und russischen Schiffen kam, und im September gemeinsame Manöver der russischen und weißrussischen Armee an der Grenze zu Polen und den baltischen Staaten angesichts von NATO-Übungen auf ukrainischem Gebiet, die in Putins Augen eine echte Provokation darstellten.
Das zunehmende Chaos erhöht auch die Spannungen innerhalb der Bourgeoisie und verstärkt die Unberechenbarkeit ihrer imperialistischen Positionierung. Dies gilt für Länder wie Brasilien, wo die katastrophale Gesundheitssituation und das unverantwortliche Management der Regierung Bolsonaro zu einer immer stärkeren politischen Krise führen, und für andere lateinamerikanische Länder (politische Instabilität in Ecuador, Peru, Kolumbien oder Argentinien). Im Nahen und Mittleren Osten können die Spannungen zwischen den Clans und Stämmen, die Saudi-Arabien beherrschen, das Land destabilisieren, während Israel von der Opposition eines großen Teils der politischen Fraktionen von rechts bis links gegen Netanjahu und gegen die religiösen Parteien, aber auch von Pogromen im Landesinneren gegen "israelische" Araber geprägt ist. Schließlich gibt es noch die Türkei, die eine Lösung für ihre politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten in einer selbstmörderischen Flucht nach vorn in imperialistische Abenteuer (von Libyen bis Aserbaidschan) sucht.
In Europa verschärfen das Debakel in Afghanistan und die "U-Boot-Affäre" sowie der Post-Brexit die Destabilisierung von Organisationen, die aus Blockperioden hervorgegangen sind, wie die NATO oder die EU. Innerhalb der NATO zweifeln europäische Länder zunehmend an der Zuverlässigkeit der USA. So hat Deutschland dem Druck der USA in Bezug auf die Ostseepipeline mit Russland nicht nachgegeben, und Frankreich kann den Affront der USA im U-Boot-Deal mit Australien nicht verdauen, während andere europäische Länder in den USA nach wie vor ihren wichtigsten Beschützer sehen. Die Frage der Beziehungen zu Großbritannien bei der Umsetzung der Brexit-Vereinbarungen (Nordirland und Fischereiquoten) spaltet die EU-Länder, und es gibt starke Spannungen zwischen Frankreich und Großbritannien. Innerhalb der EU selbst bringen die Flüchtlingsströme die Staaten weiterhin gegeneinander auf, während Länder wie Ungarn und Polen die in den EU-Verträgen festgelegten "supranationalen Befugnisse" immer offener in Frage stellen und die Hydra des Populismus Frankreich bei den Wahlen im Frühjahr 2022 bedroht.
Chaos und zunehmendes "Jeder für sich" behindern auch tendenziell die Kontinuität des Handelns der wichtigsten Imperialismen: Die USA sehen sich gezwungen, den Druck durch regelmäßige Luftangriffe auf schiitische Milizen aufrechtzuerhalten, die ihre verbliebenen Kräfte im Irak bedrängen; Russland muss in der bewaffneten Konfrontation zwischen Armenien und Aserbaidschan, die durch die imperialistischen Alleingänge der Türkei angeheizt wurde, "Feuerwehr“ spielen; die Ausweitung des Chaos am Horn von Afrika durch den Bürgerkrieg in Äthiopien unter Beteiligung des Sudan und Ägyptens, die die Tigray-Region und Eritrea die äthiopische Zentralregierung unterstützen, bringt insbesondere die Pläne Chinas durcheinander, das das als Stabilitätspol und "neue Werkstatt der Welt" gepriesene Äthiopien als Stützpunkt für sein "Belt and Road Project" in Nordostafrika vorgesehen hatte und zu diesem Zweck einen Militärstützpunkt in Dschibuti errichtet hatte. Die anhaltenden Auswirkungen der mit der Pandemie verbundenen Maßnahmen und Unsicherheiten sind auch ein destabilisierender Faktor in der imperialistischen Politik der verschiedenen Staaten: Stagnation der Impfungen in den USA nach einem fulminanten Start, neue umfangreiche Corona-Beschränkungen ganzer Regionen und offensichtlich mangelnde Wirksamkeit der Impfstoffe in China, Explosion der Ansteckungen und der überhöhten Sterblichkeitsrate (660 000), Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Impfstoffen in Russland (Impfrate von etwas mehr als 30 %). Diese Instabilität kennzeichnet auch die Bündnisse, wie insbesondere das zwischen China und Russland. Wenn diese Länder eine "strategische Zusammenarbeit" (Charakterisierung des chinesisch-russischen Kommuniqués vom 28.06.21) gegen die USA und in Bezug auf den Nahen Osten, den Iran oder Nordkorea aufbauen und sogar gemeinsame Übungen ihrer Armeen und Seekräfte organisieren, unterscheiden sich ihre politischen Ambitionen grundlegend: Der russische Imperialismus zielt vor allem auf die Destabilisierung von Regionen ab und kann kaum mehr als "frozen conflicts" (Syrien, Lybien, Ukraine, Georgien, ...) anstreben, während China eine langfristige wirtschaftliche und imperialistische Politik verfolgt: die "neue Seidenstraße". Außerdem ist sich Russland sehr wohl bewusst, dass die Routen der "Neuen Seidenstraße" über Land und durch die arktische Zone seinen Interessen direkt entgegenstehen, da sie die russischen Einflusszonen in Zentralasien und Sibirien unmittelbar bedrohen und Russland, das ein Bruttosozialprodukt hat, das lediglich dem Italiens entspricht, in Bezug auf den Industrieapparat nicht mit der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt mithalten kann.
"Kriegswirtschaft (...) ist keine Wirtschaftspolitik, die die Widersprüche des Kapitalismus lösen oder die Grundlage für eine neue Etappe der kapitalistischen Entwicklung schaffen kann. (...) Die alleinige Funktion der Kriegswirtschaft ist (…) der Krieg! Ihre Daseinsberechtigung besteht in der systematischen, effektiven Zerstörung der Produktionsmittel und in der Produktion von Zerstörungsmitteln – die wahre Logik der kapitalistischen Barbarei.“ (Internationale Revue Nr. 1, (deutsch) 1978, Bericht über die internationale Lage, 2. Kongress der IKS). Die Tatsache, dass die Perspektive nicht auf die Bildung breiter, stabiler Bündnisse, imperialistischer "Blöcke", die sich in eine weltweite Konfrontation werfen, gerichtet ist und sich somit die Frage eines Weltkriegs derzeit nicht stellt, ändert nichts an der Tatsache, dass sich die Kriegswirtschaft heute verschärft. Die Wirtschaft den militärischen Notwendigkeiten zu unterwerfen, belastet die Wirtschaft schwer, aber diese Irrationalität ist keine Wahl: Sie ist das Produkt der Sackgasse des Kapitals, die durch den sozialen Zerfall beschleunigt wird.
Das Wettrüsten verschlingt phänomenale Summen, im Fall der USA, die in dieser Hinsicht immer noch einen großen Vorteil haben, aber auch im Fall Chinas, das seine Militärausgaben in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich erhöht hat. "Der Anstieg der weltweiten Militärausgaben um 2,6 % erfolgt in einem Jahr, in dem das weltweite Bruttoinlandprodukt (BIP) um 4,4 % zurückgegangen ist (Auswertung des Internationalen Währungsfonds, Oktober 2020), was hauptsächlich auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zurückzuführen ist. Infolgedessen erreichten die Militärausgaben in Prozent des BIP – die sogenannte militärische Belastung – im Jahr 2020 einen globalen Durchschnitt von 2,4 %, verglichen mit 2,2 % im Jahr 2019. Dies ist der stärkste jährliche Anstieg dieser Ausgaben seit der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2009" (Sipri-Pressemitteilung, April 2021). Dieser Wettlauf betrifft nicht nur konventionelle und nukleare Waffen, sondern auch die noch deutlichere Militarisierung von Weltraumprogrammen und die Ausweitung des Wettlaufs auf bisher verschonte Gebiete wie die arktischen Regionen.
Angesichts der erschreckenden Ausbreitung des imperialistischen „Jeder gegen jeden“ beschränkt sich das Wettrüsten nicht auf die großen Imperialistischen Länder, sondern betrifft alle Staaten, insbesondere auf dem asiatischen Kontinent, der einen deutlichen Anstieg der Militärausgaben verzeichnet: So ist die Umkehrung des jeweiligen Gewichts von Asien und Europa zwischen 2000 und 2018 spektakulär: Im Jahr 2000 entfielen 27 % beziehungsweise 18 % der weltweiten Verteidigungsausgaben auf Europa und Asien. Im Jahr 2018 sind diese Verhältnisse umgekehrt: Auf Asien entfallen 28 % und auf Europa 20 % (Sipri-Daten).
Diese Militarisierung drückt sich heute auch in einer beeindruckenden Entwicklung der Cyberaktivitäten von Staaten (Hackerangriffe, die oft direkt oder indirekt mit Staaten in Verbindung stehen, wie der Cyberangriff Israels auf die iranischen Atomanlagen) sowie der künstlichen Intelligenz und der militärischen Robotik (Roboter, Drohnen) aus, die eine immer wichtigere Rolle bei nachrichtendienstlichen Aktivitäten oder militärischen Operationen spielen.
Doch "der eigentliche Schlüssel zur Konstituierung der Kriegswirtschaft (...) [ist] die physische und/oder ideologische Unterwerfung des Proletariats unter den Staat, [der] Grad der Kontrolle, die der Staat über die Arbeiterklasse hat" (International Review [engl./frz./span. Ausgabe] Nr. 11, 1977). Dieser Aspekt ist jedoch noch nicht eine Realität. Das erklärt, warum die Beschleunigung des Wettrüstens heute mit einem starken Widerwillen der großen imperialistischen Mächte (USA, China, Russland, Großbritannien oder Frankreich) einhergeht, Soldaten vor Ort einzusetzen ("boots on the ground"), aus Angst vor den Auswirkungen, die eine massive Rückkehr der "body bags" (Leichensäcke) auf die Bevölkerung und insbesondere die Arbeiterklasse haben könnte. Zu nennen sind hier der Einsatz privater Militärfirmen (Wagner-Organisation der Russen, Blackwater/Academi der USA, usw.) oder das Engagement lokaler Milizen bei der Durchführung von Aktionen: Einsatz syrischer sunnitischer Milizen durch die Türkei in Libyen und Aserbaidschan, kurdischer Milizen durch die USA in Syrien und Irak, der Hisbollah oder irakischer schiitischer Milizen durch den Iran in Syrien, sudanesischer Milizen durch Saudi-Arabien im Jemen, einer von Frankreich und der EU "gecoachten" regionalen Truppe (Tschad, Mauretanien, Mali, Niger, Burkina Fasso) in der Liptako-Region, .....
Die Perspektive besteht also in einer Vervielfachung barbarischer und blutiger Konflikte:
"11. Gleichzeitig mehren sich die "Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte", da der Kapitalismus in seiner letzten Phase in ein zunehmend irrationales imperialistisches "Jeder gegen jeden" stürzt.
13. Das bedeutet nicht, dass wir in einer Ära größerer Sicherheit lebten als in der Periode des Kalten Krieges, die unter der Bedrohung durch ein nukleares Armageddon litt. Im Gegenteil: Wenn die Phase des Zerfalls durch einen zunehmenden Kontrollverlust der Bourgeoisie gekennzeichnet ist, so gilt dies auch für die enormen Mittel der Zerstörung – nukleare, konventionelle, biologische und chemische –, die von der herrschenden Klasse angehäuft worden und nun über eine weitaus größere Zahl von Nationalstaaten verteilt sind als in der vorangegangenen Periode.“ (Resolution zur internationalen Lage)
In dem Maße wie die Bourgeoisie in der Lage ist, die schlimmsten Auswirkungen des Zerfalls gegen das Proletariat zu richten, müssen wir uns bewusst sein, dass dieser Kontext mörderischer Barbarei den Kampf des Proletariats keineswegs erleichtern wird:
- Die Beschleunigung des Zerfalls wird zu endlosen Kriegen überall auf der Welt führen, zu einer Vervielfachung von Massakern und Elend, zu Millionen von Flüchtlingen, die überall ziellos umherirren, zu unbeschreiblichem sozialen Chaos und Umweltzerstörung. All dies wird das Gefühl von Angst und Demoralisierung in den Reihen des Proletariats verstärken.
- Die verschiedenen bewaffneten Konflikte werden genutzt werden, um intensive Kampagnen zur Verteidigung der Demokratie, der Menschenrechte und der Frauenrechte auszulösen, wie im Fall von Afghanistan, Äthiopien, Syrien oder dem Irak.
Dementsprechend muss unsere Intervention das Fortschreiten der Barbarei und die Gefährlichkeit der Situation anprangern, sie muss das Proletariat ständig davor warnen, die Gefahren zu unterschätzen, die die Situation der chaotischen Vielzahl von Konflikten im Zusammenhang mit dem „Jeder für sich“ als vorherrschende Dynamik mit sich bringt: "Seiner eigenen Logik und seinen letzten Konsequenzen überlassen, führt er die Gesellschaft zum gleichen Ergebnis wie der Weltkrieg. Ob man brutal von einem thermonuklearen Bombenhagel in einem Weltkrieg ausgelöscht wird oder durch die Umweltverschmutzung, die Radioaktivität der Atomkraftwerke, den Hunger, die Epidemien und die Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte (in denen auch Atomwaffen eingesetzt werden können) vernichtet wird, läuft letztendlich aufs gleiche hinaus. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Zerstörung besteht darin, daß die erste schneller ist, während die zweite langsamer ist, dafür aber umso mehr Leid verursacht." (Der Zerfall: Die letzte Phase des Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 13 [deutsch] Punkt 11).
23.10.2021
Angesichts der schwerwiegenden Entwicklungen im imperialistischen Krieg in der Ukraine hat die IKS u.a. mit einem internationalen Flugblatt reagiert, das die Barbarei des Konflikts und die heuchlerischen Lügen der herrschenden Klasse in beiden Lagern anprangert und darauf besteht, dass die Entwicklung des Klassenkampfes in allen Ländern der einzige Ausweg aus dem Alptraum dieses verrotteten Systems ist. Das Flugblatt steht auf unserer Webseite zur Verfügung und wir fordern alle, die mit unseren Positionen sympathisieren, auf, es in eurem Umfeld zu verteilen, sei es digital oder auf Papier.
Wir werden auch das Thema unserer internationalen öffentlichen Online-Diskussionen ändern, die für den 5. März (12 Uhr) und den 6. März (19 Uhr) geplant sind und in Englisch durchgeführt wird. Das Treffen wird sich nun auf die Bedeutung dieses Konflikts und die Verantwortung der internationalistischen Minderheiten konzentrieren. Wenn ihr an dem Treffen teilnehmen möchtet und ihr euch noch nicht angemeldet habt, schreibt uns bitte so bald wie möglich an [email protected] [111] und gebt an, welcher Tag oder welche Tage euch am besten passen. Wir werden euch am Tag des Treffens die Anmeldedaten zusenden.
Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/rint56_web.pdf
[2] https://de.internationalism.org/content/1075/bericht-zur-struktur-und-funktionsweise-der-organisation-der-revolutionaere
[3] https://de.internationalism.org/content/861/das-verhaeltnis-fraktion-partei-der-marxistischen-tradition-von-marx-bis-lenin-1848-1917
[4] https://en.internationalism.org/content/3152/6th-congress-icc-what-stake
[5] https://en.internationalism.org/ir/050_decadence_part03.htm
[6] https://www.leftcom.org/en/articles/2018-12-22/the-fraction-party-question-in-the-italian-left
[7] https://de.internationalism.org/content/2667/bericht-ueber-die-rolle-der-iks-als-fraktion
[8] https://de.internationalism.org/content/871/thesen-zur-oekonomischen-und-politischen-krise-der-udssr-und-den-osteuropaeischen
[9] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus
[10] https://de.internationalism.org/content/1374/kollaps-des-stalinismus-die-arbeiterklasse-vor-einer-schwierigeren-lage
[11] https://de.internationalism.org/content/2862/resolution-ueber-das-kraefteverhaeltnis-zwischen-den-klassen-2019
[12] https://en.internationalism.org/international-review/201111/4593/indignados-spain-greece-and-israel
[13] https://en.internationalism.org/content/16711/report-impact-decomposition-political-life-bourgeoisie-23rd-icc-congress
[14] https://de.internationalism.org/content/2929/einfuehrung-zum-bericht-ueber-den-historischen-kurs-2019
[15] https://de.internationalism.org/content/2930/bericht-ueber-den-historischen-kurs
[16] https://de.internationalism.org/content/2455/ausserordentliche-internationale-konferenz-der-iks-die-nachrichten-ueber-unser-ableben
[17] https://de.internationalism.org/content/1078/der-haager-kongress-von-1872-der-kampf-gegen-den-politischen-parasitismus
[18] https://de.internationalism.org/content/2834/die-bewegung-der-gelbwesten-ein-volksaufstand-ohne-perspektive
[19] http://www.mlwerke.de/me/me02/me02_019.htm
[20] https://en.internationalism.org/wr/304/chartism-1848
[21] https://de.internationalism.org/content/615/orientierungstext-das-vertrauen-und-die-solidaritaet-im-kampf-des-proletariats-1-teil
[22] https://en.internationalism.org/icconline/201610/14136/deliveroo-ubereats-struggles-precarious-and-immigrant-workers
[23] https://www.bbc.com/news/business-45734662
[24] https://en.internationalism.org/forum/1056/baboon/15171/class-struggle-jordan-s-war-economy
[25] https://en.internationalism.org/icconline/201808/16494/iraq-marching-against-war-machine
[26] https://en.internationalism.org/content/16599/internationalist-voice-and-protests-middle-east
[27] https://en.internationalism.org/content/16684/response-internationalist-voice-strikes-iran
[28] https://de.internationalism.org/content/2772/bericht-ueber-die-imperialistischen-spannungen
[29] http://www.sebalorenzo.com.ar
[30] https://de.internationalism.org/content/2897/nuevo-curso-und-eine-kommunistische-linke-spaniens-was-sind-die-urspruenge-der
[31] mailto:[email protected]
[32] mailto:[email protected]
[33] https://es.internationalism.org/revista-internacional/200608/1028/en-memoria-de-munis-militante-de-la-clase-obrera
[34] https://es.internationalism.org/content/4393/polemica-adonde-va-el
[35] https://es.internationalism.org/revista-internacional/201804/4300/el-comunismo-esta-al-orden-del-dia-en-la-historia-castoriadis-muni
[36] https://es.internationalism.org/content/4363/castoriadis-munis-y-el-problema-de-la-ruptura-con-el-trotskismoii
[37] https://es.internationalism.org/cci/200602/753/1critica-del-libro-jalones-de-derrota-promesas-de-victoria
[38] https://es.internationalism.org/content/4388/las-confusiones-del-sobre-octubre-1917-y-espana-1936
[39] https://es.internationalism.org/content/4460/nuevo-curso-y-una-izquierda-comunista-espanola-de-donde-viene-la-izquierda-comunista
[40] https://es.wikipedia.org/wiki/Transici%C3%B3n_espa%C3%B1ola
[41] https://www.ultimahora.es/noticias/sociedad/1999/03/01/972195/espanol-preside-nuevo-consejo-europeo-accion-humanitaria-cooperacion.html
[42] https://en.internationalism.org/content/4007/editorial-peace-kosovo-moment-imperialist-war
[43] https://web.psoe.es/izquierdasocialista/docs/648062/page/patriotas-por-dios-por-patria-repsol.html
[44] https://de.internationalism.org/content/1077/die-i-internationale-und-der-kampf-gegen-das-sektierertum
[45] https:///E:/presse/Der%20Haager%20Kongre%C3%9F%20von%201872:%20Der%20Kampf%20gegen%20den%20politischen%20Parasitismus
[46] https://de.internationalism.org/content/1080/der-kampf-des-marxismus-gegen-das-politische-abenteurertum
[47] https://de.internationalism.org/content/2898/lassalle-und-schweitzer-der-kampf-gegen-politische-abenteurer-der-arbeiterbewegung
[48] https://es.internationalism.org/cci-online/200706/1935/cuales-son-las-diferencias-entre-la-izquierda-comunista-y-la-iv-internacional
[49] https://en.internationalism.org/the-communist-left
[50] https://de.internationalism.org/content/2952/das-verborgene-erbe-der-linken-des-kapitals-teil-1-eine-falsche-auffassung-von-der
[51] https://de.internationalism.org/content/2981/das-verborgene-erbe-der-linken-des-kapitals-teil-2-eine-methode-und-eine-denkweise-den
[52] https://de.internationalism.org/content/2982/das-verborgene-erbe-der-linken-des-kapitals-teil-3-eine-funktionsweise-im-widerspruch
[53] https://es.internationalism.org/accion-proletaria/201704/4205/la-importancia-del-debate-moral-y-organizativo
[54] http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/marx_manifestws_1848?p=16
[55] https://de.internationalism.org/content/685/dokumente-aus-dem-organisationsleben-die-frage-der-funktionsweise-der-iks
[56] https://de.internationalism.org/content/584/orientierungstext-das-vertrauen-und-die-solidaritaet-im-kampf-des-proletariats-2-teil
[57] http://www.kommunismus.narod.ru/knigi/pdf/Ante_Ciliga_-_Im_Land_der_verwirrenden_Luege.pdf
[58] https://de.internationalism.org/content/3023/das-verborgene-erbe-der-linken-des-kapitals-teil-4-ihre-moral-und-unsere
[59] https://de.internationalism.org/content/876/thesen-ueber-die-studentenbewegung-frankreich-im-fruehling-2006
[60] https://de.internationalism.org/Weltrevolution_welt171bilanz2011
[61] http://www.derfunke.at/html/pdf/geschichte/klassiker/Reed-10_Tage.pdf
[62] https://es.internationalism.org/cci-online/200802/2185/debates-electorales-lo-contrario-de-un-verdadero-debate
[63] https://en.internationalism.org/specialtexts/IR003_kron.htm
[64] https://de.internationalism.org/content/1654/die-debattenkultur-eine-waffe-des-klassenkampfes
[65] https://de.internationalism.org/Umwelt_13
[66] https://de.internationalism.org/en/tag/1/157/artikelfolgen
[67] https://de.internationalism.org/files/de/rint57_web_0.pdf
[68] https://de.internationalism.org/content/3005/24-internationaler-kongress-der-iks-resolution-zur-internationalen-lage
[69] https://www.amnesty.org/es/latest/news/2021/03/covid19-health-worker-death-toll-rises-to-at-least-17000-as-organizations-call-for-rapid-vaccine-rollout/
[70] https://de.internationalism.org/content/2999/24-internationaler-kongress-der-iks-bericht-ueber-die-pandemie-und-die-entwicklung-des
[71] https://de.internationalism.org/content/2974/interne-debatte-der-iks-ueber-die-internationale-lage
[72] https://de.internationalism.org/content/1074/aufbau-der-revolutionaeren-organisation-thesen-ueber-den-parasitismus
[73] https://de.internationalism.org/content/1247/marc-von-der-oktoberrevolution-1917-bis-zum-2-weltkrieg
[74] https://fr.internationalism.org/rinte66/marc.htm
[75] https://en.internationalism.org/content/4004/13th-congress-icc-resolution-international-situation
[76] https://de.internationalism.org/content/758/orientierungstext-militarismus-und-zerfall
[77] https://de.internationalism.org/content/2861/resolution-zur-internationalen-lage-2019-imperialistische-spannungen-leben-der
[78] https://de.internationalism.org/content/2926/bericht-ueber-den-zerfall-heute-mai-2017
[79] https://de.internationalism.org/content/2957/bericht-ueber-die-covid-pandemie-und-die-periode-des-kapitalistischen-zerfalls
[80] https://de.internationalism.org/int_resolution_40
[81] https://fr.internationalism.org/rinte110/extreme.htm
[82] https://www.lemonde.fr/planete/article/2021/05/14/origines-du-covid-19-la-divulgation-de-travaux-inedits-menes-depuis-2014-a-l-institut-de-virologie-de-wuhan-alimente-le-trouble_6080154_3244.html
[83] https://en.internationalism.org/forum/16901/internal-debate-icc-international-situation
[84] https://en.internationalism.org/content/16735/debate-balance-class-forces
[85] https://de.internationalism.org/content/2115/editorial-soziale-revolten-im-maghreb-und-im-nahen-osten-nukleare-katastrophe-japan
[86] https://de.internationalism.org/content/2096/was-ist-los-nordafrika-im-nahen-mittleren-osten
[87] https://de.internationalism.org/content/2205/internationaler-klassenkampf-die-bewegung-der-empoerten-spanien-griechenland-und-israel
[88] https://de.internationalism.org/content/2940/trotz-aller-hindernisse-schmiedet-der-klassenkampf-seine-zukunft
[89] https://en.internationalism.org/content/16907/protests-health-sector-putting-national-unity-question
[90] https://en.internationalism.org/ir/065/marc-01
[91] https://en.internationalism.org/ir/066/marc-02
[92] https://de.internationalism.org/content/1372/polemik-mit-der-cwo-unterirdische-reifung-des-bewusstseins
[93] https://markhayes9.wixsite.com/website/post/notes-on-the-bourgeois-counter-offensive-in-the-1980s
[94] https://de.internationalism.org/content/2970/die-auswirkungen-des-zerfalls-auf-die-wirtschaft-bericht-ueber-die-wirtschaftskrise-24
[95] https://www.banquemondiale.org/fr/news/press-release/2020/06/08/covid-19-to-plunge-global-economy-into-worst-recession-since-world-war-ii
[96] https://www.aeutransmer.com/2020/03/02/el-80-de-las-multinacionales-tiene-planes-para-repatriar-su-produccion/
[97] https://www.britannica.com/science/pollution-environment
[98] https://www.copenhagenconsensus.com/sites/default/files/air_pollution.pdf
[99] https://www.greeneconomycoalition.org/news-and-resources/the-economics-of-mass-extinction
[100] https://www.lavanguardia.com/natural/20200908/483359329249/degradacion-ambiental-catapulta-pandemias.html
[101] https://www.banquemondiale.org/fr/topic/poverty/overview
[102] https://www.bloomberg.com/graphics/2020-global-economic-and-climate-change-forecast-2050/
[103] https://www.infodefensa.com/texto-diario/mostrar/3123473/alemania-incrementa-1300-millones-presupuesto-defensa
[104] https://www.aviacionline.com/2020/12/japon-aprueba-presupuesto-militar-record-para-el-2021/
[105] https://www.cnbc.com/2019/11/20/us-spent-6point4-trillion-on-middle-east-wars-since-2001-study.html
[106] https://www.elcomercio.com/actualidad/china-gasto-militar-economia-pandemia.html
[107] https://www.abc.es/internacional/abci-china-y-rusia-doblan-gasto-militar-decada-201711121042_noticia.html
[108] https://www.republica.com/?pagename=la-deuda-mundial-escalara-en-2020-a-un-record-de-233-billones/
[109] https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/documents/briefingnote/wcms_767223.pdf
[110] https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/---publ/documents/publication/wcms_757159.pdf
[111] mailto:[email protected]